Man sagt, ein einziger Kuss kann dein Leben verändern. Doch wirklich glauben, kann man das nur, wenn es einem tatsächlich passiert. Selbst dann scheint es nur ein Traum zu sein. Ein Moment, so flüchtig wie eine zerplatzende Seifenblase, aber auch genau so unvergesslich. Wer kann nicht die Augen schließen, sich eine große schillernde Seifenblase im Sonnenlicht vorstellen und sich darüber freuen? Warum dann nicht auch einen Kuss, der deinem Leben eine Wendung schenkt?
Aber nicht alle Küsse sind gleich und während manche von Liebe und Glück getragen werden, stecken andere voller Schmerz und Leid.
Es gab eine Zeit in meinem Leben, da konnte ich mir kaum vorstellen, dass ich einmal heiraten würde. Alleine die Vorstellung, dass mich überhaupt jemand lieben könnte, war absurd. Und doch hatte ich sie gefunden und nun den Bund des Lebens mit ihr geschlossen.
Sie sah so schön aus in ihrem weißen Kleid, mit diesem Traum von einem Lächeln auf den Lippen. Ein Moment für die Ewigkeit, der unvergessen bleibt. Gerade hatten wir uns das Ja-Wort gegeben und unseren Bund mit einem Kuss besiegelt. Ein wundervoller Kuss, doch mehr ein Ritual, denn eine Zärtlichkeit.
Nun stand die Reihe der Gratulanten vor uns, allen voran mein Vater, der lächelnd eine kleine Schachtel in den Händen hielt.
>Herzlichen Glückwunsch, Adrian<, sagte er und überreichte mir sein Hochzeitsgeschenk.
Ich wusste, was in der Schachtel war. Schon vor langer Zeit hatte er mir erzählt, dass ich dieses Geschenk eines Tages zu meiner Hochzeit erhalten würde. Doch hatte er keine Ahnung, was es mir wirklich bedeutete.
Mit zittrigen Fingern hob ich den Deckel ab und erblickte es. Auf rotem Samt gebettet lag das Rasiermesser meines Vaters nun in meinen Händen. Augenblicklich überschwemmte mich eine Flut von Erinnerungen und riss mich mit sich zu einem längst vergangenen Tag in meinem Leben. Der Tag, an dem ich den Kuss der Klinge spürte.
Ich war damals vierzehn Jahr alt und alles andere als glücklich. In meiner Vorstellung konnte ein Leben kaum schlimmer sein als meines. An jenem Tag hatte ich mich im Badezimmer eingeschlossen und ließ die Wanne mit warmem Wasser volllaufen. Währenddessen betrachtete ich ein paar meiner blauen Flecke im Spiegel.
“Warum?”, fragte ich mich wieder und wieder. “Warum immer ich?”
Es war nicht das erste Mal, dass ich verprügelt wurde. Seit wir umgezogen waren, passierte das regelmäßig. Schon am ersten Tag an der neuen Schule bekam ich zu spüren, dass ich hier nicht willkommen war. Seither war es sehr viel wahrscheinlicher, dass ich eine Faust in den Magen bekam, als dass mich jemand fragte, wie es mir ging. Aber warum war das so? War ich denn so abstoßend? Was war denn so falsch an mir, dass niemand mit mir befreundet sein wollte?
Wie schon so oft betrachtete ich mich selbst kritisch im Spiegel. Ich musterte meine strähnigen und leicht gewellten dunkelblonden Haare. Mir war klar, dass sie nicht sehr männlich wirkten, aber daran konnte es doch nicht liegen. Auch nicht an meinem blaugrauen Augen, auch wenn diese manchmal einen grünlichen Schimmer hatten. War es mein Gesicht? Oder meine Größe? Oder mein schmächtiger Körperbau? Nichts an mir schien etwas Besonderes zu sein. Nichts, das man wirklich lieben konnte, aber doch auch nichts, das man so verabscheuen musste. Ich konnte ja akzeptieren, dass ich der Außenseiter war, aber warum ließen denn alle ihre Wut an mir aus? Oder warum hatten sie ausgerechnet immer mit mir ihren “Spaß”? Ich hatte doch keinem etwas getan. Es war doch nicht meine Schuld, dass wir hierher gezogen waren und ich jetzt auf diese Schule gehen musste. Ich wollte doch gar nicht umziehen.
Manchmal hasste ich meine Eltern dafür, dass sie das gemacht hatten. Es war mir egal, dass mein Vater hier eine neue Karrierechance gefunden hatte. Es war mir egal, dass meine Mutter jetzt ihr schon immer so sehr gewünschtes Haus hatte. Für mich gab es hier gar nichts. Nichts außer Beleidigungen, Demütigungen, Tritte und Schläge.
Meine Hände waren zu Fäusten geballt und meine Arme zitterten vor Anspannung. Schwer und gepresst atmete ich, mit starrem Blick auf den Spiegel. Ich war verzweifelt. Ich wusste keinen Ausweg mehr. Ich wusste nur, dass es so einfach nicht weiter gehen konnte. Langsam, fast wie in Zeitlupe, hob ich einen Arm und öffnete eine Klappe des Spiegelschranks. Ich griff zögerlich nach dem Rasiermesser meines Vaters und spürte eine Gänsehaut, die mir kribbelnd bis in die Zehen fuhr, als ich die glatte Oberfläche aus Perlmutt berührte. Vorsichtig nahm ich es an mich und stieg schließlich in die Badewanne.
Ich drehte das Wasser ab und lehnte mich zurück. Auch wenn ich versuchte eine entspannte Haltung einzunehmen, so konnte ich die Anspannung doch nicht abschütteln. Das Messer, das ich in meinen Händen hielt und von allen Seiten betrachtete, ließ das nicht zu.
Ich erinnerte mich daran, wie oft ich meinen Vater schon dabei beobachtet hatte, wie er sich damit die Barthaare entfernte. Obwohl die Klinge höllisch scharf war, verletzte er sich so gut wie nie. Ich wollte es auch ausprobieren, aber mein Vater hatte es mir verboten. Er meinte, dass es zu gefährlich sei und dass man ein wenig Geschick und viel Übung bräuchte, um sie richtig anzuwenden. Häufig stand ich dann neben ihm im Badezimmer und seifte auch mir das Gesicht ein, nur um mit einer Nagelfeile so zu tun, als ob ich mich auch rasieren würde. Das fanden wir beide sehr witzig und er versprach mir, mir eines Tages beizubringen, wie man sich richtig mit einem Rasiermesser rasierte. Bis dahin musste ich ihm mein Wort geben, es nicht heimlich selbst auszuprobieren. Nun ja, in gewisser Weise würde ich mein Wort auch nicht brechen, denn mein Vorhaben hatte nichts mit rasieren zu tun.
Vorsichtig drückte ich auf den kleinen Metallstift am oberen Ende und ließ damit den polierten Stahl sanft aus dem Griff gleiten. Die leicht gebogene Klinge blitzte kurz auf, als das Licht sie traf. Es war fast so, als würde sie mir zuzwinkern und sich darüber freuen, dass ich sie aus ihrem dunklen Gefängnis befreit hatte. Sie schimmerte wundervoll und faszinierend. So edel und prächtig und doch auch gefährlich.
Mein Vater hatte mir einmal erzählt, dass sein Vater ihm dieses wertvolle Stück an seinem Hochzeitstag geschenkt hatte und dass der es zuvor von seinem Vater bekommen hatte. Es wäre schon sehr lange in Familienbesitz und eines Tages würde ich es an meinem Hochzeitstag geschenkt bekommen. Damals hatte ich mich noch darauf gefreut und bei der Vorstellung glänzende Augen bekommen, doch inzwischen schienen mir das Erinnerungen an ein anderes Leben zu sein. Der Glanz, den ich nun in meinen Augen hatte, war kein Zeichen für Freude oder Rührung. Er war ein Ausdruck der Verzweiflung und Trauer, denn dieses Erbstück würde nie mir gehören. Zuviel musste ich schon ertragen und nichts hatte ich bisher erlebt, das mich glauben ließ, ich würde eines Tages ein Mädchen finden, das mich lieben und heiraten könnte.
Langsam führte ich das Messer zu meinem Mund. Ich wollte die Klinge küssen, mich in gewisser Weise von ihr verabschieden. Der Stahl fühlte sich kalt auf meinen Lippen an. So kalt, wie man sich den Tod vorstellte. Obwohl ich im warmen Wasser lag, spürte ich eine eisige Leere in mich kriechen. Sie ließ mich frösteln, aber sie schenkte mir auch eine merkwürdige Schwerelosigkeit.
Ich hatte die Augen geschlossen und versuchte langsam und ruhig zu atmen. Um mich herum war nur Stille, doch in mir ein aufgeregt schlagendes Herz. Wie oft hatte dieses Herz schon vor Angst panisch gegen meine Brust getrommelt? Wie oft schon vor Einsamkeit geschmerzt? Wie oft schon mich so wie jetzt jedes einzelne Pumpen am ganzen Körper spüren lassen? Wann sollte dieses Leid je ein Ende haben? Würde ich überhaupt die Kraft haben, es zu beenden?
Mein Atem ließ sich einfach nicht beruhigen und mein Herz schlug unaufhörlich wild und ließ meine Hände zittern. Ich spürte, wie meine Muskeln brannten, als müsste ich um mein Leben rennen. Wollte mir mein Körper sagen, dass er leben wollte? Doch wozu? Welchen Sinn sollte das noch haben? Ich konnte ihn nicht erkennen.
Ich setzte mich auf, legte den linken Ellenbogen auf dem Wannenrand ab und den Unterarm auf meinem Knie. Dann führte ich wie in Zeitlupe das Rasiermesser zu meinem Handgelenk. Noch einmal schlug mein Herz mit aller Kraft von innen gegen meine Rippen. Es schrie geradezu vor Verzweiflung auf, doch ich wollte es nicht mehr hören. Ich wollte, dass es schwieg, dass es mich in Ruhe ließ, dass es ein Ende hatte.
Meine Finger verkrampften sich, als ich versuchte, die Schneide vorsichtig an meiner Vene anzusetzen. Ich wollte sie ganz leicht am richtigen Punkt ansetzen und dann mit einem kräftigen Ruck durchziehen, doch das war unmöglich. Meine Hand zitterte so sehr und plötzlich spürte ich einen kleinen Schnitt. Ein paar Millimeter neben dem eigentlichen Ziel und nicht allzu tief. Ein kleiner Kuss der Klinge, der mir verdeutlichte, was ich hier eigentlich im Begriff war zu tun.
Es tat nicht so weh, wie ich befürchtet hatte, doch die Wunde brannte und etwas Blut quoll aus ihr heraus. Ich konnte meinen Blick nicht abwenden und folgte dem kleinen Rinnsal, das sich einen Weg zur Unterseite meines schweißnassen Arms suchte. Dort sammelte sich ein einzelner Tropfen, der darauf zu warten schien, sich lösen und fallen zu können. Ich sah zu und wartete mit ihm.
Mein Puls beruhigte sich allmählich und auch mein Atem wurde tiefer und langsamer. Dann passierte es. Der Blutstropfen fiel ins Wasser und fing an, sich in einer kleinen roten Wolke aufzulösen. Ein merkwürdiger und faszinierender Anblick. Der Tropfen dehnte sich langsam, fast unmerklich aus, wie das Universum in den unendlichen Weiten des Alls.
“Warum tue ich das? Warum bin ich hier?”, fragte ich mich selbst.
Ich war auf dieser Welt so unbedeutend wie ein Sandkorn in der Wüste und die Erde war im Vergleich zu der Größe des Sonnensystems vermutlich noch kleiner. Und was war unser Sonnensystem schon im Verhältnis zur unermesslichen Ausdehnung unserer Galaxie?
Aber ich existierte trotzdem. Ich saß hier in dieser Badewanne und beobachtete einen einzelnen Tropfen meines roten Lebenssaftes, der sich im Wasser auflöste. Wie viele Blutkörperchen waren wohl in ihm? Wie viele Atome, um deren Kerne Elektronen kreisten, wie die Erde um die Sonne? War das hier nicht auch ein kleines Universum? Das alles musste doch einfach einen Sinn haben. Ich konnte das nicht tun.
Ich lehnte mich wieder zurück und klappte das Rasiermesser zu. Minutenlang lag ich einfach da und dachte nach. Hatte nicht auch ich ein Recht darauf, hier zu sein? Stand mir denn nicht auch ein bisschen Glück zu? Wer würde einem Sandkorn verweigern, in der Wüste zu liegen? Musste es da nicht auch einen Platz für mich geben? Natürlich hatte ich ein Zuhause und ich hatte Eltern, auch wenn sie viel weniger Zeit für mich hatten, als ich es mir wünschte. Gerade deshalb erzählte ich ihnen nichts von meinen Problemen. Ich wollte nicht die wenigen schönen Augenblicke mit meinen Sorgen verderben und sie belasten. Aber irgendwie musste es doch weiter gehen. Es musste doch auch für mich einen Weg geben.
Die Anspannung fiel nicht ganz von mir ab, aber sie löste sich etwas und die Leere in mir schien geschrumpft zu sein. Ich konnte nicht genau sagen, was an ihre Stelle getreten war. Vielleicht war auch nur etwas in mir erwacht. Etwas, das nicht bereit war, aufzugeben. Etwas, das Hoffnung hatte. Etwas, das daran glauben wollte, dass es nicht immer so sein würde wie jetzt und dass auch ich nicht ewig alleine bleiben würde. Nichts im Universum schien mir im Augenblick wirklich alleine zu sein.
Und jetzt, dreizehn Jahre später, erinnerte ich mich noch immer daran, wie ich nach dem Bad die Klinge gereinigt und dorthin zurück geräumt hatte, wo sie hin gehörte. Bis heute hatte ich sie nie wieder in meinem Leben berührt, doch vergessen konnte ich sie nie. Ihr Kuss hatte eine kleine blasse Spur auf meinem Handgelenk hinterlassen, die man noch immer sehen konnte. Eine Spur, deren Herkunft nur ich kannte und die mein Leben in eine neue Bahn gelenkt hatte.
Ein paar Tage später hatte ich damals all meinen Mut zusammengenommen und meiner Mutter davon erzählt, dass ich häufig von Mitschülern verprügelt wurde. Die Bestürzung und das Entsetzen, das sich in ihrem Gesicht widerspiegelte, waren hart für mich. Es fiel mir schwer, sie damit zu belasten, aber ich wusste mir nicht mehr anders zu helfen.
Schon am nächsten Tag ging sie in die Schule und informierte meine Klassenlehrerin. Das half etwas, auch wenn die Anfeindungen dadurch nicht weniger wurden. Zumindest wurde ich nicht mehr so oft geschlagen, sondern nur noch ausgegrenzt, doch damit konnte ich leben. Ich trat auch einem Karateverein bei und lernte dort, mich selbst zu verteidigen. Vor allem aber lernte ich mit der Zeit, mit mir selbst im Einklang zu sein und mich so zu akzeptieren, wie ich war. Und ich lernte, alleine klar zu kommen.
Doch nun stand ich hier, mit der Liebe meines Lebens an meiner Seite und meinem persönlichen Symbol der Hoffnung in den Händen. Es war mehr, als ich mir jemals hätte erträumen können. Eine Träne der Freude stahl sich aus meinen Augen und ich umarmte meinen Vater.
>Danke Papa. Du hast keine Ahnung, was mir dieses Geschenk bedeutet.<
Auch er war sichtlich gerührt, dass ich mich so darüber freute. Mein Schatz drückte meine Hand. Sie sah mich mit einer Mischung aus Unglauben und großer Freude an. Ich zeigte nur selten so deutlich was ich fühlte und ihr war klar, dass dieses Geschenk etwas ganz besonderes für mich sein musste.
Ich drehte mich zu ihr, schloss sie in meine Arme und küsste sie mit all der Liebe, die ich für sie empfand. Dabei fasste ich tief in mir den Entschluss, ihr schon bald den Grund zu verraten. Ihr das zu erzählen, was ich noch keinem Menschen zuvor erzählt hatte. Damit wurde auch dieser Kuss zu einem, der mein Leben verändern würde. So wie der erste Kuss, den sie mir gab und der mir den Glauben an die Liebe schenkte. So wie damals der kleine Kuss der Klinge, der etwas in mir geweckt hatte.
Texte: Alle Rechte bei mir. Die Angabe "Chris2010" auf dem Cover ist mein ursprünglicher BookRix-Username.
Bildmaterialien: Das Cover hat die BookRix-Userin "lostinlove" für mich erstellt.
Tag der Veröffentlichung: 19.07.2011
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Ich widme dieses Buch meiner Anja, die mit ihren liebevollen Küssen mein Leben stärker beeinflusst, als ihr bewusst ist.