Wir hatten an der Côte d’Argent ein kleines Ferienhaus in Strandnähe gemietet und langweilten uns bereits die zweite Regenwoche, als mein hyperaktiver Chef auf dem Handy meiner Tochter anrief. Nachdem er endlos herumgemeckert hatte, warum ich denn sein teures Geschäftshandy nicht dabei hätte [sic!], erläuterte er mir seine unausgegorenen Gedanken zu einem neuen Projekt und wies mich an, erste Pläne auszuarbeiten. Ich sei ja im Urlaub und hätte doch jetzt Zeit dafür und gleich am Montag nach den Ferien sollte ich ihm das Projekt präsentieren. Ich war so begeistert, dass ich sofort einen doppelten Cognac trank, um mich zu beruhigen. Selbstverständlich brachte mir das zusätzlich einen strengen Blick und die Bemerkung meiner lieben Gattin ein, ob ich denn jetzt schon am Vormittag trinken müsse.
In der letzten Ferienwoche zogen das Tief nach Osten und die Familie an den Strand, um endlich den Badeurlaub in vollen Zügen zu genießen.
Außer mir natürlich, denn ich saß im Ferienhaus, schwitzte und verfluchte fantasievoll den Erfinder des Laptops.
Diese letzten Urlaubstage flogen dahin, die Gattin bräunte mehr oder weniger nahtlos, die Kinder hatten ihren Spaß und das neue Projekt nahm roséfarbene Konturen an.
Selbst für den Abreisetag beschloss der Familienrat noch einmal verschärften Strandgenuss, auch ich wollte wenigstens noch den letzten Tag am Meer verbringen. Erst am Abend sollte die Heimfahrt beginnen.
Also standen wir in aller Herrgottsfrühe auf, packten, außer den Strandutensilien, alles zusammen und stellten das Gepäck nach Absprache mit unserer Vermieterin in den Flur. Nachdem wir bezahlt hatten, gaben wir ihr einen der zwei Hausschlüssel zurück. Den zweiten sollten wir am Abend, nachdem wir unser Gepäck geholt hatten, einfach in den Briefkasten werfen.
In bester Stimmung fuhren wir noch einmal an unseren weißen Traumstrand.
Ich bin ein leidenschaftlicher Schwimmer und ich liebe das Meer, seinen Geruch, seinen Geschmack, die Wellen und die Gischt.
Es war der letzte Urlaubstag, also schwamm ich weit hinaus, genoss es in vollen Zügen und war in meinem Element.
Nur der Wind war heute stärker als in den vergangenen Tagen. Ablandig. Und es war Ebbe. So drehte ich beizeiten um und schwamm zurück. Nur, das Ufer kam nicht näher. „Erste Regel in Krisensituationen? Panik!“ schoss es mir durch den Kopf. Was für ein Unsinn einem in einer solchen Lage einfällt! Zwar gibt es hier zusätzlich zu Wind und Ebbe bekanntermaßen eine nicht zu unterschätzende Strömung, die schon so manchen Unvorsichtigen hinausgetrieben hatte.
Aber selbstverständlich hatte ich überhaupt keine Angst. Ich bin schließlich ein herausragender Langstreckenschwimmer! Mit purer, um nicht zu sagen heroischer, Willenskraft trieb ich meinen in vielen Hallenbadstunden gestählten Körper vorwärts.
Langsam kam das Ufer näher und schließlich erreichte ich den Strand. Zugegeben, es war doch etwas knapp gewesen.
Während ich mich erschöpft auf mein Handtuch fallen ließ murmelte mein Gattin schläfrig: „Ach, du warst Schwimmen?“. Also das nennt sich eheliche Fürsorge: ich wäre fast ertrunken und meine Angetraute hätte es nicht einmal bemerkt! Bedauerlicherweise konnte ich keine passende Replik geben, da es mir einfach an Luft mangelte. Also brummte ich nur etwas Unbestimmtes, drehte mich auf den Rücken und versuchte, meine schmerzenden Muskeln zu entspannen.
Ein übler Fischgeschmack im Mund weckte mich auf. Aber der Griff zur Wasserflasche war umsonst: sie war leer.
„Du musst dich noch etwas gedulden“, flötete meine Gattin, „wenn wir später das Gepäck einladen, kannst du ja nochmal aus dem Wasserhahn trinken.“ Um den schalen Geschmack loszuwerden, bleib mir nichts anderes übrig, als die letzten, halb zerdrückten Kekse zu essen. Das kühle Mineralwasser dazu musste ich mir vorstellen.
„Blöder Urlaub, blöder!“ fing plötzlich mein Sohn an zu fluchen. „Mein MP5-Player hat schon wieder keinen Saft mehr!“. Mein Vorschlag, er könne ja mal ein Buch lesen, quittierte er mit einem genervten Blick und der Bemerkung:
„Klar, es ist ja auch nur im Gepäck!“
Es lag mir schon auf der Zungenspitze zu sagen: „Dann bau doch mal eine schöne Sandburg.“ Ich konnte mich aber gerade noch zurückhalten, denn Sechzehnjährige kann man mit so einem Vorschlag eher nicht mehr begeistern. Er kramte dann eine zerfledderte Illustrierte aus den Tiefen der mütterlichen Badetasche und begann, lustlos darin zu blättern.
Ich döste friedlich auf dem Bauch liegend, fühlte den Wind im den Haaren, genoss den Duft des Strandes, das Rauschen des Meeres, spielte mit dem Sand zwischen meinen Zehen und spürte die Wärme der Sonne auf meinem Rücken. Irgendwann verwandelte sich die Wärme dann in Hitze, später sogar in ein Brennen.
„Du weißt schon, dass man sich vor dem Sonnenbad eincremen sollte und nicht erst, wenn es bereits zu spät ist, gell?“ besserwisserte meine Gattin, während sie die letzten Reste Sonnencreme auf meinen purpurroten Rücken träufelte.
„Ja, Schatz.“ grummelte ich und litt noch ein bisschen mehr.
Schließlich setzte ich mich auf und betrachtete mich und die Familienmitglieder. Also rötungsmäßig den größten Vorsprung hatte eindeutig meine Tochter. Sie hatte die Warnungen ihrer Mutter selbstverständlich ignoriert, nahm es jetzt aber erstaunlich gelassen. Sie meinte nur, dass ein Sommerurlaub ohne Sonnenbrand ja gar nicht gehe. Schnell schnappte sie sich ihr Handy, um ihrer besten Freundin sofort eine SMS zu schreiben und diese weltbewegende Neuigkeit umgehend mitzuteilen. Ich war gerade wieder am eindösen, als sie plötzlich zu lamentieren anfing, ihr Handy spiele verrückt und habe keinen Empfang mehr. Wütend drückte sie auf den Tasten herum, schaltete aus und wieder ein und öffnete es schließlich, um Akku und SIM-Karte zu überprüfen. Und siehe da: leise rieselte der Sand! Ihr Wutschrei war bestimmt bis Paris zu hören. Fieberhaft pustete, putzte und säuberte sie das Teil, aber es half alles nichts: das Handy war tot. Immerhin konnte ich so noch die spitze Bemerkung anbringen, sie solle doch bitte diesen Putzelan mit nach Hause nehmen und auf ihr Zimmer anwenden. Die Reaktion war typisch. Wie sagt man? Wenn Blicke töten könnten! Und dann fing das Genörgele erst richtig an: ich will nach Hause, blöder Strand und nichts mehr zu trinken und überhaupt. Zu allem Überfluss entdeckte sie auch noch viele kleine Stiche an ihren Beinen: iiiiiiih! Sandmücken!
Haben Sie auch eine vierzehnjährige Tochter? Wenn ja, dann wissen sie, wie das ist. Irgendwann, wenn das Genöle nicht mehr zu ertragen ist, muss ein Machtwort her. Also gebot ich ihr, zu schweigen. O je, dann war was los! Am Ende verließ ich fluchtartig den Schauplatz des Dramas und machte einen langen Strandspaziergang. Ich kam zurück, als sich der Wind zu einer steifen Brise gemausert hatte. Eine migränegeplagte Ehefrau, ein hungriger Sohn und eine schmollende Tochter empfingen mich und stellten unisono fest, dass ich an Allem schuld sei!
Da es schon gegen sieben Uhr war, schlug ich einfach den Aufbruch vor. Der wurde aber kategorisch abgelehnt, schließlich sei es der letzte Urlaubstag und dieser müsse voll ausgekostet werden.
Erst als es dämmerte, brachen wir endlich auf.
Während wir zurückfuhren und ich besorgt das Warnlicht der Benzinstandsanzeige beobachtete, entbrannte im Auto schon eine heiße Diskussion, wann die erste Rast auf der Rückfahrt eingelegt werden sollte, um zu Essen und zu Trinken und sich von den Strapazen des Strandes zu erholen.
Dann standen wir vor der verschlossenen Tür unseres Ferienhäuschens und starrten uns an.
„Du hast doch zusammengepackt! Da musst du doch gesehen haben, ob der Schlüssel noch irgendwo rumlag!“ rief ich frustriert.
„Also du hattest ihn immer in der Hosentasche!“ schoss meine Gattin zurück. Äh, ja, das stimmte. Nur jetzt war er da nicht mehr.
„Oh, Mann!“ maulte unsere Tochter. „Ihr seid ja sowas von out!“. Sie stampfte vor Wut mit den Füßen auf dem Boden herum. Unser Sohn sagte gar nichts. Der stand nur da, verdrehte die Augen und seine Miene zeigte die grenzenlose Hoffnungslosigkeit der Jugend angesichts solcher Eltern.
Wo die Vermieterin wohnte, wussten wir nicht. Das einzige Handy, das wir dabei hatten, funktionierte nicht mehr. Und ohne Gepäck nach Hause zu fahren, wäre ja auch irgendwie unpassend gewesen.
Es half alles nichts, wir mussten zurück zum Strand fahren, um den verlorenen Hausschlüssel zu suchen.
Die Benzinanzeige leuchtete jetzt nicht mehr. Sie blinkte. Daher fuhr ich betont spritsparend durch die Dünen zum Strand. Mittlerweile war die Dämmerung fortgeschritten, um nicht zu sagen, es war dunkel. Stolz nahm ich die stets im Handschuhfach liegende Notfalltaschenlampe. Sie leuchtete sage und schreibe auch fünf Minuten lang. Nun gut, auch ohne Licht fanden wir unseren Lagerplatz schnell wieder. Allerdings stand er bereits zehn Zentimeter unter Wasser. Die Flut war da. Also patschten wir alle im Wasser herum und fanden dabei auch allerlei tolle Sachen: Tang, Kronkorken, Holzstücke, Alufolie, Muscheln, Steine, ein Zweieurostück, einen verrosteten Löffel und eine Glasscherbe, an der sich meine Frau natürlich gleich in den Daumen schneiden musste. Nach einer halben Stunde und bei einem Wasserstand in Kniehöhe brachen wir die Suche ab.
Im Stockfinsteren tasteten wir uns zum Auto zurück und fuhren wieder in Richtung Ferienort.
Die Warnleuchte blinkte jetzt hektischer und auch ein Piepton signalisierte, dass ein Tankstellenbesuch jetzt durchaus zügig in Erwägung gezogen werden sollte. Gerade überlegte ich, welche der zwei Tankstellen des Dorfes jetzt wohl noch geöffnet hatte, als der Motor anfing zu stottern und kurz danach abstarb.
„Und wozu hast du dann diese teure Hybrid-Dings-SUV-blöde-Karre gekauft, wenn du jetzt nicht mal elektrisch weiterfahren kannst?“ entrüstete sich die Gattin.
„Weil das so einfach nicht geht! Ich hab’s dir doch schon zweimal erklärt!“ entgegnete ich genervt. Beleidigt verschränkte sie die Arme vor der Brust und schwieg. Meine Tochter ließ eine riesige Kaugummiblase laut platzen und schmatze dann, aus dem Fenster starrend, vor sich hin.
„Also“ ließ sich jetzt auch noch der altkluge Sohnemann hören. „Ich fasse mal kurz zusammen: wir haben nichts mehr zu Essen und Trinken. Unser Gepäck ist im Ferienhäuschen, zu dem wir den Schlüssel verloren haben. Die Vermieterin können wir nicht erreichen. Wir sitzen in den Dünen ohne Sprit im Auto fest. Die nächste Dorftankstelle ist ungefähr neun Kilometer entfernt und hat höchstwahrscheinlich schon längst geschlossen.“ Er machte eine kurze Pause. „Na dann, gute Nacht.“ Demonstrativ drehte er den Kopf zum Seitenfenster und schloss die Augen.
„Was bildest du dir eigentlich ein?“ rief ich und holte tief Luft, um eine Gardinenpredigt vom Stapel zu lassen, die sich gewaschen gehabt hätte.
„Aber er hat ja Recht!“ fiel da meine Frau ein. „Und so wie du schreist, wirkst du überhaupt nicht erholt!“
„Ich bin brutal erholt!“ brüllte ich.
Hatte ich eigentlich schon erwähnt, dass meine Familie für mich das wertvollste im Leben ist?
Texte: C. A. Prikorn
Tag der Veröffentlichung: 02.01.2013
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