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Hoffnung ist eben nicht Optimismus, ist nicht Überzeugung, dass etwas gut ausgeht, sondern die Gewissheit, dass etwas Sinn hat - ohne Rücksicht darauf, wie es ausgeht.

Václav Havel

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 


Kapitelübersicht:

Prolog
Kapitel 1 - Erwachen
Kapitel 2 - Versuchung
Kapitel 3 - Die Skulptur
Kapitel 4 - Ferienbeginn
Kapitel 5 - Schweden
Kapitel 6 - Das Treffen
Kapitel 7 - Sylvia
Kapitel 8 - Die Verbindung
Kapitel 9 - Taira
Kapitel 10 - Die Quelle
Kapitel 11 - Frankie
Nachwort

  

 

 

 


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Prolog

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Gut und Böse sind zwei Seiten derselben Medaille. Doch wer entscheidet, welche Seite gut und welche böse ist? Wer richtet über die Taten und wer vollstreckt das festgelegte Strafmaß?

Steckt Gut und Böse nicht in jedem von uns? Steckt nicht ebenso in jedem auch ein Richter, der sich Gewissen nennt? Hat nicht jeder die Macht, ein Urteil über sich selbst zu sprechen und für seine Vergehen zu sühnen?

Doch wer kann in die Herzen des Volkes blicken und für Gerechtigkeit sorgen, wenn der Einzelne es nicht selbst tut? Was, wenn das ganze Volk dem Bösen anheimfällt und himmelschreiende Ungerechtigkeit herrscht?

Wahrlich, ich sage euch, wenn dieser Tag kommt, wird sich die Prophezeiung erfüllen. Dann wird der Schlüssel der Hoffnung vom letzten Gerechten des Volkes gefunden werden und das Übel wird sein endgültiges Ende finden.

(Auszug aus der letzten Rede des Nikiforos)

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Kapitel 1

Erwachen

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Manchmal wacht man morgens auf und weiß einfach, dass heute ein guter Tag wird. Mit einer positiven Grundstimmung steigt man aus dem Bett, zieht die Vorhänge zurück und begrüßt das erste Licht des frühen Morgens, voller Vorfreude auf den neuen Tag. Man geht ins Badezimmer, wird dort von einem gut gelaunten Spiegelbild empfangen und fühlt sich einfach voller Energie.
Ja, solche Tage gab es. Doch heute war nicht so ein Tag. Genauso wenig wie gestern oder die vergangene Woche oder der letzte Monat. Mein Spiegelbild ließ keinen Zweifel daran. Egal wie gut das Wetter draußen war, meine Laune konnte das nicht heben. Nicht in letzter Zeit jedenfalls. Eigentlich hatte ich nur noch eine schwache Erinnerung an solch einen aufbauenden Start in den Tag, aber tief in meinem Innern wusste ich, dass es das auch bei mir mal gegeben hatte.

Ich schüttelte meinen Kopf und versuchte damit, die trüben Gedanken aus meinem Hirn zu schleudern. Weg mit den Erinnerungen an den immer wiederkehrenden Traum, der mich Nacht für Nacht besuchte, der mich quälte und den ich einfach nicht verstehen konnte. Es nützte einfach nichts, darüber zu grübeln, warum ich immer wieder dieses schreckliche Bild vor Augen hatte.

Wie jeden Morgen stieg ich erst mal unter die Dusche und ließ das kalte Wasser über meinen Körper laufen. Der erste Moment war ein kleiner, aber heilsamer Schock. Nichts konnte so gut meinen Kopf frei machen, wie eisiges Wasser, das gnadenlos auf meinen Körper prasselte und mir eine Gänsehaut bescherte.
Hecktisch rubbelte ich über mein Gesicht, die Haar und die Arme. Dann drehte ich das warme Wasser auf und entspannte mich kurz, bevor ich mich einseifte, wieder abduschte und abschließend noch mal das kalte Wasser aufdrehte.
Schnell stieg ich wieder aus der Duschkabine, trocknete mich ab, zog dann meine Schuluniform an und ging schließlich nach unten.
Der Duft von frischem Kaffee schwebte mir schon auf der Treppe entgegen und ich nahm einen tiefen Atemzug. Aus der Küche drangen mir die bekannten morgendlichen, klappernden Geräusche entgegen, die Dad immer verursachte, wenn er eilig den Frühstückstisch deckte.

>Guten Morgen Nico. Gut geschlafen?<
>Morgen Dad. Ja, geht so.<
Ich wich seinem kritischen Blick aus und setzte mich an den Küchentisch. Auch ohne dass ich es sagte, wusste er, dass ich in letzter Zeit nicht gut schlief. Man konnte es mir ansehen. Meinen Vater konnte ich da genau so wenig täuschen, wie mein Spiegelbild.
>Hör mal, Nico. Ich weiß, du willst das nicht hören, aber meinst du nicht, es wäre gut, wenn du mir erzählen würdest, was dich so bedrückt?<
>Du hast recht, Dad. Ich will es nicht hören<, gab ich genervt zurück.
Man! Warum konnte er mich damit nicht in Ruhe lassen? Wie oft hatten wir das Thema jetzt schon? 100 Mal? Ich konnte es ihm einfach nicht erklären und das hasste ich, aber er würde es noch weniger verstehen können als ich selbst.
Er seufzte intensiv auf, goss uns dann Kaffee in zwei große Tassen ein und gab mir eine davon. Ich nippte kurz und spürte gleich den aufsteigenden Dampf, der sich leicht auf mein Gesicht legte und das starke Verlangen in mir auslöste, ruhig und tief zu atmen. Ich wollte den Duft in mich aufnehmen und gleichzeitig meinen Frust mit dem heißen, schwarzen Getränk herunter spülen. Eine leicht verbrannte Zunge war fast so gut wie eine eiskalte Dusche.

>Und wie läuft es in der Schule?<, fragte er, um das Thema zu wechseln, wofür ich ihm sogar etwas dankbar war.
>Ganz gut.<, sagte ich und blickte dabei kurz von meinem Kaffee auf. >Die Prüfungsvorbereitungen sind schon heftig, aber nächste Woche gehen ja auch die Klausuren los. Soweit ist eigentlich alles O.K.<
Dad lächelte erfreut, aber meine Antwort war ja auch nicht wirklich überraschend für ihn. Er kannte schließlich meine Noten. Die Schule machte mir keine Probleme. Das hatte sie noch nie. Ich musste noch nicht einmal übertrieben viel Zeit mit Lernen verbringen, obwohl ich mehr als genug davon hatte. An den Abenden war ich meistens alleine, denn Dad kam häufig erst spät nach Hause. Sein Job als Informatiker und Projektleiter bei Apple im Europa-Hauptsitz in Cork forderte ihn immer sehr, aber er mochte seine Arbeit und deswegen war es schon in Ordnung für mich. Schließlich waren wir vor knapp zehn Jahren wegen seiner Karriere-Chance nach Irland gezogen, obwohl ich damals mit fünf Jahren noch keine Ahnung hatte, was das bedeutete. Doch irgendwie mochte ich diese grüne Insel von Anfang an und hier in Bandon fühlte ich mich schon lange zu Hause.

>Habt ihr dieses Wochenende wieder ein Spiel?<
>Ja. Unser Trainer hat die aberwitzige Idee, dass wir die West Cork Schoolboys League gewinnen könnten, wenn wir in den letzten drei Spielen Siege einfahren und die Konkurrenz patzt. Die Wahrscheinlichkeit liegt zwar höchstens bei 1:100, aber das hält ihn nicht davon ab, uns weiterhin über den Fußballplatz zu scheuchen.<
>Na, ein bisschen Ehrgeiz schadet ja nicht<, meinte Dad mit einem leichten Grinsen im Gesicht.
>Wenn’s doch nur ein bisschen wäre…<, erwiderte ich, aber zum Lachen war mir nicht zumute.
Ich mochte Fußball und hartes Training störte mich im Grunde nicht. Ich war auch gar nicht so schlecht im zentralen Mittelfeld. Früher zumindest, aber seit ein paar Monaten … seit sich mein Leben so verändert hatte … seit dieser Traum immer wieder kam … war nichts mehr wie zuvor.
Gedankenversunken schlürfte ich wieder etwas Kaffee und starrte auf die schwarze Flüssigkeit. Meine Augen spiegelten sich in der glänzenden Oberfläche und ich hatte das Gefühl, als würden sie mich aus der Finsternis heraus beobachten. Es war plötzlich irgendwie unheimlich und ich spürte einen kalten Schauer, der mir über den Rücken kroch. Verdammt! Was war nur los mit mir?

>Ich muss dann mal. … Könnte spät werden, also warte nicht mit dem Essen auf mich.<
>Geht klar, Dad. Ich lass dir auch etwas übrig.<
Er stand auf und klopfte mir im Vorbeigehen noch lächelnd auf die Schulter, was mich zusammenzucken ließ. Berührungen waren seit einiger Zeit sehr unangenehm und sie zu ertragen war schwer für mich. Ich versuchte es wirklich, mir nichts anmerken zu lassen. Gerade bei ihm. Ich mochte meinen Vater doch so sehr. Es war aber nicht nur der Körperkontakt, den ich fühlte. Da war inzwischen mehr. Es war wie ein unhörbares Knistern, eine fast nicht auszuhaltende Spannung, die ich spürte und die meinen Atem stocken ließ.
Mir war nicht klar, ob er mein Zucken bemerkt hatte oder nicht. Jedenfalls ließ er sich nichts anmerken und dann war er auch schon weg. Wie immer hatte er sich wenigstens zehn Minuten Zeit genommen, um mit mir zu frühstücken, bevor er zur Arbeit aufbrechen musste. Ich blieb noch einen Augenblick sitzen und drehte die Tasse langsam in meinen Händen im Kreis. Schließlich raffte auch ich mich mit einem kurzen Seufzer auf und ging ins Wohnzimmer. Dort machte ich es mir in einem Sessel gemütlich und schaltete den Fernseher ein, um mir die Acht-Uhr-Nachrichten anzusehen.

Das Fernsehprogramm hatte eine etwas beruhigende Wirkung auf mich. Es war wie eine Zuflucht. Etwas, das mich davor bewahrte, den Verstand zu verlieren. Dort waren die Menschen so, wie sie schon immer gewesen waren. Ganz normal eben. Sie wurden nicht von dem merkwürdigen Lichtschimmer umhüllt, den ich seit Monaten sonst überall bei jedem Menschen, bei jedem Tier und praktisch bei jeder Pflanze sah. Warum nur war das so? Was konnte das nur sein? Eine Sehstörung kam nicht in Betracht, sonst müsste das im Fernsehen doch auch so sein. Und warum war das bei Häusern, Autos oder dem Sessel nicht auch so? Stimmte etwas mit meinem Gehirn nicht? Hatte ich einen Tumor oder ähnliches?

Ich betrachtete meine Hände, die auch ein befremdliches Leuchten an sich hatten. Wie oft war ich jetzt schon da gesessen und hatte sie einfach nur angestarrt? Es war ähnlich, wie das bei anderen Menschen, aber doch irgendwie ganz anders. Wieso unterschied ich mich nur so von anderen? Wieso war es bei mir so eigenartig und hatte diesen fast unmerklichen bläulichen Schimmer, während es bei meinem Dad wie bei anderen Menschen auch einfach farblos war?

Eine leichte Bewegung der Tür ließ mich kurz aufblicken und ein minimales Lächeln stahl sich auf mein Gesicht. Sekunden später hüpfte auch schon ein maunzendes Fellknäuel auf meinen Schoß und schaute mich fragend an.
>Na, Tigerlilly? Alles klar?<
Die miauende Antwort klang irgendwie vorwurfsvoll und machte mir ein schlechtes Gewissen.
>Ich weiß ja, dass du schmusen willst, aber ich kann nicht<, sagte ich mit trauriger Stimme und als ob sie genau verstanden hätte, was ich da sagte, rollte sie sich fast deprimiert auf meinem Schoß ein und beließ es dabei, dass sie da zumindest noch sitzen durfte.
Ich hasste es, dass ich meiner Katze nicht das geben konnte, was sie sich wünschte. Ich hatte sie doch so furchtbar gerne. Sie war mein erstes Haustier und lebte wie ich seit zehn Jahren hier. So viel Freude hatte sie mir schon geschenkt und jetzt konnte ich sie nicht einmal mehr streicheln. Auch sie hatte so eine leichte Aura an sich, die ich sehen und fühlen konnte, auch wenn sie viel schwächer war, als bei den Menschen. Dennoch genügte sie, um mir Unbehagen zu bereiten, wenn ich ihr mit meinen Händen zu nahe kam. Ich verstand dieses merkwürdige Gefühl einfach nicht, das ich bei Berührungen empfand und schreckte immer wieder davor zurück.

Eine halbe Stunde lang versuchte ich mich auf das Fernsehprogramm zu konzentrieren, bis es schließlich allmählich Zeit wurde, mich wieder aufzuraffen. Ich drückte den Ausschaltknopf der Fernbedienung und richtete mich leicht auf. Augenblicklich schauten mich zwei missbilligende smaragdgrüne Augen an. Meine Süße wusste ganz genau, dass sie ihren Lieblingsplatz jetzt wieder räumen musste und sie tat dies nur unter Protest.
>Tut mir leid Lilly, aber ich muss dann los<, sagte ich entschuldigend und sie erhob sich, streckte sich kurz und sprang schließlich herunter.
Ich klopfte notdürftig die vereinzelten Katzenhaare von meinen Beinen und war wieder einmal froh, dass die Hose der Schuluniform so ziemlich den gleichen Grauton hatte, wie das Fell meines Stubentigers. So fiel es wenigstens niemandem auf, wenn ich ein paar Härchen übersehen hatte.

Danach ging ich routinemäßig in die Küche, wo ich noch schnell ein belegtes Brot mit Schinken verputzte, während ich schon mal aufräumte. Diese Aufgabe übernahm immer ich und das machte mir auch nichts aus. Dafür bereitet Dad immer alles für das Frühstück vor, während ich duschte.
Nachdem ich fertig war, packte ich noch etwas Obst für die Frühstückspause in meine Tasche, holte mein Rad aus der Garage und fuhr zur Schule. Mein Schulweg hatte knapp vier Meilen, aber mit dem Rad schaffte ich das in rund 15 Minuten, je nachdem, wie gut das Wetter war und heute war absolut tolles Wetter.
Die Sonne schien, es waren kaum Wolken zu erkennen und das Thermometer war bestimmt schon im zweistelligen Bereich. Beste Voraussetzungen, dass es heute mal über 20 Grad geben könnte. Eine schöne Einstimmung auf die Sommerferien in drei Wochen.

Ich spürte die wärmenden Sonnenstrahlen und genoss das prickelnde Gefühl auf dem Gesicht. Ein paar Mal gab ich dem Verlangen nach und schloss ganz kurz die Augen, doch nur für höchstens eine Sekunde, denn mehr wollte ich während der Fahrt nicht riskieren.
Wenn der Himmel so wunderbar blau war und alles in helles Licht getaucht wurde, dann wirkte das Leuchten der Menschen, Tiere und Pflanzen um mich herum nicht mehr ganz so fremdartig. Bei solch einem Wetter hatte es sogar irgendwie etwas Schönes an sich. Die ganze Natur wirkte dadurch noch lebendiger und mir kam mein Leben in solchen Augenblicken nicht mehr so schwierig vor.

Es war ziemlich genau neun Uhr, als ich am St. Brogan’s College ankam. Ich hatte also noch zehn Minuten bis Unterrichtsbeginn. Seit drei Jahren ging ich an diese Schule und würde in Kürze diesen ersten Abschnitt mit dem Junior-Certificate abschließen. Einige meiner Klassenkameraden wollten dann schon abgehen und eine Ausbildung anfangen. Für mich stand aber schon lange fest, dass ich noch drei weitere Jahre hier bleiben würde. Zumindest war das bisher so geplant gewesen und auch wenn ich nun dieses merkwürdige Problem hatte, wollte ich mir das nicht kaputt machen lassen.
Das St. Brogan’s College war außerdem etwas Besonderes und das nicht nur, weil es eine gut ausgestattete Schule war. Es war auch das einzige College in der Gegend, das für Jungs und für Mädchen zugänglich war. Alle anderen waren strikt getrennt.
Dad meinte, dass die Iren doch noch sehr traditionsversessen wären und dass er froh gewesen war, dass es hier auch eine “normale” Schule gab. Er hielt gar nichts von der Trennung und meinte, dass die Eltern, die ihre Kinder an eine gemischte Schule schickten, einfach weltoffener wären. Ob das tatsächlich so war, konnte ich nicht sagen, aber mir gefiel es hier.

Gerade als ich neben meinem Fahrrad kniete und es mit einem massiven Bügelschloss sicherte, drang plötzlich der Klang einer ganz besonderen Stimme zu mir durch. Ich war sofort wie elektrisiert und alles um mich herum wurde unwichtig. Meine ganze Aufmerksamkeit war von einem Moment auf den anderen nur noch bei ihr. Egal ob ich wollte oder nicht, ich konnte nicht anders, als meinen Kopf zu heben und zu versuchen, halbwegs unauffällig in ihre Richtung zu schauen. Sie kam gerade mit ihren Freundinnen von der Bushaltestelle und lief vielleicht im Abstand von fünf Meter an mir vorbei, während sie sich angeregt mit den anderen unterhielt.
Augenblicklich schlug mein Herz schneller und ich wurde nervös, dabei beachtete sie mich gar nicht. Aber ich beachtete sie. Kassandra, oder Kara, wie sie von ihren Freundinnen genannt wurde, hatte schon immer etwas Faszinierendes an sich. Schon seit ich sie das erste Mal vor drei Jahren gesehen hatte, sah ich in ihr etwas Besonderes. Auf andere schien sie mit ihrer zierlichen Figur eher einen unscheinbaren Eindruck zu machen, doch auf mich wirkte sie ganz anders. Ich mochte schon immer ihre kurzen dunkelbraunen, fast schwarzen Haare, die so untypischen graugrünen Augen, aber vor allem ihr Lachen, den Klang ihrer Stimme und die Art, wie sie sich bewegte.

>Hey! Träumst du noch oder schon wieder?<
Ich schrak auf und blickte in ein von Sommersprossen übersätes und von rötlichen Haaren umrahmtes Gesicht.
>Man, Colin. Musst du dich so anschleichen?<
>Ha! … War ja klar, dass ich jetzt wieder schuld bin. Aber zu deiner Information, ich stehe schon eine ganze Weile direkt vor dir. Allerdings habe ich es geschafft, mein Fahrrad in unter einer Minute abzuschließen.<
Beim letzten Satz grinste er mich unverschämt breit an und ich wusste nicht, wie ich damit umgehen sollte und sagte erst einmal gar nichts.
>Also ehrlich, Nico. Wie lange schwärmst du jetzt schon für Kara? Jetzt trau dich endlich und sprich sie an … oder ich mach es.<
Wie von der Tarantel gestochen fuhr ich hoch und sah ihn warnend an.
>Halt dich zurück, Colin.<
Einen kurzen Augenblick lang wirkte er überrascht, doch dann klopfte er mir kurz auf die Schulter und grinste mich wieder breit an. Für ihn war das nur eine freundschaftliche Geste, doch für mich war das der reinste Stress und es kostete mich viel Überwindung, nicht zurück zu weichen. Durch seine Berührung wurde ich noch verkrampfter als ich ohnehin schon war und atmete schwer.
>Ist ja gut, Alter. Ich werde mich da schon raus halten, aber du solltest wirklich…<
>Das ist meine Sache<, knurrte ich mehr, als dass ich es sagte.
Colin hob abwehrend die Hände, schien sich aber weiter über mein Verhalten zu amüsieren, was es mir nicht gerade leichter machte, mich wieder zu beruhigen.

Er hatte doch überhaupt keine Ahnung, wovon er da sprach. Wie oft hatte ich mir selbst schon vorgenommen, sie anzusprechen und es dann doch nicht gewagt. Und jetzt? Jetzt da ich sie mit anderen Augen sah, ja sehen musste, konnte ich es noch weniger.
Diese leuchtende Aura, die ich bei allen Menschen sehen und auch spüren konnte, war bei ihr irgendwie noch intensiver. Wenn ich doch nur wüsste, was das zu bedeuten hatte. Wie sollte ich sie jetzt nur ansprechen können? Und sollte ich das überhaupt machen? Was, wenn mich dieser pulsierende Lichtschimmer um sie herum vor etwas warnen sollte? Was, wenn dieser entsetzliche Traum, der mich seit Wochen und Monaten immer wieder heimsuchte, wahr werden würde?
Ich wusste nicht, was ich machen sollte, aber ich wusste, dass es eine Sache gab, die ich machen konnte. Mich von ihr fernhalten.

Entschlossen, wenn auch noch immer innerlich verkrampft, packte ich meine Schultasche und stapfte kommentarlos in Richtung Eingangstür. Colin kam mir gleich hinterher und war kurz darauf an meiner Seite.
>Jetzt reg dich schon wieder ab. Ich sag Kassandra schon nichts. Aber ehrlich, ich versteh dich nicht.<
>Musst du auch nicht. Du musst mich nur damit in Ruhe lassen.<
>O.K., O.K., ich werde das böse, böse Thema nicht mehr ansprechen. … Wie war dein Wochenende?<
>Total entspannend<, sagte ich mit sarkastischem Unterton. >Es war ja so erholsam, am Samstag 90 Minuten lang auf der Ersatzbank zu hocken und euch dabei zuzusehen, wie ihr 0:0 spielt.<
>Mensch Nico, was ist denn los mit dir? Ich finde es ja auch beschissen, dass Mr. Buckley dich nicht aufstellt, aber …<

Ich wusste, was er sagen wollte. Dazu musste er es nicht aussprechen. Ich spielte erbärmlich. Es war nicht immer so gewesen. Bis vor einem halben Jahr war ich noch richtig gut und hatte einen Stammplatz, aber seit ich alles um mich herum so anders wahrnahm, konnte ich es einfach nicht mehr so wie früher. Ich konnte mich nicht mehr richtig auf das Spiel konzentrieren und in Zweikämpfe gehen. Im Grunde war ich sogar froh, auf der Bank sitzen zu dürfen und nicht auf das Spielfeld zu müssen. Ich dachte auch schon darüber nach, den Sport aufzugeben, aber ich hoffte noch immer, dass mein Problem vielleicht wieder weggehen würde. Eine schwache Hoffnung, aber ich wollte sie nicht aufgeben.
>Ich weiß ja, Colin. Ich hab’s zurzeit einfach nicht drauf.<
>Das wird schon wieder. Du musst einfach nur am Ball bleiben.<
Er klopfte mir noch einmal aufmunternd auf die Schulter und dann gingen wir schweigend hinein.

Der Unterricht war mal wieder nur von Wiederholungen und Übungen geprägt, was ja eigentlich auch logisch war, da wir kurz vor den Abschlussprüfungen standen. Da war jetzt nichts Neues mehr dabei, aber mir war das ganz recht. Ich war ziemlich gut vorbereitet und konnte so notfalls noch ein paar offene Fragen klären. Die Prüfungen machten mir an und für sich keine Sorgen. Nein, da hatte ich ein anderes Problem, das weitaus schwerwiegender für mich war.

Meine Augen waren auf die Gleichungen an der Tafel gerichtet, doch in meinem Kopf spielte sich keine Mathematik ab. Erinnerungen kamen in mir hoch. Verschwommene Bilder, die mir noch einmal zeigten, wie es bei mir angefangen hatte. Erst nahm ich den Lichtschein bei den Menschen kaum war. Das schimmernde Leuchten trat auch nur ab und zu auf, wurde mit der Zeit aber immer deutlicher. Zunächst konnte ich es nur sehen. Oft saß ich deswegen dann in der Schule an meinem Schreibtisch und drückte mir die Hände auf die Augen und hoffte, dass es wieder weggehen würde, doch das geschah nicht. Das Gegenteil war der Fall. Nach vier Wochen sah ich es ständig und nicht nur bei den Menschen. Bald sah ich es auch bei Tieren und später sogar bei Pflanzen.

Und dann, wieder einen knappen Monat später, konnte ich diese Aura sogar fühlen, sobald sie in meine Nähe kam. Seither waren Berührungen für mich fast unerträglich. Nie zuvor hatte ich etwas Vergleichbares empfunden und es fiel mir so schwer, mich daran zu gewöhnen und nicht bei jedem Körperkontakt zusammenzuzucken. Die Aura zu sehen, war eine Sache, aber ihre Nähe zu spüren, eine ganz andere.
Ich hatte Angst vor ihr. Sie zog mich irgendwie an, doch es war für mich keine positive Anziehungskraft. Ich fürchtete mich vor ihr, wie vor einem Strudel, der drohte, mich in die Tiefe mit zu reißen. Manchmal fürchtete ich mich aber auch davor, dass es genau umgekehrt sein könnte. Vor allem, seit ich diese Albträume hatte. Wenn ich die Bedeutung doch nur verstehen könnte.

Nur eine Sache schenkte mir etwas Zuversicht. Seit einem viertel Jahr wurde es wenigstens nicht mehr schlimmer. Als das Fühlen zum Sehen dazu kam, graute mir davor, was als nächstes mit mir passieren würde, doch weiter geschah nichts mehr. Auch wenn ich mir oft wünschte, ich würde morgens aufwachen und wieder ganz normal sein, so sagte mir mein Bauch noch mehr als mein Verstand, dass es so bleiben würde, wie es jetzt war und dass ich lernen musste, damit umzugehen, damit zu leben.

Der Vormittag zog sich irgendwie schleppend hin und ich war richtig froh, als die ersten drei Unterrichtseinheiten vorbei waren und wir 15 Minuten Frühstückspause hatten. Die nutzte ich wie eigentlich immer, um mir draußen kurz die Beine zu vertreten, meine Lunge mit frischer Luft zu füllen und mein mitgebrachtes Obst zu essen.
Ich ließ meinen Blick über den Pausenhof schweifen und verschluckte mich beinahe an meinem Apfel, als ich völlig unerwartet Kassandra entdeckte. Was machte sie denn hier? Im Grunde hoffte ich ja immer, dass sie auch hier her kommen würde, aber das tat sie nur äußerst selten. Ob es an dem super Wetter lag, dass sie mit ihren Freundinnen die Pause hier draußen verbrachte? Die fünf Mädchen standen in der Sonne, unterhielten sich und lachten miteinander. Kassandras Stimme konnte ich dabei ganz deutlich heraus hören.
Ich versuchte ganz unauffällig zu ihr rüber zu schauen und sie heimlich zu betrachten. Gott, ich sah sie so gerne an, auch wenn mich ihre leuchtende Aura, die alle anderen um sie herum zu überstrahlen schien, so sehr irritierte und verunsicherte. Wie konnte das nur sein? Wenn dieses merkwürdige Licht auf mich so bedrohlich wirkte, warum war es dann ausgerechnet bei dem Mädchen am stärksten, dass ich doch am meisten mochte? Wie sollte das jemals einen Sinn ergeben?

In Gedanken versunken, lehnte ich an einer Hauswand und starrte vor mich hin, während ich weiterhin an meinem Apfel knabberte. Nach einer Weile realisierte ich plötzlich, dass mein Blick von zwei wunderschönen graugrünen Augen erwidert wurde. Ihr Gesichtsausdruck war weder verärgert, noch belustigt, sondern eher überrascht, doch ich hatte schlagartig das ungute Gefühl, etwas Verbotenes getan zu haben und dabei erwischt worden zu sein. Ich konnte nicht anders, als meinen Blick auf irgendeinen Punkt vor mir auf dem Boden zu fixieren. Mein Herz schlug mir bis zum Hals und ich überlegte fieberhaft, was ich jetzt tun sollte.
Nervös schaute ich auf meine Armbanduhr. Ich hatte noch gut fünf Minuten, doch ich wollte lieber keine Sekunde länger hier bleiben. Schnell drehte ich mich weg und ging wieder in das Gebäude. Den halben Apfel warf ich gleich in einen Mülleimer, denn mit dem Kloß in meinem Hals würde ich sowieso nichts mehr essen können. Ich rannte fast zurück ins Klassenzimmer und wischte mir dabei mehrmals die schwitzigen Hände an meinem Pullover ab.

Mein Herz raste noch immer, als ich mich wieder schwer atmend an meinen Platz setzte, den Kopf auf beide Hände abstützte und den Blick auf das vor mir liegende Buch richtete. Dabei nahm ich das Buch noch nicht mal richtig wahr. Es war mir total egal. In meinem Gehirn war im Moment kein Platz dafür.
Was hatte ich mir nur dabei gedacht, sie so anzustarren? Was würde sie jetzt von mir denken? Es war ja nicht das erste Mal, dass sie mich angesehen hatte, aber so lange und intensiv wie heute war es noch nie gewesen. Was sollte ich denn jetzt nur machen? Würde sie jetzt denken, dass ich etwas von ihr wollte? Verdammt, ich wollte ja wirklich, aber ich konnte das doch nicht riskieren.

>Geht es dir nicht gut?<, hörte ich plötzlich Colin neben mir sagen.
>Was? … Nein … Wieso?<, gab ich stockend zurück.
>Na, du schwitzt, als hättest du gerade eine extra Konditionstrainingseinheit bei Mr. Buckley hinter dir.<
>Ähm … Nein, ich weiß auch nicht. … Ist warm heute.<
>Warm? Es hat doch noch nicht mal 20 Grad<, sagte er und klang dabei verwundert.
>Ich, ähm, war draußen in der Sonne. Da ist es wärmer.<
>Aha?!? … Na ja, wenn du meinst.<
Ich erwiderte nichts mehr. Die Unterhaltung mit Colin führte nicht gerade dazu, dass ich wieder zur Ruhe kommen konnte. Stattdessen kramte ich lieber die Bücher und Hefte für die nächste Unterrichtsstunde aus der Tasche und blätterte lustlos in den Unterlagen und tat so, als würde ich mich vorbereiten. Zum Glück gab Colin auf und bohrte nicht weiter nach. Ich hätte ihm sowieso nichts sagen können. Mir war ohnehin klar, wie seine Meinung dazu aussehen würde.

Während des gesamten Unterrichts versuchte ich, meine unruhigen Gedanken zur Seite zu schieben und mich auf das zu konzentrieren, was wir gerade zum Thema hatten, doch ich konnte noch nicht mal sagen, was genau das war. Ich schaffte es einfach nicht. Ständig sah ich ihr Gesicht vor mir, wie sie mir direkt in die Augen schaute, dann wieder das Leuchten, das sie umgab und dann wieder Bilder aus meinem Albtraum.
Wenigstens hatte ich das Glück, dass man meinen starren Blick in die Bücher als ernsthaftes Lernen deutete und mich in Ruhe ließ. So rettete ich mich durch den Vormittag in die Mittagspause. Dann gingen wir wie üblich in die Mensa, wo ich bei Colin und ein paar Jungs aus unserer Fußballmannschaft meinen Stammplatz hatte.
Heute gab es Irish Stew als Hauptmahlzeit. Diese Mischung aus Eintopf und Auflauf gab es fast jeden Montag, aber im Grunde fand ich es ganz gut. Es war mir jedenfalls viel lieber als Lammkoteletts mit Minzsoße, was hier für meinen Geschmack viel zu oft auf der Speisekarte stand.
Die Jungs unterhielten sich über die bevorstehenden Prüfungen und über die noch ausstehenden Spiele und unsere hauchzarte Chance, auf die Meisterschaft. Beides war mir im Augenblick ziemlich egal und so konzentrierte ich mich lieber auf mein Essen.

>Sag mal, Nico, ist mir da irgendetwas entgangen?<, fragte mich plötzlich Colin.
>Was meinst du?<
>Na, Kara hat bestimmt schon fünf Mal hier rüber geschaut. Das macht sie doch sonst nie.<
>Kassandra macht was?<, sagte ich schon fast entsetzt und blickte sofort zu ihrem Platz.
Ich wusste genau wo sie saß. Auch sie hatte einen Stammplatz bei ihrer Mädchengruppe und ich sah immer wieder mal gerne zu ihr, aber sie doch nie zu mir. Mit einer merkwürdigen Mischung aus Erleichterung und Enttäuschung stellte ich fest, dass sie zumindest im Augenblick nicht hier her schaute. Trotzdem war ich sofort wieder nervös und stocherte wahllos in meinem Stew herum.
>Da hast du dich bestimmt getäuscht<, sagte ich und versuchte dabei gelassen zu klingen, was mir aber nicht so recht gelingen wollte.
>Ich weiß doch, was ich gesehen habe<, erwiderte er.
>Man, Colin. Ich habe dir doch gesagt, du sollst dich da raus halten. Warum glotzt du sie überhaupt an?<
>Ich glotze sie überhaupt nicht an. Sie sitzt halt neben Eileen. Die glotze ich an<, sagte er und grinste dabei breit. >Da! Sie schaut schon wieder her.<

Die Neugierde war zu groß und ich konnte dem Drang nicht widerstehen, kurz in ihre Richtung zu schauen. Tatsächlich. Für den Bruchteil einer Sekunde trafen sich unsere Blicke, doch dann wendete sie sich schnell ab und aß weiter.
Auch wenn es nur Millisekunden waren, so hatten wir doch Blickkontakt und ich war gleichermaßen überglücklich wie auch entsetzt. Was hatte ich vorhin auf dem Hof nur angerichtet? Das durfte einfach nicht wahr sein. Ich spürte doch die Gefahr, auch wenn ich sie nicht begreifen konnte.
Eine starke innere Unruhe ergriff mich und ich stand auf, nahm wortlos mein Tablett und räumte es weg. Dann ging ich nach draußen, atmete tief durch und versuchte wieder zur Ruhe zu kommen.
Nach der Pause kehrte ich erst kurz vor Unterrichtsbeginn wieder an meinen Platz im Klassenzimmer zurück, um Colin keine Gelegenheit zu geben, mich darauf anzusprechen. Zum Glück tat er es auch nicht, was ohnehin nicht nötig war, denn sein verständnisloser Blick zeigte überdeutlich, dass mein Verhalten für ihn ein Rätsel war.
Wenigstens verschonte er mich auch den Rest des Nachmittags mit diesem Thema und verabschiedete sich zum Schulschluss mit einem kurzen >dann bis morgen< von mir. Ich nickte ihm nur zu und machte mich meinerseits auf den Heimweg.

Ich kam ein paar Minuten nach vier zu Hause an und hörte gleich das brummende Geräusch eines Staubsaugers. Die Geräuschquelle war schnell lokalisiert und so stellte ich meine Tasche erst einmal neben der Treppe ab und öffnete dann die Tür zum Wohnzimmer. Dort war Mrs. O'Brien, unsere Haushälterin und früher mein Kindermädchen, bei der Arbeit.
>Hallo Nana<, begrüßte ich sie, was ihr sofort ein Lächeln auf die Lippen zauberte.
Sie mochte es sehr, wenn ich sie so nannte und auch wenn ich das nicht mehr vor anderen tun würde, so machte ich das doch gerne, wenn wir unter uns waren.
>Hallo mein Lieber. Wie war dein Tag? Geht es dir gut? Hast du Hunger? Soll ich dir was zu essen machen?<
Ein Grinsen machte sich auf meinem Gesicht breit. Nana bombardierte mich mal wieder mit ihrer rührenden Fürsorge. Auch wenn sie es manchmal übertrieb, so schenkte sie mir doch immer ein gutes Gefühl. Wenn es überhaupt einen Menschen gab, der mir die Mutter ersetzen konnte, die mir seit elf Jahren fehlte, dann war sie es.
>Ja, mir geht es gut und nein, ich habe noch keinen Hunger. Heute gab es einen ganz ordentlichen Stew in der Schule. Vielleicht später. Bei Dad wird es ohnehin spät werden.<

Den letzten Satz nahm sie etwas missbilligend zur Kenntnis, wie ich deutlich an ihrer Miene ablesen konnte, doch sie schaffte es immer, sich in Sekunden wieder auf etwas Positiveres zu konzentrieren. Eine Fähigkeit, um die ich sie wahrlich beneidete.
>Natürlich Nicoschatz. Ich mache dir nachher etwas Leckeres zum Abendessen.<
>Danke Nana, ich geh dann mal in mein Zimmer.<
Sie schenkte mir noch ein liebevolles Lächeln, das ich sehr gerne erwiderte. Dann schnappte ich mir meine Tasche und ging nach oben in mein Zimmer.
Abgesehen davon, dass sie einfach eine gute Seele war, gehörte sie auch zu den wenigen Menschen, die gemerkt haben, dass mir Berührungen zurzeit unangenehm waren. Obwohl sie mich früher immer herzlich umarmt hatte, machte sie dies inzwischen nicht mehr, sondern hielt sich wie selbstverständlich zurück. Trotzdem schenkte sie mir so viel liebevolle Zuneigung, dass ich sie nur noch mehr in mein Herz schloss.

In meinem Zimmer angekommen, fiel mein Blick gleich auf mein Bett, in dessen Mitte es sich mein Stubentiger gemütlich gemacht hatte. Normalerweise schlief sie ja vorzugsweise im Wohnzimmer, aber wenn der Putzteufel dort am Werken war, suchte sie sich lieber ein anderes Plätzchen und das war dann für gewöhnlich mein Bett.
Sie blinzelte kurz mit ihren smaragdgrünen Augen in meine Richtung und räkelte sich ein bisschen, machte aber keine Anstalten, das Feld zu räumen. Dafür war es dort wohl viel zu gemütlich.
Ich hatte auch gar nicht vor, sie zu vertreiben, sondern ging als allererstes zu meiner Stereoanlage und legte eine CD von Zaz ein. Dad hatte sie mir geschenkt, als Unterstützung für meinen Französischunterricht. Abgesehen davon fand ich die Musik auch gar nicht schlecht.
Zu den ersten Klängen aus den Lautsprechern ging ich zum Bett, schob die Decke samt der darauf liegenden Katze vorsichtig ein Stückchen zur Seite und machte es mir neben ihr ebenfalls gemütlich. Sie ließ sich jedenfalls nicht wirklich davon stören und schnurrte sogar ein bisschen. Zu gerne hätte ich sie jetzt gestreichelt, doch ich wagte es nicht. Alleine der Anblick des Lichtschimmers, der sie umgab, hielt mich davon ab. Sie zu berühren konnte ich mir einfach nicht vorstellen und so legte ich lieber die Hände auf meinem Bauch ab.

Ich fühlte mich müde und wollte einfach nur ein bisschen entspannen, aber die Erlebnisse des heutigen Tages gingen mir noch immer im Kopf herum. Warum nur hatte ich Kassandra auf mich aufmerksam machen müssen? Das machte alles doch nur noch schwieriger. Gerade bei ihr fürchtete ich mich am meisten vor dem, was passieren könnte, wenn ich ihrer Aura zu nahe kam.
Ich schloss die Augen und sah sie sofort wieder vor mir, wie sie meinen Blick erwiderte und mich anlächelte. Ich mochte diesen Anblick sehr, trotz des Lichtschimmers, der ihren Körper umgab. Sie war einfach faszinierend schön und ein tiefer, seufzender Atemzug entwich meiner Brust.
Doch genau so sah ich sie auch fast immer am Anfang meines Albtraumes und kaum, dass ich daran gedacht hatte, veränderte sich sofort das Bild in meinem Kopf. Ganz so, wie es Nacht für Nacht passierte, geschah es auch jetzt. Ich konnte einfach nichts dagegen tun. Ich konnte meinen Traum nicht in eine andere Richtung lenken oder ihn stoppen. Unaufhaltsam glitt ich tiefer in ihn hinein, als ob mein Verstand in Treibsand gefangen wäre.

Vor meinem inneren Auge wurde es düster und kalt und schlagartig veränderte sich ihr Gesichtsausdruck. War es Angst? War es Entsetzen? Ich wusste es nicht. Ein bedrohlicher Schatten lag über allem und ich fühlte diese lähmende Verzweiflung. Ich hob die Arme, um ihr zu signalisieren, dass sie weg gehen sollte, doch sie reagierte nicht. Ich wollte ihr zu schreien, dass sie sich in Sicherheit bringen sollte, doch kein Laut kam über meine Lippen.
Und dann, von einem Moment auf den anderen, geschah es. Das Licht um sie herum erlosch plötzlich und sie sackte kraftlos zusammen. Sie lag einfach nur noch vor mir auf dem Boden und ihre leblosen Augen starrten durch mich hindurch. Ich stand fassungslos und wie erstarrt da. Es fühlte sich wie eine Ewigkeit an, bis ich mich lösen und zu ihr hinunterbeugen konnte. Mit festem Griff packte ich sie dann an den Schultern und schüttelte sie, doch es nützte nichts.
Mein Blick sucht die Umgebung nach Hilfe ab, die es nicht gab. Er suchte nach Antworten, die verborgen blieben. Weswegen musste sie nur sterben? Warum konnte ich es denn nicht verhindern?

Ich riss die Augen wieder auf und starrte zu Decke. Ich hasste diesen Traum und jetzt befiel er mich schon, wenn ich nur kurz die Augen schloss. Ich verstand ihn einfach nicht. Es musste doch eine Bedeutung haben, dass ich immer wieder den gleichen Albtraum hatte.
Angefüllt von quälender innerer Unruhe konnte ich nur schwer atmen. Ich fühlte mich so alleine, aber es gab einfach niemanden, mit dem ich darüber hätte reden konnte. Niemand außer mir hatte so eine Wahrnehmung, dessen war ich mir ganz sicher. Unzählige Stunden hatte ich im Internet nach Antworten gesuchte, doch da ging es fast immer nur um Esoterik und Okkultismus. Es war auch überwiegend die Rede von verschiedenen Farben der Aura, dass sie sich ständig verändern würde und dass sie ein Spiegel der Seele wäre, doch so nahm ich sie nicht wahr.
Für mich war es einfach ein Leuchten, wie das weiße Licht einer Straßenlaterne im Nebel. Es war dennoch klar und hell und anziehend, doch empfand ich es nicht als positiv, sondern eher als tückisch, wie ein Irrlicht im Sumpf. Ich konnte die Aura fühlen. Ich spürte doch jedes Mal diese unheimliche Spannung, wenn ich ihr zu nahe kam. Etwas in mir warnte mich vor einer unbestimmten Gefahr und gerade bei Kassandra war dieses Bauchgefühl besonders stark. So sehr ich sie auch mochte oder vielleicht gerade deshalb, musste ich mich von ihr fern halten. Sie war in meiner Nähe nicht sicher.

Ich versuchte erneut zumindest für eine Weile meinen Verstand auszuschalten. Versuchte die Bilder einfach weg zu schieben und nur die Musik auf mich wirken zu lassen. Der Gesang von Zaz erinnerte mich an Paris und ich klammerte mich an diesen Gedanken. Dort hatte ich vor zwei Jahren einmal einen Urlaub mit meinem Vater verbracht. Damals war mein Leben noch unbeschwerter und ich konnte mir kein schlimmeres Problem vorstellen, als den Stimmbruch, den ich damals hatte. Nun ja, Dad hatte sich jedenfalls bei jeder unserer Unterhaltungen köstlich amüsiert. Doch heute…

>Verdammt!<, fluchte ich vor mich hin und richtete mich so ruckartig wieder auf, dass meine arme kleine Tigerlilly vor Schreck zusammenzuckte und mich mit großen Augen kritisch musterte.
>Tut mir leid<, sagte ich zu ihr und erhob mich vom Bett.
Ich fuhr mir mit den Fingern durch die Haare und ging ruhelos in meinem Zimmer auf und ab. Keine fünf Minuten konnte ich abschalten, ohne dass dieses beschissene Thema durch eine verfluchte Hintertür wieder in mein Bewusstsein drängte. Ich spürte diesen wachsenden Zorn in mir, der wie ein glühendes Stück Kohle in meinem Magen brannte. Mit geballten Fäusten hielt ich dann einen Augenblick vor dem Fenster an und starrte vor mich hin. Ich hatte das Gefühl, kurz vor dem Zerbersten zu stehen. Ich musste einfach hier raus und beschloss, meine Sportsachen anzuziehen und eine Runde laufen zu gehen.
Nicht allzu weit von unserem Zuhause entfernt war ein kleiner Wald, der hervorragend dafür geeignet war. Ich wollte so schnell wie möglich dort hin und rannte fast die Treppe hinunter, um keine Sekunde zu verlieren. Nur kurze Zeit später war ich auch schon im Wald und joggte meine gewohnte Strecke entlang.
Der Wald war nicht unbedingt perfekt dafür, mich vollkommen abzulenken, denn auch hier sah ich das Leuchten an jedem Baum und jedem Strauch, doch es war bei weitem nicht so kräftig und anziehend wie bei Menschen. Die Spannung, die ich bei Berührungen von Ästen und Blättern verspürte, war auch so gering, dass sie mir fast nichts ausmachte. Vor allem aber hatte die Ruhe und Gelassenheit des Waldes eine ermutigende Wirkung auf mich. Hier fühlte ich mich freier und unbeschwerter.

Nach etwa einer Stunde Waldlauf war ich ziemlich ausgepowert, aber auch irgendwie gelöster und entspannter. Es war schon kurz vor sechs, als ich wieder zu Hause ankam. Aus der Küche schwebte mir schon ein ziemlich leckerer Essensduft entgegen und Nana stellte mit einem Lächeln einen großen Glaskrug mit Apfelsaftschorle auf den Tisch. Mein bevorzugtes Getränk nach einem Waldlauf. Ich goss mir ein großes Glas ein und leerte es. Anschließend ging ich schnell nach oben, um mich kurz abzuduschen und umzuziehen. Danach nahmen wir noch zusammen das Abendessen ein, bevor sie sich schließlich verabschiedete.
Den Rest des Tages verbrachte ich in mein Zimmer, um noch ein wenig Zeit für die Prüfungsvorbereitung zu nutzen, die heute in der Schule zu kurz gekommen waren.
Dad kam erst gegen zehn Uhr nach Hause und ich leistete ihm noch etwas bei seinem Abendessen Gesellschaft. Er war allerdings ziemlich müde und bald darauf gingen wir beide zu Bett.


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Kapitel 2

Versuchung

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Am nächsten Morgen ging ich mit einem etwas mulmigen Gefühl in die Schule. Die Ungewissheit, wie Kassandra sich verhalten würde, machte mich nervös. Ich hoffte inständig, dass sie nicht auf die Idee kam, mich vielleicht zur Rede zu stellen. Vermutlich war meine Sorge übertrieben, aber was, wenn sie es doch tun würde? Ich wusste nicht, wie ich damit umgehen sollte. Würde ich überhaupt die Kraft haben, sie einfach zurückzuweisen? Doch genau das müsste ich dann tun. Davon war ich überzeugt, denn ich hatte in der Nacht wieder den gleichen entsetzlichen Traum gehabt.

Um eine Begegnung vor dem Eingang zu vermeiden, war ich bewusst zehn Minuten früher losgefahren. Colin quittierte das später im Klassenzimmer mit einem >Bist du aus dem Bett gefallen?<, beließ es ansonsten aber dabei und unterhielt sich ganz locker mit mir. Ich schöpfte daraus etwas Hoffnung, dass der Tag vielleicht ganz normal verlaufen könnte und schaffte es auch, mich wieder auf den Unterricht zu konzentrieren.
Die Frühstückspause war etwas heikel. Ich hatte nicht damit gerechnet, dass Kassandra mit ihren Freundinnen schon wieder im Schulhof sein könnte, aber das Wetter war immer noch sehr schön und das hatte sie wohl erneut heraus gelockt. Diesmal achtete ich aber darauf, sie nicht noch einmal so anzustarren, sondern warf ihr nur hin und wieder kurze verstohlene Blicke zu. Selbst die hätte ich wohl besser vermieden, doch ich konnte der Verlockung einfach nicht widerstehen. Ich betrachtete sie so gerne. Vor allem im Sonnenlicht, denn da sah ihr leuchtender Schimmer direkt schön aus und sie wirkte wie eine kleine, zweite, schillernde Sonne.
So geschah es erneut, dass wir uns für einen sehr kurzen Augenblick in die Augen schauten, bevor wir uns beide wieder abwandten. Dennoch, dieser kurze Moment genügte, um mein Herz wieder in Aufruhr zu versetzen. Es hämmerte in meiner Brust und schrie mir förmlich zu, dass es so gerne in ihrer Nähe sein und mit ihr reden wollte, doch alleine der Gedanke verursachte bei mir Schweißausbrüche.
Abgesehen davon, dass es viel zu gefährlich war, wie sollte ich denn überhaupt sicher sein, dass es nicht nur an ihrer Aura lag, dass sie so eine Wirkung auf mich hatte? Nein, ich durfte dieses Risiko einfach nicht eingehen und blieb lieber auf Distanz.

In der Mittagspause versuchte ich praktisch die ganze Zeit nicht zu ihr zu schauen und flüchtete mich geradezu in Gespräche mit meinen Kumpels. Das heutige Fußballtraining war natürlich ein wichtiges Thema, denn wir fragten uns, was sich Mr. Buckley wohl diesmal ausgedacht hatte, um das Team vielleicht zu einem Sieg am Samstag zu führen. Nun ja, mit dem Ausgang des Spiels würde ich wohl nichts zu tun haben, aber das Training wollte ich natürlich mitmachen.

Nach dem Essen hatten wir noch eine Stunde Musik und gleich im Anschluss unser Fußballtraining. Mr. Buckley meinte, dass im nächsten Spiel die Eckbälle und Freistöße der Schlüssel zum Erfolg sein würden. Deshalb sollten wir heute schwerpunktmäßig diese Standardsituationen einstudieren. Das bedeutete im Wesentlichen zweierlei für mich. Erstens, das Training würde körperlich nicht sehr anstrengend werden, was ja nicht das schlechteste war. Zweitens, ich würde mich wohl zwangsläufig an dem Getümmel vor dem Tor beteiligen müssen, was mir absolut zuwider war. Es war auch so schon hart genug für mich, andere Menschen hin und wieder berühren zu müssen, aber dieses Anrempeln, Schieben und Zerren war der reinste Horror. Alleine bei dem Gedanken daran, spürte ich ein Kribbeln auf der Haut, als wäre da plötzlich ein schwaches Echo vom letzten Training.
Wieder einmal wurde ich von Zweifeln geplagt, ob das überhaupt noch einen Sinn für mich machte. Ich liebte diesen Sport und wollte ihn wirklich nicht aufgeben, aber war es das noch wert? Sicher war ich mir da nicht, aber noch war ich nicht bereit, einen Schlussstrich zu ziehen.

Mr. Buckley überraschte die anderen und mich allerdings damit, dass die Eckbälle und Freistöße diesmal von mir geschossen werden sollten. Das war zwar auch früher immer mein Job gewesen, doch seit meiner “Formkrise” wurde das von anderen erledigt. Das war im Grunde auch logisch, denn ich wurde schließlich nicht mehr aufgestellt und nur noch selten eingewechselt. Trotzdem war das immer etwas gewesen, das ich gut konnte und so übte ich öfters auch Freistöße alleine nach Trainingsschluss.
Jedenfalls war ich sehr erleichtert, dass ich diesmal diese Aufgabe übernehmen sollte und das Training machte richtig Spaß. Zum Abschluss meinte der Coach dann noch mit einem Lächeln zu mir, dass ich mein Talent wohl doch noch nicht verloren hätte. Das freute mich natürlich sehr, denn ich hatte schon lange kein Lob mehr gehört, aber ich wusste auch, dass mein Problem eben wo anders lag. Ein Problem, das sich nicht beiseiteschieben ließ oder das ich wie einen Ball einfach von mir wegschießen konnte. Dennoch war es seit langem mal wieder ein Tag gewesen, an dessen Ende ich mit einem zufriedenen Gefühl meinem Dad vom Training erzählen konnte und recht gut gelaunt zu Bett ging.

Auch die nächsten Tage entwickelten sich besser, als ich es erwartet hatte. Es gab zwar erneut einige Situationen, in denen ich mit Kassandra kurzen Blickkontakt hatte, aber sie machte keine Anstalten, mich vielleicht ansprechen zu wollen, was mich sehr erleichterte. Vielleicht ahnte sie ja auch die unbestimmte Gefahr wie ich? So wie ihre Aura strahlte, wäre es doch denkbar, dass sie anders als andere auch etwas spüren konnte. Außerdem hatte sie mich auch früher nie beachtet und vermutlich hatte ich sie am Montag einfach nur irritiert und dadurch ihre Aufmerksamkeit erregt. Bestimmt würde bald wieder alles beim Alten sein. Tief in meinem Innern verspürte ich zwar eine große Enttäuschung deswegen, doch ich wusste, dass es so am besten war.

Am Mittwoch wurde ich in der Mittagspause von meinen Mitspielern noch mal für die gute Trainingsleistung gelobt und einige meinten, dass ich am Samstag von Anfang an mitspielen sollte. Ich war zwar nicht so überzeugt davon, dass das eine gute Idee wäre, aber ich freute mich trotzdem darüber.
Am Donnerstag durfte ich dann erneut die gleiche Aufgabe im Training übernehmen und es lief wieder genauso gut. Und nicht nur das. Mr. Buckley teilte mir am Ende doch tatsächlich mit, dass ich am Samstag spielen sollte. Viele meiner Mannschaftskameraden nickten zustimmend und Colin fing sogar an zu klatschen, woran sich dann auch einige andere beteiligten. Seit langem fühlte ich mich endlich wieder als richtiger Teil des Teams und das war einfach toll. Natürlich war mir bewusst, dass es äußerst hart für mich werden würde, doch ich wollte unbedingt versuchen, ob ich inzwischen vielleicht damit umgehen könnte. Ich hoffte nur, dass ich das gut hinbekommen und niemanden enttäuschen würde.

Als ich am Abend Dad davon erzählte, war auch er sehr erfreut und schien sogar erleichtert zu sein. Irgendwie war es für mich aber auch nachvollziehbar, dass er das so empfand. Es war ihm ja nicht entgangen, dass es mir seit Monaten nicht mehr wirklich gut ging. Das hatte ich schon so oft in seinem Blick gesehen. Aber dachte er wirklich, dass das mit Fußball zusammenhing?
Nicht mitzuspielen war für mich die letzten Monate eher eine Entlastung statt einer Belastung gewesen, doch für Dad muss es wohl anders ausgesehen haben. Jedenfalls versprach er mir sogar, zum Spiel zu kommen, was er schon lange nicht mehr gemacht hatte. Zum einen, weil ich in diesem Jahr ohnehin keine Spiele gemacht hatte und zum anderen, weil er samstags zwar zu Hause war, aber meistens doch am PC arbeitete.

Schließlich kam der Samstag und mit ihm das vorletzte Heimspiel in dieser Saison. Ich war so nervös und aufgeregt, als wäre es mein allererstes Fußballspiel. Colin sprach mir noch einmal Mut zu und dann ging es auch schon los.
Zu Beginn schien das Spiel an mir vorbei zu laufen und ich wurde kaum einbezogen. Meine Mitspieler waren schon sehr gut aufeinander eingespielt und so recht passte ich noch nicht dazu. Daher rannte ich viel, um mich immer wieder als Anspielstation anbieten zu können, was nach einiger Zeit auch Erfolg hatte und ich allmählich besser ins Spiel fand. Allerdings blieb das auch der gegnerischen Mannschaft nicht verborgen, was dazu führte, dass ich ein paar Mal recht hart attackiert wurde.
Gefoult zu werden war dabei eigentlich nicht einmal das Schlimmste. Es hatte zwar schon meistens einen kurzen heftigen Schmerz zu Folge, aber der Körperkontakt, bei dem ich die Aura des anderen spüren konnte, war für mich schwerer zu ertragen. Es war jedes Mal wie ein Magnetfeld, das mich anzog und von dem ich instinktiv zurückschreckte.
Dennoch brachte es meinem Team einen Vorteil, denn es kam dadurch zu ein paar Freistößen, die ich ausführte und die wie erhofft auch ein paar Torchancen ergaben. Aber der Treffer wollte uns einfach nicht gelingen.

Erst kurz vor Ende des Spiels bekamen wir noch einmal einen Freistoß in guter Position zugesprochen. Früher hatte ich bei solchen Gelegenheiten auch gerne mal direkt auf das Tor geschossen und auch ein paar Mal getroffen, doch ich war unschlüssig, ob ich das wirklich versuchen sollte und entschied mich dagegen. Stattdessen spielte ich den Ball, zur Überraschung unserer Gegner, einem freien Mitspieler zu, der tatsächlich mit einem tollen Schuss den heiß ersehnten Treffer erzielte.
Dem anschließenden kollektiven Torjubel konnte ich mich leider nicht entziehen. Wie auch, wenn der Torschütze direkt zu mir gerannt kam, um sich für das Zuspiel zu bedanken. So schön wie der Erfolg auch war, so grauenhaft war im ersten Augenblick auch die Nähe meiner Mitspieler, die uns ansprangen und zu Boden warfen. Von allen Seiten spürte ich diese anziehende Kraft, als wäre ich in einem Energiefeld gefangen.
Instinktiv hielt ich einfach nur die Luft an und wartete darauf, dass es wieder vorbei ging.
Nachdem sich dann endlich alle nach endlosen Sekunden wieder von mir gelöst hatten, konnte auch ich schließlich erleichtert durchatmen und mich so richtig über den Erfolg freuen.

Am Ende war ich einfach nur erschöpft, aber auch glücklich. Es hatte gut getan, wieder richtig mitspielen zu dürfen, auch wenn es enorm anstrengend gewesen war. Am liebsten wäre ich direkt vom Spielfeld weg nach Hause gelaufen und hätte mich ins Bett gelegt, aber das ging natürlich nicht. Der Sieg musste ja noch ein wenig gefeiert werden. Ich ließ mir jedenfalls viel Zeit in der Kabine und unter der Dusche und kam erst als Letzter zur Party ins Clubhaus.

Den Sonntag-Vormittag nutzte ich zum Ausspannen und überflog auf dem Bett liegend noch ein wenig meine Hefte und Bücher. Es war nicht wirklich ein ernsthaftes Lernen, denn dafür wäre es jetzt ohnehin zu spät gewesen. Nein, es war eher eine kurze Auffrischung und die gab mir das sichere Gefühl, gut vorbereitet zu sein.
Gegen Mittag machten wir wie praktisch jeden Sonntag unseren seit Jahren üblichen Restaurantbesuch. Dad war es wichtig, dass wir uns ganz bewusst die Zeit nahmen, um gemütlich zu essen und uns zu unterhalten. Dieses Mal war natürlich das erfolgreiche Fußballspiel das Hauptthema, aber er erzählte auch ein wenig von seiner Arbeit, dass sein derzeitiges Projekt in zwei bis drei Wochen abgeschlossen sein sollte und dass wir dann während der Sommerferien einen richtigen Urlaub machen würden.
Dad wollte nach dem Essen noch gerne etwas mit mir unternehmen, aber mir war im Grunde nur nach Ruhe und Entspannung. Ich wollte einfach noch ein paar Stunden alleine sein und keine Menschen um mich herum spüren. Er akzeptierte zum Glück mein vorgeschobenes Argument, dass ich mich auf die Prüfungen nächste Woche noch ein klein wenig vorbereiten wollte. So verbrachten wir den Rest des Tages gemütlich zu Hause.

Die Prüfungswoche selbst war weniger stressig als ich erwartet hatte und lief richtig gut. Die ganze Woche war unterrichtsfrei und die Abschlussprüfungen wurden an den Vormittagen geschrieben. Somit hatten wir die Nachmittage zur freien Verfügung. Selbst das Training der Schulmannschaften wurde von der Schulleitung für diese Woche ausgesetzt, sehr zum Ärger von Mr. Buckley. Er hätte vor den letzten beiden Spielen in dieser Saison lieber noch zusätzliche Trainingseinheiten durchgeführt und musste jetzt mit wenig Vorbereitung in unser letztes Auswärtsspiel starten. Erst jetzt am Freitag, da die Prüfungen absolviert waren, sollte noch ein kurzfristig angesetztes Training stattfinden. Das war offiziell zwar freiwillig, aber als wir am Mittagstisch zusammen saßen und darüber sprachen, waren wir uns ausnahmslos alle einig, dass wir hingehen würden.

Etwa eineinhalb Stunden vor Trainingsbeginn verabschiedete ich mich von den anderen, um mich auf den Heimweg zu machen. Ich musste ja noch meine Sportsachen holen und wollte mir vorher noch wenigstens dreißig Minuten Ruhe gönnen, denn sonst war ich beim Training zu nichts zu gebrauchen.
Ich ging gerade zügig den Flur entlang in Richtung Ausgang, als ich hinter mir Schritte hörte. Selbstverständlich hielt ich die Tür kurz auf, ohne dabei groß zurückzuschauen. Manchen war das ja egal, ob dem Hintermann die Tür gegen den Kopf knallte, aber mir nicht. Es war schließlich nicht zu viel verlangt, nur für zwei, drei Sekunden die Tür festzuhalten und erst dann weiterzugehen, wenn der Nächste auch da war.
>Danke Nico<, hörte ich plötzlich diese unverkennbar süße Stimme ganz nah bei mir sagen und spürte im gleichen Augenblick ein intensives Kribbeln im Magen, als ob es dort eine kleine Explosion gegeben hätte.
Auch ohne sie direkt anzusehen, wusste ich sofort, wem ich da die Tür aufgehalten hatte. Es war Kassandra … und sie kannte meinen Namen. Schlagartig ergriff mich eine furchtbare Nervosität. Woher wusste sie, wer ich war?
Schon im nächsten Augenblick spürte ich ihre kräftige Aura. Dieses Gefühl zu empfinden und noch dazu ihre Stimme zu hören war überwältigend. Irgendwie zwar auch schön, aber vor allem sehr beängstigend. Es war noch heftiger, als ich erwartet hatte und meine Organe schienen sich auf der Flucht gleich hinter meiner Wirbelsäule zu verklumpen. Meine Lunge weigerte sich weiter zu atmen und mein Gehirn schien sich wie der Rest meines Körpers an einer kollektiven Arbeitsverweigerung zu beteiligen.

Ich war unfähig mich zu bewegen und stand wie festgefroren neben der Tür, um deren Griff sich meine Hand schon schmerzhaft verkrampft hatte. Unsicher sah ich sie an. Nur einen winzigen Moment lang, doch wieder trafen sich unsere Blicke und das ging mir durch und durch. Erschrocken schaute ich wieder vor mir auf den Boden und wartete, völlig unfähig, auch nur den Hauch einer Initiative ergreifen zu können.
Sie kam auf mich zu und es schien mir, als würde ich das alles in Zeitlupe wahrnehmen. Ihr Duft, der mir in diesem Augenblick entgegen wehte und in die Nase stieg, raubte mir das letzte Fünkchen Hoffnung, Herr der Lage werden zu können. Ich empfand so vieles auf einmal, dass ich den Überblick verlor und hilflos wie ein Fisch an der Angel in der Situation gefangen war.
>G-Gern geschehen, Kassandra<, kamen kraftlose, fast erstickte Worte aus meinem Mund, ohne dass ich mir dessen bewusst gewesen wäre, dass ich sie überhaupt sagen wollte.

Langsam ging sie an mir vorbei und noch einmal wagte ich einen zaghaften Versuch, sie anzusehen. Hatte ich mir das eingebildet oder umspielte da tatsächlich ein leichtes Lächeln ihre Lippen? Ich war mir alles andere als sicher, da ich sie nur ganz kurz von der Seite, gesehen hatte, doch allein die Vorstellung ließ mich nur noch mehr vor Aufregung vibrieren.
Ein paar Schritte später war sie weit genug weg, dass ich ihre Aura nicht mehr spüren musste. Das Echo hatte mich zwar noch immer fest im Griff, doch ein Teil meines Körpers schien sich von der massiven Anspannung lösen zu können und ich sog scharf Luft ein, um einmal kurz und kräftig durch zu atmen.
Plötzlich blieb sie stehen, wartete vielleicht drei oder vier Sekunden, drehte sich dann zu mir um und sah mir direkt in die Augen. Ich hatte keine andere Wahl mehr, als ihren Blick zu erwidern. Ihre graugrünen Augen waren so schön. Ich wusste, dass es nicht sehr klug von mir war, doch ich wollte nicht schon wieder wegsehen. Nicht, nachdem ich diesen Kraftakt, den mich ihre unmittelbare Nähe gekostet hatte, gerade überstanden hatte. Irgendwie war es wie eine Belohnung, die ich mir dafür gönnte. Auch wenn ich mir nicht sicher war, ob ich die überhaupt verdient hatte.

>Wie sind deine Prüfungen gelaufen?<, sprach sie mich mit sanfter Stimme an.
Diese Frage hatte ich in letzter Zeit so oft gehört, aber nie hatte ich das Gefühl, dass es den Fragesteller wirklich interessierte. Bei ihr war das jedoch anders. Die Art, wie sie mich ansah, ließ keinen Zweifel daran. Sie wirkte so aufmerksam und gleichzeitig auch ein bisschen unsicher.
>Danke, wirklich gut. … Ich bin sehr zufrieden. … Und bei dir?<
>Bei mir auch. … Gehst du jetzt auch ab oder bleibst du noch drei Jahre?<
Bei dieser Frage gefror mir das Blut in den Adern. Sie hatte “auch” gesagt. Bedeutete das, dass sie nicht blieb? Obwohl ich erleichtert sein sollte, dass sie die Schule verlassen wollte, war ich es nicht. Der Gedanke war abscheulich. Ich wollte sie doch wenigstens ab und zu sehen können. Ich wollte nicht, dass sie die Schule verließ. Mein Mund war auf einmal furchtbar trocken und ich schluckte schwer. Meine Zunge fühlte sich bleiern an und es war hart, mich selbst zum Reden zu zwingen.
>Ich habe vor zu bleiben<, sagte ich mit schwerfälliger und rauer Stimme.
Zu meiner Überraschung stahl sich erneut ein leichtes Lächeln auf ihr Gesicht. Freute sie sich etwa darüber, dass sich unsere Wege nun trennen würden? Warum nur?
>Zwei meiner Freundinnen gehen leider, aber ich will auch bis zum Leaving Certificate weiter machen.<
>Wirklich?<
Ein irreales Glücksgefühl hatte sich schlagartig in mir ausgebreitet und das war mir wohl deutlich anzuhören, denn sie lächelte mich offen an. So sah sie noch schöner aus. Selbst ihre Augen schienen mich freudig anzufunkeln und ich lächelte automatisch zurück.

Die Sekunden vergingen, ohne dass einer von uns etwas gesagt hätte. Es war auf eine Art merkwürdig faszinierend und wundervoll, aber auf eine andere Art unheimlich und belastend. Ich wusste nicht, wie ich mich jetzt verhalten sollte. Tausend wirre Gedanken huschten durch mein Gehirn, dass es geradezu ein Rauschen in meinen Ohren auslöste. Doch keiner dieser Gedanken war konkret genug, als dass ich ihn hätte umsetzen können.
>Kommst du am Donnerstag auf die Abschlussfeier?<
Überrascht, dass sie die Stille mit dieser Frage durchbrochen hatte, schaute ich ihr wieder ganz bewusst ins Gesicht. Sie wirkte etwas unsicher und ich spürte augenblicklich wieder diese extreme Nervosität, die von mir Besitz ergriff. Warum hatte sie das gefragt? Wollte sie etwa mit mir dort hingehen? Das war doch kein Ball, wo man in Begleitung hinging, sondern nur eine Party. Dennoch, bei der Vorstellung, mit ihr dort hinzugehen, stieg Panik in mir auf. Mein ganzer Körper wurde von einem Prickeln überzogen und ich spürte förmlich, wie sich alle meine Haare aufstellten. Ein Teil von mir wollte das aus tiefster Seele doch ein anderer wusste, dass das nicht gut gehen konnte. Alleine die Erinnerung daran, wie ich mich noch vor wenigen Augenblicken gefühlt hatte, als ich ihre Aura spüren musste, warnte mich eindringlich davor.
>I-Ich weiß es noch nicht<, erwiderte ich, doch ich konnte ihr deutlich ansehen, dass sie nicht mit dieser Antwort gerechnet hatte.
Sie sah gleich darauf für einen kurzen Augenblick so enttäuscht aus, dass es mich in meiner Brust schmerzte, sie so zu sehen. Ich hatte ihr damit wohl wehgetan und sofort hasste ich mich dafür.
>Ähm, ja … dann sehen wir uns ja vielleicht … ich, ähm, muss dann mal.<
>Ja … bis dann<, sagte ich nur noch leise und fast erstickt, während sie sich auch schon umdrehte und weg ging.
Ein gedämpftes Seufzen von ihr drang noch zu mir durch und das versetzte mir einen weiteren glühenden Stich ins Herz.

Ich stand da, vollkommen regungslos und sah ihr nach, wie sie sich unaufhaltsam immer weiter von mir entfernte und schließlich um eine Ecke bog und nicht mehr zu sehen war. Eine gemeine Leere machte sich in mir breit. Irgendwie hatte ich gerade etwas verloren, das ich doch eigentlich nie gehabt hatte. Es fühlte sich so fies an. Ich hatte das doch nicht gewollt, aber was hätte ich denn tun sollen? In ihrer Nähe fühlte ich mich einfach nur furchtbar verkrampft und zitterig, doch ich hatte auch den Eindruck, dass das nicht nur an ihrer Aura lag. Jetzt, da sie weg war und ich sie nicht mehr spüren konnte, fühlte ich mich trotzdem nicht wirklich besser. Das war bei ihr so anders, als bei allen anderen.
Mein Blick war vor mir auf den Boden geheftet und ich atmete tief durch, horchte dabei in mich hinein. Dann wurde mir allmählich bewusst, dass ich immer noch die Tür aufhielt. Es schmerzte direkt, die Hand so weit zu lockern, dass ich die Finger von dem Griff lösen konnte. Ich starrte in meine blutleere und bleiche Handfläche und rieb sie mit dem Daumen der anderen Hand. Mit leichtem Prickeln kehrte nach und nach das Leben in sie zurück.
Noch einmal atmete ich tief durch und versuchte zur inneren Ruhe zu kommen, doch es gelang mir einfach nicht. Ständig blitzten verschiedene Bilder des gerade erlebten in meinen Gedanken auf und ich verspürte aufs Neue, was ich dabei empfunden hatte. Dieses Ereignis ließ mich einfach nicht los und ich war schrecklich aufgewühlt. Ich schaffte es kaum mit normalem Tempo zu meinem Fahrrad zu gehen.

Mein Herz hämmerte unaufhörlich in meiner Brust und ich fing an, immer schneller in die Pedale zu treten. Immer wieder sah ich ihr betrübtes Gesicht vor mir und es tat so weh. Ich hatte das doch nicht gewollt und schüttelte unweigerlich den Kopf über mich. Der Fahrtwind biss in mein Gesicht und ich spürte, wie er meinen Augen Tränen entlockte.
Was hatte ich mir überhaupt nur dabei gedacht, mit ihr zu reden? Hätte ich doch nur nichts darauf erwidert, als sie sich für das Türaufhalten bei mir bedankt hatte. Sie wäre bestimmt weitergegangen und nichts wäre passiert. Doch jetzt? Jetzt hatte ich sie enttäuscht. Auch wenn ich genau wusste, dass ich im Grunde keine andere Wahl gehabt hatte, war es grässlich gewesen.

Als ich Zuhause angekommen war, ging ich gleich nach oben in mein Zimmer und legte mich auf mein Bett. Mein ganzer Körper schien in dem pulsierenden Rhythmus meines Herzens zu pochen. Ich konnte es überall spüren. In meinem Kopf, an meinen Nieren und entlang meiner Beine. Selbst meine Finger zitterten leicht und mein Atem war viel schneller und ruckartiger, als er eigentlich nach der kurzen Fahrt sein dürfte.
Ich war vollkommen ratlos und wusste nicht, was ich jetzt machen sollte. Es war doch richtig gewesen, sie nicht noch mehr zu ermutigen und wieder etwas auf Distanz zu halten. Ich spürte doch die große Gefahr. Aber wenn es richtig war, warum fühlte es sich dann so verdammt falsch an? Warum tat es so entsetzlich weh?
Ich setzte mich kurz auf, putzte mir die Nase und wischte mir die Feuchtigkeit aus den Augen. Was war nur los mit mir? Heulte ich etwa? Ich war doch kein kleines Kind mehr. Kein Vierjähriger, der weinte, weil er seine Mutter verloren hatte und sie so sehr vermisste. Das lag doch weit hinter mir. Und doch saß ich auf meiner Bettkante und spürte wie fiese Tränen sich aus meinen Augen stahlen und über meine Wangen nach unten glitten.

Ich blieb einfach sitzen und starrte vor mich hin. Erst nach einigen Sekunden - oder waren es Minuten? - fiel mir auf, dass mein trüber Blick die ganze Zeit auf das Bild meiner Mom gerichtet war, das in einem kleinen silbernen Rahmen auf meinen Schreibtisch stand. Ein tiefes Seufzen entwich meiner Brust.
Eigentlich versuchte ich nicht allzu oft an sie zu denken, denn wenn ich das tat, dann spürte ich wieder, dass sie mir noch immer fehlte. Aber wenn ich traurig war, dann kamen auch immer die Erinnerungen an sie hoch. Es waren nur wenige. Da war ihr Lächeln, das Gefühl ihrer Umarmung, ein Schlaflied, an dessen Text ich mich nicht erinnern konnte, aber dessen Melodie noch immer in mir war. Eigentlich alles schöne Erinnerungen, wenn ich dabei nur nicht immer diesen Verlust empfinden würde.
Etwas Gutes hatte es allerdings, denn wenn mich etwas traurig machte und ich dann an meine Mom dachte, dann war das, was mich gerade bekümmert hatte, bei weitem nicht mehr so schlimm und belastend. Doch heute war es anders. Das Leid, das ich wegen Kassandra empfand, war dafür einfach zu stark.

Nach einer ganzen Weile sah ich flüchtig auf meinen Wecker und stellte fest, dass das Training schon in 20 Minuten beginnen würde. Kurz überlegte ich, ob ich es vielleicht ausfallen lassen sollte, doch ich hatte ja mit den anderen vereinbart, dass wir alle zusammen gehen würden.
Wenn es etwas gab, das mir wirklich wichtig war, dann, dass man sich auf mein Wort verlassen konnte. Ein Versprechen würde ich immer einhalten. Also erhob ich mich seufzend, ging ins Badezimmer und wusch mir kurz das Gesicht. Bevor ich ging, verabschiedete ich mich noch schnell bei Nana, die mir einen merkwürdig besorgten Blick zuwarf. Ich konnte mir schon denken, dass sie mir ansehen konnte, dass es mir im Moment nicht so gut ging, aber ich wollte darüber nicht mit ihr sprechen. Wie auch. Ich konnte einfach mit niemanden wirklich darüber sprechen.

Ich kam gerade noch rechtzeitig am Sportplatz an und zog mich schnell um. Coach Buckley mochte es nicht sonderlich, wenn man unpünktlich war. Dann war das Training meist alles andere als angenehm. Eines allerdings konnte er noch weniger tolerieren. Das war Unkonzentriertheit und leider war das für mich heute ein echtes Problem.
Da Mr. Buckley morgen ein sehr kampfbetontes Spiel erwartete, trainierten wir heute vor allem die Zweikämpfe und das war nun wahrlich alles andere als eine Stärke von mir. Die unangenehme Spannung, die ich bei Körperkontakt immer fühlen musste, war auch so schon sehr hart für mich, aber heute musste ich darüber hinaus immer an Kassandra denken. Meine Trainingsleistung war dementsprechend miserabel und ich war froh, als wir endlich unter die Duschen geschickt wurden.
Im Anschluss kamen wir noch mal alle zusammen und dann wurde die Aufstellung für morgen verkündet. Natürlich erwartete ich nicht, dass ich spielen würde und machte mir da nicht die geringsten Hoffnungen. Nun ja, meine Erwartungen wurden jedenfalls erfüllt. Dennoch war es ein weiteres deprimierendes Ereignis an diesem Tag, der mit der erfolgreichen letzten Prüfung doch so viel versprechend angefangen hatte.

Die meisten meiner Kameraden waren ziemlich gut gelaunt. Ihr Training war wohl deutlich besser verlaufen und sie waren alle guter Dinge, dass wir morgen gewinnen würden. Auf mich konnte die positive Stimmung aber nicht abfärben. Mir war heute alles andere als zum Lachen zumute und so verabschiedete ich mich relativ früh von den anderen.
Auf dem Weg zum Fahrrad hörte ich, dass mir noch jemand hinterher gelaufen kam und drehte mich um. Es war Colin und er hatte untypischer Weise einen besorgten Gesichtsausdruck.
>Hey Nico. … Sag mal, stimmt etwas nicht mit dir?<
Ich zuckte instinktiv mit den Schultern. Natürlich stimmte etwas nicht mit mir, aber ich konnte ihm wohl kaum sagen, dass er in meinen Augen von einem Lichtschimmer umgeben war, so wie der Mond hinter einer dünnen Wolkendecke.
>Jetzt komm schon, Nico. Was ist denn los? In der Kantine heute Mittag warst du doch noch richtig gut drauf, aber jetzt. … War etwas mit Kara?<
>Du weißt davon?<, rutschte es mir heraus, noch bevor ich mein Hirn einschalten konnte.
Ein paar Sekunden lang schaute er mich prüfend an und ich ärgerte mich, dass ich diese Information preisgegeben hatte. Mir war klar, was jetzt kommen würde und ich wusste einfach nicht, was ich dagegen tun könnte.
>Was ist passiert?<, fragte er recht vorsichtig.
>Wir haben nur geredet<, sagte ich leicht genervt.
>Und worüber?<
>Na, über die Abschlussprüfungen, … weiter zur Schule gehen, … die Abschlussfeier.<
>Das ist doch klasse, Nico. Sie ist offensichtlich interessiert an dir. Vielleicht trefft ihr euch ja auf der Abschlussfeier.<
>Wohl kaum. … Ich geh nicht hin.<
>Bist du bescheuert?<, fuhr er mich plötzlich an. >Du bist doch schon ewig in sie verknallt und jetzt wo du die Chance hast…<

>HALT DICH DA RAUS! VERDAMMT!<, schrie ich ihn an und stieß ihn mit beiden Händen von mir weg.
Er stolperte rückwärts, konnte sich aber gerade so noch an einem Laternenpfahl abfangen. Ich sah seinem Gesicht deutlich an, wie überrascht und verwirrt er deswegen war und ich konnte selbst nicht fassen, was ich da gerade getan hatte. Ruckartig drehte ich mich zu meinem Fahrrad um und spürte, wie ich am ganzen Körper zitterte. Ich hatte meinen besten Freund angeschrien und weggestoßen. Das hatte ich nie zuvor gemacht. Verlor ich allmählich den Verstand? Musste mir dieses bescheuerte Leuchten um die Menschen alles kaputt machen?
Ich hatte diese Spannung gerade wieder so deutlich fühlen können, als ich ihn so heftig gestoßen hatte und bei Kassandra fühlte ich die Aura noch intensiver. Wie sollte ich jemals damit klar kommen? Ich hasste es. Ich hasste den Anblick dieser Aura, ich hasste das Gefühl, ich hasste mein Leben.

Langsam kniete ich mich neben mein Rad und versuchte das Schloss zu öffnen, aber mit einem verschwommenen Blick und ohne ruhige Hände fiel es mir extrem schwer. Als ich mich danach wieder erhob, trat Colin langsam zu mir.
>Nico?<, sprach er mich mit überraschend sanfter Stimme an.
Eigentlich hatte ich damit gerechnet, dass er mich anschreien würde, aber das tat er nicht.
>Weinst du etwa?<
Das durfte jetzt nicht wahr sein. Ich hatte noch nie vor einem Freund oder Kumpel geheult. Der würde mich doch jetzt sicherlich für ein Weichei halten. Hecktisch wischte ich mir mit dem Ärmel die Tränen weg und zog mein Fahrrad aus dem Ständer. Dann warf ich ihm noch einen kurzen Blick zu und sah sein verdutztes Gesicht.
>Lass mich in Ruhe, Colin<, sagte ich nur noch und fuhr dann so schnell ich konnte nach Hause.

Ich war ziemlich fertig, als ich Zuhause ankam, aber auch erleichtert, dass außer mir niemand da war. Nana hatte etwas zu Essen für mich bereitgestellt, doch ich würde jetzt keinen Bissen runter bekommen. Stattdessen ging ich direkt in mein Zimmer und legte mich auf mein Bett.
Mein schneller Puls rauschte mir in den Ohren und ich versuchte mich auf eine langsame Atmung zu konzentrieren. Ein nahezu aussichtsloses Unterfangen, da mir der Kopf schwirrte, von den ganzen Gedanken, die mich nicht mehr los ließen. Zu vieles war heute geschehen. Zu vieles, das schwer zu ertragen war.
Mit geschlossenen Augen lag ich da, chancenlos, mich gegen die Filme in meinem Kopf zu wehren. Mal sah ich die enttäuschte Kassandra vor mir und mal den ungläubigen Gesichtsausdruck meines besten Freundes, der einfach nicht verstehen konnte, was mit mir los war und warum ich ihn angegriffen hatte.
Würde mein Leben jetzt immer so sein? Würde ich alle, die mir wichtig waren, von mir wegstoßen müssen? Hatte ich denn keine andere Wahl?

Die deprimierenden Gedanken ließen mir keine Ruhe und so stand ich kurze Zeit später wieder auf, ging nach unten ins Wohnzimmer und setzte mich vor den Fernseher. Es dauerte auch nicht lange, da kam meine Tigerlilly auch schon an, hüpfte auf meinen Schoß und machte es sich gemütlich.
Während ich durch die Kanäle zappte, ruhte mein Blick auch immer wieder für ein Weilchen auf meiner süßen Katze. Sie lag einfach zusammengerollt da und ich spürte ihre Wärme, die sich auf meine Beine übertrug. Es war schön, sie so friedlich schlafen zu sehen. Nur ab und zu zuckten ihre Tatzen oder ihr Mundwinkel, als würde sie im Traum jagen.
Wie immer war sie von einem sanften Lichtschimmer umgeben und ich fühlte auch die leicht kribbelnde Spannung. Doch jetzt kam mir das hier geradezu lächerlich schwach vor, hatte ich doch den Kontakt mit Kassandras Aura inzwischen erlebt. Wenn es bei ihr doch nur genauso wäre, dann müsste ich nicht so große Angst davor haben, ihr zu nahe zu kommen. Dann würde ich mit der Zeit bestimmt lernen, damit klar zu kommen.
Die Wärme meiner kleinen Lilly wirkte mehr und mehr entspannend auf mich und ich schloss seufzend die Augen. Die Anstrengungen des Tages, der Anblick meiner Katze und die sich ausbreitende Wärme, die ich spürte, machten mich schläfrig. Das monotone Gebrabbel, das vom Fernseher kam, tat ein Übriges dazu und es dauerte nicht lange, bis ich sanft in die Traumwelt abglitt.

Es war tief in der Nacht, als ich wieder aufwachte. Von draußen fiel etwas Licht vom sternenklaren Himmel durch das Fenster, wodurch auf allem ein silbriger Schimmer lag. Ich brauchte einen Moment, um zu realisieren, wo ich war.
Mein ganzer Körper fühlte sich ziemlich verspannt an und dann lag da auch noch ein heißes Gewicht auf meinem Schoß, das mich mit grünlich funkelnden Augen kurz anblinzelte. Dennoch machte das schwach leuchtende Fellknäuel keine Anstalten, sich zu erheben und mich zu erlösen. Ganz im Gegenteil. Sie rollte sich gleich wieder ein.
Sie sah so zufrieden aus, dass es mir sehr unangenehm war, sie vertreiben zu müssen, aber meine schmerzenden Glieder verlangten danach. Ohne wirklich darüber nachzudenken, was vielleicht auch an meiner Müdigkeit lag, schob ich wie früher meine Hände unter ihren Körper, um sie hochzuheben. Das augenblicklich auftretende Kribbeln in meinen Fingern ließ mich erstarren und auch Lilly stellte leicht überrascht ihre Ohren auf.
Es war merkwürdig, ihr Fell nach so langer Zeit wieder direkt zu berühren, doch die Spannung, die ich spürte, war nicht so schlimm, wie ich immer erwartet hatte. Irgendwie war es erträglich und hatte sogar etwas Faszinierendes an sich. Diese irritierende Anziehungskraft verwirrte mich trotzdem und bereitete mir Unbehagen. Ich verkrampfte innerlich und hatte daher nur einen Gedanken. Das Ganze so schnell wie möglich hinter mich zu bringen.

Ich hob sie vorsichtig hoch, stand auf und legte sie auf der warmen Sitzfläche des Sessels ab. Sie sah mich etwas verdutzt an, so, als könnte sie genau so wenig wie ich glauben, was da gerade passiert war. Ihr Schwanz schlug ein paar Mal auf und ab und sie ließ mich nicht aus den Augen. Es war deutlich zu erkennen, dass sie aufgeregt war.
Mir ging es im Grunde ähnlich, doch spürte ich einen gewissen Stolz, dass ich das geschafft hatte. Noch mehr spürte ich im Moment aber meine Verspannung, weshalb ich mich erst mal etwas reckte und streckte. Dann atmete ich tief durch und schaute mich um.
Erst jetzt wurde mir bewusst, dass der Fernseher aus war. Ich konnte mich jedoch nicht daran erinnern, ihn ausgeschaltet zu haben. Die bernsteinfarbene Digitalanzeige des Videorecorders zeigte 1:23 Uhr an. Bestimmt hatte Dad den Fernseher ausgemacht. Warum hatte er mich denn nicht geweckt? Ich hätte doch mit ihm zu Abend gegessen, wie wir es immer machten.
Es war ein bisschen enttäuschend, dass ich ihn nicht mehr gesehen hatte, aber jetzt auch nicht mehr zu ändern. Nun ja, er hatte sich offensichtlich wohl dafür entschieden, mich auf dem Sessel schlafen zu lassen. Ausgeschlafen war ich jedenfalls noch nicht und so ging ich wieder nach oben in mein Zimmer, zog mich schnell um und verkroch mich dann gleich im Bett.

Gegen halb sechs wachte ich wieder auf. Viel zu früh eigentlich, aber ich hatte ja auch gestern den ganzen Abend verschlafen. Jetzt war ich zu munter, um noch einmal einschlafen zu können. Abgesehen davon, wollte ich das auch gar nicht. Dann hätte sich der Traum bestimmt wiederholt.
Es war wieder so real gewesen, als wäre es tatsächlich passiert. Kassandra stand im Schulhof und ich ging zu ihr. Ihre Freundinnen zogen sich angstvoll vor mir zurück, doch sie blieb stehen. Sie lächelte mich an und ich stand einfach da und betrachtete sie. Es kam mir vor wie Stunden und es hätte von mir aus Tage und Wochen so bleiben können. Es war schön und ich fühlte mich sehr wohl.
Doch dann geschah etwas Unerwartetes. Sie griff nach meiner Hand und ich erschrak so sehr, dass ich sie mit aller Kraft von mir weg stieß. Sie flog rückwärts weg und knallte auf den Boden. Dort blieb sie regungslos liegen und ihre leuchtende Aura verblasste schlagartig. Ich stand wie jedes Mal hilflos und verzweifelt da und ihr lebloser Blick bohrte sich in meine Augen.

Wieder einmal lag ich in meinem Bett und rätselte über die Bedeutung meiner Träume. Eines war mir diesmal sogar klar. Ich hatte sie weggestoßen, genau wie Colin nach dem Training. Das war wohl eindeutig. Neu war aber die Berührung. Ich hatte Kassandra noch nie berührt. Ich würde es auch nie versuchen. Ging es darum? Um meine Angst davor, sie zu berühren? Dass es ihr schaden könnte?
Ich wurde doch ständig berührt. Von meinem Vater, von Colin, von Mitschülern, die mich anrempelten, von Kameraden beim Training. Das war zwar jedes Mal unangenehm, aber ich stieß alleine deshalb doch niemanden von mir weg. Gut, ich berührte niemanden mehr mit meinen Händen. War es das? Wobei … mein Katze hatte ich doch heute Nacht angefasst, ohne dass ihr etwas geschehen war. Ihr war doch nichts geschehen, oder?
Ein mulmiges Gefühl befiel mich plötzlich und sofort schlug mein Herz etwas schneller. Ich stand auf und ging nach unten ins Wohnzimmer. Ich musste mich einfach davon überzeugen, dass es meiner Tigerlilly gut ging. Auf dem Sessel saß sie nicht. Ich schaute mich um, konnte sie aber nirgends entdecken. War das jetzt gut oder schlecht? Die Ungewissheit nagte an mir. Ich hoffte so sehr, dass es ihr gut ging und suchte lieber auch noch in der Küche nach ihr. Da war sie jedoch genauso wenig.

Nachdem ich in allen Ecken und unter dem Tisch und den Stühlen nachgesehen hatte, entschied ich für mich, dass das einfach ein gutes Zeichen sein musste. Da ich nun schon mal da war und sich mein leerer Magen mit einem deutlich spürbaren Knurren bemerkbar machte, nahm ich mir erst mal eine kleine Schüssel Müsli mit Joghurt. Für den Augenblick wollte ich nur meinen akuten Hunger stillen und später dann richtig mit meinem Dad frühstücken.
Im Anschluss holte ich die Zeitung herein, ging ins Wohnzimmer und machte es mir auf dem Sofa bequem. Ich war nicht unbedingt ein begeisterter Zeitungsleser und schaute lieber gemütlich die Nachrichten im Fernsehen. Im Grunde tat ich auch das nur für die Schule, da gerne mal über aktuelle Ereignisse gesprochen und diskutiert wurde und wir darauf vorbereitet sein sollten. Die Zeitung hatte allerdings auch so ihre Vorteile, da man sich aussuchen konnte, was man lesen wollte und die Informationen auch ausführlicher waren. Abgesehen davon hatte ich aber im Moment einfach nichts Besseres zu tun.

Ich lag entspannt auf der Couch und war schon eine ganze Weile in die Sportseite vertieft, als mir plötzlich etwas auf den Schoß sprang und mich tierisch zusammenzucken ließ. Ein Prickeln rauschte durch meinen Körper und mir stellten sich sprichwörtlich die Nackenhaare auf. Ich hob die Zeitung hoch und blickte in zwei blinzelnde smaragdgrüne Augen.
>Gott, hast du mich erschreckt<, sagte ich zu ihr, was sie aber nicht weiter zu stören schien.
Nachdem sich der erste Schock gelegt hatte, machte sich gleich große Erleichterung in mir breit. Es ging ihr gut und das beruhigte mich sehr. Es hatte ihr offensichtlich nicht geschadet, dass ich sie angefasst hatte.
Ich legte die Zeitung zur Seite und betrachtete meine süße Katze, wie sie es sich mal wieder auf mir gemütlich machte. Sie hatte nach wie vor den gleichen Lichtschimmer wie immer und sah ganz normal aus. Nur ihre aufmerksamen Augen und ihr unruhig auf und ab schlagender Schwanz zeigten mir, dass sie auf etwas zu warten schien.
>Du willst wohl immer noch, dass ich dich streichle, oder?<, fragte ich sie und sie kniff beide Augen zusammen, als ob sie mir bestätigend zuzwinkern wollte.
Dann tippelte sie sogar etwas mit den Vorderpfoten in Richtung meines Bauches und saß auf mir, wie eine ägyptische Sphinx.

Ich war unsicher, ob ich es wirklich wagen sollte, aber irgendwie hatte ich das Gefühl, dass mein Traum aus der vergangenen Nacht eine Botschaft für mich hatte. Etwas, das mit meinen Händen zu tun hatte. Ob mein Unterbewusstsein mir sagen wollte, dass ich mir umsonst Sorgen machte? Alleine durch ihre Berührung meiner Hand war in meinem Traum ja nichts geschehen. Erst nachdem ich sie vor Schreck weggestoßen hatte, verlief der Traum so grausam wie immer. Auch gestern Abend war nichts passiert, als ich Lilly hoch gehoben hatte.
Nach einem tiefen Atemzug nahm ich meinen ganzen Mut zusammen und tat etwas, das ich schon seit langer Zeit nicht mehr gemacht hatte. Ich streckte meine Hand aus und streichelte meinem Stubentiger über den Kopf.
Als ob sie ihr Glück kaum fassen konnte, drückte sie ihr Haupt sofort gegen meine Finger und fing augenblicklich an laut zu schnurren. Meine Haut kribbelte von der Spannung, die wie ein kleines Kraftfeld über ihrem ganzen Körper lag. Doch ich fühlte auch die Weichheit ihres Fells, das so herrlich flauschig war.
Sehr vorsichtig streichelte ich sie, doch ihr schien das zu wenig zu sein. Sie drückte sich so begeistert in meine Hand hinein, dass sie schon bald auf allen Vieren stand. Ihr Schnurren wurde immer intensiver und ein paar Mal schien sie sich dabei vor Aufregung halb zu verschlucken, was mich grinsen ließ.
>Das gefällt dir wohl, was Lilly? Meine süße Tigerlilly<, sprach ich sie mit einem Lachen in der Stimme an und nahm die zweite Hand dazu, um sie gleichzeitig mit kreisenden Bewegungen hinter dem Ohr und am Hals kraulen und dabei ihren Rücken streicheln zu können.
Das hatte sie schon immer geliebt und auch ich spürte große Freude, dass ich ihr diese Streicheleinheiten wieder schenken konnte.

Ja, ich genoss es geradezu, mit meiner Katze so zu schmusen, wie ich es auch früher immer gerne gemacht hatte. Trotzdem war es nicht genau so wie damals. Neben ihren samtigen Haaren fühlte ich nun eben auch diese seltsame Spannung. Dennoch konnte ich es besser ertragen, als ich erwartet hatte. Ich hatte sogar das Gefühl, mich daran zu gewöhnen und das machte mir große Hoffnung.
Ich schloss meine Augen und sah wieder Kassandra vor mir. Die Vorstellung, dass ich ihre Hand genauso berühren könnte, wie jetzt meine Tigerlilly, war nahezu berauschend. Mein Herz schlug schneller bei dem Gedanken und mehr und mehr verlor ich die Zurückhaltung beim Streicheln.
Sanfte Tatzen suchten ihren Weg über meinen Bauch zu meiner Brust und das behagliche Schnurren wurde noch durchdringender. Als sie mit ihrer feuchten Nase kurz gegen mein Kinn stieß, dann ihren Kopf an meinem Kiefer entlang rieb und mir fast direkt ins Ohr schnurrte, bekam ich eine Gänsehaut. Es war aber nicht wirklich unangenehm. Es war mehr ein wohliger Schauer, … etwas, das ich schon lange nicht mehr gespürt hatte und das mir sehr gut gefiel.
Wenn ich mich doch nur an dieses Kraftfeld gewöhnen könnte, dann würde es mir keine Probleme mehr bereiten und ich wäre in der Lage, mein Leben wieder wie früher zu leben. Ich könnte dann sogar mit Kassandra zur Abschlussfeier gehen.

Ich spürte dieses leichte Kraftfeld, diese komische Energie ganz deutlich zwischen meinen Fingern. Sie war eigentlich nicht so stark und ich hatte nach einer Weile den Eindruck, sie direkt greifen zu können. Sie war da und ließ meine Haut bis in die kleinsten Härchen kribbeln, als wäre die Oberfläche aus Eisenpuder und würde sich nach einem schwachen Magnetfeld ausrichten wollen. Ein unangenehmer Reiz, aber gleichzeitig war es so, als würde ich mich fast wie von selbst dieser Spannung anpassen und in sie eintauchen. Für einen kurzen Augenblick kam es mir tatsächlich so vor, als wäre genau das passiert, wodurch sich der Widerstand einfach aufzulösen schien. Ein leichtes Kitzeln rauschte dabei meine Arme empor und direkt in mich hinein. Es war ein tolles Gefühl und mich überkam ein kleiner Anflug von Euphorie.
Mein kleiner Tiger legte sich gleichzeitig auf meine Brust, den Kopf an meinen Hals gelehnt und ich streichelte mit beiden Händen einfach weiter. Überrascht stellte ich fest, dass ich tatsächlich keine abstoßende Kraft mehr spürte. Hatte ich es etwa geschafft, dass es mir nichts mehr ausmachte? Konnte das so einfach sein?

Langsam schlug ich die Augen wieder auf. Mein Blickwinkel war etwas ungünstig, doch eines erkannte ich sofort. Der Lichtschein, der sonst ihr Fell umhüllte, war weg. Was hatte das zu bedeuten? Meine Hände schimmerten doch wie immer, vielleicht eine Nuance anders, aber da war ich mir nicht so sicher.
Und was war mit meiner Süßen? War sie etwa eingeschlafen? Sie lag einfach ruhig auf mir und schnurrte auch nicht mehr. Sachte legte ich meine Hände um ihren Nacken und auf ihre Schulter.
>Hey Süße. Alles klar bei dir?<, flüsterte ich ihr etwas besorgt zu und tätschelte sie leicht.
Sie fühlte sich unverändert warm und weich an, doch etwas stimmte nicht. Sie zeigte keine Reaktion und das löste schlagartig ein furchtbares Brennen direkt in meiner Brust aus, das sich schnell in meinem ganzen Körper ausbreitete.
Fast panisch drückte ich sie fest an mich, richtete mich ruckartig auf und glitt dann vom Sofa auf meine Knie, um sie vorsichtig auf die Sitzfläche ablegen zu können. Ich hielt noch immer ihren Kopf in meiner linken Hand, doch sie rührte sich nicht. Ihre dunkelweißen Zähne schimmerten durch den leicht geöffneten Mund und ihre Augen waren zugekniffen. Eine schreckliche Ahnung ergriff mich und ich wusste nicht, was ich tun sollte.
>Nein Lilly, bitte nicht<, krächzte ich halb erstickt.
Mit den Fingerspitzen meiner rechten Hand fuhr ich zaghaft über das flaumartige Fell an ihrer Brust. Dort war sie immer kitzlig gewesen, doch jetzt reagierte sie nicht einmal darauf. Ich spürte mit entsetzlicher Gewissheit, dass da keine Atmung und kein Herzschlag mehr war.
>Oh Gott Lilly, NEIN! … NEIN, NEIN, NEIN!<, schrie ich fast.
Was hatte ich getan?
>Hilfe! Bitte hilf doch jemand!<, stammelte ich nur noch vor mich hin, doch wusste ich dabei genau, dass ihr niemand mehr helfen konnte.

Diese quälende Hilflosigkeit ließ meine Arme und Beine zitterten, es rauschte in meinen Ohren und in meinem Kopf fing alles an sich zu drehen. Ich sah sie nur noch verschwommen vor mir, schloss meine Augen und spürte wie Tränen aus meinen brennenden Augen quollen. Meine Atmung ging nur noch ruckartig und der Schmerz in meiner Brust breitete sich unaufhaltsam aus.
Ich war vollkommen verzweifelt und wollte am liebsten weglaufen, doch wo sollte ich denn hin? Ich konnte einfach nicht mehr vor ihr knien und löste meine Hände von ihr. Dann drückte ich mich mit aller Kraft von der Couch ab und stand auf. Mir war schwindlig und ich konnte nur noch schwankend stehen.
>Lilly<, flüsterte ich noch einmal und zwang meinen Augen, sich zu öffnen.
Da lag sie und ich wusste, dass ich sie getötet hatte. Ich konnte spüren, wie sich dieser grausame Anblick in mein Gedächtnis brannte.

Sie da liegen zu sehen tat so schrecklich weh, dass ich es nicht mehr aushalten konnte. Ich wollte nur noch weg, drehte mich um, ging ein paar Schritte und blieb wieder wie erstarrt stehen. Was hatte ich nur getan? Wie war das nur passiert? Das hatte ich doch nicht gewollt.
Ein paar Mal ging ich vor dem Sofa auf und ab und stellte mir selbst immer wieder die quälende Frage. Warum? Warum nur habe ich nicht auf mein Gefühl gehört, das mich seit Monaten davor warnte, irgendjemanden anzufassen? Warum nur musste ich das tun? Ich hatte sie umgebracht. Das war alles nur meine Schuld.
Verzweifelt sank ich wieder vor ihr auf die Knie und nahm erneut ihren Kopf in die linke Hand und streichelte sie mit der rechten. Dann beugte ich mich über sie und lehnte meine Stirn an ihre Brust. Ihr vertrauter Geruch stieg mir in die Nase und machte mir mit gnadenloser Deutlichkeit bewusst, was ich da getötet hatte. Eines der liebsten Geschöpfe auf diesem Planeten. Eine treue Freundin, die mir so viele Jahre lang unendlich viel Freude geschenkt hatte.
>Es tut mir so leid, Lilly. Ich hab’ das nicht gewollt. Bitte verzeih’ mir<, schluchzte ich immer wieder in ihr weiches Fell.

Nach einer Weile hatte ich jegliches Zeitgefühl verloren. Ich kniete einfach nur noch vor ihr und hielt sie fest. Das taube Gefühl in meinen Beinen interessierte mich nicht und mein Kopf fühlte sich nicht weniger taub an. Alles war irgendwie dumpf und tat doch weh, als wäre ich in Glaswolle eingewickelt. Nur unwirklich nahm ich wahr, dass die Wohnzimmertür geöffnet wurde.
>Hey ihr zwei. Guten Morgen<, hörte ich Dads fröhliche Begrüßung.
In meinem Bauch entstand plötzlich ein schmerzhaftes Brodeln, das sofort in prickelnden Wellen durch meinen Körper gejagt wurde. Mein Verstand klarte etwas auf, doch ich wusste nicht, was ich jetzt tun sollte.
>Hallo? … Hier bin ich<, sagte er fast lachend.
Langsam richtete ich mich unter Schmerzen im Rücken und im Genick auf und drehte meinen Kopf zu ihm. Ich sah ihm ins Gesicht und augenblicklich erstarb sein Lächeln und wurde durch Besorgnis ersetzt.
>Nico? Alles in Ordnung?<
Zaghaft schüttelte ich den Kopf.
>Sie ist tot<, erwiderte ich mit krächzender Stimme und richtete meinen Blick wieder auf den leblosen Körper meiner Tigerlilly.

Mit vorsichtigen und langsamen Schritten kam Dad schweigend näher.
>Das … das tut mir leid.<
Im gleichen Augenblick, da er das sagte, spürte ich seine Hand an meiner Schulter und wie vom Blitz getroffen zuckte ich zusammen und tauchte unter der Berührung weg. Jetzt, in diesem Moment, war mir der Kontakt zu seiner Aura unerträglich. Ich rutschte rückwärts halb sitzend von ihm weg, bis ich mit dem Rücken schmerzhaft gegen einen Sessel stieß.
>Fass’ mich nicht an!<, rief ich fast panisch.
>Was … was redest du denn da?<, sprach er mich mit ruhiger Stimme an und machte einen Schritt auf mich zu.
>Bleib wo du bist. … Ich will dich nicht auch noch umbringen.<
>Mich umbringen?<, fragte er voller Unverständnis und schaute dann auf Lilly, als würde er nach einer Erklärung für meine Worte suchen. >Aber Nico? … Glaubst du etwa, dass du sie getötet hast? … Du kannst bestimmt nichts dafür. Sie war doch schon alt.<
>Du hat ja keine Ahnung<, erwiderte ich und schaute ebenfalls auf sie.
Ich hatte sie getötet. Ich wusste es ganz genau. Mir war nur nicht klar, wie ich es getan hatte, aber dass ich dafür verantwortlich war, stand für mich außer Frage.

Die quälenden Schuldgefühle fraßen sich durch meine Seele und meinen Körper wie ein Strom aus glühender Lava. Ich fühlte mich so elend wie nie zuvor in meinem Leben. Dad sah mich irritiert an. Er hätte wohl gerne eine Erklärung gehört, doch wie sollte ich ihm die geben können?
Nein, er konnte mir nicht helfen. Ich war alleine mit meinem Problem und alleine wollte ich jetzt sein. Ich zog mich an dem Sessel hoch und spürte, wie meine eingeschlafenen Beine wieder richtig durchblutet wurden. Ein Schwindelgefühl überkam mich, doch das war mir egal. Ich machte einen großen Bogen um Dad und lief zur Tür. Meine wackeligen Beine wollten mir aber noch nicht so richtig gehorchen und so geriet ich ins Taumeln, schlug hart mit der Schulter gegen den Türrahmen und knickte ein.
Ein pochender Schmerz ließ mich kurz zischend aufstöhnen und reflexartig drückte ich mit der Hand auf die angeschlagene Stelle.
>Nico!<, rief Dad meinen Namen und kam näher, doch das wollte ich nicht.
>Bleib weg von mir<, sagte ich, rappelte mich wieder auf und eilte zur Treppe.
Ich stieg die Stufen empor, stürzte fast in mein Zimmer, warf die Tür noch hinter mir zu und schaffte es gerade noch den Raum zu durchqueren und mich auf der anderen Seite auf mein Bett fallen zu lassen.

Das Atmen fiel mir schwer und alles schien sich um mich zu drehen. Meine Schulter schmerzte, doch das war nichts im Vergleich zu den Qualen in meinem Innern.
Warum war ich nur so blöd gewesen? Warum nur hatte ich mit ihrem Leben gespielt? Ich kannte doch meine Träume. Egal was in ihnen passierte, am Ende wartete immer der Tod. Das war die einzige Konstante in den Träumen. Die einzige echte Botschaft. Wer mir zu nahe kam, musste sterben.

Ein Klopfen riss mich aus meinen Gedanken.
>Bleib weg!<, schrie ich zur Tür, doch sie ging trotzdem auf.
>Das kann ich nicht<, sagte Dad auf eine sehr einfühlsame Art und kam herein.
Ich rutschte auf meinem Bett in die hinterste Ecke, zog die Knie an und umklammerte krampfhaft mein Kopfkissen. Ich starrte ihn an und mit jedem Schritt, den er auf mich zukam, spürte ich die Panik in mir aufsteigen. An der unteren Bettkante blieb er stehen und setzte sich schließlich. Er machte keinen Anstalten näher zu kommen und das beruhigte mich etwas. Dann sahen wir uns eine Weile einfach nur an.
>Was ist passiert?<, durchbrach er plötzlich die Stille.
>Ka-Kann ich dir nicht sagen.<
>Versuche es doch.<
Ich schüttelte nur den Kopf und er atmete deutlich hörbar tief durch.
>Nico … Ich habe keine Verletzungen an ihr entdecken können.<
>Ich weiß, aber…<
Wie sollte ich das nur erklären können, ohne dass er mich für verrückt hielt? Vielleicht war ich das ja. Vielleicht wäre es das Beste für alle, wenn ich in irgendeiner Psychiatrie in eine Zwangsjacke gesteckt und weggeschlossen würde. So könnte ich wenigstens niemandem mehr schaden.

Dad fuhr sich mit beiden Händen über das Gesicht und durch die Haare und sah mich gleich darauf irgendwie anders an. Er atmete immer noch schwer und schien um die passenden Worte zu ringen. Es schien fast so, als würde auch er sich schuldig fühlen, doch das ergab für mich keinen Sinn.
>Kannst du es sehen?<, fragte er, doch ich verstand nicht, was er meinte.
Er schluckte, knetete seine Hände und sprach mich noch mal an.
>Kannst du das Licht sehen?<
>Du weißt davon?<, brach es aus mir heraus, denn es gab für mich nur eines, was seine Worte bedeuten konnten.
Ich verstand die Welt nicht mehr. Wie konnte Dad davon wissen?
>Ja<, sagte er zögerlich und schien sich dabei sehr unwohl zu fühlen.
>Siehst du es etwa auch?<, wollte ich wissen, doch er schüttelte seinen Kopf.
Sein Blick wanderte zu meinem Schreibtisch und plötzlich streifte er sich seine Hände am der Hose ab und stand auf. Er ging hinüber und nahm Moms Bild in die Hände. Kurz, aber intensiv, betrachtete er es und kam dann wieder zurück. Diesmal setzte er sich sehr viel näher bei mir wieder auf das Bett. Mir war nicht wohl dabei, aber ich wollte jetzt nicht protestieren. Ich wollte, dass er mir sagte, warum er von dem Licht wusste, wenn er es doch selbst nicht sehen konnte. Hatte Mom etwas damit zu tun?

Sein Blick ruhte auf dem Bild und ein Lächeln umspielte seine Mundwinkel. Es schien fast so, als hätten ihn seine Erinnerungen gerade auf eine kurze Reise an einen fernen Ort geschickt. Dann seufzte er leicht und sah mich an.
>Ich habe deine Mutter sehr geliebt. Nele war so ein wunderbarer Mensch. Du hast so viel von ihr. Die gleichen dunkelblonden Haare und die gleichen strahlend blauen Augen. Aber vor allem das gute Herz, Nico. Wenn du tatsächlich glaubst, für den Tod von Lilly verantwortlich zu sein, dann bin ich mir sicher, dass es ein Unfall war. Du würdest so etwas niemals mit Absicht tun. Du kannst bestimmt nichts dafür.<
Ja, es war wohl ein Unfall gewesen, aber das änderte nichts daran, dass ich schuld war. In dem Punkt konnte ich ihm nicht zustimmen und schaute ihn einfach nur weiter an. Schließlich fuhr er fort.
>Deine Mutter war etwas besonders. Nicht nur, weil sie wunderschön war und weil ich sie so sehr geliebt hatte, sondern auch, weil sie etwas Geheimnisvolles, Mysteriöses an sich hatte. Es war im Grunde einfach ihre Art, wie sie mit allen Lebewesen umzugehen schien, die so faszinierend war. Ich habe dem nie besondere Bedeutung beigemessen, denn sie hatte mich vom ersten Augenblick an in ihren Bann gezogen und meine Gefühle für sie waren so stark, dass alles andere für mich unwichtig war.<

Es war schön, dass Dad von Mom erzählte. Das hatte er schon ewig nicht mehr gemacht. Dennoch verstand ich nicht, was er mir damit sagen wollte. Meine Verwirrung schien ihm wohl aufgefallen zu sein und so fuhr er in seiner Erzählung fort.
>Eines Tages, das war vor deiner Geburt, hatte ich mir in der Küche in den Finger geschnitten. Es war ein tiefer Schnitt und er blutete stark. Als es passierte, zuckte Nele neben mir zusammen, fast so, als hätte sie sich ebenfalls verletzt. Schnell nahm sie mein Hand in ihre Hände und ich spürte ein kurzes Kribbeln. Dann hielt sie den Finger unter laufendes Wasser und ich sah mit erstaunen, dass die Wunde verheilt war.
Ich konnte das nicht verstehen und sie wusste nicht, wie sie es mir erklären sollte. Sie hatte wohl instinktiv gehandelt und schien danach irgendwie in einer Zwickmühle zu stecken. Ich spürte, dass sie es gerne erklärt hätte, dass sie aber etwas abhielt. Nun, ich musste es nicht verstehen. Es spielte nicht wirklich eine Rolle für mich. Ich liebte sie und so gab ich ihr einfach einen Kuss und beließ es dabei.
Einige Monate später verkündete sie mir eines Morgens direkt nach dem Aufwachen, dass sie schwanger sei. Sie sprühte geradezu vor Freude und auch ich war sehr glücklich deswegen. Als ich sie fragte, wann sie denn den Test gemacht hätte und warum sie es mir nicht gleich gesagt hatte, antwortete sie nur, dass sie keinen Test dafür bräuchte und dass sie es auch erst seit dieser Nacht wüsste, da sie jetzt zum ersten Mal dein Licht gespürt hätte.<

>Mein Licht?<, frage ich überrascht dazwischen und er nickte lächelnd.
>Ja, so ähnlich hatte auch ich reagiert und schon wieder schien sie in dieser Zwickmühle zu stecken. Ich wollte sie nicht bedrängen und sagte ihr, dass es für mich keine Rolle spielte und dass ich einfach nur glücklich wäre. Sie war dankbar dafür und doch entschloss sie sich, mir etwas zu erzählen.
Sie erklärte mir, dass jedes Lebewesen nur durch eine besondere Energie überhaupt leben könnte und dass sie eben diese Energie wie ein schimmerndes Licht sehen könnte. Sie erzählte, dass sie in der Lage wäre, diese Lebensenergie zu beeinflussen und zu nutzen. So hätte sie damals auch meinen Finger geheilt. Sie wollte einfach nicht, dass durch die Wunde noch mehr Lebensenergie verloren ging, auch wenn es nur sehr wenig gewesen wäre.
Dann machte sie eine längere Pause. Ich werde nie ihren unsicheren Gesichtsausdruck vergessen, als sie weiter sprach und ergänzte, dass sie die Energie auch von anderen Lebewesen abziehen könnte, um ihr eigenes Leben zu verlängern.<

Dad schien mich bei den letzten Worten genau zu mustern und ich wusste, warum er das tat. Genau das musste ich mit Lilly gemacht haben. Ohne zu wissen, wie das geschehen war, habe ich ihr die Lebensenergie entzogen und sie dadurch getötet. Plötzlich ergab auch das schreckliche Ende meiner Albträume einen Sinn. Immer sah ich Kassandra tot da liegen und ihr Lebenslicht war erloschen. Davor hatte mich mein Unterbewusstsein immer gewarnt.
Jetzt, da mir das alles klar geworden war, gab es nur noch eine Sache, die ich nicht verstand, die mir geradezu unbegreiflich war und ich spürte, wie Wut in mir aufstieg.
>Dad … warum hast du mir das nie erzählt? Warum erst jetzt, wo das passiert ist? Lilly hätte nicht sterben müssen, wenn ich das gewusst hätte.<

>Es tut mir leid, Nico. Das habe ich nicht gewollt. Ich hatte nicht damit gerechnet, dass so etwas passieren könnte. Ich wollte dich auch nicht verunsichern. Nele erzählte mir damals, dass du diese Fähigkeit auch haben würdest, wenn du erwachsen wärst. Ich wusste doch nicht, dass du sie jetzt schon hast. Ich war mir doch noch nicht einmal sicher, ob du sie überhaupt jemals bekommen würdest. Ich glaubte deiner Mom ja, aber ich hatte es nie richtig begriffen und es war für mich auch nicht von Bedeutung.
Ich weiß, das ist keine Entschuldigung dafür, aber als deine Mom verschwunden war und wir davon ausgehen mussten, dass sie nie mehr zurückkommen würde, brach auch für mich eine Welt zusammen. Ich habe versucht, das alles zu verdrängen und stark für dich zu sein. … Es tut mir leid.<

Ich nickte ihm zu und er schien etwas erleichtert zu sein. Im Grunde konnte ich ihn verstehen, auch wenn ich noch immer Wut verspürte. Aber mir wurde klar, dass ich wohl kaum damit hätte umgehen können, wenn er mir davon erzählt hätte, ohne dass ich diese Wahrnehmung tatsächlich kennen würde.
>Ich hätte es dir sagen müssen<, gestand ich schließlich ein. >Wenn ich dir gleich von Anfang an anvertraut hätte, dass ich dieses merkwürdige Licht sehen konnte, hättest du mir bestimmt früher davon erzählt.<
>Oh Nico. Mach’ dir bitte keine Vorwürfe deswegen. Ich kann mir kaum vorstellen, wie schlimm das für dich gewesen sein muss. Leider habe ich nicht erkannt, dass du solche Probleme hast. Ich dachte, es lag einfach nur an der Pubertät, dass du nicht mehr umarmt werden wolltest.<

Ja, ich konnte das verstehen, aber mein Problem war dadurch nicht kleiner geworden. Ganz im Gegenteil. Jetzt, da mir bewusst war, welche Gefahr ich für andere bedeutete, fühlte ich mich noch mutloser, als jemals zuvor in den letzten Monaten.
>Und was soll ich jetzt machen? Ich meine, ich kann es nicht kontrollieren, Dad. Lilly ist tot und ich weiß nicht, wie das passiert ist. Wenn das in der Schule geschieht, dann…<
Ich konnte nicht mehr weiterreden. Die Vorstellung, dass ich Colin oder Kassandra oder irgendeinen anderen Menschen versehentlich töten könnte, war grauenhaft.
>Wir müssen jemanden suchen, der uns helfen kann.<
>Aber Dad. Wer soll mir denn helfen können? Kein Arzt wird das verstehen. Ich habe im Internet nichts gefunden, das mir etwas erklären könnte.<
>Ich bin mir nicht sicher<, sagte er und kratzte sich dabei kurz am Kopf. >Deine Mom hatte gelegentlich von einer alten Freundin erzählt, die in Schweden lebt. Sie hat sie ein paar Mal besucht. Vielleicht kann sie uns weiterhelfen.<

Plötzlich verspürte ich etwas Hoffnung. Wenn das möglich wäre, wenn wir jemanden finden könnten, der mir erklären könnte, wie man diese Fähigkeit kontrolliert, dann würde vielleicht doch noch alles gut werden. Mom hatte es ja auch kontrollieren können. Vielleicht war diese Freundin tatsächlich meine Rettung. Aber wo sollten wir sie denn suchen? Schweden war riesig und was, wenn sie nicht mehr in Schweden lebte? Was, wenn sie vielleicht gar nicht mehr lebte?
>Dad? Wie sollen wir sie denn finden.<
>Das weiß ich noch nicht, aber uns wird schon noch etwas einfallen. Nur Mut, Nico. Wir finden eine Lösung.<
Er schaute mich aufmunternd an und dann erhob er sich, betrachtete noch einmal das Bild meiner Mom, streichelte sanft mit dem Zeigefinger über den Silberrahmen und stellte es dann wieder zurück an seinen Platz am Schreibtisch. Danach schaute er wieder zu mir, doch wirkten seine Augen gleich etwas bedrückter.
>Ich denke, ich werde jetzt wieder hinunter gehen und … Lilly im Garten beerdigen. … Willst du dabei sein?<
Ich schluckte. Meine Kehle war furchtbar trocken und ein dicker Kloß hatte sich in meinem Hals gebildet. Wollte ich dabei sein? Ich wusste es nicht wirklich, aber es schien mir richtig zu sein. Also nickte ich ihm zu.

Wir gingen nach unten und dort durch das Wohnzimmer und die Terrassentür nach draußen. Ich wollte es eigentlich nicht, doch ich konnte nicht anders, als beim Vorbeigehen noch mal einen Blick auf meine Tigerlilly zu werfen. Es tat so weh, zu wissen, dass ich schuld daran war, doch ich konnte nichts tun, um dies ungeschehen zu machen.
Dad holte eine Schaufel aus dem Geräteschuppen und ich folgte ihm in eine Ecke des Gartens. Dort hob er zügig ein Loch aus. Dann sagte er, dass er sie holen würde, doch das wollte ich nicht. Ich erwiderte, dass ich das selbst machen müsste und widerwillig akzeptierte er meinen Entschluss. Also ging ich hinein und hob meine geliebte tote Katze vom Sofa auf und trug sie nach draußen. Meine angeschlagene Schulter tat mir dabei weh, doch ich versuchte das zu ignorieren. Das Wissen um das, was ich meiner Lilly angetan hatte, war weitaus quälender.
Inzwischen war ihr Körper deutlich kühler und fühlte sich so befremdlich an. Noch einmal wurde mir auf grausame Weise bewusst, was ich getan hatte und das versetzte mir einen weiteren schmerzhaften Stich ins Herz. Ich kniete mich neben das Loch und legte sie vorsichtig hinein. Ein letztes Mal streichelte ich ihr zum Abschied über das Fell und erhob mich schließlich. Dann schaufelte Dad behutsam die Erde in das Grab.

Es war Dad deutlich anzusehen, dass er mich liebend gerne in den Arm genommen hätte und auch ich sehnte mich in diesem Moment so sehr danach, doch um nichts in der Welt wollte ich so ein Risiko eingehen. Mir blieb nur die Hoffnung, dass wir die Freundin meiner Mom finden würden und ich eine Chance bekäme, mit dieser furchtbaren Gabe leben zu können.


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Kapitel 3

Die Skulptur

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Den Rest des Samstags hatte ich praktisch komplett in meinem Zimmer verbracht. Dad rief noch beim Coach an, um ihm Bescheid zu geben, dass ich wegen einer Schulterverletzung nicht zum Spiel kommen konnte. Nun ja, eigentlich war es eine Ausrede gewesen, doch meine Schulter tat mit der Zeit tatsächlich immer mehr weh, sodass ich wirklich nicht hätte spielen können. Der Schmerz war mir im Grunde egal, aber ich wollte auf gar keinen Fall mit anderen Menschen in Kontakt kommen. Nicht nach dem, was ich meiner Tigerlilly angetan hatte.
Dad verbrachte viel Zeit bei mir in meinem Zimmer. Er holte uns auch etwas zu Essen, da ich keine Anstalten machte, mit ihm nach unten in die Küche zu gehen. Er wollte mich wohl einfach nicht alleine lassen. Eine Zeitlang erzählte er mir von Mom und wie er sie damals auf einer Urlaubsreise nach Ägypten kennen gelernt hatte. Sein Blick ruhte dabei oft auf dem Bild von ihr, welches ich auf meinem Schreibtisch stehen hatte. Dann war er manchmal minutenlang in Gedanken versunken und schwieg.
Er erzählte auch davon, dass sie als Archäologin überall auf der Welt an Ausgrabungen teilgenommen hatte, was er anfangs gar nicht glauben konnte, wo sie doch so jung aussah. Auch ihr Wissen um die Geschichte der Menschheit war für ihn sehr beeindruckend. Doch war das alles für ihn einfach völlig nebensächlich, wenn sie ihn nur anlächelte.

Es war schön, aber auch merkwürdig Dads Erzählungen zu lauschen. Er hatte schon so lange nicht mehr über sie gesprochen und gerade jetzt wollte ich so viel wie möglich über meine Mom erfahren. Bei allem zog ich Parallelen zu meiner Situation und verstand einfach nicht, wie sie das alles tun konnte, wenn es ihr doch so erging wir mir.
Wie hielt sie das mit dieser Wahrnehmung der Aura überhaupt aus, dass sie meinem Dad so nahe kommen und ein Kind empfangen konnte? Wie schaffte sie das nur, mich als Baby in ihrem Bauch wachsen zu spüren, Tag und Nacht meine Energie zu fühlen und mir dennoch nicht zu schaden? Wie oft hatte sie mich im Arm gehalten, geküsst und gestreichelt, als ich noch klein war?
So verrückt und unvorstellbar, wie mir das im Augenblick auch vorkam, so sehr machte es mir doch auch Hoffnung, dass ich mein Problem in den Griff bekommen könnte. Wäre sie jetzt bei mir, würde sie mir sicherlich erklären können, was ich tun müsste. Doch das war leider ein unerfüllbarer Wunschtraum und so blieb mir nur die Chance, dass wir ihre Freundin finden konnten und dass diese in der Lage und auch bereit sein würde, mir zu helfen.

Gegen Abend rief Colin bei mir an, um sich nach mir zu erkundigen. Dad verließ daraufhin widerwillig das Zimmer, damit ich in Ruhe telefonieren konnte. Colin erzählte mir, dass sie nur unentschieden gespielt hätten und dass somit der Traum von der Meisterschaft wie eine Seifenblase geplatzt sei. Coach Buckley hätte nach dem Spiel einen Wutanfall bekommen und in einer Tour auf die Schulleitung geschimpft, die ihm die Vorbereitung auf das Spiel versaut hätte. Colin meinte, die Jungs hätten sich jedenfalls nichts anmerken lassen, aber sie hätten es alle saukomisch gefunden.
Als er mich danach fragte, ob ich am Montag wieder in die Schule kommen würde, befiel mich sofort wieder ein ungutes Gefühl. Mir war klar, dass ich mich nicht auf ewig in meinem Zimmer verkriechen konnte, doch sah ich im Augenblick keine Alternative. Alleine die Vorstellung, in die Schule zu gehen und all die Menschen dort in Gefahr zu bringen, war grauenhaft. Ich sagte ihm daher, dass ich vermutlich nicht kommen könnte, was er sehr zu bedauern schien.
Vermutlich hätte er sich gerne mit mir wegen der Sache am Freitag ausgesprochen und ich befürchtete schon, dass er das jetzt vielleicht am Telefon machen wollte. Doch er tat es zu meiner großen Erleichterung nicht. Ich hätte einfach nicht die Kraft gehabt, um darüber zu reden.
Bald darauf beendete er das Telefonat und ich hing noch bis spät in der Nacht meinen Gedanken nach. Dad kam zwar noch einmal bei mir vorbei, aber er musste auch einsehen, dass er wohl kaum die ganze Nacht neben meinem Bett Wache halten konnte. Er brauchte seinen Schlaf schließlich auch und so ging er letztendlich ebenfalls zu Bett.

Als ich am nächsten Morgen nach einer unruhigen Nacht erwachte, griff ich mir gleich als erstes an die Schulter. Das bereute ich allerdings sofort. Sie war total schmerzempfindlich und tat furchtbar weh. Die ganze Nacht hatte ich deswegen sehr schlecht oder besser gesagt so gut wie gar nicht geschlafen. Wenigstens war ich so weitestgehend von Albträumen verschont geblieben, doch das änderte nichts daran, dass ich mich wie gerädert fühlte.
Träge schleppte ich mich ins Bad und betrachtete dort meine Schulter im Spiegel. Ein dicker Bluterguss hatte sich gebildet und der reagierte extrem empfindlich auf Berührungen. Jede Bewegung des Armes schmerzte und ich ärgerte mich über mich selbst, dass ich gestern nicht daran gedacht hatte, die Stelle gleich mit Eis zu kühlen. Das war schließlich nicht meine erste Prellung, wenn auch eine ziemlich heftige.
Es war aber nicht nur der Schmerz, der mich bei der Berührung der Schwellung zischend einatmen ließ. Ich hatte jetzt auch das deutliche Gefühl, dass ich meine eigene Aura an dieser Stelle stärker fühlen konnte. Es war fast so, als würde dort mehr Energie als normal abgestrahlt werden und das empfand ich als äußerst unangenehm. Diese Empfindung hatte ich schon, seit ich mir die Schulter angeschlagen hatte, doch jetzt war ich mir dessen irgendwie bewusster geworden.

Ich duschte wie gewohnt, zog mich danach an und ging schließlich nach unten in die Küche. Dad war mit den Frühstücksvorbereitungen bereits fertig. Aber auch er sah nicht gerade fit aus und ich konnte mir schon denken, was ihm den Schlaf geraubt hatte. Sein besorgter Blick und das gleich darauf folgende aufgesetzte Lächeln, das wohl motivierend wirken sollte, räumten auch den letzten Rest eines möglichen Zweifels aus. Er hatte sich sicherlich die ganze Nacht den Kopf darüber zerbrochen, wie er mir wohl am besten helfen könnte.
Wie üblich setzten wir uns zum Frühstück nebeneinander über Eck an dem kleinen Küchentisch. Früher hatte ich das immer sehr gemocht, weil es irgendwie gemütlich und familiär war. Selbst als es anfing, dass ich seine Aura spüren konnte, wollte ich darauf nicht verzichten. Doch jetzt, nachdem was mit Lilly passiert war, fühlte ich mich furchtbar unsicher. Alleine der Gedanke, das in der Schule aushalten zu müssen, war für mich quälend. Ich konnte da nicht hin.
>Dad? … Ich weiß nicht, wie es jetzt weitergehen soll. Kann ich nächste Woche nicht zu Hause bleiben?<

Eine ganze Weile sah er mich einfach schweigend an. Was ging nur in seinem Kopf vor? Warum zögerte er, mir sein O.K. zu geben? Erwartete er wirklich von mir, dass ich einfach weiter machte, als wäre nichts passiert?
>Nico<, sprach er mich plötzlich an. >Ich kann verstehen, dass dir das unangenehm ist, aber…<
>Unangenehm?!<, fiel ich ihm leicht erbost ins Wort. >Dad! Unangenehm ist wohl kaum das passende Wort für das, was ich Lilly angetan habe.<
>So habe ich das nicht gemeint und das weißt du auch. Ich meine doch nur, dass du dein bisheriges Leben deswegen doch nicht aufgeben musst. Das hast du doch nicht mit Absicht gemacht.<
>Ach so. Dann soll ich also erst mal ganz unabsichtlich ein paar Menschen umbringen, oder was?<
Die Worte kamen vorwurfsvoll und aggressiv über meine Lippen. Ich spürte, wie ich innerlich bebte und es fiel mir schwer, sitzen zu bleiben. Am liebsten wäre ich aufgesprungen, nach oben gerannt und hätte die Tür hinter mir zugeschlagen, doch ich wollte jetzt nicht weglaufen. Ich wollte, dass er mir zuhörte. Dass er mich verstand. Dass er mir glaubte. Ich wollte … dass er mir half. Irgendwie. Ich wusste doch selbst nicht wie. Ich wusste nur, dass ich nicht so tun konnte, als wäre nichts gewesen.

Dad seufzte schwer und kratze sich am Kopf. Schließlich sprach er mich wieder mit betont ruhiger Stimme an.
>Also gut. … Ich sehe ein, dass du im Augenblick nicht zur Schule gehen willst. Es ist ja auch nur noch eine Woche bis zu den Ferien. Vielleicht schreibt dich Dr. MacGowan ja die Woche krank.<
>Ein Arztbesuch?<
Die Vorstellung gefiel mir nicht. Für unseren Hausarzt war ich eine genau so große Bedrohung wie für alle anderen. Das war doch viel zu riskant.
>Nico. … Du brauchst ein Attest für die Schule. Außerdem bist du doch wirklich an der Schulter verletzt und solltest dich untersuchen lassen.<
>Aber Dad. Wenn er mich untersucht, wird er mich anfassen. Ich weiß nicht, wie ich das aushalten soll.<
>Nur Mut. Du schaffst das schon.<
In dem Moment, als er das sagte, griff er plötzlich mit seiner rechten Hand nach meinem linken Handgelenk.

Ich war wie geschockt. Seine Aura war so viel stärker als die von Lilly und die Spannung war furchtbar.
>Dad, nicht!<, rief ich halb verzweifelt.
Ich versuchte meinen Arm wegzuziehen, doch der Schmerz in meiner Schulter raubte mir die Kraft und er hielt mich einfach fest.
>Beruhige dich, Nico. Ich weiß, dass du mir nichts tun wirst.<
>Dad bitte … lass mich los.<
Ich spürte wieder dieses eigenartige, kribbelnde Gefühl auf meiner Haut. Es war genau wie gestern Morgen, nur viel heftiger. Panik stieg in mir auf und ich versuchte mich erneut loszureißen, doch ich hatte keine Chance. Immer deutlicher fühlte ich, wie ich die Struktur seiner Energie ganz erfassen konnte. Ich sträubte mich mit aller Macht dagegen. Ich wollte das nicht, aber ich konnte es einfach nicht verhindern.
“Nein, nein, nein”, schoss es mir durch die Gedanken.

Verzweifelt schaute ich ihn an. Ich sah den Lichtschimmer um ihn herum so deutlich, wie ich ihn noch nie zuvor wahrgenommen hatte. Er war so klar und verletzbar. Was sollte ich nur machen? Ich kämpfte gegen das Gefühl und hielt die Luft an. Meine Augen füllten sich durch die Anstrengung mit Feuchtigkeit. Wie lange würde ich mich noch dagegen wehren können? Er musste mich einfach los lassen. Jeden Augenblick konnte es zu spät sein, dessen war ich mir vollkommen sicher.
>Dad … bitte lass los. … Ich kann nicht mehr.<
Schwach und zittrig klang meine Stimme und gleichzeitig lief mir eine Träne über die Wange. Es war mir egal, dass ich vor ihm weinte. Ich hatte nur noch Angst um sein Leben.

Endlich löste er den Griff und ich sprang sofort auf und flüchtete von ihm weg in die gegenüberliegende Ecke der Küche. Mein Herz hämmerte wie wild in meiner Brust und jeder einzelne Schlag verursachte einen pochenden Schmerz in meiner Schulter. Ich drückte meinen linken Arm an mich, als ob er gebrochen wäre.
Schwer atmend versuchte ich zur Ruhe zu kommen. Seine Energie nicht mehr fühlen zu müssen war eine große Erleichterung, doch gleichzeitig war ich auch extrem wütend auf ihn.
>Wie konntest du mir das nur antun, Dad? Wie konntest du mich nur in so eine Situation bringen? Ich hätte dich töten können.<
>Nico, ich war mich sicher, dass du es schaffst. Ich bin überzeugt davon, dass das mit Lilly ein Unfall war. Wenn du die gleiche Fähigkeit wie deine Mutter hast, dann kannst du auch lernen sie genauso zu kontrollieren.<
>Verdammt, Dad! Du weißt nicht, wovon du da redest. Du weißt nicht, wie sich das anfühlt. Wenn es schief gegangen wäre, dann …<
Ich konnte nicht weiterreden. Die Vorstellung war einfach zu schrecklich.

>Es tut mir leid, Nico. Du hast Recht. Ich hätte das nicht tun dürfen. … Bitte, setz’ dich wieder zu mir.<
Ich warf ihm einen kritischen und abschätzenden Blick zu. Es tat ihm wohl tatsächlich leid, aber ich war immer noch sauer auf ihn.
>Komm schon. Sieh’ es doch bitte positiv. Jetzt weißt du wenigstens, dass du keine Angst vor der Untersuchung von Dr. MacGowan haben brauchst.<
>Deswegen hast du das gemacht?<, brach es zornig aus mir heraus. >Deswegen hat du dein Leben riskiert? Deswegen hast du mich fast zum Mörder gemacht? Du hast sie ja nicht mehr alle!<
>Nico!<, rief er mir noch hinterher, als ich wütend an ihm vorbei aus der Küche heraus stampfte und dann die Treppe hoch zu meinem Zimmer rannte.
Laut krachend schlug ich die Tür hinter mir zu. Ich konnte es kaum fassen. Dad hatte mich in diese grauenhafte Situation gebracht, nur damit ich mich von unserem Arzt untersuchen lasse. Wie konnte er nur? Wenn ich ihn getötet hätte, wie hätte ich dann noch weiterleben sollen? Wie konnte er nur so leichtsinnig sein? Das passte doch gar nicht zu ihm.

Ich lief eine ganze Weile in meinem Zimmer auf und ab und dachte über das nach, was gerade geschehen war und was er gesagt hatte. Er schien wirklich absolut überzeugt davon gewesen zu sein, dass ich ihm nichts tun würde. Woher nahm er nur dieses Vertrauen, das er in mich setzte? Ich traute mir doch selber nicht. Ich hatte doch erlebt, wozu ich fähig war und er hatte das Ergebnis doch gesehen. Er hatte doch selbst das Grab für Lilly ausgehoben. Und dennoch war da keine Furcht in seinen Augen gewesen.
Je mehr ich darüber nachdachte, desto mehr wurde mir bewusst, dass er es wohl wirklich nur gemacht hatte, weil er mir helfen wollte. Trotzdem war ich noch immer etwas wütend auf ihn. Er hätte das nicht einfach so tun dürfen. Ich war doch kein kleines Kind mehr, das man an die Hand nimmt, um es über die Straße zu führen. Er hätte mit mir vorher darüber reden und mich fragen müssen.
Ein wenig tat es mir ja leid, dass ich ihn so angeschrien hatte, aber daran war er schließlich selbst schuld. Fast demonstrativ griff ich vorsichtig nach meiner Schulter, um sie leicht zu reiben. Seit ich versucht hatte, mich von ihm los zu reißen, tat sie noch mehr weh. Alleine schon deshalb war ich nicht bereit, mich jetzt bei ihm zu entschuldigen.

Unschlüssig, was ich jetzt tun sollte, entschied ich mich kurzerhand fürs Fernsehen. Den Apparat in meinem Zimmer benutzte ich eigentlich eher selten. Ich sah im Grunde lieber im Wohnzimmer fern, aber jetzt wollte ich nicht nach unten gehen.
Nachdem ich kurz meine DVDs durchgestöbert hatte, fiel meine Wahl auf “Herr der Ringe”. Damit wären schon mal rund drei Stunden Beschäftigung garantiert und falls das nicht ausreichen und mir dann noch immer nichts Besseres eingefallen sein sollte, hatte ich ja auch noch die anderen beiden Teile in meiner Sammlung.

Etwa zwei Stunden später - die Gefährten waren gerade dabei, sich durch die Minen von Moria zu kämpfen - hörte ich draußen vor meiner Zimmertür ein Scheppern und Knarren. Was war das? War Dad vor meiner Tür? Ich drehte die Lautstärke etwas herunter, stand von meiner Couch auf und ging zur Tür, um an ihr zu lauschen. Erneut ein klapperndes Geräusch und dann quietschende Schritte, die sich nach einer Leiter anhörten. Ging Dad auf unseren Dachboden?
Kurz darauf hörte ich Schritte direkt über mir. Kein Zweifel, er musste dort hoch gegangen sein, aber warum? Dann war ein Rumpeln zu hören und danach ein schleifendes Geräusch. Wenig später wieder das Knarren der Leiter und jetzt auch Dads angestrengte Atmung.
Das Ganze wiederholte sich noch weitere vier Mal und das abschließende Scheppern bedeutete wohl, dass er die Luke zum Dachboden wieder geschlossen hatte.

Als ich dann auch noch deutlich hören konnte, wie da vor meinem Zimmer offensichtlich ein Pappkarton geöffnet wurde, konnte ich meine Neugierde nicht mehr im Zaum halten. Ich schaltete den Fernseher aus und öffnete langsam die Tür. Dad lächelte mich leicht an, sagte aber nichts. Dann versank sein Blick im Inneren des Kartons vor ihm und für einen Moment lang herrschte völlige Stille.
Ich schaute mir Dad genau an. Irgendwie wollte ich sicher gehen, dass seine Aura auch wirklich unverändert war. Mit Erleichterung stellte ich fest, dass alles beim Alten zu sein schien. Es ging ihm gut und er durchsuchte konzentriert den Karton.
>Dad? Was ist das?<, fragte ich in fast flüsterndem Ton.
Er antwortete nicht sofort, sondern hob nur sehr langsam den Kopf und schaute mir nachdenklich in die Augen.
>Das, Nico, ist alles, was uns von deiner Mutter geblieben ist.<
>Das sind Moms Sachen?<, fragte ich überrascht. >Und die waren die ganze Zeit oben auf dem Dachboden? Warum hast du mir denn nie etwas davon gesagt?<
Ich war nicht wirklich wütend deswegen, doch meine Stimme klang wohl etwas vorwurfsvoll und er kratzte sich nachdenklich am Kopf. Seine Miene wirkte schuldbewusst und er schien um die richtigen Worte ringen zu müssen.
>Weißt du, als wir damals hierher gezogen sind, um einen Neuanfang zu versuchen, da hatte ich alles von ihr in diese Kisten gepackt. Alles bis auf ihre Kleidung und die größeren Möbelstücke. Die Kleider hatte ich weggegeben und die Möbel zusammen mit dem Haus verkauft. Doch von dem Rest konnte ich mich einfach nicht trennen. Aber ich wusste auch nicht, was ich damit machen sollte. Ich konnte ja nicht so tun als … als ob sie noch da wäre. Als ob sie jeden Moment wieder nach Hause kommen würde. Egal wie sehr ich mir das auch wünschte, es musste doch irgendwie weiter gehen. … Verstehst du?<

Im Grunde verstand ich, was er mir damit sagen wollte und nickte ihm zu. Zumindest verstand ich es teilweise. An Mom erinnert zu werden war auch für mich nicht einfach. Ich spürte dann jedes Mal so deutlich, wie sehr sie mir noch immer fehlte. Aber auf der anderen Seite waren diese Erinnerungen doch alles, was ich von ihr noch hatte. Gerade deshalb kamen mir diese fünf Umzugskartons im Augenblick wie Schatztruhen vor.
Ich spürte, wie sich mein Puls vor Aufregung beschleunigte und vor allem an meinem Hals heftig pochte. Unschlüssig, was ich jetzt tun sollte, ging ich nur zögerlich ein paar Schritte auf meinen Vater zu. Meine Hände hatte ich vor Anspannung und Nervosität zu Fäusten geballt und mein Blick wechselte unruhig von einem Karton zum nächsten.
>Willst du mir helfen?<, wollte Dad plötzlich wissen und ich schaute ihn überrascht an.
>Wo… wobei?<
>Ich dachte … nein ich hoffte, wir würden vielleicht in ihren Sachen einen Hinweis darauf finden können, wo in Schweden diese Freundin zu finden ist. Vielleicht sogar einen Namen und eine Adresse.<
>Hast du die Kisten deshalb vom Dachboden geholt?<
>Ja. Es ist einen Versuch wert, findest du nicht auch?<

Erneut konnte ich nicht mehr tun, als ihm zuzunicken. Dann ging ich langsam zu einem der Kartons und kniete mich daneben. Vorsichtig öffnete ich ihn. Ein merkwürdiger Geruchscocktail von Pappe, Kunststoff und altem Staub wehte mir entgegen und ich musste niesen. Ich schüttelte meinen Kopf und versuchte den Reiz in meiner Nase zu ignorieren. Es dauerte ein paar Sekunden, doch dann konnte ich den Inhalt genauer in Augenschein nehmen.
Auf den ersten Blick entdeckte ich nichts, das irgendwie danach aussehen würde, also ob darin nützliche Informationen enthalten sein könnten. Es war ohnehin nicht viel zu erkennen. Es sah so aus, als wären dort viele kleine Dinge in Tücher eingewickelt worden.
Sachte nahm ich eines in die Hand und packte es behutsam aus. Zum Vorschein kam eine kleine Glasskulptur. Es war ein Krake und das Glas schimmerte grünlich. Ich betrachtete es einen Moment und wurde auf einmal von längst verschollenen Erinnerungen überrollt. Sie rissen mich geradezu mit sich und brachten mich zurück zu einem längst vergangenen Augenblick. Bilder blitzten in mir auf und ließen mich alles um mich herum vergessen. Es waren Bilder von einer Vitrine, in der mehrere solcher Glasfiguren aufbewahrt wurden. Sie alle glitzerten und funkelten im Sonnenlicht. Auch Mom war da. Sie holte eine der Figuren heraus und gab sie mir vorsichtig in die Hand. Es war genau dieser Krake hier, doch in meiner Erinnerung war er viel größer.

>Oh, du hast ihre Figuren entdeckt<, riss Dad mich aus meinen Gedanken und holte mich in die Gegenwart zurück. >Die Kiste müsste voll damit sein. Nele hatte viele davon. Es war die reinste Sammelleidenschaft und ich glaube, sie liebte jedes einzelne Stück.<
Nachdenklich blickte ich auf die vielen kleinen Päckchen in dem Karton und sah noch einmal die Vitrine vor meinem geistigen Auge. Da waren noch so viele andere Stücke, an die ich mich erinnern konnte. Einen bunten Fisch, eine Muschel mit Perle, ein schneeweißes Einhorn. Ich konnte kaum glauben, dass all diese verloren geglaubten Dinge nun hier vor mir lagen. Aber ich wusste auch nicht, was ich jetzt damit machen sollte. Was ich überhaupt damit machen durfte.
>Soll ich sie wieder einpacken?<, fragte ich unsicher.
Jetzt war er es, der grübelte und unschlüssig wirkte. Nach einem kurzen Seufzer antwortete er schließlich.
>Wenn du etwas entdeckst, das du für dich behalten möchtest, dann ist das schon in Ordnung. … Glaube ich zumindest. … Wir können auch ein neues Regal oder etwas in der Art kaufen und die Figuren alle wieder aufstellen. Würde dir das gefallen?<
Ich zuckte mit den Schultern, was natürlich sofort wieder auf der verletzten Seite kurz wehtat. Während ich mir leicht die Schulter rieb, betrachtete ich noch einmal die Krakenfigur in meiner Hand. Es fiel mir schwer, mich von den Erinnerungen, die dadurch ausgelöst wurden, wieder zu lösen. Ich konnte auch nicht sagen, ob das jetzt gut oder schlecht war. Im Augenblick war es jedenfalls nichts, das ich jetzt entscheiden konnte. Daher beschloss ich, die Glasskulptur wieder vorsichtig einzupacken und zu den anderen zu legen. Danach atmete ich tief durch, verschloss den Karton wieder und widmete mich dem nächsten.

>Oh!? Das ist interessant<, sagte Dad plötzlich mit einer leichten Aufregung in der Stimme.
Auch er hatte sich einem neuen Umzugskarton zugewandt und holte gerade einen Papierstapel heraus.
>Was ist das?<, wollte ich wissen.
>Das sind alte Kreditkartenabrechnungen.<
>Und das ist interessant?<
Meine Verwirrung konnte man mir wohl deutlich anhören, denn ich konnte mir beim besten Willen nicht erklären, warum er ausgerechnet solchen Unterlagen so viel Beachtung schenkte.
>Ja<, gab Dad mit einem leichten Lachen in der Stimme zurück. >Das könnte sehr aufschlussreich werden. Wenn wir Glück haben, finde ich etwas zu ihrer letzten Reise nach Schweden.<
>Und wie würde uns das helfen?<
>Nun ja, wenn sie dort zum Beispiel ein Hotel mit der Kreditkarte bezahlt hat, dann kann ich herausfinden, wo das war und dann hätten wir einen Anhaltspunkt, wo wir mit der Suche nach ihrer Freundin beginnen könnten.<
>Echt?<

Dads Gesicht strahlte fast vor Zuversicht und auch in mir machte sich wieder Aufregung breit. Ich ging gleich zu ihm und warf ebenfalls einen Blick auf den Haufen Papier, den er aus dem Karton holte. Allerdings konnte ich mir da keinen Reim darauf machen.
Mit mehreren Seufzern holte Dad eine Handvoll Unterlagen nach der anderen aus dem Karton.
>Tja, so wie es aussieht, werde ich mir die erhofften Informationen wohl hart erarbeiten müssen.<
Er wirkte noch immer zuversichtlich, aber ich konnte ihm auch ansehen, dass es wohl anstrengend werden würde.
>Kann ich dir vielleicht helfen?<
>Ich glaube nicht, dass das nötig ist. Lass mich das alles erst mal durchsehen. Deine Mom war leider nicht sehr ordnungsliebend. Ich weiß noch, wie sie diese Dinge immer in die große, mittlere Schublade ihres Sekretärs geworfen hat.<
Erneut stahl sich ein verträumtes Lächeln auf sein Gesicht. Was gäbe ich dafür, wenn ich jetzt sehen könnte, an was er sich erinnerte. In meinem Gedächtnis waren so wenige Bilder von Mom. Es waren so schwache Erinnerungen und doch wurden sie immer von intensiven Gefühlen begleitet. Wie gerne würde ich sie jetzt mit meinen eigenen Augen sehen.

>Was haben wir denn da?<, murmelte Dad vor sich hin und holte dabei einen größeren Gegenstand aus dem Karton.
Ich konnte nicht sagen, ob ich das jemals zuvor gesehen hatte. Es war eine faszinierende Schnitzerei mit einem unglaublichen Detailreichtum. Auf den ersten Blick war es einfach nur überwältigend. Es sah aus wie ein Berg, der sich erst bei näherer Betrachtung als Insel erkennen ließ. Eine antik wirkende Stadt stand am Fuße des Berges und vor ihr ein großer Hafen. Selbst kleine Schiffe waren dort zu sehen.
Das Ganze stand auf einem quaderförmigen Unterbau mit vier verzierten Füßen. Alles schien aus einem einzigen Stück Holz gemacht worden zu sein. Es war dunkel und offensichtlich sehr edel. Die Oberfläche war poliert. Schimmernd spiegelte sich der Raum in ihr und ließ glänzende Lichtreflektionen auf ihr tanzen.
>Was ist das, Dad?<
>Ein Stück Heimat<, antwortete er und hatte wieder dieses von Gedankenbildern verursachte Lächeln auf den Lippen. >So hat es deine Mom genannt, als ich sie danach gefragt hatte. Es stand früher auf einem Eckschrank im Schlafzimmer. Es hat ihr wohl viel bedeutet, aber mehr weiß ich leider nicht darüber.<

Seufzend drehte er den Gegenstand in seinen Händen und betrachtete ihn von allen Seiten. Ich folgte seinem Blick und sah plötzlich etwas, das mich zusammenzucken und zischend Luft einatmen ließ. Verwundert starrte Dad mich an.
>Stell das hin, Dad. Bitte, stell das hin.<
>Was ist los?<, fragte er, während er meiner Bitte Folge leistete.
>Damit stimmt etwas nicht<, sagte ich und beugte mich im Abstand von vielleicht einem halben Meter hinunter, um den Unterbau genauer zu betrachten.
Mein erster Eindruck hatte mich nicht getäuscht. Da war tatsächlich eine dünne, sehr schwach leuchtende Linie, die einmal komplett um den Quader herum ging. Aber wie konnte das sein? Bisher hatte ich so ein Leuchten immer nur bei Menschen, Tieren oder Pflanzen gesehen, doch noch nie bei leblosen Gegenständen. Und warum hier nur entlang einer so schmalen Gerade?
>Was hast du, Nico?<
Ich bemerkte kaum, dass er mich angesprochen hatte. Dieses Ding hatte etwas an sich, dass für mich unbegreiflich war. Nicht nur, dass es überhaupt diesen minimalen Lichtschimmer hatte, es wirkte auch noch leicht bläulich, fast wie meine eigene Aura. Das ergab doch überhaupt keinen Sinn.

>Nico?<, hörte ich erneut Dads Stimme, doch ich wollte mich jetzt nicht aus der Konzentration bringen lassen.
Sehr langsam streckte ich eine Hand nach dem Objekt aus. Kurz bevor ich es berührt hätte, hielt ich an. Ich konnte tatsächlich eine extrem schwache Energie fühlen. Aber sie war so anders. Es war nicht wie bei Menschen, Tieren oder Pflanzen. Ähnlich, aber doch anders.
Da war aber noch mehr, als das Gefühl eines Kraftfeldes. Da war Bewegung. Ich traute kaum meinen Augen, als ich sah, wie sich das Leuchten zurückzuziehen begann und ein minimaler Spalt zum Vorschein kam. Erschrocken zog ich meine Hand zurück, doch der Lichtschimmer wurde immer schwächer und verschwand schließlich ganz.

>Nico. Was ist denn los. Jetzt sag doch etwas.<
Seufzend blickte ich auf. Was sollte ich ihm denn sagen? Ich wusste es doch selbst nicht. Ich richtete mich auf und griff noch einmal nach dem Unterbau. Ich konnte keine Energie mehr spüren, doch ich wusste nicht, ob das jetzt gut oder schlecht war. Jedenfalls war da kein Kribbeln wie bei Lilly gewesen, als das Licht verschwand. Und trotzdem war ich mir sicher, dass ich etwas damit zu tun haben musste, denn als Dad es berührt hatte, war nichts passiert.
Langsam fasste ich mit beiden Händen knapp oberhalb des dünnen Spaltes an den Unterbau. Ein stechender Schmerz durchzuckte dabei meine Schulter, doch ich versuchte das zu ignorieren. Leicht hob ich ihn an und tatsächlich löste sich das Oberteil mit einem leisen schleifenden Geräusch. Meine Finger zitterten vor Aufregung und ich legte das Stück, das sich nun als Deckel entpuppt hatte, vorsichtig zur Seite. Dads Gesicht spiegelte Überraschung wider und aufmerksam verfolgte er jede meiner Bewegungen.
Der Unterbau war innen hohl. Ein Buch lag darin und auch etwas, das wie ein Schmuckkästchen aussah. Nervös griff ich nach dem Buch. Der Einband war aus einem verzierten braunen Leder, doch sonst ohne Aufschrift. Vorsichtig schlug ich die erste Seite auf.
Ich erblickte etwas, das einerseits wie ein Bild, doch andererseits mehr wie ein Schriftzeichen oder eine Hieroglyphe aussah. Es war sehr detailliert und verschnörkelt, doch ich hatte nicht die leiseste Ahnung, was es bedeutete. Als ich umblätterte, waren noch mehr Bilder dieser Art zu sehen. Sie schienen alle von Hand gezeichnet zu sein und jedes unterschied sich von den anderen.

>Was hast du da?<, fragte Dad.
>Ich weiß es nicht<, antwortete ich wahrheitsgemäß und reichte ihm das Buch.
Auch er blätterte ein paar Seiten durch und schien genauso ratlos wie ich zu sein. Dann schaute er wieder zu mir.
>Woher hast du das gewusst? Wie hast du erkannt, dass das im Grunde ein Schatulle ist?<
>Das habe ich nicht gewusst. Da war nur so ein merkwürdiges Licht, Dad. Deshalb bin ich erst so erschrocken. Aber jetzt ist es weg und dann erkannte ich diesen Spalt.<
Er musterte mich etwas kritisch, wusste aber wohl nicht, was er dazu sagen sollte und beließ es einfach dabei.
>Was ist noch darin?<, wollte er schließlich wissen und ich griff nach dem schmalen Kästchen.
Vorsichtig öffnete ich es und zum Vorschein kam ein kleiner goldener Schlüssel, der an einer Goldkette hing. Behutsam nahm ich die Kette mit dem Anhänger heraus und Dad bekam bei dem Anblick plötzlich große Augen.
>Oh?! Da hat sie die Kette also aufbewahrt.<
>Du kennst sie?<
>Ja … Nele hatte sie damals eigentlich immer getragen, als wir uns kennen gelernt hatten. Ich hatte sie einmal gefragt, ob der Schlüssel eine bestimmte Bedeutung hätte. Sie meinte zu mir, dass er ein Symbol für eine Suche wäre. Etwas, das mit ihrem Beruf als Archäologin zu tun hätte. Nun ja, sie war immer etwas geheimnisvoll. Aber eines Tages hatte sie die Kette plötzlich nicht mehr getragen. Ich war besorgt und fragte sie, ob sie die Kette vielleicht verloren hätte. Doch sie lächelte nur und meinte, dass sie etwas gefunden hätte, das ihr viel wichtiger war, als das, was sie gesucht hatte. Deshalb wollte sie die Kette nicht mehr tragen. Ich weiß noch, wie ich sie ungläubig angestarrt hatte, bis sie schließlich anfing, laut zu lachen. Noch am gleichen Tag habe ich ihr einen Heiratsantrag gemacht und sie hat ihn angenommen.<

Die Freude, die er an diesem Tag empfunden haben musste, spiegelte sich in seinen Augen. Ich beneidete ihn so sehr um diese Erinnerungen. Er hatte einfach viel mehr davon als ich. Dennoch hatte ich das Gefühl, dass ihm dieser goldene Schlüssel viel mehr bedeuten würde, als er für mich jemals bedeuten könnte.
>Willst du die Kette haben, Dad?<, fragte ich und reichte sie ihm.
Ich war etwas überrascht, dass er nicht gleich danach griff sondern zögerte und erneut nachdenklich wirkte. Dann reichte er mir auch noch das Buch und lächelte mich dabei an.
>Nein, Nico. Ich will diese Dinge nicht. Ich trage alles, was ich von ihr brauche, in meinem Herzen. Bei dir sind sie besser aufgehoben.<
Mein Mund fühlte sich rau und trocken an und ich musste erst mal schlucken, als ich das Buch zurücknahm. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Ich konnte meine Gefühle nicht in Worte fassen. Mehr als ein Nicken brachte ich nicht zustande. Dann legte ich das Buch mit zittrigen Händen wieder dorthin, wo ich es entdeckt hatte und auch die Kette kehrte an ihren Fundort zurück. Anschließend setzte ich den Deckel wieder darauf und ließ ihn sanft einrasten.
Bei der kleinen grünen Glasfigur hatte ich vorhin noch ohne größere Überwindung geschafft, sie in den Pappkarton zurückzulegen, obwohl ich so eine schöne Erinnerung mit ihr verband. Aber das hier wollte ich nicht mehr hergeben und ich war einfach nur glücklich, dass Dad mir erlaubt hatte, es zu behalten.

>Lass uns noch einen Blick in die letzte Kiste werfen<, meinte Dad und war auch schon dabei, sie zu öffnen. >Ach natürlich … ihre Bücher.<
Ich ging zu ihm und schaute ebenfalls hinein. So wie es aussah, waren dort wohl tatsächlich nur Bücher drin.
>Deine Mutter hatte einen eigenartigen Literaturgeschmack<, sagte er mit einem leichten Lachen. >Dass sie wegen ihres Berufes Bücher über Archäologie und Geschichte lesen wollte, war ja nicht weiter verwunderlich, aber sie schien das sogar zu amüsieren, wenn sie alte Texte studierte.<
>Du meinst, Mom hat die Bücher aus Spaß gelesen?<
>In gewisser Weise bestimmt. Ich habe sie sogar einmal kichern hören, als sie Homers Ilias las. Ich meine, diese altgriechische Dichtkunst ist ja wohl keine Komödie. Es ist ein blutrünstiges Heldenepos, durch das ich mich selbst einmal durchgequält hatte. Du kannst mir glauben, ich habe nicht ein einziges Mal dabei auch nur geschmunzelt.<
Dad verschloss den Karton wieder und sah sich kurz um.
>Ich denke, ich habe gefunden, was ich gesucht habe. Jetzt bleibt nur noch zu hoffen, dass ich auch einen nützlichen Hinweis in den Unterlagen entdecken kann. … Magst du noch etwas von ihren Sachen oder soll ich sie wieder nach oben bringen?<
Mein Blick fiel kurz auf die Schatulle und dann schüttelte ich den Kopf.
>Danke, aber ich glaube, ich möchte im Augenblick nur das da.<
Dad nickte mir zu, als ich auf die so faszinierend verzierte Holzkassette zeigte und begann gleich darauf damit, alle Umzugskartons wieder zu verschließen.
>Gut, dann bringe ich die Sachen wieder nach oben.<
>O.K. Dad.<

Ich nahm die Schatulle und ging damit in mein Zimmer. Dort suchte ich als erstes nach einem geeigneten Platz, um sie aufzustellen. So recht wollte sich aber kein angemessener Standort finden lassen und so entschied ich mich dafür, sie zunächst auf dem Schreibtisch aufzustellen. Eine Weile saß ich einfach auf meinem Bett, betrachtete sie und wartete darauf, ob der schmale Lichtschimmer vielleicht noch einmal zurückkehren würde. Aber leider geschah das nicht. Schließlich öffnete ich sie wieder und holte erneut das Buch heraus, um darin zu blättern.
Seite für Seite betrachtete ich diese merkwürdigen Bilder. Jedes einzelne unterschied sich von den anderen und doch gab es Ähnlichkeiten. Anfangs dachte ich, es könnte vielleicht so eine Art Skizzenblock sein, aber das schien mir schon bald sehr abwegig. So wie diese Zeichnungen aussahen, mussten sie einfach etwas bedeuten. Aber was das war, konnte ich mir nicht erklären.
Stundenlang sah ich mir das Buch an. Auch wenn es für mich ein großes Mysterium war, so war es doch vor allem auch etwas von meiner Mutter. Obwohl es im Grunde ein unlösbares Rätsel zu sein schien, freute ich mich doch darüber, dass ich das in meinen Händen halten dufte. Es war in der Tat wie ein kleiner Schatz und ich hoffte, dass ich irgendwann verstehen würde, was das alles bedeutete.

Es war schon früher Nachmittag, als sich mein Magen laut knurrend bemerkbar machte und mich das Buch beiseitelegen ließ. Ich ging zu Dad ins Arbeitszimmer und wir einigten uns schnell darauf, uns heute eine Pizza kommen zu lassen. Das war mir sehr recht, denn meine Schulter tat noch immer höllisch weh und Pizza konnte man wunderbar mit einer Hand essen.
Nachdem ich beim Pizzaservice angerufen hatte, setzte ich mich im Wohnzimmer ein wenig vor den Fernseher. Dad war so in die Unterlagen vertieft gewesen, dass ich ihn lieber in Ruhe lassen wollte. Alternativ zappte ich eben ein Weilchen durch die Fernsehkanäle.
Während ich so auf dem Sessel saß, musste ich plötzlich an meine Tigerlilly denken. So oft war sie hier schon auf meinem Schoß gehüpft und hatte mich angeschnurrt. Ich vermisste sie so sehr. Das alles tat mir so schrecklich leid.
Seufzend versuchte ich mich wieder auf das Fernsehprogramm zu konzentrieren, um mich auf andere Gedanken zu bringen. So recht wollte mir das aber nicht gelingen und so fühlte sich die Wartezeit endlos an, bis endlich die Pizza geliefert wurde.

Beim Essen erzählte mir Dad, dass er schon einige interessante Hinweise entdeckt hätte. Offensichtlich war die Stadt Kiruna das Ziel von Moms letzter Schwedenreise gewesen. Das alleine war zwar noch nicht genug, um einen einzelnen bestimmten Menschen zu finden, aber es war ein Anfang und machte mir Hoffnung, dass vielleicht doch alles gut werden konnte.
Den Nachmittag verbrachte ich an meinem PC und informierte mich schon mal ein bisschen über diese Stadt im Norden Schwedens. Dort jemanden zu finden schien mir aber eine unlösbare Aufgabe zu sein. Die Stadt hatte annähernd 20.000 Einwohner. Wir konnten wohl kaum mit dem Foto meiner Mom von Haus zu Haus gehen und fragen, ob sie irgendjemand vor mehr als 10 Jahren hier gesehen hat. Nun ja, das Bild von ihr würde ich wohl vorsorglich doch mitnehmen.

Am späteren Abend berichtete mir Dad mit sichtlich betrübter Miene, dass er leider kaum noch etwas herausgefunden hatte. Nach dem Flug nach Kiruna hatte sie dort lediglich noch einen Mietwagen genommen und sonst war da nichts mehr. Kein Hotel, keine Restaurantbesuche, einfach gar nichts. Sie hatte sich nichts gekauft oder sonst irgendetwas mit ihrer Kreditkarte bezahlt.
Das war ziemlich enttäuschend, aber auch wenn wir so wenige Anhaltspunkte hatten, so waren wir uns doch einig, dass wir einen Versuch unternehmen wollten. In den Ferien würden wir definitiv dorthin fliegen und ich wollte einfach glauben, dass wir Erfolg haben würden. So ging ich schließlich recht optimistisch ins Bett.

Als ich am nächsten Morgen erwachte, war ich atemlos und irgendwie gehetzt. Meine Träume in dieser Nacht waren unangenehm gewesen und ich fühlte mich alles andere als erholt. Immerzu war ich gerannt und auf der Suche. Ruhelos hetzte ich zuerst durch eine Stadt und später durch einen Wald. Überall hielt ich Ausschau nach meiner Mutter.
Es war so merkwürdig gewesen. Ich wusste genau, dass sie tot war und doch hatte ich sie gesucht und das Gefühl gehabt, ihr ganz dicht auf den Fersen zu sein. Hin und wieder sah ich verschwommen ihre Silhouette, die von einem leicht bläulichen Lichtschimmer umgeben war. Doch ich sah sie immer nur kurz und schon im nächsten Augenblick war sie hinter einem Haus oder einem Baum verschwunden. War ich dann an der Stelle angekommen, drehte sich alles um mich und ich verlor jedes Mal aufs Neue die Orientierung.

Langsam quälte ich mich aus meinem Bett und schleppte mich ins Bad, während ich versuchte, den Bildern in meinem Kopf einen Sinn zu geben. Im Grunde war mir klar, dass der Traum mit den Erlebnissen des vergangenen Tages mit den Plänen für unsere Reise nach Schweden zusammen hing. Dennoch war es irritierend gewesen, dass ich nicht nach einer Unbekannten, sondern nach meiner Mutter gesucht hatte. Verwirrend war auch, dass sie von einem Lichtschimmer umgeben war, der meinem so ähnlich sah. Konnte das denn wirklich sein? War das vielleicht der Grund, warum meine Aura so anders war? Weil ihre es womöglich auch war?

Nach dem Duschen betrachtete ich noch kurz meine Schulter im Spiegel. Sie sah wirklich übel aus und es war sicherlich richtig, damit zum Arzt zu gehen. Ich hoffte sehr, dass es nicht zu hart werden würde. Schließlich zog ich mich an und ging frühstücken.
Dad sah auch nicht wirklich fit aus, aber er versuchte gute Miene zum bösen Spiel zu machen und lächelte mich an.
>Guten Morgen, Nico. Hast du einigermaßen gut geschlafen?<
>Nicht wirklich, Dad.<
>Wegen … der Schulter?<
>Auch.<
Er musterte mich wieder einmal prüfend und kritisch, fragte aber nicht weiter nach und widmete sich seinem Frühstück. Während er aß, senkte ich meinen Blick in meiner Kaffeetasse und ließ mich von dem aufsteigenden Duft einfangen. Mein Atem wurde tiefer und ruhiger und ich betrachtete das Spiegelbild meiner Augen in der schwarz glänzenden Oberfläche. Ich hatte das schon so oft gemacht und doch war es ein unwiderstehlicher Drang, fast einem Ritual gleich, es jeden Morgen erneut zu tun.

>Ich muss dann los<, sagte Dad und riss mich damit wieder aus meinen Gedanken.
>O.K., dann bis heute Abend.<
Er sah etwas besorgt aus und stand nicht gleich auf, wie er es sonst immer nach dem Frühstück tat. Das irritierte mich etwas und ich schaute ihn abwartend an.
>Nico, wenn du möchtest, kann ich mir auch den Vormittag frei nehmen und mir dir zum Arzt gehen.<
Mit diesem überraschenden Angebot hatte ich nun wirklich nicht gerechnet. Er hatte zwar auch in der Vergangenheit öfters kurzzeitig frei genommen, wenn ich krank war, doch meistens hatte sich dann Nana um mich gekümmert. Abgesehen davon war ich inzwischen sicherlich alt genug und wegen dieser Schulterverletzung war das ja auch übertrieben. Und bei meinem eigentlichen Problem konnte er mir ohnehin nicht helfen.
>Nein Dad. Das ist nicht nötig. Ich schaffe das schon.<
Er nickte mir zu und legte dann plötzlich seine Hand auf meine. Sofort spürte ich wieder diese Spannung und das intensive Kribbeln auf meiner Haut, als ich in Kontakt mit seiner Aura kam. Ich zuckte zusammen und hielt instinktiv die Luft an. Das konnte doch jetzt nicht sein Ernst sein, das schon wieder mit mir zu machen.
>Ich weiß, dass du das schaffen wirst. Du sollst nur wissen, dass ich für dich da bin, wenn du mich brauchst. Ruf mich an, wenn ich nach Hause kommen soll. O.K.?<
Zur Bestätigung nickte ich ihm zu und war dann auch gleich sehr erleichtert, als er seine Hand wieder herunter nahm. Anschließend stand er auf, lächelte mich noch einmal schwach an und ging.

Ich blieb noch eine Weile am Tisch sitzen, trank meinen Kaffee und nahm mir auch eine Kleinigkeit zu essen. Als ich meinen Blick umherschweifen ließ, fiel mir der Fressnapf von Lilly auf, der noch immer in der gewohnten Ecke stand. Augenblicklich verging mir der Appetit und ich hatte einen Kloß im Hals.
Zwei, drei Minuten lang saß ich einfach da und starrte in die Ecke auf den Boden. Oft war meine Tigerlilly auch hier gewesen, wenn wir frühstückten und ich habe ihr gerne beim Schmatzen und Knabbern zugesehen. Es hatte immer eine beruhigende Wirkung auf mich gehabt. Doch das war jetzt vorbei. Jetzt war dieser Napf nur noch ein Symbol für das, was ich verloren hatte. Ein Symbol, das ich nicht brauchte, um mich an sie zu erinnern und das mich nur noch mehr spüren ließ, was ich verloren hatte.
Entschlossen stand ich auf und griff mir ihre Futterschüssel. Ich wollte sie nicht so einfach in den Müll werfen, aber mit den angetrockneten Resten konnte ich sie auch schlecht einfach in einen Küchenschrank stellen. Sie erst einmal zu säubern schien mir da eine gute Idee zu sein. Da ich schon mal dabei war, räumte ich auch gleich den Tisch ab und packte das Geschirr und den Napf in die Spülmaschine. Anschließend machte ich mich auf den Weg zum Doc.

Die Praxis von Dr. MacGowan war nicht sehr weit weg. Vielleicht eine Meile. Eigentlich ein angenehmer kurzer Spaziergang, wenn da nicht diese Ungewissheit wäre, wie ich mit der Untersuchung wohl klarkommen würde. Doch im Grunde war ich mir ziemlich sicher, dass ich es schon gut überstehen würde. So sehr ich auch auf Dad wütend war, als er gestern Morgen einfach so meine Hand gepackt und nicht mehr losgelassen hatte, so sicher war mir jedoch gerade deshalb, dass es gut gehen würde. Es war kaum vorstellbar, dass es noch schlimmer werden könnte.
Als ich angekommen war und nach kurzen Formalitäten ins Wartezimmer geschickt wurde, nahm ich mit einer gewissen Erleichterung zur Kenntnis, dass dort nur zwei ältere Damen waren. Ich würde also nicht allzu lange warten müssen und hatte eine Ecke des Raumes für mich alleine.
Nachdem ich mich gesetzt hatte, fiel mir bei einer der Frauen auf, dass ihre Aura gerade im Bereich des linken Knies besonders stark zu strahlen schien. Das fand ich eigenartig, aber auch interessant, denn in Bezug auf meine Schulter hatte ich das Gleiche ja auch an mir festgestellt. Ob die Aura wohl von Verletzungen beeinflusst wurde? In meiner Vermutung fühlte ich mich gleich noch ein bisschen mehr bestärkt, als sie humpelnd und auf einen Krückstock gestützt zur Tür ging, nachdem sie aufgerufen worden war.

Nach etwa einer halben Stunde war dann ich an der Reihe und ging in das Behandlungszimmer. Dr. MacGowan saß hinter seinem Schreibtisch und mühte sich etwas mit den Eingaben am Computer ab. Es war schon eine ganze Weile her, dass ich das letzte Mal hier war, doch er hatte sich kaum verändert. Mit seinem grauen, fast weißen Haar und dem von tiefen Lachfalten gezeichneten Gesicht, hatte er etwas von einem freundlichen Großvater an sich. Er war ein erfahrener älterer Arzt und gab einem immer das Gefühl, in guten Händen zu sein.
>Ah! Der junge Mr. Rivers<, begrüßte er mich und kam um den Schreibtisch herum. >Sie waren ja schon lange nicht mehr bei mir. Was kann ich denn für sie tun?<
Er lächelte freundlich und reichte mir zur Begrüßung die Hand. Es widerstrebte mir zwar, sie ihm zu geben, aber da hatte ich nicht wirklich eine Wahl. Ich schüttelte seine Hand und spürte natürlich sofort seine Energie. Merkwürdigerweise war sie gar nicht so intensiv, wie ich es erwartet hatte. Rein äußerlich strahlte der Lichtschimmer um ihn herum wie bei jedem anderen auch, doch fühlte ich die Aura nicht so stark, wie es bei meinem Dad gewesen war.
>Bitte, Dr. MacGowan. Nennen sie mich doch Nico. Ganz wie früher.<
>Na, das lässt sich wohl einrichten<, sagte er schmunzelnd. >Wo drückt dich denn der Schuh?<
>An der Schulter.<
>Also da gehören Schuhe ja auch nicht hin<, meinte er lachend. >Zeigst du sie mir mal?<
>Natürlich<, gab ich zur Antwort und knöpfte mein Hemd auf, das ich dann einfach über die Schulter herunterstreifen konnte.
>Oh! … Das sieht ja schmerzhaft aus. Wie ist das denn passiert?

Kurz blitzten wieder Bilder aus meinen noch so frischen Erinnerungen an Lillys Tod in mir auf. Mein Mund und der Hals fühlten sich sofort trocken und kratzig an und ich musste erst mal schlucken, bevor ich reden konnte.
>Es war ein Unfall<, sagte ich, doch in meinem Herzen bezog ich das mehr auf meine Tigerlilly als auf die Ursache für die Verletzung. >Ich bin gegen einen Türrahmen gestolpert.<
Er tastete die Schulter ab, aber obwohl er das sehr vorsichtig machte, wurde es von einem stechenden Schmerz begleitet, was mich zischend Luft einatmen ließ. Tatsächlich war der Druckschmerz sehr viel unangenehmer, als der Kontakt mit seiner Aura, was mich doch ziemlich wunderte. Ich spürte natürlich die Spannung und das leichte Kribbeln, doch die Schmerzen in meiner Schulter waren viel heftiger und ließen mich alles andere nicht so deutlich empfinden.
>Es sieht nicht so aus, als ob du dir etwas gebrochen hättest, aber eine ziemlich heftige Prellung hast du dir da zugezogen. Du solltest den Arm unbedingt ruhig halten.<

Er ging zurück zu seinem Schreibtisch und ich knöpfte inzwischen mein Hemd wieder zu.
>Ich werde dir etwas gegen die Schmerzen und eine Salbe aufschreiben. Einfach morgens und abends die Schulter damit einreiben. Bis in einer Woche sollte das wieder in Ordnung sein. Sport ist natürlich tabu.<
Ich nickte ihm zu, aber ich hatte nicht das Gefühl, als würde er mir eine Krankmeldung ausstellen, was mich beunruhigte.
>Dr. MacGowan? Werden sie mich für diese Woche krankschreiben?<
Sein Blick war etwas prüfend, aber er sah immer noch sehr freundlich aus.
>Hast du nicht vielleicht irgendwelche Prüfungen, die du nicht verpassen solltest?<
>Nein, die sind alle vorbei. Es ist nur … ich schlafe sehr schlecht … wegen der Schulter … und in dieser Woche steht auch nichts Wichtiges mehr an. Ich bin einfach nur total ausgepowert.<
>So, so<, sagte er leicht lachend. >Das klingt ja fast nach einem Burnout-Syndrom. Da kann ein bisschen Ruhe sicherlich auch nicht schaden.<
Ich lächelte erleichtert zurück, während er sich daran machte, mir ein Attest für diese Woche auszustellen. Mir fiel regelrecht ein Stein vom Herzen und auch meine Schulter tat gleich ein bisschen weniger weh. Dr. MacGowan ließ mir von seiner Arzthelferin noch eine Schlinge anpassen, damit ich meinen Arm einhängen und somit besser ruhig stellen konnte. Dann verabschiedete ich mich und ging auf dem Heimweg noch in einer Apotheke vorbei, um mir gleich die Medikamente zu holen.

Zuhause angekommen, rief ich noch kurz in der Schule an, um wegen meiner Krankmeldung Bescheid zu geben. Mit Dad telefonierte ich ebenfalls kurz und sagte ihm, dass alles gut gelaufen war. Danach begab ich mich ins Badezimmer, um mit der Selbstbehandlung zu beginnen. Ich öffnete die Tube und rümpfte gleich darauf angewidert die Nase. Der Geruch war wahrlich alles andere als angenehm. Nur widerwillig fing in an, das stinkende Zeug auf meiner Schulter zu verteilen. Ich nahm auch eine Tablette mit einem Glas Wasser ein und ging anschließend in mein Zimmer. Dort machte ich es mir erst mal vor dem Fernseher gemütlich.
Etwas später hörte ich, wie unten die Eingangstür aufgeschlossen wurde. Das konnte nur Nana sein, die sich sicherlich gleich an die Hausarbeit machen würde. Kurz darauf nahm ich auch schon ihre Schritte auf der Treppe wahr und ich stand auf, um sie zu begrüßen.
>Was ist denn das für ein merkwürdiger Geruch?<, sagte sie vor meiner Tür zu sich selbst.
>Das bin wohl ich<, gestand ich schmunzelnd, als ich die Tür öffnete.
>Huch! … Hast du mich jetzt erschreckt<, sagte sie überrascht und klopfte sich leicht mit der Hand auf die Brust, doch schon im nächsten Moment sah sie besorgt aus. >Was ist denn mit deinem Arm? Bist du verletzt?<
>Ist nicht so schlimm, Nana. Ich habe mir die Schulter geprellt, aber die Salbe stinkt mehr, als es weh tut.<
>Ach du Armer. Aber wenn du schon mal zu Hause bist, dann werde ich dir nachher etwas Leckeres zum Mittagessen machen. Hast du einen bestimmten Wunsch?<
>Hmm … vielleicht Spaghetti? Die kann man ganz gut mit einer Hand essen.<
>Gut, dann sollst du auch Spaghetti bekommen, mein Schatz.<
Sie schenkte mir so ein liebevolles und mütterliches Lächeln, dass mir ganz warm ums Herz wurde. In diesem Augenblick wollte ich sie so gerne umarmen, wenn auch nur für einen kurzen Moment.

>Danke Nana<, sagte ich schließlich fast flüsternd und machte einen Schritt auf sie zu, doch traute ich mich nicht, sie in den Arm zu nehmen.
Alleine, dass sie schon so dicht vor mir stand, ließ mich ihre Aura stärker spüren, als die von Dr. MacGowan. Schlagartig wurde mir ganz mulmig zumute. Sie tatsächlich zu umarmen, schien mir definitiv keine gute Idee zu sein. Ich ließ es lieber bleiben und lächelte sie nur an.
Sie hatte anscheinend für einen kurzen Moment mit einer Umarmung gerechnet und schien ein bisschen betrübt zu sein. Doch schnell überspielte sie die Enttäuschung und erwiderte mein Lächeln. Irgendwie hatte ich das Gefühl, dass wir uns in diesem Augenblick in Gedanken umarmten und das war auf eine eigenartige Weise sehr schön. Wir sahen uns an und sprachen kein Wort. Dennoch war ich mir sicher, dass sie es ähnlich empfand wie ich.
Ich ging wieder zurück in mein Zimmer und freute mich, als ich hörte, wie Nana anfing ein Lied zu summen, während sie sich wieder an die Arbeit machte. Auch ich fühlte mich irgendwie gut, auch wenn ich es nicht geschafft hatte, sie zu umarmen. Trotzdem wollte ich daran glauben, dass ich das eines Tages wieder konnte und dass ich mein Leben vielleicht doch noch in den Griff bekommen würde.
Gegen Mittag bekam meine gute Laune allerdings einen herben Dämpfer. Nana hatte mich zum Essen gerufen und als ich in der Küche ankam, musste ich feststellen, dass sie den Fressnapf wieder aufgestellt und mit frischem Futter gefüllt hatte. Dann fragte sie mich auch noch, wo denn meine Katze sei und ich musste ihr zwangsläufig von Lillys Tod berichten. Sie war deswegen sehr bestürzt und voller Mitgefühl, doch wenn sie die Wahrheit über die Todesursache gewusst hätte, hätte sie mich sicher anders angesehen. Die Wahrheit konnte ich ihr aber nicht erzählen, also sagte ich nur das, was Dad anfangs vermutet hatte. Dass sie eben schon alt war und einfach gestorben sei.

Später rief dann Colin noch bei mir an, um sich nach mir zu erkundigen und ich berichtete ihm von meiner heftigen Schulterprellung. Da es aber im Grunde nichts wirklich Ernstes war, machte er sich natürlich gleich ein bisschen über mich lustig. Trotzdem hatte ich den Eindruck, dass er es vor allem bedauerte, dass ich die letzte Schulwoche fehlen und somit auch definitiv nicht zur Abschlussfeier kommen würde.
Für mich war allerdings gerade das eine große Erleichterung, doch konnte ich ihm das weder sagen, noch sonst irgendwie zu verstehen geben. Er würde es nicht begreifen und höchstwahrscheinlich Fragen stellen, die ich nicht beantworten könnte oder besser gesagt nicht beantworten wollte. Vielleicht irgendwann einmal. Vielleicht, wenn ich das Problem wirklich unter Kontrolle hatte.
Noch vor einer Woche hätte ich es nicht für möglich gehalten, jemals einem anderen davon zu erzählen. Doch nun war vieles anders. Nun wusste ich, dass ich nicht alleine war. Jetzt musste ich nur noch jemanden finden, der wie ich war und ich hielt an der Hoffnung fest, dass Moms Freundin in Schweden der Schlüssel zur Lösung meines Problems sein würde.


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Kapitel 4

Ferienbeginn

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Die nächsten Tage, die ich überwiegend alleine in meinem Zimmer verbrachte, vergingen ungewöhnlich schnell. Wenn ich früher krank zu Hause bleiben musste, war das immer anders gewesen. Zumindest hatte ich es anders in Erinnerung. Natürlich war Nana immer für mich da, doch krank zu sein bedeutete bisher immer auch Langeweile. Die kam dieses Mal aber nicht auf.
Ich nutzte die Zeit, um möglichst viel über die schwedische Stadt Kiruna und die Umgebung heraus zu finden. Leider fand ich nichts, das man als konkreten Hinweis beurteilen könnte, doch würde es uns vielleicht bei der Suche helfen können, wenn wir erst einmal dort waren. Ich hatte auch die Idee, eine Seite aus Moms Buch zu fotografieren und das zusammen mit einem Bild von der Schatulle und dem Schlüssel ins Internet zu stellen. Vielleicht hatte ich ja so viel Glück, dass irgendjemand darüber stolperte, der mir etwas dazu sagen konnte. Ich rechnete zwar nicht wirklich damit, aber ein Versuch schien es mir wert zu sein.
Neu war in diesen Tagen aber auch, dass ich keine Albträume mehr hatte. Zumindest wachte ich nachts nicht mehr schweißgebadet auf und konnte mich morgens auch an keine schlechten Träume erinnern. Ich fühlte mich dadurch so optimistisch, wie schon lange nicht mehr.

Am Mittwoch ging ich selbst auf den Dachboden, um mich in der Kiste mit den Büchern umzusehen. Dabei fiel mir “Homers Ilias und Odyssee” in die Hände. Das Buch, von dem Dad meinte, es hätte meine Mutter amüsiert. Kurz entschlossen nahm ich es an mich und begann darin zu lesen. Allerdings wurde mir schon nach wenigen Zeilen klar, dass ich wohl Wochen, wenn nicht sogar Monate brauchen würde, um es durchzulesen und vermutlich Jahre, um es zu verstehen. Die Übersetzung dieses rund dreitausend Jahre alten griechischen Textes war alles andere als leichte Lektüre. Als Dad dann am Abend nach Hause kam und mich dieses Buch lesen sah, schüttelte er grinsend den Kopf.
>Willst du dir das wirklich antun?<, fragte er schmunzelnd.
>Warum? Es ist doch witzig. Ich weiß gar nicht, was du gegen das Buch hast<, gab ich zurück und versuchte dabei eine ernste Miene zu machen.
Sein verdutztes Gesicht war allerdings so herrlich, dass ich die Fassade nicht lange aufrecht halten konnte und selbst lachen musste.
>Du hast mich reingelegt<, meinte er gespielt empört.
>Nur ein bisschen<, sagte ich und legte das Buch zur Seite. >Ich habe übrigens heute auch nach Hotels in Kiruna gesucht. Da gibt es eine ganze Menge. Sogar ein Eis-Hotel, aber das hat nur in den Wintermonaten offen. Wir müssen uns also mit einer normalen Unterkunft begnügen. Was meinst du? Wann können wir denn fliegen? Wir sollten mit der Buchung nicht zu lange warten.<
>So wie es aussieht, werde ich wohl nächste Woche noch für das Projekt gebraucht, aber es ist bald abgeschlossen. Lass uns am besten Mitte Juli ins Auge fassen. Ich habe auch schon die Zusage, dass ich dann vier Wochen Urlaub nehmen kann. Das sollte hoffentlich reichen.<

Ich nickte zustimmend. Mir wäre es zwar lieber gewesen, wenn wir so schnell wie möglich aufbrechen könnten, aber auf eine Woche mehr oder weniger sollte es nun wirklich nicht ankommen. Wir suchten noch eine Weile zusammen am PC nach einem passenden Hotel und wurden auch bald fündig. Dad entschied, dass wir gleich Nägel mit Köpfen machen sollten und buchte kurz entschlossen das Hotel und den Flug.
Ein Blick auf die Uhr verriet uns, dass es inzwischen fast Mitternacht war. Dad verabschiedete sich gähnend mit einem kurzen Schulterklopfen bei mir und ging zu Bett. Die Berührung ließ mich wieder kurz zusammenzucken. Ich hasste dieses Gefühl. Wenn ein Revolver lebendig wäre, würde er sich vermutlich genauso fühlen, wenn jemand an seinem Abzug spielt, während er auf einen unschuldigen Menschen gerichtet war. Ich wollte nicht so empfinden und ich hoffte so sehr, dass wir in Schweden die Lösung meines Problems finden könnten.

Am nächsten Tag meldete sich Colin noch einmal bei mir und fragte, ob ich nicht vielleicht doch noch zur Abschlussfeier kommen wollte, doch das musste ich ablehnen. Er war natürlich enttäuscht und meine Ankündigung, auch zur Zeugnisübergabe am Freitag nicht zu kommen, verstärkte das Ganze noch. Er meinte, dass meine Schulterverletzung doch unmöglich so schwer sein konnte, dass ich noch nicht mal mein Zeugnis abholen könnte.
Damit hatte er natürlich Recht. Die Behandlung mit der stinkenden Salbe hatte bereits deutlich Wirkung gezeigt. Die Schmerzen waren erträglich und die Schwellung schon deutlich zurückgegangen. Eigentlich sah es inzwischen viel schlimmer aus, als es war. Meine eigene Aura leuchtete an dieser Stelle auch nur noch ein kleines bisschen stärker. Trotzdem wollte ich um keinen Preis in die Schule gehen. Nicht bevor ich mir absolut sicher war, keine Gefahr für die Anderen zu sein.
Mir blieb nichts anderes übrig, als Colin darauf hinzuweisen, dass mir der Arzt für die ganze Woche Ruhe verordnet hatte. Mein Zeugnis würde man mir sicherlich auch so einfach zuschicken. Es würde ja nicht ewig so bleiben und im neuen Schuljahr würde hoffentlich schon wieder alles so laufen wie bisher. Das stimmte ihn zwar nicht gerade fröhlich, aber wenigstens war er nicht mehr ganz so verärgert. Bevor wir das Telefonat beendeten, sagte er noch, dass er mir hinterher erzählen würde, wie es war.
Im Grunde versuchte ich, nicht über die Abschlussfeier nachzudenken, doch es wollte mir einfach nicht gelingen. Immer wieder drängte sich Kassandras Bild in meinen Kopf. Ihr sanftes Lächeln, das mir die Knie weich werden ließ, konnte ich genau so deutlich vor mir sehen, wie ihr enttäuschtes Gesicht, als ich sie das letzte Mal gesehen hatte. Ein tiefes Seufzen entwich meiner Brust. Ich wollte es so gerne wieder gut machen und ich hoffte sehr, dass ich nach den Ferien dazu in der Lage sein würde und auch eine Chance bekäme.

Der Rest der Woche verlief dann sehr ruhig. Ich hatte viel Zeit und schaute immer wieder im Internet vorbei, ob mein Eintrag mit den Bildern des Schlüssels, der Schatulle und der Seite aus Moms Tagebuch etwas Interessantes ergeben hätte. Jedoch hatten sich nur wenige überhaupt darauf gemeldet, was mich zwar nicht weiter gewundert, aber schon etwas enttäuscht hatte. Und die Beiträge, die dazu erschienen waren, hatten auch keinen besonderen Wert. Im Allgemeinen hielt man die Buchseite für eine verschlüsselte Karte und der Schlüssel sollte die Schatzruhe öffnen können. Doch das erschien mir völlig abwegig. Die Hoffnung, auf diesem Wege mehr erfahren zu können, musste ich letztlich wohl begraben.
Am Wochenende war Dad zwar zu Hause, aber irgendwie doch nicht wirklich da. Er arbeitete fast wie besessen an seinem Projekt. Selbst am Sonntag, wo er doch eigentlich immer so großen Wert auf gemeinsame Aktivitäten legte, war er mit seinen Gedanken immer bei der Arbeit. Wir gingen trotzdem zusammen essen und ich erzählte ihm viel von dem, was ich bei meinen Internet-Recherchen über unser Urlaubsziel herausgefunden hatte. Er war auch sichtlich bemüht, ein guter Zuhörer zu sein, doch ich spürte, dass es ihm diesmal schwer fiel.
Nach dem Restaurantbesuch musste ich ihn fast dazu zwingen, noch eine kleine Radtour mit mir zu unternehmen. Doch an diesem schönen Tag wollte ich endlich mal wieder raus und etwas Bewegung an der frischen Luft haben. Meine Schulter machte im Grunde kaum noch Probleme und ich war davon überzeugt, dass es ihm auch gut tun würde. So fuhren wir ein Stück durch den Wald und danach noch entlang der Wiesen und Felder in der näheren Umgebung.
Auch am Gelände des Golfclubs von Bandon kamen wir vorbei und ich erinnerte ihn daran, wie er mich vor ein paar Jahren hierher geschleppt hatte, um zu testen, ob dieser Sport etwas für uns wäre. Obwohl ich Golf nicht unbedingt als Sport bezeichnen würde, hatten wir doch auch viel Spaß dabei. Aber so richtig war es nichts für uns und so hatten wir das Experiment bald wieder abgeschlossen. Dennoch dachte ich so bei mir, dass wir es vielleicht noch einmal versuchen sollten. Eine halbwegs sportliche Freizeitbeschäftigung, bei der man nicht ständig den Kontakt mit anderen Menschen fürchten musste, erschien mir im Augenblick sogar nahezu ideal zu sein. Ich schlug Dad daher spontan vor, dass wir es nach unserem Urlaub doch noch einmal mit Golf versuchen könnten und auch er fand die Idee nicht schlecht.
Nach gut einer Stunde kamen wir wieder zu Hause an und er verkroch sich gleich in seinem Arbeitszimmer. Er machte auf mich aber auch den Eindruck, dass er bei unserem kleinen Ausflug etwas Energie tanken konnte. Mir war natürlich klar, dass er sich nicht zuletzt auch wegen mir diesen Stress machte, damit wir auch sicher unsere geplante Urlaubsreise antreten konnten. Ein bisschen hatte ich deswegen auch ein schlechtes Gewissen, doch vor allem war ich ihm dafür sehr dankbar.

Punkt 7:30 Uhr ging am Montagmorgen mein Wecker los und riss mich aus dem Schlaf. Nach einem intensiven Aufstöhnen, gefolgt von einem noch intensiveren Gähnen, schleppte ich mich aus dem Bett ins Badezimmer. Auch in den Ferien hatte ich mir angewöhnt, morgens noch mit Dad zu frühstücken, bevor er sich auf den Weg nach Cork machte. Ich spritzte mir noch schnell etwas Wasser ins Gesicht, was mich aber nicht wirklich wach machte. Noch schlaftrunken taumelte ich halb die Treppe hinunter und schaffte es gerade so, mich in der Küche auf meinen Platz zu retten.
>Guten Morgen, Nico. Hast du gut geschlafen?<
>Hab’ ich<, gähnte ich ihm entgegen, was ihn schmunzeln ließ.
>Also wenn du noch so müde bist, dann geh’ doch wieder ins Bett. Du musst dich nicht wegen mir quälen.<
>Doch Dad, das muss ich<, meinte ich entschlossen und zog mir die Kaffeetasse heran, um den Duft mit einen tiefen Atemzug in mich aufzunehmen. >Das haben wir bisher immer so gemacht und dabei bleibt es auch. Ich kann ja wieder ins Bett gehen, wenn du weg bist.<
>Das ist aber unfair<, sagte er und versuchte dabei entrüstet zu klingen, was ihm auch ganz gut gelang.
>Pech gehabt<, gab ich grinsend zurück.
>Aber nicht, dass du mir den ganzen Tag im Bett herumlümmelst. Hast du dir denn für heute schon etwas vorgenommen? Ist ja schließlich dein erster Ferientag.<
Ich zuckte mit den Schultern, was auf der verletzten Seite einen leichten Schmerz auslöste.
>Nein, nichts Konkretes<, erwiderte ich, während ich mir die Schulter rieb. >Mal sehen, wie das Wetter wird. Vielleicht mache ich noch einmal eine kleine Radtour. Mehr macht meine Schulter wohl noch nicht freiwillig mit.<
>Was ist denn mit Colin? Warum unternimmst du nichts mit ihm? Oder ist er mit seiner Familie verreist?<
Erneut zuckte ich mit den Schultern, was diesmal noch ein kleines bisschen mehr weh tat und mich wieder die Schulter reiben ließ.
>Ich weiß es nicht. Er hat nichts erzählt, aber das muss bei Colin nichts heißen. Ich rufe ihn nachher mal an. Jetzt schläft er sicherlich noch.<

Meine Antwort schien Dad zu gefallen. Zumindest sah er zufrieden aus. Bestimmt hatte er sich Sorgen gemacht, dass ich mich bis zu unserer Reise alleine in meinem Zimmer verkriechen würde, aber das hatte ich nicht vor. Natürlich wollte ich nicht zu sehr unter Menschen sein, aber mit Colin konnte man schon mal etwas unternehmen. Er war ja nicht der Typ, der häufig auf Tuchfühlung ging und meinte, er müsste Freundschaft durch häufiges auf die Schulter klopften, Anrempeln oder gespielte Ringkämpfe beweisen. Gerade das hatte ich in den letzten Monaten ja so sehr an ihm geschätzt. Bei ihm musste ich mir nicht ständig Sorgen machen, dass ich seiner Aura zu nahe kommen würde und wenn, dann zumindest nicht so oft.
>Gut, dann wünsche ich dir einen schönen Ferienbeginn. Ich muss los. Bis heute Abend.<
>Geht klar, Dad. Bis dann.<

Ich ging mit meinem Kaffee ins Wohnzimmer und setzte mich erst mal gemütlich vor den Fernseher. Die Unterhaltung mit meinem Vater hat mich doch ziemlich wach gemacht und das heiße Getränk in meinen Händen ein Übriges dazu beigetragen. An eine weitere Runde Schlaf war im Augenblick jedenfalls nicht zu denken.
Der Wetterbericht kündigte auch für heute einen überwiegend sonnigen und warmen Tag an. Eigentlich optimales Wetter, um ans Meer zu fahren, aber mir meiner Schulter sollte ich mich besser noch nicht in die Fluten stürzen. Abgesehen davon war der Strand sicherlich total überlaufen. Nein, das war wohl nichts für mich.
Nachdem ich eine Weile sinnlos durch sämtliche Kanäle gezappt hatte, raffte ich mich wieder auf und frühstückte etwas. Danach sorgte ich für Ordnung in der Küche und ging in mein Zimmer. Schon kurze Zeit später hörte ich, dass Nana wieder da war und sich offensichtlich bemühte, bei der Hausarbeit sehr leise zu sein. Bestimmt dachte sie, dass ich noch schlafen würde. Also ging ich schnell hinunter, denn ich wollte nicht, dass sie sich wegen mir solche Umstände machte.
>Guten Morgen, Nana<, begrüßte ich sie, als ich die Tür zum Wohnzimmer öffnete.
>Oh? Guten Morgen, mein Schatz. Habe ich dich geweckt?<
>Nein, ich bin schon früh aufgestanden und habe mit Dad gefrühstückt.<
>Das ist schön. Wie geht es denn deiner Schulter?<
>Besser. Sie tut noch ein bisschen weh, aber es ist nicht mehr so schlimm.<
>Hast du denn die Salbe heute schon aufgetragen? Ich rieche gar nichts.<
Den letzten Satz sagte sie mit einem Schmunzeln auf den Lippen und ich wusste, dass das ein Wink mit dem Zaunpfahl war.
>O.K., das habe ich noch nicht gemacht. Dann werde ich das mal noch nachholen.<
>Tu das, mein Lieber<, sagte sie noch lächelnd und ich machte mich gleich auf den Weg ins Badezimmer, um mich mit dem stinkenden Zeug einzuschmieren.
Danach ging ich wieder in mein Zimmer, um ein bisschen zu lesen.

Am frühen Nachmittag klingelte es plötzlich und ich ging schnell nach unten. Es war Colin, der mir einen Überraschungsbesuch abstattete. Ich hatte kaum die Tür geöffnet, da begrüßte er mich auch schon fröhlich.
>Hi Nico. Schon den ersten Ferientag genossen?<
>Ich fange gerade damit an<, erwiderte ich grinsend. >Komm doch rein.<
>Sorry, dass ich hier so reinplatze. Ich weiß, ich hätte vorher anrufen können, aber meine Mom meinte, ich solle gefälligst meinen Hintern bei dem schönen Wetter nach draußen bewegen und da es ja noch nicht mal eine Meile bis zu dir ist, hat sie mich glatt rausgeschmissen.<
Die Art, wie er dabei genervt mit den Augen rollte, brachte mich augenblicklich zum Lachen.
>Ist ein bisschen krass drauf, deine Mutter.<
>Hör bloß auf. Alter, die war voll sauer, als ich am Donnerstag nach Hause kam. Oder sollte ich besser Freitag sagen? Die Abschlussfeier was der absolute Hammer.<
>Und warum war sie da so sauer? Weil du zu spät warst?<
>Das und … weil ich nicht ganz nüchtern war.<
>Wie jetzt? Die haben da Alkohol ausgeschenkt?<
>Offiziell natürlich nicht, aber ein paar Jungs aus der Oberstufe waren auch da und die haben einiges mitgebracht. Aber echt, ich sag’s dir, ich hatte so einen dicken Schädel am Freitag, dass mir selbst das fallen einer Stecknadel in den Ohren wehgetan hätte. Und wenn meine Mutter erst mal so richtig in Fahrt kommt, dann klingt die auch mehr nach fallendem Klavier, als nach Stecknadel. Da muss ich dir ja wohl nicht erst erklären, wie es mir ging. Die feierliche Zeugnisübergabe am Freitag war jedenfalls die Hölle. Das letzte Spiel am Samstag war auch die reinste Quälerei. Ich glaube, ich trinke nie wieder etwas.<
>Auch keine Cola?<, fragte ich breit grinsend.
>Du Blödmann. Du weißt genau was ich meine … Hast du vielleicht eine Cola da?<
>Sicher … komm mit in die Küche.<

Ich holte eine Flasche aus dem Kühlschrank und goss uns zwei Gläser ein, während er sich setzte und anfing, weiterzuerzählen.
>Aber mal abgesehen von dem Brummschädel, du hast da echt was verpasst.<
>Wieso? Wie ist das Spiel denn ausgegangen?<
>Nicht das Spiel, du Depp. Das war ein müdes 0:0. Ich glaube, die Anderen hatten auch zu viel gefeiert. Ich meinte die Abschlussfeier. Wusstest du, dass Mike ein echt super DJ ist? Der hat genial aufgelegt. Ich habe sehr viel Zeit auf der Tanzfläche verbracht.<
Als er das sagte, hatte er ein schon fast verträumt wirkendes Grinsen im Gesicht, das mich doch sehr neugierig machte.
>Ich wusste gar nicht, dass du so tanzbegeistert bist.<
>Das wusste ich auch nicht … aber ich war ja auch nicht alleine.<
>Wer war denn noch da?<
>Ein Haufen Leute.<
>Auch jemand spezielles?<
>Auch…<
>Man, Colin. Jetzt lass dir nicht alles aus der Nase ziehen. Mit wem hast du denn getanzt?<
>Mit Eileen<, sagte er schwärmend und kratzte sich gleich darauf am Hinterkopf.
>Im Ernst? Das ist ja cool.<
>Total cool. … Und das habe ich nur dir zu verdanken.<
Jetzt war ich verwirrt. Wieso hatte er das mir zu verdanken? Ich war doch gar nicht dort gewesen.
>Wie meinst du das?<
>Na ja, sie kam zu mir und hat mich gefragt, wie es dir geht und ob du vielleicht auch noch kommst.<
>Was? Was will Eileen denn von mir?<
>Nichts<, sagte er amüsiert.
>Hä? Muss ich das jetzt verstehen?<
>Gott, Nico, bist du heute schwer von Begriff. Du weißt doch, wer Eileen ist, oder?<
>Ja schon, aber ich habe mich doch noch nie mit ihr unterhalten.<
>Himmel!<, rief Colin aus und richtete seinen Blick an die Decke. >Wer ist denn bitteschön ihre beste Freundin?<
>Oh!?<, rief ich aus, als mir plötzlich klar wurde, dass er Kassandra meinte. Ein weiteres >Oooouh!<, rutschte mir kurz darauf über die Lippen, als ich begriff, worauf er hinaus wollte. Colin ging bestimmt davon aus, dass Eileen für sie bei ihm nachgefragt hatte.
>Dann meinst du, dass nicht sie das wissen wollte, sondern eigentlich… Kassandra?<
>100 Pro.<

Mein Mund wurde plötzlich furchtbar trocken und ich nahm erst einmal einen großen Schluck aus meinem Glas. 1000 Fragen flogen wie ein Insektenschwarm wild in meinem Hirn herum und verwirrten mich. War sie denn nicht verärgert und enttäuscht von mir? Hatte sie etwa gehofft, ich würde doch noch kommen? War sie jetzt, da ich nicht gekommen war, erst recht wütend auf mich? Oder hatte Colin sich vielleicht getäuscht? So wie er grinste, schien er ziemlich überzeugt davon zu sein, aber ich war das keineswegs.
>Wieso bist du dir so sicher?<
Wieder rollte Colin mit den Augen und schaute hilfesuchend zur Decke, während er sich mit den Fingern durch die rötlichen Haare fuhr.
>Ganz einfach, Nico. Nachdem ich ihr erzählt hatte, dass du wegen deiner Verletzung nicht kommen kannst, es dir aber allmählich wieder besser geht, wollte sie gleich wieder zu ihren Mädels gehen. Das passte mir aber gar nicht und da habe ich dann ganz cool gefragt, ob sie vielleicht mit mir tanzen will, nachdem sie Kassandra informiert hat. Oh man, du hättest ihr Lächeln sehen sollen. Tja und dann hat sie mir schließlich sogar zugenickt. Ich habe ihr noch nachgeschaut und gesehen wie sie gleich mit Kassandra gesprochen hat und zehn Minuten später ging sie mit mir auf die Tanzfläche.<
Colins Gesichtsausdruck ließ keinen Zweifel daran, dass es so gewesen sein musste. Er wirkte so glücklich. Der Abend mit Eileen musste wohl super verlaufen sein. Ich beneidete ihn. Beneidete ihn darum, dass er so cool mit ihr reden und sie beim Tanzen auch berühren konnte. Als ich mit Kassandra gesprochen hatte, konnte ich nur wie ein Idiot vor mich hin stammeln und Berührungen waren unerträglich für mich.

Ich spürte regelrecht, wie mir lawinenartig die anfangs noch vorhandene gute Laune verloren ging und ich immer trübseliger wurde.
>Hey Nico? Warum machst du denn so ein Gesicht? Freust du dich nicht?<
>Doch Colin, ich freue mich für dich, aber…<
>Doch nicht wegen mir. Mensch, kapierst du denn nicht? Ich weiß ja nicht, was neulich zwischen dir und Kassandra passiert ist, aber offensichtlich hat das nichts geändert. Kassandra mag dich wohl. Weiß der Geier warum.<
Colin lachte wieder und entlockte auch mir ein kurzes Lächeln.
>Warum unternehmen wir nicht mal etwas zu viert?<, schlug er plötzlich vor, was mich augenblicklich total nervös machte.
Zuerst spürte ich eine kaum fassbare aber unglaublich intensive Vorfreude. Sie brachte meine Kopfhaut zum Kribbeln und rauschte mir in Sekundenschnelle über den Rücken in die Arme und Beine. Doch schon im nächsten Moment übermannten mich die Zweifel. Wie gerne hätte ich dem zugestimmt, aber das war unmöglich. Es zerriss mich fast, die Gelegenheit verstreichen zu lassen, aber ich konnte die Gefahr einfach nicht außer Acht lassen. Ich durfte es nicht. Ich musste Kassandra schützen. Ich musste sie vor mir schützen und das ging nur, wenn ich mich von ihr fern hielt.
Ich hatte keine andere Wahl, als mich dem zu beugen und diese Erkenntnis lastete auf mir wie ein Stahlträger. Bedrückt ließ ich die Schultern hängen, was direkt einen leichten Schmerz aufkommen ließ. Ich rieb mir mechanisch die Schulter und schüttelte deprimiert den Kopf.

Colin stellte energisch sein Glas wieder ab und erhob sich von seinem Stuhl. Dann ging er ein paar Schritte zur Arbeitsfläche der Küchenzeile und drehte sich wieder mir zu. Es schien fast so, als hätte er im Augenblick einfach nur eine möglichst große Distanz zwischen uns bringen müssen. Mit verschränkten Armen und einem wütenden Blick starrte er mich an.
>Nico, verdammt noch mal. Was soll das? Ich kapier’ es nicht. Ich weiß doch ganz genau, dass du in sie verknallt bist. Warum zum Henker verhältst du dich so?<
Er schrie mir die Worte fast entgegen und jedes einzelne traf mich und tat weh. Wie gerne würde ich ihm begreiflich machen, was ich für ein Problem hatte, doch das war einfach nicht möglich. Er würde es niemals verstehen und ich konnte das einfach nicht riskieren.
>Scheiße man, jetzt sitz nicht da herum wie ein Vollidiot und erkläre es mir endlich. … Warum willst du dich denn nicht mit ihr treffen?<
>Ich - Ich kann nicht.<
>Warum? Hast du Angst vor ihr? Echt man, ich hätte mir fast in die Hosen gemacht, als ich Eileen gefragt hatte, ob sie mit mir tanzen will. Vergiss mein Gelaber von vorhin, dass ich cool gewesen wäre. Das war ich nicht, aber ich hab sie trotzdem gefragt und sie hat ja gesagt. Kassandra würde bei dir garantiert auch ja sagen. Versuche es doch wenigstens.<
>Ich kann nicht … noch nicht.<
>Noch nicht?<

Schlagartig klang Colins Stimme weniger wütend und auch seine Miene wurde freundlicher. Doch ich saß immer noch halb zusammengeklappt auf meinem Stuhl und überlegte fieberhaft, wie ich mich aus dieser Situation herauswinden könnte. Die Hoffnung hatte mich ein “noch nicht” an meinen letzten Satz anhängen lassen. Eine schwache Hoffnung, aber das Einzige, das ich hatte, um nicht vollkommen zu verzweifeln. Die Wahrheit konnte ich ihm nicht sagen. Das war ausgeschlossen. Aber ich musste ihm etwas sagen. Etwas um Zeit zu gewinnen. Wenigstens bis nach den Ferien. Schließlich raffte ich mich auf, atmete tief durch und sprach ihn an.
>Du hast recht, Colin. Ich habe Angst, aber es ist nicht nur das. … Mein Dad und ich, wir fliegen Ende nächster Woche in den Urlaub nach Schweden. Es ist schon alles gebucht und wir werden bis Mitte August weg sein.<
>Na und?<, sagte Colin noch etwas genervt. >Befürchtest du etwa, dass die Sehnsucht und der Liebeskummer dich umbringt oder dir den Urlaub versaut?<
>Etwas in der Art<, antwortete ich schwermütig, was ihm nicht wirklich gefiel, aber doch nur ein Kopfschütteln hervor rief.
>Echt Alter. Du hast sie nicht mehr alle. … Also gut, aber du gibst mir dein Wort, dass du deinen Arsch hoch bekommst, wenn du wieder da bist. Keine Ausreden mehr.<
>Einverstanden<, sagte ich, auch wenn mir klar war, dass ich mein Wort dieses Mal vielleicht nicht halten konnte. Aber mir war auch klar, dass ein gebrochenes Versprechen mein geringstes Problem sein würde, wenn die Suche nach Moms Freundin erfolglos bleiben sollte. Doch daran wollte ich jetzt nicht denken.

>Und?<, setzte Colin wieder an. >Was machen wir jetzt?<
>Na ja, viel kann ich mit meiner Schulter noch nicht machen.<
>Zeig mal.<
>Was soll ich zeigen?<
>Na, deine Schulter, was sonst?<
>Ach so. O.K.<
Ich stand auf, ging zu ihm und zog vorsichtig mein Poloshirt zur Seite, damit er sich das Farbspiel auf meiner Haut anschauen konnte. Sein Gesichtsausdruck veränderte sich bei dem Anblick schlagartig.
>Oh mein Gott, das sieht ja heftig aus<, sagte er, während er meine Schulter genauer unter die Lupe nahm. >Bist du sicher, dass die verheilt? Da zieht einem ein Gestank in die Nase, als wärst du schon am verwesen.<
>Du Arsch!<, fuhr ich ihn gespielt an und stieß ihn mit dem gesunden Arm leicht weg.
Es war nicht sehr angenehm, bei der kurzen Berührung seine Energie kribbelnd auf meiner Haut zu spüren, aber mehr war es zum Glück auch nicht. Viel unangenehmer war für mich, dass mich die Szene schlagartig an unsere letzte Begegnung erinnerte, bei der ich ihn zornig von mir weggestoßen hatte, auch wenn es diesmal nur ein eher freundschaftlicher Knuff war. Er hatte es aber wohl nicht so wahrgenommen und lachte.
>Hey, nicht gleich brutal werden. Mom hat mir verboten, mich mit Halbinvaliden zu prügeln.<

Ich war sehr erleichtert, dass die Stimmung zwischen uns wieder aufgelockert war. Colin würde mich wegen Kassandra bis nach meinem Urlaub in Ruhe lassen, da war ich mir ziemlich sicher. Und alles andere hing davon ab, wie es in Schweden laufen würde.
Ein paar kleine Diskussionen später einigten wir uns darauf, dass wir heute eine kleine Radtour machen würden. Er wäre zwar lieber ans Meer gefahren, aber das verschoben wir auf ein anderes Mal. Nicht zuletzt auch deswegen, weil er jetzt lieber nicht zu Hause nachfragen wollte, ob seine Mutter uns fahren würde. Mit dem Rad waren mir die gut zehn Meilen noch zu weit. Den Trip mussten wir einfach verschieben, was er zum Glück auch einsah.
Stattdessen fuhren wir zu einem kleinen Ausflugslokal am River Bandon, bei dem man gemütlich draußen sitzen konnte und einen schönen Blick auf den Fluss hatte. Dort unterhielten wir uns entspannt, ließen besondere Ereignisse des vergangenen Schuljahres Revue passieren und sprachen darüber, was uns in der nächsten Klasse wohl erwarten würde.
Später spielten wir auch noch eine Runde Darts, bei der sich Colin ziemlich aufregte, weil er trotz meines Handicaps keine Chance hatte. Es war ja nur meine linke Seite betroffen und bei dem Spiel machte sie mir keine Probleme, obwohl sie hin und wieder schon ein wenig zwickte. Trotzdem beschimpfte er mich mehrmals scherzhaft als Simulant.

Gegen Abend bekam er plötzlich eine SMS, weshalb er völlig aus dem Häuschen war. Eileen hatte ihn eine Nachricht geschickt, die er natürlich beantworten wollte. Das ging dann noch eine ganze Weile hin und her, bis er mir schließlich feierlich verkündete, dass er sich morgen mit ihr treffen würde.
Es war merkwürdig gewesen, ihn dabei zu beobachten, wie er immer wieder darauf wartete, dass sein Handy piepste und dann alles um sich herum vergaß, während er die Mitteilung las und dann beantwortete. Auch wenn ich in diesen Augenblicken förmlich abgemeldet war, verspürte ich keine Verärgerung. Vielmehr wurde mir bewusst, dass ich neidisch auf ihn war und das nicht zum ersten Mal an diesem Tag. Es fiel mir schwer, diese Gedanken beiseite zu schieben und zu verhindern, dass er etwas merkte. Wenn er wüsste, was mir im Kopf herumspukte, würde er mir sicherlich raten, jetzt doch mit Kassandra in Kontakt zu treten. Schließlich war es einer SMS egal, ob der Empfänger zehn oder tausend Meilen weit weg war. Ich könnte mit ihr sprechen und müsste noch nicht mal ihr leuchtendes Kraftfeld spüren. Eigentlich ideal, doch je mehr ich darüber nachdachte, desto klarer wurde mir, dass das keine Lösung für mich war. Am Ende würde es unweigerlich darauf hinaus laufen, dass ich sie sehen und auch berühren wollte. Doch das konnte ich unmöglich tun, ohne ihr Leben in Gefahr zu bringen. Egal wie sehr ich mich danach sehnte, das durfte einfach nicht sein.

Colin merkte zum Glück nicht, was mich da gerade so beschäftigte. Dafür schwebten seine Gedanken wohl zu hoch auf Wolke sieben. Wir verließen schließlich vor dem Einsetzen der Abenddämmerung das Lokal und machten uns auf den Heimweg. Bei mir schauten wir uns dann noch eine DVD an. Colin war wie ich ein Fan der “Herr der Ringe” Trilogie und er wollte mal wieder den ersten Teil sehen. Auch wenn es noch nicht lange her war, dass ich den angeschaut hatte, machte mir das nichts aus. Eigentlich kannten wir beiden den Film schon fast auswendig und so machten wir uns einen Spaß daraus und sprachen oft die Dialoge mit. Meine Parts war dabei meistens die von Frodo und Gimli, während Colin so ziemlich alle anderen abdeckte.
>Bevor du aufgetaucht bist waren wir Beutlins angesehene Leute<, sagte ich mit Frodos stimme.
>Allerdings<, antwortet Colin als Gandalf.
>Wir waren nie in Abenteuer verstrickt und taten nichts Unvorhergesehenes.<
>Falls das eine Anspielung auf den Vorfall mit dem Drachen sein soll, daran war ich kaum beteiligt. Ich habe deinem Onkel lediglich einen kleinen Schubs zur Tür hinaus gegeben.<
>Egal was du getan hast, du bist jetzt offiziell als Störer des Friedens bezeichnet worden.<
>Ist das so?<
Dann brach Colin plötzlich in Lachen aus.
>Was ist los?<, wollte ich wissen.
>Ach nichts … ich dachte nur gerade, ich sollte einmal Gandalf fragen, ob er dir nicht einen kleinen Schubs in Richtung Kassandra geben könnte.<
>Du Blödmann!<, sagte ich nur, musste aber selbst mitlachen.

Kurz vor 22 Uhr verabschiedete er sich, um keinen noch größeren Ärger mit seiner Mom zu riskieren. Wenig später kam auch mein Dad nach Hause und ich erzählte ihm von meinem Ausflug, Das schien ihn zu freuen, aber wie so oft in letzter Zeit war er einfach zu Müde, um sich noch angeregt unterhalten zu können. So gingen wir beide schon bald darauf zu Bett.
Die nächsten Tage verbrachte ich wieder überwiegend alleine. Colin traf sich fast täglich mit Eileen und da wollte ich wirklich nicht dabei sein, auch wenn er mir von sich aus angeboten hatte, dass wir gerne einmal etwas zu dritt unternehmen könnten. Nur wenn Eileen keine Zeit hatte, was eher selten vorkam, ließ Colin sich bei mir blicken.
Da es meiner Schulter von Tag zu Tag immer besser ging, fing ich auch bald wieder damit an, täglich eine Runde joggen zu gehen. Das Laufen hatte ich schon richtig vermisst und es tat gut, sich an der frischen Luft so richtig auszupowern. Am liebsten machte ich das bei leichtem Regen und das war in Irland nun wahrlich keine Seltenheit.

Aber vor allem spürte ich mehr und mehr den inneren Erwartungsdruck, je näher der Abreisetag kam. Ich versuchte alles so gut wie möglich zu planen. Ich sammelte Informationen über die Umgebung von Kiruna und legte tägliche Reiseziele fest. Dad bestand darauf, dass wir auch Urlaub machten, wenn wir dort waren. Er wollte, dass wir das Angenehme mit dem Nützlichen verbanden. Natürlich würden wir überall die Augen nach Hinweisen offen halten, aber erzwingen konnten wir nichts.
Mir war klar, dass er damit Recht hatte. Dennoch bedrückte es mich sehr. Es war beklemmend, so von Zufall oder Glück abhängig zu sein. Für mich hing einfach viel zu viel davon ab und ich wollte alles tun, was ich konnte, um das Ziel zu erreichen.
Oft lag ich abends in meinem Bett und grübelte darüber nach, was es für mich bedeuten würde, sollte das Vorhaben scheitern. Dad würde sicherlich erwarten, dass ich trotzdem mein Leben weiter lebte. Dass ich versuchte, auch ohne fremde Hilfe, meine Situation zu meistern. Doch wie sollte mir das möglich sein, ohne andere in Gefahr zu bringen? Meine Lilly war durch meine Schuld gestorben und das quälte mich noch immer.
Auf der anderen Seite hoffte ich so sehr, dass alles gut werden würde. Dass ich mit Kassandra das haben könnte, was Colin nun mit Eileen hatte. Irgendeinen Weg musste es doch einfach geben, um das zu ermöglichen.

Nacht für Nacht übertrug sich die Last meiner Gedanken auf meine Träume und es wurde immer grauenhafter. Es waren nicht direkt Albträume. Es passierte im Grunde nichts Schlimmes, aber ich spürte immer Angst und Verzweiflung.
Ich jagte einen blau schimmernden Schatten durch die Dunkelheit, doch konnte ich ihn nie erreichen. Ich folgte ihm durch Wälder und durch Häuserschluchten. Ich sah ihn auch auf dem Wasser des Meeres treiben, während ich an der Küste stand. Ging ich dann ins Wasser, brach ein Sturm los und die Wellen warfen mich immer wieder zurück.
Kassandra stand oft ein paar Meter abseits und beobachtete meine verzweifelten Versuche. Ihr Gesicht spiegelte dabei immer Enttäuschung und Trauer wider und jedes Mal wollte ich zu ihr, um sie zu trösten und ihr zu versprechen, dass ich es schaffen würde. Dass wir eine Chance bekommen würden. Doch nicht einmal das wollte mir gelingen, denn auch sie floh vor mir, wenn ich mich ihr näherte. Dann stand ich immer da, alleine, deprimiert und ohne Hoffnung.
Und jeden Morgen erwachte ich mit diesen Gefühlen in der Brust und bekämpfte sie aufs Neue. Tag für Tag versuchte ich mir Mut zu machen. Sagte zu mir selbst, dass es doch nur Träume waren und dass ich nicht aufgeben durfte. Jeden Tag machte ich ein Kreuz in meinen Kalender, als Beweis, dass ich es wieder geschafft hatte. Jeden Tag, bis schließlich der 15. Juli kam. Der lang ersehnte Termin unseres Abflugs.


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Kapitel 5

Schweden

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Ich stand auf dem Gemeinschaftsbalkon unserer Hotelzimmer und ließ meinen Blick über die in goldgelbes Licht getauchte Landschaft schweifen. Am Horizont war noch ein kleines Stück der Sonne zu sehen, die sich beharrlich weigerte, unterzugehen. Es war kaum mehr als ein schmaler Bogen, doch der genügte, um alles um uns herum in ein diffuses Licht zu hüllen. Ungläubig blickte ich noch einmal auf meine Armbanduhr, die ich schon während des Flugs auf die Ortszeit von Kiruna umgestellt hatte. Ich war mir sicher, dass ich es richtig gemacht hatte. Trotzdem konnte ich nicht wirklich glauben, dass es tatsächlich 23.45 Uhr sein sollte.
>Beeindruckend, nicht wahr<, sagte Dad, der zu mir auf den Balkon gekommen war und ebenfalls die Aussicht bewunderte.
Wären wir nicht so spät mit unseren Buchungen dran gewesen, hätten wir uns nicht mit Zimmern im hintersten Winkel des Gebäudes und dann auch noch mit Ausrichtung nach Norden begnügen müssen, doch dann wäre uns auch dieses einmalige Schauspiel entgangen.
>Es ist verrückt, Dad. Die Sonne steht im Norden und verströmt ein warm wirkendes Licht, wobei die Temperatur wohl gerade so über dem Gefrierpunkt liegt. Irgendwie scheinen hier andere Naturgesetze zu gelten.<
Dad lachte leise und nahm einen tiefen Atemzug der kalten, klaren Luft. Er hatte wohl auch gerade geduscht und stand jetzt wie ich in einen warmen Bademantel gehüllt im Freien und bewunderte mit mir die faszinierende Mitternachtssonne. Schon bei meinen Recherchen hatte ich darüber gelesen, dass man die im Sommer sehen konnte, wenn man sich wie hier nördlich des Polarkreises befand. Aber das selbst zu erleben, war doch etwas ganz anderes. Ich bedauerte nur, dass heute schon der letzte Tag war, an dem die Sonne nicht vollständig unterging. 50 Tage lang war die Sonne über Kiruna Tag und Nacht zu sehen gewesen, doch schon morgen würde dieser längste Tag des Jahres zu Ende gehen.
"Wenigstens konnte ich es einmal mit eigenen Augen sehen", dachte ich bei mir und gähnte herzhaft.

So müde wie ich war, würde ich nicht mehr lange hier draußen bleiben. Ich sehnte mich eigentlich nur noch nach einem gemütlichen Bett, denn die Anreise war anstrengend gewesen. Nach dem Abflug von Cork hatten wir erst einen dreistündigen Zwischenstopp in London, bis wir dann gegen Abend in Stockholm ankamen. Dort mussten wir übernachten, bis wir am nächsten Mittag weiterreisen konnten. Dad hatte mir dabei immer den Fensterplatz im Flugzeug überlassen, damit ich wenigstens halbwegs vor der Aura der anderen Passagiere geschützt war. Trotzdem waren beide Flüge sehr stressig für mich gewesen. Schließlich kamen wir vor vier Stunden hier in Kiruna an. Hätte ich wenigstens in der Nacht in Stockholm gut schlafen können, würde ich mich jetzt vielleicht nicht so gerädert fühlen, aber ich hatte kaum ein Auge zu bekommen. Zu groß war die Nervosität und zu zahlreich die Gedanken, die mich wach gehalten hatten.
>Ich gehe ins Bett, Dad<, sagte ich unter weiterem Gähnen.
>Tu das, Nico. Ich bleibe noch ein bisschen.<
Ich warf noch einmal einen Blick auf die außergewöhnliche Aussicht und verharrte noch zwei, drei Minuten. Doch immer wieder fielen mir die Augen zu und ich musste mich losreißen, sonst würde ich hier im Stehen schlafen müssen. Träge schleppte ich mich in mein Zimmer und ließ mich in mein Bett fallen. Mit dem Bild der Mitternachtssonne vor meinem geistigen Auge, dauerte es nicht lange, bis mich die Müdigkeit endgültig überrollte und in einen tiefen Schlaf gleiten ließ.

Als ich am nächsten Morgen erwachte, brauchte ich erst einen Augenblick, um mich zu orientieren. Ich erinnerte mich spontan an das Bild der Mitternachtssonne, welches mich auch in meine Träume begleitet hatte. Es war eine angenehme Nacht gewesen und ich fühlte mich sehr erholt. Ein Blick auf meine Uhr verriet mir, dass es schon halb elf war. Überrascht, dass ich so lange geschlafen hatte, rieb ich mir die Augen und schaute noch einmal genauer hin. Tatsächlich! Ich hatte über zehn Stunden geschlafen. Dafür fühlte ich mich allerdings auch voller Tatendrang, reckte und streckte mich kurz und begab mich dann zügig ins Badezimmer.
Frisch geduscht und angezogen, öffnete ich die Balkontür und trat hinaus. Der Himmel erstrahlte in einem wunderbaren blau und nirgends waren Wolken zu sehen. Auch das Licht war jetzt richtig kräftig und es schien mir schon deutlich wärmer zu sein, obwohl ich mich hier nun auf der Schattenseite des Gebäudes befand. Als ich mich umsah, entdeckte ich an der Wand neben meiner Tür ein Thermometer, auf dem ich 10 Grad Celsius ablesen konnte.
„Nicht schlecht, wo wir uns hier doch nördlich des Polarkreises befinden“, dachte ich bei mir.
Ich bemerkte, dass bei Dads Zimmer, das direkt neben meinem lag, die Vorhänge zurückgezogen waren. Ich warf einen Blick hinein und entdeckte ihn auch gleich in einem Sessel sitzend eine Zeitung lesen. Vorsichtig klopfte ich an der Glastür, was ihn aufschauen ließ. Er lächelte und mit einer kurzen Kopfbewegung gab er mir zu verstehen, dass ich hereinkommen sollte.
>Guten Morgen, Dad<, sagte ich und trat ein.
>Guten Morgen, Langschläfer. Wie war deine erste Nacht in Kiruna?<
>Komatös<, gab ich schmunzelnd zurück. >Ich habe geschlafen wie ein Bär im Winter, aber jetzt habe ich Hunger wie einer, der aus seinem Winterschlaf erwacht ist.<
>Tja, da hast du aber schlechte Karten. Frühstück gibt’s hier nur bis zehn Uhr und die
Restaurants haben noch nicht offen.<
>Oh Mist<, sagte ich enttäuscht und bekam von meinem Magen auch noch ein
zustimmendes Knurren dazu.
Dad grinste jedoch nur, griff neben sich zum Boden und brachte eine Glasschüssel mit Müsli und eine Flasche Milch zum Vorschein.
>Ich dachte mir schon, dass das ein Problemchen für dich werden könnte und habe ein
bisschen vorgesorgt.<
>Danke Dad. Du bist echt der Beste<, freute ich mich, nahm ihm mein Frühstück ab und setzte mich zum Essen auf die Bettkante.

Nachdem wir nun beide fit für den Tag waren, starteten wir damit, uns in Kiruna etwas umzusehen. Unser erstes Ziel war das Tourismusbüro, wo wir uns noch ein paar Informationen besorgten und Besichtigungstouren für das Eisenerzbergwerk und den Weltraumbahnhof in Esrange buchten. Dad bestand darauf, dass wir diese besonderen Sehenswürdigkeiten besuchten, auch wenn es praktisch ausgeschlossen war, dass wir dort Moms Freundin finden würden. Es war schließlich auch eine Urlaubsreise und es war ihm sehr wichtig, dass wir das Beste daraus machten.
Anschließend gingen wir zu einer Autovermietung, wo wir für die Dauer unseres Urlaubs einen Geländewagen reservierten. Den benötigten wir zwar erst morgen, da wir uns heute nur in der Stadt umsehen wollten, trotzdem wollten wir gleich auf Nummer sicher gehen.
Bei unserer Erkundung der Stadt bekamen wir einige faszinierende Gebäude zu sehen. Besonders die alte Feuerwache bot einen interessanten Anblick. Das Highlight war aber definitiv die fast 100 Jahre alte Holzkirche. Irgendwie sah sie aus, wie ein großes Zelt. Es war absolut beeindruckend. Jetzt, da ich sie gesehen hatte, verstand ich auch, warum gerade dieses Bauwerk vor einigen Jahren zum schönsten Gebäude Schwedens gewählt wurde.
Bei unserer weiteren Tour entdecken wir auch eine kleine Rakete, die dort wie ein Denkmal am Straßenrand aufgestellt war. Vermutlich eine Art Werbung für Esrange. Dad schien davon besonders angezogen zu werden und es kostete mich einige Mühe, ihn zum Weitergehen zu animieren. Aber das war dringend notwendig, denn von dem ganzen Laufen und Besichtigen hatte ich doch schon ziemlichen Hunger bekommen und es zog mich in eines der Restaurants. Dort hatte ich dann wenig später zum ersten Mal in meinem Leben Elchfleisch auf dem Teller. Zu meiner Überraschung schmeckte das auch richtig gut.

Als wir dann unsere Erkundungstour fortsetzten, fiel mir selbst auf, dass ich scheinbar mehr auf die Menschen, statt auf die Gebäude achtete. Irgendwie hoffte ich immer, dass ich bei irgendjemandem etwas Besonderes bemerken würde, obwohl das ziemlich unwahrscheinlich und im Grunde auch sehr albern war. Ich wusste ja, dass Mom Kiruna mit einem Mietwagen verlassen hatte. Dass wir hier die gesuchte Person finden würden, war folglich praktisch ausgeschlossen. Trotzdem ertappte ich mich immer wieder dabei, dass ich die Leute, die unseren Weg kreuzten, kurz musterte.
Vermutlich lag es auch an meinen ständigen Beobachtungen, dass mir gar nicht auffiel, wie schnell der Tag verging. Vielleicht lag es aber auch an der Sonne, die selbst abends um zehn Uhr noch am Himmel zu sehen war.
Als letzte Station besuchten wir noch den See, mit dem für meine Zunge unaussprechlichen Namen Luossajärvi. Ob es daran lag, dass mir die Worte fehlten oder ob es der Anblick der am Horizont untergehenden Sonne war, welche die leichten Wellen auf dem See golden glitzern ließ, konnte ich nicht mit Gewissheit sagen. Vermutlich war es eine Mischung aus beidem, die mich einfach schweigen und bewundern ließ. Das und die Tatsache, dass mich die Müdigkeit schon wieder fest im Griff hatte.
Wir warteten noch, bis die Sonne tatsächlich gegen Mitternacht vollständig untergegangen war. Dann wurde es auch für uns Zeit, zu Bett zu gehen. Vorher vereinbarten wir allerdings noch, dass wir spätestens um neun Uhr aufstehen würden, um mit der Erkundung des Umlands von Kiruna zu beginnen.

Am nächsten Morgen starteten wir gleich nach dem Frühstück mit dem Mietwagen in Richtung Jukkasjärvi. Eine Sehenswürdigkeit war dort eine fast 300 Jahre alte Kirche, doch die eigentliche Attraktion des Ortes konnten wir nicht besichtigen. Nur im Winter konnte man dort in einem großen, völlig aus Eis gebauten Hotel übernachten. Ich hatte faszinierende Bilder davon im Internet gesehen und fand es sehr schade, dass wir uns das nicht in Natura ansehen konnten. Jetzt im Sommer war dort nur ein unansehnliches Grundstück. Es bestand zwar auch die Möglichkeit, dort in Iglus zu übernachten, die in einer Lagerhalle aufgebaut wurden, doch das war nicht das Gleiche und darauf hatte ich keine Lust.
Es wurden aber auch im Sommer ein paar Aktivitäten angeboten, die Dad nutzen wollte. In die engere Wahl hatten wir Rafting und Quad fahren genommen. Unsere Wahl fiel auf letzteres und das war eine gute Entscheidung. Auch wenn wir nur auf einem begrenzten Gelände ein Fahrtraining absolvieren durften, machte es riesig Spaß. Zum Glück war meine Schulter wieder vollkommen in Ordnung, sonst wäre das hier wohl doch keine so gute Idee gewesen. Wenn wir noch einmal herkommen würden, dürften wir mit den Quads auch in die Wildnis fahren. Wir waren uns da schnell einig, dass wir das noch machen würden, wenn sich die Gelegenheit bieten sollte.
Natürlich machten wir auch das, weshalb wir eigentlich hier waren und schauten uns gründlich in dem Ort um. Aber auch hier waren die Menschen vollkommen normal, soweit ich das beurteilen konnte. Keiner hatte eine wie auch immer anders geartete Aura oder reagierte auf besondere Weise auf mich. Ich war mir sicher, dass jemand, der die gleiche Fähigkeit wie ich besitzen würde, auch die eigenartige Farbe meiner Energie sehen könnte. Doch niemandem war etwas anzumerken.
So verging auch dieser Tag, der einerseits schön gewesen war, weil es einfach toll war, mit Dad etwas den ganzen Tag lang unternehmen zu können. Andererseits war er aber auch enttäuschend, weil wir keine Spur von Moms Freundin finden konnten. Doch zum Aufgeben war es viel zu früh und wir hatten noch gut drei Wochen vor uns, die wir für die Suche nutzen konnten.

So verging ein Tag nach dem anderen, an denen wir so ziemlich alle nennenswerten Ortschaften in der Umgebung abklapperten. Jedes Mal sahen wir uns gründlich um, jedoch ohne etwas Nützliches zu entdecken, das uns unserem Ziel auch nur ein Stückchen näher hätte bringen könnte. Andererseits waren unsere Freizeitaktivitäten wirklich toll. Wir besuchten die Kåppashålagrotte. Ein Grottensystem, durch das man krabbeln musste und in dem man einen unterirdischen Wasserfall bewundern konnte. Wir unternahmen auch ein paar Wanderungen durch die wundervolle Natur Schwedens und gingen Kanu fahren. Das alles waren phantastische Urlaubserlebnisse, an die ich mich sicherlich mit Freuden erinnern würde, wenn wir unserem Ziel doch auch nur ein bisschen näher kommen würden.
Auch der Besuch der Eisenerzgrube war eine tolle Erfahrung. Ich war noch nie über 500 Meter tief unter der Erde und ich konnte kaum glauben, dass in den stillgelegten Stollen Shiitake-Pilze gezüchtet wurden. Noch weniger konnte ich glauben, dass die komplette Stadt Kiruna in den nächsten Jahren wegen des Eisenerzabbaus um gut drei Meilen verlegt werden sollte. Der Boden, auf dem sie stand war nicht mehr sicher, was mir ein mulmiges Gefühl bescherte, da unser Hotel ja auch dort stand. Man versicherte uns aber, dass aktuell keine Gefahr drohe und das Ganze nur eine extreme Vorsichtsmaßnahme wäre. Jedenfalls sollten schon nächstes Jahr die Arbeiten beginnen, in deren Zuge zunächst die wichtigen Gebäude abgebaut und am neuen Standort wieder aufgebaut werden sollten.

Das Tollste war allerdings bislang die Besichtigung von Esrange gewesen. Wir hatten so großes Glück, dass wir live bei einem Raketenstart dabei sein durften. Es war einfach sensationell. Obwohl wir alles aus sicherer Entfernung beobachteten, war der Lärm des Triebwerks enorm und wir spürten die Vibrationen des Bodens unter uns. Dad war auch total fasziniert und schien wie weggetreten, als er der steigenden Rakete nachsah.
>Vielleicht sollten wir dort oben nach Nele suchen<, sagte er in Gedanken wohl mehr zu sich selbst, als zu mir.
Ich erwiderte nichts darauf und tat so, als hätte ich es nicht gehört. Mir fehlten ohnehin die Worte, um etwas dazu sagen zu können. In diesem Moment wurde mir zum ersten Mal bewusst, dass Dad wohl die ganze Zeit mehr nach Mom suchte, als nach ihrer Freundin, die ich hier zu finden hoffte. Konnte er wirklich noch die Hoffnung hegen, dass Mom vielleicht doch noch leben und eines Tages zurückkehren könnte? Nein, für mich war das undenkbar. Dieser Wunschtraum würde sich nie erfüllen. Davon war ich überzeugt.
An diesem Abend redeten wir nur wenig miteinander. Ich spürte deutlich, wie traurig er war, doch was hätte ich ihm sagen können? Wie hätte ich damit rechnen sollen, dass ihn unsere Reise auf diese Art und Weise belasten könnte? Ich wusste natürlich, dass er noch immer sehr an Mom hing, doch dass es so stark war, hätte ich nie erwartet. Ich konnte noch nicht einmal erahnen, wie tief die Liebe zwischen den beiden gewesen sein musste. Doch alleine Dad so zu sehen, war mir Beweis genug, dass Mom es niemals hätte aushalten können, nicht zurück zu kommen, wenn sie noch leben würde.

Am nächsten Morgen starteten wir in Richtung Abisko. Dieser Ort nahe der norwegischen Grenze war unser neues Tagesziel. Von dort aus wollten wir in den gleichnamigen Nationalpark zu einer ausgedehnten Wanderung starten. Inzwischen hoffte ich fast mehr, in der freien Natur über einen Hinweis zu stolpern, als einen in den Touristenzentren oder Städten finden zu können. Doch im Grunde machte sich von Tag zu Tag mehr Resignation breit. Zu enttäuschend war die Suche bislang verlaufen und die Hälfte des Urlaubs war bereits vergangen.
Wie immer schlenderten wir zu Beginn durch den Ort, um uns umzusehen und die Menschen zu beobachten. Doch wie immer erregte nichts Besonderes unsere Aufmerksamkeit. Lediglich ein Souvenirshop überraschte mich damit, dass diesmal recht kunstvoll gestaltete Holzfiguren dort angeboten wurden. Allerdings konnte ich nicht genau sagen, was diese Skulpturen eigentlich darstellten. Vielleicht waren es alte nordische Gottheiten, die hier abgebildet wurden. Ich vermutete, dass die runenartigen Zeichen in den Sockeln ihre Namen sein könnten. Auch Dad schien ganz angetan davon zu sein, doch die Entscheidung, eine zu kaufen, wollten wir bis nach unserer Wanderung aufschieben. Schließlich schleppte ich auch so schon genug Dinge in meinem Rucksack ständig mit mir herum.

Unsere Route führte uns zunächst durch einen offensichtlich sehr alten Birkenwald, in dem die Natur noch vollkommen in Ordnung zu sein schien. Überall sah ich deutlich das schwache Leuchten der Energie, die jede einzelne Pflanze umgab. Doch hier hatte sie sogar eine etwas beruhigende Wirkung auf mich, weil sie so sanft und gleichmäßig strahlte. Wir konnten auch einige Wildtiere erblicken. Einen Polarfuchs, der sich über ein kleines Beutetier hermachte und auch einen Vielfraß, der uns scheinbar genauso interessiert beobachtete, wie wir ihn.
Doch bei all der schönen Fauna und Flora, die es hier zu erleben gab, kamen mir immer wieder die Figuren mit den eigenartigen Runen in den Sinn. Irgendetwas schien mir dabei auf eine merkwürdige Art vertraut zu sein. Dabei konnte ich mich nicht daran erinnern, so etwas im Unterricht gesehen zu haben. Oder waren es vielleicht verschwommene Erinnerungen an einen Film?
Auf einmal schob sich ein anderes Bild in meine Gedanken und die Erkenntnis traf mich wie ein Blitzschlag. Ich hatte diese Zeichen schon einmal gesehen. Nicht genau so, aber ähnlich. Ich war mir ganz sicher, dass so auch Teile der Bilder in Moms Buch aussahen, die ich bisher immer nur für Verzierungen gehalten hatte. Ich blieb stehen und presste die Augen zu. Krampfhaft versuchte ich, mich an einzelne Seiten aus dem Buch zu erinnern. Versuchte, sie im Geiste mit den Runen zu vergleichen. Doch es wollte mir einfach nicht gelingen. Eine gewaltige innere Unruhe überkam mich und ich spürte überdeutlich, wie mein Herz vor Aufregung wild in meiner Brust hämmerte.

>Dad, wir müssen zurück! Sofort!<
>Was? Warum denn? Geht es dir nicht gut?<
>Ja, ich meine nein. Dad bitte, lass uns zurückgehen. Ich muss… diese Figuren…<
>Aber Nico<, sagte er fast aufstöhnend. >Das hatten wir doch geklärt. Wir werden dort noch einmal vorbeischauen, bevor wir wieder nach Kiruna zurückfahren. Die werden bis dahin bestimmt noch da sein.<
Fassungslos starrte ich ihn an und schluckte schwer. Daran hatte ich bis jetzt noch nicht gedacht. Die plötzliche Angst, dass die Skulpturen verkauft werden könnten, bevor ich sie mir noch einmal genauer angesehen hatte, trieb mir den Schweiß auf die Stirn.
>Oh nein!<, sagte ich entsetzt und machte kehrt.
>Nico!<, rief Dad mir hinterher. >Was ist denn los, verdammt?<
Schnell hatte Dad zu mir aufgeschlossen, packte mich kurz an der Schulter und hielt mich zurück.
>Würdest du mir bitte sagen, was das soll?<
Er klang verärgert, bemühte sich aber um eine halbwegs ruhige Stimme.
>Ich muss was überprüfen.<
>Was denn? Was ist so wichtig, dass es nicht warten kann?<
>Die Figuren, Dad. Die seltsame Schrift auf dem Sockel. Ich glaube, ich habe die schon einmal gesehen. … In Moms Buch.<
>Bist du dir da sicher?<, fragte er erstaunt.
>Ja … Nein … Ich weiß nicht. Ich glaube schon. Ich muss mir das noch mal ansehen. Bitte Dad, das ist das erste Mal, dass wir so etwas wie einen Hinweis entdeckt haben. Wenn es stimmt … wenn es wirklich die gleichen Symbole sind, dann…<
Mehr musste ich nicht sagen. Dad nickte mir zu und wir beeilten uns nach Abisko zurück zu kehren.

Auf dem Rückweg wuchs in mir mehr und mehr die Wut auf mich selbst. Ich ärgerte mich maßlos darüber, dass mir das nicht gleich aufgefallen war. Da suchten wir die ganze Zeit nach einem Hinweis, wie nach einer Stecknadel im Heuhaufen und ich erkannte ihn nicht, als er direkt vor mir stand.
Oder hatte ich mich getäuscht? War es nur Einbildung oder Wunschdenken? War da vielleicht gar keine Ähnlichkeit? Spielte mir mein verzweifeltes Unterbewusstsein einen Streich und schickte mir einen grausamen Tagtraum? Es war mir egal. Völlig egal. Ich wollte daran glauben, dass es eine Verbindung zwischen den runenartigen Zeichen und den Verzierungen im Moms Buch gab. Ich musste einfach daran glauben.

Wir waren ziemlich außer Atem, als wir endlich wieder im Dorf angekommen waren, doch die Aufregung pumpte Schub um Schub Adrenalin durch meine Adern. Ich spürte keine Erschöpfung, sondern nur Anspannung und Nervosität. Und die wuchs mit jedem Schritt, mit dem ich mich dem Souvenirgeschäft näherte.
Als ich die Figuren im Schaufenster erblickte, überschwemmte mich eine Welle der Erleichterung und spülte etwas von dem immensen Druck weg, unter dem ich stand. Ich fühlte mich wie ein Seebrüchiger, der an Land gespült wurde und nun wieder hoffen durfte, wo er doch noch kurz zuvor davon ausgehen musste, dass sein Leben in den eisigen Fluten des Meeres verzehrt würde. Doch noch war ich nicht gerettet.
Jetzt, da ich die Schriftzeichen noch einmal genau vor mir sah, war ich mir fast sicher, dass ich mich nicht getäuscht hatte. Zu dumm, dass ich Moms Buch im Hotel gelassen hatte und nicht sofort einen Vergleich anstellen konnte. Ich hatte einfach nicht damit gerechnet, dass ich es brauchen würde. Die Kette mit dem Schlüssel und ihr Bild trug ich immer bei mir, aber das Buch hatte ich nicht mitgenommen.
>Und Nico? Sind es die gleichen Symbole?<, fragte mich Dad, der neben mich getreten war und neugierig die Skulpturen musterte.
>Ich glaube schon, Dad. Leider habe ich Moms Buch im Koffer gelassen und kann es jetzt nicht überprüfen, aber ich bin fast sicher.<
>Na gut, dann gehen wir mal hinein und versuchen herauszufinden, wer die gemacht hat.<

Dad öffnete die Tür zu dem Laden und hielt sie für mich auf. Ich brauchte einen Moment, bis sich meine Beine dazu überreden ließen, sich wieder aus der Starre zu lösen, die sie spontan befallen hatte. Auf der einen Seite konnte ich es gar nicht abwarten, herauszufinden, wer diese Schnitzereien geschaffen hatte. Auf der anderen Seite jedoch verspürte ich lähmende Zweifel, dass es vielleicht doch nur ein Zufall gewesen sein könnte und wir letztlich in einer Sackgasse strandeten.
Unsicher trat ich ein und sah mich etwas um, auch wenn es mich im Grunde überhaupt nicht interessierte, was es hier noch zu sehen gab. Dad schloss die Tür hinter uns und ging an mir vorbei direkt auf den Tresen zu. Fast gleichzeitig kam ein älterer Mann aus einem Nebenraum, lächelte und nickte uns zu. Ich musterte ihn kurz aus den Augenwinkeln, konnte aber zu meiner Enttäuschung nichts Ungewöhnliches an ihm feststellen.
>God dag, vad kan jag göra för dem?<, begrüßte uns der Verkäufer.
>Oh … ähm … Guten Tag. Ich kann leider kein Schwedisch. Sprechen Sie unsere Sprache?<, erwiderte Dad unsicher.
>Ah! Ja, ja, etwas. Wir haben hier oft Gäste<, sagte der Mann noch immer lächelnd mit schwedischem Akzent.
>Sehr gut<, freute sich Dad erleichtert. >Wir wüssten gerne etwas über die Figuren, die dort im Schaufenster stehen.<
>Sicher, gerne. Welche wollen Sie kaufen?<

Dad sah mich etwas unschlüssig an und ich zeigte spontan auf die Skulptur, die ich am faszinierendsten fand.
>Eine gute Wahl. Kostet 4.500 Kronen.<
Dad plusterte die Backen auf und murrte
>Nicht gerade billig.<
>Sicher, aber das ist sehr gute Arbeit. Schauen Sie, die schönen Details.<
>Haben Sie die gemacht?<, fragte ich dazwischen, denn ich konnte es vor Ungeduld kaum aushalten.
>Ich? Nein, nein, ich bin nur Händler, kein Künstler.<
>Und vom wem sind die dann?<
>Von einer alten Frau aus der Gegend. Sehr begabt. Aber auch sehr viel Arbeit. Deshalb nicht so billig.<
>Können Sie uns sagen, wo wir sie finden?<
Das Herz schlug mir bis zum Hals, als ich diese Frage stellte. Er hatte von einer Frau gesprochen und ich hoffte so sehr, dass es sich dabei um Moms Freundin handelt. In dem Augenblick hatte ich das Gefühl, dass unser Ziel zum Greifen nah war und ein leichtes Zittern rauschte durch meinen Körper.
>Warum? Sie können nicht bei ihr kaufen. Nur bei mir.<
Von einem Moment auf den anderen fühlte ich mich der Verzweiflung nahe. Wir standen doch so kurz vor der Lösung meines Problems und der Kerl wollte uns wegen ein paar Kronen nicht helfen? Das durfte jetzt nicht wahr sein. Händeringend suchte ich nach einem anderen Weg und spürte dabei, wie Zorn in mir aufstieg. Das Zittern meines Körpers verstärkte sich abrupt. Auf einmal nahm ich seine Aura viel intensiver wahr. Er stand nur gut einen Meter von mir weg. Nur ein Schritt, die Hand ausgestreckt und ich könnte ihm seine leuchtende Energie entreißen.

Dad legte mir überraschend die Hand kurz auf die Schulter, was mich massiv zusammenzucken ließ. Seine Berührung riss mich aus meinen finsteren Gedanken und ich verkrampfte innerlich. Seine Nähe zu fühlen machte mir Angst. Angst um sein Leben. Gerade hatte ich mir noch vorgestellt, bei einem Menschen meine grausame Fähigkeit einzusetzen und war jetzt entsetzt über mich selbst. Genau das war es doch, was ich um jeden Preis verhindern wollte. Gerade deshalb waren wir doch hier, damit ich sicherstellen konnte, niemals irgendjemanden zu gefährden.
Ich bekam plötzlich elende Schuldgefühle und senkte meinen Blick. Ich starrte vor mir auf den Boden und fragte mich, wie ich nur so etwas denken konnte. Egal wie groß meine Verzweiflung war, so etwas durfte ich doch niemals tun. Ich trat einen Schritt zurück und Dad nahm die Hand von meiner Schulter, was mich etwas erleichterte.
>Oh, ich glaube, Sie haben die Frage meines Sohns missverstanden<, sagte er mit freundlicher Stimme. >Die Figur hat ihm wohl sehr gut gefallen und er erhofft sich einfach ein paar Tipps von der Künstlerin, da er selbst gerne mit Holz arbeitet. Natürlich kaufen wir dieses Meisterwerk gerne bei Ihnen, aber wenn Sie uns ein treffen mit der Dame ermöglichen könnten, wären wir ihnen sehr verbunden.<
Verlegen blickte ich zu Dad, der mich fürsorglich anlächelte. Wie er diese Idee so einfach aus dem Ärmel schütteln konnte, war mir ein Rätsel, aber ich war ihm unendlich dankbar dafür.

>Ach so<, erwiderte der Mann und kratzte sich kurz am Kopf. >Ich fürchte aber, ich kann Ihnen nicht helfen. Ich weiß nicht, wo sie lebt. Irgendwo in der Wildnis. Sie kommt nur alle paar Wochen vorbei, bringt neue Figuren, bekommt ihren Anteil, kauft etwas ein und verschwindet wieder.<
>Wann erwarten Sie denn den nächsten Besuch von ihr?<
>Erwarten?<, sagte der Verkäufer lachend. >Nein, nein. Sie kommt, wenn sie kommt. Vielleicht einmal im Monat.<
Wieder fühlte ich mich halb verzweifelt. Was, wenn sie während unseres Urlaubs hier nicht mehr auftauchen würde? Könnten wir denn auch noch länger bleiben? Würde Dad im Job Ärger bekommen? Was wäre dann mit der Schule?
>Wann war sie denn das letzte Mal hier?<, wollte Dad wissen.
>Letzten Monat<, sagte der Mann grinsend, >aber sie redet nie mit Fremden. Ich glaube nicht, dass sie Ihrem Sohn etwas zeigen wird. Aber wenn sie wollen, könnte ich sie fragen, wenn sie kommt.<
>Das wäre wirklich sehr freundlich von Ihnen<, sagte Dad und holte seine Brieftasche hervor. >Nehmen Sie auch Kreditkarten?<
>Natürlich.<

Die beiden gingen zum Verkaufstisch, wo die Figur sicher verpackt und von Dad bezahlt wurde. Dann zog Dad noch einen 500-Kronen-Schein heraus und legte ihn auf den Tisch zusammen mit einer Visitenkarte.
>Das ist ein Vorschuss für Ihre Mühen und wenn sie einen Kontakt herstellen könnten, würde ich mich gerne ein weiteres Mal erkenntlich zeigen. Rufen Sie mich einfach unter der Handynummer an.<
>Sehr gerne. Ich werde sehen, was ich machen kann.<
Dad übergab mir die Figur und ich nahm meinen Rucksack ab, um sie darin zu verstauen. Als ich den Reisverschluss öffnete, kam mir plötzlich eine Idee. Schnell holte ich Moms Bild heraus und legte es auf den Tresen.
>Ich weiß, das klingt jetzt bestimmt merkwürdig für Sie<, sagte ich zu dem Mann und schob ihm das Bild zu, >aber wenn sie die Frau treffen, dann zeigen Sie ihr doch bitte das Bild.<
>Nico!<, fuhr Dad mich leicht an.
>Bitte Dad. Es könnte vielleicht helfen, sie zu überzeugen. Wir dürfen nichts unversucht lassen.<
Dad nickte und der Mann nahm das Bild in die Hände und betrachtete es.
>Eine schöne Frau. Aber was soll das nützen?<
>Zeigen Sie es ihr einfach. … Das ist meine Mutter. … Und geben Sie bitte gut darauf Acht. Ich möchte es danach bitte wieder haben.<
>Du bist ein merkwürdiger Junge. Aber gut, ich zeige es ihr und rufe dann an.<
Wir bedankten uns und verließen den Laden wieder.

Auf dem Rückweg nach Kiruna hingen wir beide unseren Gedanken nach. Unsere ursprünglich geplante Wanderung hatten wir kurz entschlossen gestrichen. Die Vorstellung, bei dem wichtigen Anruf vielleicht irgendwo im Niemandsland zu sein, ohne Möglichkeit, schnell nach Abisko zu gelangen, war für mich unerträglich. Dad sah das zum Glück ebenfalls so. Auch er freute sich sehr über die plötzliche Wendung und er lächelte mich während der Fahrt mehrmals an.
Im Hotel gingen wir dann direkt in mein Zimmer und holten Moms Buch aus dem Koffer. Wir setzten uns nebeneinander auf die Bettkante und mit nervös zitternden Fingern blätterte ich durch die Seiten. Dad hielt die Skulptur und ich suchte nach Zeichnungen, die den Symbolen auf dem Sockel ähnlich sahen. Als ich dann auf einer Seite sogar fast die identische Anordnung der Symbole entdeckte, durchströmte mich ein unglaubliches Glücksgefühl.
>Dad! Sieh mal. Da!<, rief ich voller Freude und zeigte ihm die Stelle.
>Unglaublich<, sagte er nur, nahm das Buch in eine Hand und hielt die Figur mit der anderen.
Erschöpft von der ganzen Aufregung, aber mit einem wohlig kribbelnden warmen Gefühl im Bauch, ließ ich mich rückwärts auf mein Bett fallen und atmete tief durch. Ich spürte, wie ich dabei vor mich hin lächelte. Nie zuvor hatte ich mich meinem Ziel so nahe gefühlt. Selbst wenn diese Frau nicht Moms Freundin war, so musste doch irgendeine andere Art von Verbindung bestehen. Es konnte ja kein Zufall sein, dass diese Zeichen in Moms Buch, die ich sonst noch nirgends entdeckt hatte, plötzlich auf einer Schnitzerei auftauchten und das in einer Gegend, von der wir wussten, dass Mom öfters dort war. Nein, das konnte kein Zufall sein. Das war eine glückliche Fügung. Selbst wenn diese Frau nichts über Mom wusste, so war ich mir doch sehr sicher, dass sie mir etwas über das Buch sagen konnte. Vielleicht war darin ja eine Botschaft für Dad und mich. So oder so, für mich war das ein riesiger Schritt in die richtige Richtung.

Ich hatte noch am gleichen Abend mit Dad darüber gesprochen, dass ich am liebsten die ganze Zeit vor dem Souvenirshop warten würde, um absolut sicher zu gehen, dass wir die Frau auch treffen würden. Doch er meinte, dass das wohl keine gute Idee wäre. So würde sie sich wohl eher verfolgt und bedrängt fühlen und von Anfang an nicht gut auf uns zu sprechen sein. Das wäre kaum der richtige Weg für uns. Dem konnte ich nicht viel entgegen setzen, weshalb ich ihm widerwillig Recht geben musste. Aber ich vertraute ihm auch. Hätte er nicht so brillant bei dem Händler reagiert, hätte ich sicherlich alles versaut, wenn nicht sogar noch schlimmeres gemacht. Das Entsetzen über das, was ich dort gedacht hatte, saß mir noch immer tief in den Knochen. Ich hoffte inständig, dass mir so etwas nie wieder passieren würde.

Die nächsten Tage verbrachten wir nur mit Aktivitäten, die wir jederzeit ohne Probleme abbrechen konnten, um schnell losfahren zu können. So besuchten wir ein Eishockeyspiel und auch ein Fußballspiel in der Nähe. Wir gingen auch noch einmal zum Quad fahren und machten auch kleinere Wanderungen und Fahrradtouren in der Umgebung von Abisko.
Doch mit jedem Tag der verging und der das Ende des Urlaubs näher rücken ließ, wurde ich unruhiger. Ich konnte unsere Unternehmungen nicht wirklich genießen und ich schlief auch wieder schlechter. Meine Träume fingen erneut an, mich mit verschiedenen Versionen von Misserfolg und Verzweiflung zu quälen. Dabei fehlte doch nur noch so wenig zum Ziel, doch genau das machte mein Unterbewusstsein Nacht für Nacht zu einem unüberwindbaren Hindernis.
Es war vier Tage vor unserem Rückreisetermin, als Dad plötzlich einen Anruf erhielt, während wir in einem Restaurant zu Mittag aßen. Das Telefonat dauerte nicht lange. Schnell hatte sich Dad ein paar Notizen auf einer Serviette gemacht und das Gespräch wieder beendet. Dann lächelte er mich an und meinte nur:
>Sie will sich mit uns treffen.<


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Kapitel 6

Das Treffen

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Die Fahrt zum Treffpunkt zog sich lange hin. Dad hatte klare Instruktionen bekommen und fuhr diverse Straßen entlang, die man bestenfalls als Feldwege bezeichnen konnte. Unser Ziel war praktisch irgendwo im Niemandsland und weit und breit war keine Menschenseele zu entdecken. Etwas irritiert sah ich Dad dabei zu, wie er zielstrebig auf einen alten Baum zuging und dort einen größeren Stein zur Seite rollte. Darunter kam eine Karte zum Vorschein, die er an sich nahm.
>Na, dann wollen mir mal<, sagte er mit einem unterdrückten Seufzen und gab mir mit einer Kopfbewegung zu verstehen, dass wir doch noch nicht am Ziel waren, sondern noch einen größeren Fußweg vor uns hatten.
Ich fühlte mich ein wenig als wären wir Geheimagenten auf einer wichtigen Mission. Wichtig war sie für mich ohne Zweifel, aber diese Vorgaben, welche Wege wir nehmen mussten und wann wir uns wo einzufinden hatten, verwirrten mich. Natürlich brauchte es einen Treffpunkt, doch warum musste dieser weit entfernt von üblichen Straßen mitten in der Wildnis liegen? Selbst mein Handy hatte hier draußen kein Netz, was nicht gerade beruhigend war.

Eine Zeitlang beschäftigte mich die Frage, ob diese Frau vielleicht deshalb so fernab der Zivilisation lebte, weil sie auch Probleme damit hatte, ihre Fähigkeit in Anwesenheit von Menschen zu kontrollieren. Dieser Gedanke bescherte mir spontan ein mulmiges Gefühl im Magen, das mich an das Fahren mit einer Achterbahn erinnerte. Wenn das wahr wäre, würde sie mir nicht helfen können. Aber ich wollte das nicht glauben. Mom hatte offensichtlich keine Probleme damit gehabt, sonst hätte sie doch nicht bei Dad und mir leben können. Es musste einfach andere Gründe haben, dass ihre Freundin die Einsamkeit für sich gewählt hatte.

Nach etwa eineinhalb Stunden marschierten wir praktisch nur noch querfeldein, denn hier war nichts mehr zu erkennen, das einem Wanderweg auch nur ähnlich sah. Die Gegend war karg, felsig und sehr hügelig, was die ganze Sache noch anstrengender machte. Ich fragte mich immer wieder, wie lange es wohl noch dauern würde, bis wir endlich da wären. Meine Ungeduld, diese Frau endlich sehen zu können, war regelrecht quälend. Aber ich wollte auch nicht wie ein Kleinkind quengeln und verschonte Dad mit nervigen Fragen.

>Wir müssten gleich da sein<, meinte er plötzlich, als ob er meine Gedanken erraten hätte. >Hinter dem Hügel müsste es sein, wenn wir uns nicht verlaufen haben.<
>Hoffentlich nicht<, antwortete ich nur, denn das Letzte, das ich jetzt wollte, war eine womöglich stundenlange Suche nach dem richtigen Zielort.
>Hier muss es sein<, verkündete er schließlich, als wir die letzte Erhebung überwunden hatten.
Vor uns lag etwas, das man wahrhaftig nur als Oase in dieser kargen Umgebung bezeichnen konnte. Ein Bach schlängelte sich durch eine enge Schlucht und ging in einem lang gezogenen Tal in einen kleinen See über. Die Umgebung war teilweise bewaldet aber auch mit größeren Wiesen geschmückt. Mit dieser herrlichen Landschaft hatte ich wahrlich nicht gerechnet und erstaunt sah ich mich um. Es war merkwürdig, aber meine Aufregung schien fast gänzlich von mir abzufallen. Dieser unerwartet tolle Anblick ließ mich für einen kurzen Moment innehalten und tief durchatmen. Es war faszinierend und beruhigend zugleich, diese Aussicht zu genießen.
>Schweden ist doch immer wieder für eine Überraschung gut<, sagte Dad und ging wieder voran.
Wir schritten in das Tal hinab und hielten Ausschau nach der Frau, die wir hier treffen wollten. Nur entdecken konnten wir sie nirgends und so gingen wir weiter durch dieses wunderschöne Stückchen Natur. Als wir an einem kleinen Wäldchen vorbei kamen, bemerkte ich ein leises Rascheln seitlich von uns und schaute mich um.
>Dad!<, rief ich erschrocken und blieb stehen.
Verwirrt schaute er mich an und folgte dann meiner Blickrichtung. Kurz darauf erstarrte er ebenfalls. Neben uns war ein Rudel von sieben Wölfen aus dem Wald heraus getreten und fixierte uns mit grimmig blickenden Augen.
>Was machen wir denn jetzt?<, fragte ich ihn leise.
>Auf jeden Fall nicht flüstern!<, sagte er so laut, dass ich leicht zusammenzuckte. >Bleib ganz ruhig, Nico. Wölfe greifen Menschen normalerweise nicht an. Sie sehen in uns eher eine Bedrohung und keine Beute. Deshalb mach dich groß. Sprich laut und mit fester Stimme.<

Ich versuchte Dads Rat zu befolgen, schob die Hände in die Taschen und zog die Jacke auseinander, um auf die Wölfe imposanter zu wirken. Doch sie ließen sich davon nicht beeindrucken. Sie standen einfach da, als ob sie uns überwachen würden. Selbst als Dad ein paar Schritte auf sie zuging, reagierten sie nicht.
>Vielleicht sollten wir ihnen unseren Proviant vor die Füße werfen und abhauen<, schlug ich vor.
>Nein, das wäre ein Fehler. Sie sollten uns nicht mit Nahrung in Verbindung bringen und weglaufen würde ihren Jagdtrieb anfachen. Wenn wir sie nicht verscheuchen können, bleibt uns nur noch übrig, uns langsam zurück zu ziehen.<
Dad kam wieder zu mir und dann machten wir langsame und bedächtige Schritte rückwärts, um uns von ihnen zu entfernen. Diesmal reagierten die Wölfe darauf, aber nicht in der Weise, wie wir gehofft hatten. Sie folgten uns im gleichen Tempo, mit dem wir uns von ihnen weg bewegen wollten. Gleichzeitig zog sich ihre Formation halbkreisartig um uns herum.
>Verdammt, was soll das?<, sagte Dad. >Das ist doch nicht normal für Wölfe. Was machen die da?<
>Die machen das, was ich ihnen sage!<, ertönte plötzlich eine weibliche Stimme hinter uns.

Erschrocken drehte ich mich um. Dort stand neben einem Felsvorsprung eine alte Frau auf einen langen Stab gestützt. Sie schien nicht sehr groß zu sein und ihre grauen Haare hingen ihr in dichten, langen Locken bis zur Hüfte herunter. Ihre Kleidung war blau und rot, ganz so, wie wir sie schon öfters bei den Einheimischen in den entlegenen Ortschaften oder den Tourismuszentren gesehen hatten.
Dad hatte zwar von Moms „alter Freundin“ gesprochen, doch hatte ich nicht damit gerechnet, dass es sich tatsächlich um eine so alte Frau handeln würde. Welche Beziehung hatte es wohl zwischen den beiden gegeben? Egal was dahinter steckte, ich war mir jedenfalls sicher, dass sie es sein musste. Das wichtigste Merkmal an ihr, das jegliche Zweifel ausräumte, war das, was ich hier schon so lange zu finden gehofft hatte. Ihr Licht. Es schimmerte leicht bläulich, fast genauso wie mein eigenes.
Sie zu sehen, sie endlich gefunden zu haben, löste in mir ein unbeschreibliches Gefühl aus. Ich war glücklich, aufgeregt und unendlich nervös. Mein Mund war augenblicklich staubtrocken und mein Herz pumpte unaufhörlich einen merkwürdigen Mix aus Endorphinen und Adrenalin durch meinen Körper. Ich war nicht wirklich in der Lage, einen klaren Gedanken zu fassen. Hätte einer der Wölfe nicht überraschend geknurrt, hätte ich glatt vergessen, dass wir von einem ganzen Rudel eingekreist waren.
Die Frau sagte etwas in einer mir vollkommen fremden Sprache und gleich darauf setzten sich alle Wölfe hin.
“Mit der Nummer könnte sie glatt in einem Zirkus auftreten”, dachte ich bei mir.
Nie zuvor hatte ich gehört, dass es dressierte beziehungsweise abgerichtete Wölfe gab. Selbst bei Hunden konnte ich mir kaum vorstellen, dass die in einer Gruppe so exakt auf Kommandos reagieren würden.

Die Frau näherte sich mir und schaute mich misstrauisch, nahezu feindselig an. Es schnürte mir regelrecht die Kehle zu, so von ihr angesehen zu werden. Die Haut ihres Gesichts war von tiefen Falten durchzogen und wirkte alt, fast lederartig. Doch ihre mandelbraunen Augen hatten einen ungewöhnlich klaren Glanz. Er passte so gar nicht zu ihr und diesem finsteren Blick, dem ich zu widerstehen versuchte. Ich fragte mich spontan, was ich wohl falsch gemacht hatte und warum sie so zornig war. Hatten wir uns vielleicht geirrt? War sie doch nicht die Person, die wir suchten?
Nachdenklich, aber auch eingeschüchtert, wie ich mir selbst eingestehen musste, schaute ich zu Boden. Dann sagte sie etwas in der gleichen Sprache zu mir, in der sie auch mit den Wölfen gesprochen hatte. Kein Wort verstand ich von dem, was sie da sagte. Verwirrt schaute ich zu Dad, der mit den Schultern zuckte. Daraufhin zog die Frau eine Augenbraue hoch und wandte sich meinem Vater zu, den sie eindringlich musterte.

>Ich kenne dein Gesicht<, sagte sie zu ihm. >Nicht mehr so jung, aber ich erinnere mich. Du bist ihr Mann, nicht wahr?<
Dad schluckte und nickte ihr zu.
>Ja, Nele war meine Frau.<
>Nele?<, sagte sie leicht lachend. >So nennt sie sich also… Aber wieso “war”? Was ist passiert?<
>Ich hatte gehofft, dass Ihr…<
Dads deprimierte Miene sprach Bände. Es tat mir in der Seele weh, seine Enttäuschung zu sehen, dass Moms Freundin offensichtlich nichts über ihr Verschwinden wusste. Doch er hatte sich relativ schnell wieder im Griff und atmete tief durch. Er schüttelte fast resigniert den Kopf, bevor er nach einem intensiven Seufzer weiter sprach.
>Sie ist vor elf Jahren bei einer archäologischen Mission im Irak spurlos verschwunden.<
Grüblerisch runzelte sie die Stirn und murmelte dann >Babylon< vor sich hin.
>Ich dachte, das hätte sie hinter sich gelassen?<, ergänzte sie noch deutlicher hörbar, doch Dad wusste wohl nicht, was er darauf antworten sollte und schwieg betroffen.
>Sie wird mir fehlen<, gab sie schließlich noch von sich und wandte sich dann wieder mir zu.
Schlagartig hatte sich ihr Gesichtsausdruck wieder verändert. Sie schien mir gegenüber voller Misstrauen zu sein, was ich mir nicht ansatzweise erklären konnte. Wenn sie Moms Freundin war, warum sah sie mich dann so düster an? Was hatte sie denn gegen mich? Ich wusste beim besten Willen nicht, was ich sagen sollte und stand einfach stumm vor ihr.

Erneut sprach sie mich in dieser merkwürdigen Sprache an und schien dann auf eine Reaktion zu warten, doch ich war vollkommen durcheinander. Was wollte sie nur von mir? Was sollte ich denn tun oder sagen?
>Es tut mir leid. Ich verstehe nicht<, antwortete ich kleinlaut.
Ihr Blick wurde noch misstrauischer und ich schaute ratlos zu Dad, der aber im Moment wohl auch nicht wusste, was er erwidern sollte. Dann sprach sie mich abermals an.
>Wer bist du und warum tust du so, als würdest du unsere Sprache nicht sprechen?<
>Unsere Sprache? Ich verstehe nicht. Ich bin Nico. Diese Sprache habe ich noch nie gehört. Ich kann nur Englisch und etwas Französisch.<
>Ich weiß nicht, was du von mir willst, aber sich über mich lustig machen, ist garantiert der falsche Weg.<
>Ich will mich doch gar nicht über Sie lustig machen. Bitte, wir sind hier, weil ich Ihre Hilfe brauche.<
>Meine Hilfe? Dass ich nicht lache. Verrate mir lieber einmal, wie du das gemacht hast.<
>W-Was gemacht?<
>Ich warne dich, NICO! Ich schätze solche Spielchen nicht.<
>Spielchen? … Aber … Ich … Dad?<
Die Feindseligkeit, mit der diese Frau mich ansah und mit mir sprach, raubte mir meine Zuversicht und trieb mich immer näher an den Rand der Verzweiflung. Ich wusste nicht mehr weiter und blickte hilfesuchend zu meinem Vater.
>Das muss ein Missverständnis sein<, sprach er sie an. >Wir sind gekommen, um Ihre Hilfe zu erbitten.<
>Dass ihr nicht gekommen seid, um das Schnitzen zu lernen, habe ich mir schon gedacht. Also? Welche Art von Hilfe wollt ihr von mir?<

Dad atmete kurz durch und versuchte dann mit ruhiger und sachlicher Stimme zu sprechen.
>Wir haben gehofft, dass Ihr meinem Sohn hier helfen könntet…<
>Deinem Sohn?<, fiel sie ihm ins Wort. >Willst du etwa behaupten, dass der da dein Sohn ist?<
>Ja, natürlich. Das ist Neles und mein Sohn.<
Prüfend flogen ihre Blicke ständig von Dad zu mir und wieder zurück. Dann hob sie plötzlich ihre Hand und streckte sie langsam in Richtung seines Gesichts aus. Das Blut gefror mir in den Adern, als ich das sah. Ich hatte furchtbare Angst, dass sie ihm die Energie entreißen könnte. Panik ergriff mich und kurz bevor sie ihn berührte, griff ich nach ihrem Handgelenk.
>Nicht!<, rief ich und dann ging alles furchtbar schnell.
Ehe ich mich versah, wurde ich zu Boden geschleudert und schlug der Länge nach bäuchlings auf. Im ersten Moment blieb mir die Luft weg und ich verlor die Orientierung. Ich hatte keine Ahnung, wie das passiert war, aber ich spürte auch den harten Druck einer Stange in meinem Genick. Es war mir unmöglich, mich wieder aufzurichten. Auch wenn ich nicht hier fixiert wäre, hätte ich es wohl kaum geschafft, so benommen wie ich war.
>Was soll das werden?<, wurde ich mit aggressiver Stimme angesprochen.
Gleichzeitig drang auch das Knurren von Wölfen aus sehr kurzer Entfernung zu mir durch, doch wurde ich im Augenblick nur von einem Gedanken beherrscht.
>Bitte… tu meinem Vater nichts.<

Von einer Sekunde zur anderen herrschte Stille. Eine gespenstige Stille. Lediglich das Rauschen des Windes in den Blättern der nahen Bäume war zu hören. Mit dem Gesicht im Gras war es mir kaum möglich, etwas zu sehen. Nur einen der Wölfe, der in meiner Nähe saß, konnte ich erkennen.
Dann, nach einer kurzen Weile, löste sich der Druck in meinem Genick und gab mich frei. Allerdings war ich unsicher, ob ich wirklich aufstehen sollte oder vielleicht doch besser liegen blieb. Die Sorge um meinen Vater war jedoch so groß, dass ich mich etwas aufrichtete, um nach ihm sehen zu können. Als ich ihn dann gesund, wenn auch verunsichert und mit besorgter Miene neben mir stehen sah, war ich sehr erleichtert und atmete erst einmal tief durch.
>Steh auf!<, befahl mir die Frau, doch diesmal in eher ruhigem und nicht ganz so aggressivem Ton.
Langsam erhob ich mich und betrachtete die alte Frau, die mich gerade völlig problemlos außer Gefecht gesetzt hatte. Woher sie die Kraft, Schnelligkeit und das Geschick hatte, war mir ein Rätsel. Ein bisschen rebellierte mein Ego in mir, das nicht wahrhaben wollte, dass ich von einer Oma einfach so überwältigt werden konnte. Doch der Glanz in ihren Augen ließ mich schon vorhin erahnen, dass sie nicht das war, wonach sie aussah.

Als ich ihr erneut vorsichtig in die Augen schaute, bemerkte ich eine Veränderung. Die Feindseligkeit, mit der sie mich bisher angesehen hatte, war einem kritischen Mustern gewichen. Ihr intensiver Blick durchbohrte mich geradezu, als ob sie versuchen würde, mir durch die Augen direkt in die Seele zu sehen. Die neue Situation irritierte mich noch mehr und ich fragte mich, was das zu bedeuten hatte. Doch ich wagte es nicht, meinen Kopf abzuwenden oder ihr sonst irgendwie auszuweichen. Alles, was ich tun konnte, um meinen Vater zu beschützen, war hier direkt zwischen ihm und dieser Frau zu stehen. Natürlich war mir bewusst, dass ich sie wohl kaum abwehren könnte, wenn sie angreifen würde. Das hatte sie gerade eindrucksvoll unter Beweis gestellt. Und selbst wenn, wäre da immer noch ein Rudel Wölfe.

Sie kam noch einen Schritt näher und stand ganz dicht vor mir. Sehr langsam, als ob sie einem scheuen Pferd zeigen wollte, dass von ihr keine Gefahr ausging, hob sie ihre rechte Hand. Es war eine ähnliche Situation wie vorhin, nur war da mein Vater ihr Ziel gewesen. Nun war ich es.
Ich spürte die Bedrohung und die Muskeln in meinen Beinen zuckten, als wollten sie mir signalisieren, dass ich wegrennen sollte. Aber könnten wir es überhaupt zusammen schaffen? Ich konnte meinen Vater unmöglich im Stich lassen und ohne ihn weglaufen. Er war doch alles was ich hatte. Und war eine Flucht bei dem Wolfsrudel um uns herum nicht ohnehin praktisch ausgeschlossen? Selbst wenn doch, wohin sollten wir denn flüchten? Wenn diese Frau mir nicht helfen konnte oder wollte, gab es für mich sowieso keinen Platz mehr auf dieser Welt. Wie sollte ich jemals glücklich werden könnten, wenn ich für alle immer eine Gefahr war?
Nein, es gab einfach keinen Ausweg. Auch wenn ich damit rechnen musste, dass sie mir gleich meine Lebensenergie entreißen würde, war ich entschlossen, nicht zurück zu weichen. Ich hatte keine andere Wahl, als hier stehen zu bleiben. Wenn das mein Schicksal war, dann wollte ich lieber hier und jetzt mein Ende finden.

Plötzlich spürte ich den Kontakt mit ihrer Energie und ein Kribbeln erfasste meinen Körper. Doch es war keine von Angst geprägte Gänsehaut, die ich verspürte. Es war anders. Ganz anders, als ich erwartet hatte oder es mir überhaupt hätte vorstellen können. Es war nicht nur die Farbe, in der sich ihre Aura von der anderer Menschen unterschied. Sie zu spüren war ebenfalls ein ganz neues Gefühl. Da war keine bedrohliche Anziehungskraft. Keine Spannung, die sich zwischen ihrem und meinem Kraftfeld aufbaute. Es war weich und fließend, fast wie ein Seidentuch, das man über die Haut gleiten ließ.
Ihre Hand berührte meine Wange und griff nach einer Haarsträhne. Sie direkt auf meiner Haut zu fühlen, ließ mich die Augen schließen. Es war ein unglaublich schönes, aber auch extrem verwirrendes Gefühl. Wie ein intensives und doch ganz sanftes Streicheln.
In Gedanken flog ich weit zurück in meine Vergangenheit. Ich sah mich selbst, wie ich als kleiner Junge auf dem Schoß meiner Mutter saß, an ihre Brust gekuschelt und den Klang ihrer summenden Stimme im Ohr. Sie streichelte mich liebevoll und küsste mein Haar. Warum ich ausgerechnet daran erinnert wurde, wusste ich nicht. Für einen kurzen Augenblick fragte ich mich, ob meine Tigerlilly auch so gefühlt hatte, als es passierte. Doch im Grunde war es ohne Bedeutung. Es war schön und es gab bestimmt tausend schlimmere Arten zu sterben.
Ich spürte, wie sich praktisch von selbst ein Lächeln auf meine Lippen schob und öffnete wieder meine Augen. Sofort erkannte ich das Erstaunen in ihrem Gesicht. Sie betrachtete mich ungläubig, nahezu fassungslos.
>Kann das wirklich wahr sein?<, murmelte sie vor sich hin.
Dann senkte sie den Arm wieder und hielt einen Moment lang inne, bevor sie mich ansprach.

>Du hast tatsächlich ihre Haare, ihre Augen und selbst dein Licht ist ihrem so ähnlich. Doch wie ist das möglich? So etwas hat es noch nie gegeben. Niemals zuvor. Bist du wirklich ihr Sohn? Ist dein junges Aussehen wahrhaftig kein Trick, keine neue Fähigkeit, sondern einfach darin begründet, dass du noch so jung bist?<
Ich verstand nicht wirklich, was genau sie mit alledem meinte, was sie da sagte, aber ich nickte ihr zu.
>Ja, ich bin 15 Jahre alt<, sagte ich mit kratziger Stimme.
>Ich kann es kaum glauben<, flüsterte sie fast und streichelte noch einmal über meine Wange, was sich abermals trotz ihrer rauen Haut unheimlich gut anfühlte.
Kurz darauf sagte sie erneut etwas recht laut in dieser merkwürdigen Sprache und gab den Wölfen ein Zeichen mit der Hand, woraufhin die sich umdrehten und zurück in den Wald liefen.
>Es tut mir leid, dass ich euch mit so viel Argwohn begegnet bin<, sprach sie uns an, wobei ihre Pupillen ständig von mir zu Dad und wieder zurück hüpften. >Für mich war es einfach absurd und ich hielt es für einen Hinterhalt. Ich hatte erwartet, dass ihr Penelope in eurer Gewalt oder bereits getötet habt und dass ich euer nächstes Opfer werden sollte.<
>Penelope?<, fragte ich verwirrt.
>Ja<, antwortete sie lächelnd.
Es war das erste Mal, dass sie mir gegenüber eine freundliche Miene aufgesetzt hatte. Ihr Lächeln zu sehen, schenkte mir tief in meinem Herzen die Überzeugung, dass wir tatsächlich Moms Freundin vor uns hatten.
>Penelope hatte schon immer eine Schwäche für Spitznamen oder Kurzformen. Es wundert mich daher nicht, dass sie sich euch gegenüber Nele genannt hat. Es wundert mich auch nicht, dass sie dir den Namen Nico gegeben hat.<
Ihr Lächeln wirkte fast verträumt, als sie von Mom erzählte. Sie schien noch viel mehr von ihr zu wissen als Dad. Ein kurzer Blick zu ihm verriet mir, dass ihm unzählige Fragen auf der Seele brannten, doch er hielt sich zurück und stellte sie nicht. Er verhielt sich wieder einmal sehr diplomatisch und geschickt. Ich hoffte aber, dass er ein paar seiner ersehnten Antworten bekommen würde.

Auch ich hatte viele Fragen, doch im Gegensatz zu meinem Vater weitaus weniger Geduld. Obwohl ich schon das Gefühl hatte, dass wir in gewisser Weise einen Durchbuch erzielt hatten, versuchte auch ich, mich richtig zu verhalten und sie nicht zu verärgern.
>Dürfen wir vielleicht auch deinen Namen erfahren?<, fragte ich ganz vorsichtig.
>Ja, dürft ihr<, erwiderte sie grinsend. >Ich bin Sylvia.<
Sie hielt mir überraschend die Hand hin und ich ergriff sie, um sie zu schütteln. Dann schob sie sich an mir vorbei und machte das Gleiche auch bei Dad. Kurz bekam ich ein flaues Gefühl im Magen doch außer der netten Begrüßung geschah nichts weiter und ich atmete erleichtert durch. Das blieb ihr jedoch nicht verborgen.
>Du denkst doch nicht etwa immer noch, dass ich deinem Vater etwas antun will, oder?<
>N-Nein<, gab ich verlegen zurück. >Es ist nur... Diese Fähigkeit... Sie ist so gefährlich.<
>Ich setze sie für gewöhnlich nicht bei Menschen ein, also sei unbesorgt.<
>Dann heißt das, dass du sie richtig kontrollieren kannst?<
Meine Stimme zitterte vor Aufregung. Plötzlich schien es mir so, als würde sich meine größte Hoffnung erfüllen und eine Welle der Vorfreude rauschte durch meinen Körper.
>Richtig kontrollieren?<, fragte sie. >Willst du damit etwa sagen, dass du keine Kontrolle darüber hast?<
Ich nickte verlegen und wusste nicht so recht, was ich jetzt sagen sollt.
>Dann ist das der Grund, warum ihr hier seid? Du willst von mir lernen, wie man diese Gabe beherrscht?<
Erneut nickte ich und schickte noch nervös ein halb gestammeltes >Ja ... Bitte< hinterher.
>Kontrolle...<, wiederholte sie noch einmal in Gedanken versunken. >Da erwartest du aber eine ganze Menge von mir. Wie kommst du nur darauf, dass ich mir einfach so ein paar Jahrzehnte Zeit nehmen werde, um dir den richtigen Umgang mit unserer Fähigkeit beizubringen?<
>Jahrzehnte?<, erwiderte ich nahezu fassungslos.

Ich hatte nicht im Entferntesten damit gerechnet, dass es so lange dauern könnte. Der kurze Moment des Glücks, den ich eben noch empfunden hatte, war schon im nächsten Augenblick wie eine bunte Seifenblase zerplatzt. Ich fühlte mich, als ob man mir eine schallende Ohrfeige verpasst hätte, um mich aus meinem Tagtraum zu reißen.
Deprimiert ließ ich den Kopf hängen. Jahrzehnte zu brauchen, um diese Fähigkeit unter Kontrolle zu bringen, bedeutet letztlich doch nur eines. Mein Leben würde nie so sein können, wie ich es mir erhofft hatte. Ich würde mich von allen verabschieden müssen. Von meinem Dad, von Nana, von Kassandra, Colin und allen anderen.
>Jetzt schau doch nicht so betrübt<, sagte Sylvia mit unerwartet einfühlsamer Stimme. >Ich werde sehen, was ich für dich tun kann. Das bin ich Penelope schuldig.<
>Danke ... Ich bin auch wirklich froh, dass du mir helfen willst. Es ist nur ... Ich hatte nicht erwartet, dass es so viel Zeit in Anspruch nehmen würde.<
>Ach, was hast du denn erwartet?<
>Ich weiß es nicht. Ich hatte nur gedacht, dass es vielleicht einen Trick gibt. Etwas, das mir hilft, dass ich für die Menschen um mich herum keine Gefahr mehr bin.<
>Was für einen Trick? Wenn du keine Gefahr sein willst, dann sei eben keine<, sagte sie direkt vorwurfsvoll und schüttelte dazu auch noch verständnislos den Kopf.

Durch den harten Ton, den sie plötzlich angeschlagen hatte, fühlte ich mich wie vor den Kopf gestoßen. Mein erhofftes Leben lag endgültig in Trümmern, sodass mir keine andere Wahl blieb, als meine Träume aufzugeben. Ich würde nie mit Kassandra zusammen sein können und diese Erkenntnis brannte schmerzhaft in meiner Brust. Doch sie stand da und schien sich über mich lustig zu machen. Ich spürte wie Wut in mir aufstieg, doch gleichzeitig auch dieses gnadenlose Gefühl der Ohnmacht, einfach nichts tun zu können.
>Was hast du denn jetzt schon wieder?<, fragte Sylvia fast genervt.
>Was ich habe? Wenn es Jahrzehnte dauert, diese verfluchte Fähigkeit unter Kontrolle zu bringen, was ist mein Leben denn dann jetzt noch Wert? Es ist vorbei, bevor es überhaupt angefangen hat.<
>Beruhige dich, Nico<, sprach mich Dad von hinten an und ich drehte mich zu ihm um.
>Nein, Dad!<, fuhr ich ihn an. >Du weißt, dass ich Recht habe. Ich kann nicht weitermachen, als wäre nichts passiert. Ich habe Lilly getötet. Ich habe das nie gewollt und es ist trotzdem passiert. Das kannst du nicht ignorieren.<

Dad atmete schwer durch und sah mir mitfühlend in die Augen. Er sagte nichts, aber das war auch nicht nötig. Uns war beiden klar, dass er das nicht abstreiten konnte. Doch dann fühlte ich überraschend Sylvias Hand an meiner Schulter. Der Kontakt mit ihrer Aura erinnerte mich sofort wieder an meine Mutter und ich beruhigte mich ein wenig. Mit sanftem Druck drehte sie mich zu sich um.
>Du hast versehentlich ein Mädchen getötet?<, fragte sie mich mit einfühlsamer Stimme.
>Nicht ein Mädchen. Meine Katze. Es ist beim Streicheln geschehen. Seit ich diese verdammte Wahrnehmung habe, versuche ich immer den Kontakt mit Menschen oder Tieren zu vermeiden. Nur einmal habe ich mich nicht daran gehalten und dann ist es passiert. Sie starb in meinen Armen und ich weiß genau, dass ich schuld daran bin. Deshalb muss ich lernen, diese Fähigkeit zu kontrollieren. Auch wenn das bedeutet, dass ich mein Leben aufgeben muss.<
>Das ist ... bemerkenswert<, sagte sie mit fast bewundernder Stimme. >Bitte verstehe mich nicht falsch, aber dass du, so jung wie du bist, ganz alleine herausgefunden hast, wie du einem Lebewesen die Energie entziehen kannst, ist sehr ungewöhnlich. Es bedarf normaler Weise jahrelangen Trainings, das zu erlernen. Ich dachte, du willst eben das bei mir lernen.<
>Nein, will ich nicht. Ich will, dass es aufhört. Es muss doch einen Weg geben, das zu kontrollieren, damit ich keine Gefahr mehr bin.<
>Hör mal, Nico<, sprach sie eindringlich und doch beruhigend. >Im Grunde ist Kontrolle nur ein Illusion. Es ist wie beim Schnitzen. Ich weiß, wie es geht und habe schon Tausende Holzklötze bearbeitet und Figuren hergestellt. Meistens kommt etwas halbwegs Ansehnliches dabei heraus und man könnte sagen, ich habe Kontrolle darüber. Doch manchmal geht auch etwas schief. Unachtsamkeit. Eine unerwartete Beschaffenheit des Holzes. Ein Unfall. Es genügt oft eine Kleinigkeit, um Pläne zu vereiteln. Das war es dann mit der hochgeschätzten Kontrolle. Doch was du gerade geschildert hast und was du willst, hat nichts mit Kontrolle der Fähigkeit zu tun. Bei dir geht es um Selbstbeherrschung.<
>Um Selbstbeherrschung?<, fragte ich verwundert. >Das verstehe ich nicht.<

Sie atmete tief durch und sah mir forschend in die Augen, während sie anfing, es mir zu erklären.
>Diese Fähigkeit bedeutet weitaus mehr, als das, was du bisher erfahren hast. Du hast nur einen kleinen, wenn auch wichtigen Teil deines Erbes kennengelernt. Den zu beherrschen, sollte dir eigentlich nicht so schwer fallen.<
>Nicht so schwer?<, erwiderte ich erbost. >Glaubst du, ich hätte meine geliebte Lilly getötet, wenn es nicht so schwer wäre? Glaubst du, wir wären hier, wenn es nicht so schwer wäre?<
>Nico!<, fuhr mich Dad von hinten an, doch Sylvia hob nur die Hand, ließ mich allerdings nicht aus den Augen.
>Deine Mutter war in ihrer Jugend genauso aufbrausend wie du. Doch ich erinnere mich noch gut daran, wie unser Mentor ihr damals folgendes sagte: “Es nützt dir nichts zu rennen, wenn du nicht weißt, wohin die Reise gehen soll. Und es ist äußerst schwierig, das Ziel zu erreichen, wenn du den Weg nicht kennst.” Nun, Nico, ich kann dir den Weg zeigen.<
Ich wusste nicht, was ich dazu sagen sollte. Irgendwie klang das ja alles logisch, aber so richtig verstehen konnte ich es nicht.

>Wie lange werdet ihr noch hier sein?<, fragte sie meinen Vater.
>Unser geplanter Rückflug geht in vier Tagen, aber wenn nötig können wir auch...<
>Nein, nein, das ist gut<, unterbrach sie ihn. >Komme in drei Tagen wieder hier her. Ich werde deinen Sohn so lange mit zu mir nehmen und sehen, ob ich helfen kann.<
Verwundert schaute ich die beiden an. Dad schien nicht weniger überrascht zu sein als ich. Als sich unsere Blicke trafen, konnte ich ihm deutlich ansehen, dass ihm das etwas zu schnell ging. Sicherlich hatte er noch viele Fragen, die er ihr gerne gestellt hätte. Fragen über Mom. Fragen, die ich im Grunde auch hatte. Doch war mir auch klar, dass sie uns gerade die Chance angeboten hatte, die ich mir so sehr erhofft hatte. Ich würde endlich mehr über das erfahren, was mit mir los war. Mehr darüber, wie ich diese furchtbare Kraft in mir unter Kontrolle halten konnte. Für mich stand fest, dass ich mit ihr gehen wollte.
Ich konnte noch nicht einmal zu mir selbst sagen, ob ich das jetzt gut oder schlecht finden sollte, dass sie Dad offensichtlich nicht dabei haben wollte. Sie war mir einerseits zwar etwas unheimlich und mir war nicht ganz wohl bei dem Gedanken, mit ihr alleine zu sein. Aber andererseits wollte ich Dad auch in Sicherheit wissen und da war es mir eigentlich lieber, wenn er nicht dabei war. Schließlich nickte ich Dad zu, was ihn kurz seufzen ließ.

>Keine Sorge<, sprach sie ihn an. >Ich passe gut auf deinen Jungen auf. Es wird ihm an nichts mangeln und du wirst ihn wohlbehalten zurückbekommen.<
Dad blickte mich noch einmal forschend an. Er konnte nicht verbergen, dass ihm nicht wohl bei der Sache war. Doch für mich stand fest, dass es so am besten war und das schien er in meinen Augen zu erkennen.
>In drei Tagen also?<, fragte er mit einer leichten Unsicherheit in der Stimme nach.
>In drei Tagen!<, bestätigte sie noch einmal und reichte ihm zum Abschied die Hand.
Nach kurzem Zögern ergriff er sie. Ich spürte deutlich, dass es ihm nicht wirklich recht war und auch Sylvia schien das zu bemerken, denn sie lächelte ihn freundlich an.
>Ich weiß, was in dir vorgeht<, sagte sie mit sanfter Stimme. >Du hast viele Fragen, aber die Antworten sind nicht für dich bestimmt. Penelope hat dir alles von sich erzählt, was du wissen durftest. Vermutlich sogar ein bisschen mehr als das, denn ich kenne sie und weiß, wie schwer ihr das gefallen sein musste. Doch du musst verstehen, dass diese Geheimhaltung nicht nur ihrem eigenen Schutz diente, sondern auch deinem und seinem.<
Bei dem letzten Wort machte sie eine kurze Kopfbewegung in meine Richtung. Dad blickte zu mir und schien verstanden zu haben, was sie meinte. Dann schaute er ihr noch einen Moment lang in die Augen. Schließlich nickte er ihr zu.
>Gut, dann soll es wohl so sein<, sagte er zu ihr und wandte sich gleich darauf mir zu. >Das ist wirklich in Ordnung für dich?<
>Ja, Dad. Deshalb sind wir doch hier. Mach dir keine Sorgen. Ich komme schon klar.<
>O.K., Nico. Dann sehen wir uns in drei Tagen wieder.<
Zum Abschied klopfte er mir kurz auf die Schulter. Ich spürte seine Aura und konnte nicht verhindern, dass ich wie so oft dabei leicht zusammenzuckte. Danach drehte er sich weg und ging den Weg zurück, den wir hierher genommen hatten. Ich blieb noch stehen und sah ihm nach. Auf dem Hügel drehte er sich noch einmal zu mir um und hob die Hand zum Abschiedsgruß. Dann ging er weiter und verschwand aus meinem Sichtfeld.
>Nun, mein Junge. Bist du bereit?<
>So bereit, wie ich im Augenblick nur sein kann.<
>Dann komm mit mir<, sagte sie und führte mich in nordwestlicher Richtung aus dem Tal heraus.
Ich folgte ihr, voller Zuversicht, dass die nächsten drei Tage die wichtigsten meines Lebens werden würden.


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Kapitel 7

Sylvia

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Sylvia legte bei unserer Weiterreise ein erstaunliches Tempo vor und ich hatte große Mühe, mit ihr Schritt zu halten. Wie sie das in ihrem Alter schaffte, war mir ein Rätsel. Ich war schließlich gut trainiert und fühlte mich fit, aber diese Frau war einfach unglaublich. Immer wieder schaute sie lächelnd zu mir herüber, als ob sie überprüfen wollte, dass ich noch mithalten konnte. In gewisser Weise spornte sie damit meinen Ehrgeiz an und ich bemühte mich, mir nicht anmerken zu lassen, wie sehr mich der Marsch anstrengte.
Als sie mal wieder scheinbar spielend einen Hügel in dieser zerklüfteten Landschaft emporgestiegen war, hatte ich plötzlich ein witziges Bild vor meinem geistigen Auge. Ich stellte mir vor, was sie wohl mit einem Pfadfinder anstellen würde, der ihr beim Überqueren einer Straße behilflich sein wollte. Vermutlich würde sie ihn kurzerhand unter den Arm klemmen und einen Sprint über die Straße hinlegen. Der arme Junge würde da wohl die Welt nicht mehr verstehen.
Ich schmunzelte bei dem Gedanken, auch wenn es mir im Augenblick im Grunde nicht viel besser als so einem Pfandfinder ging. Auch für mich war es unbegreiflich und ich fühlte mich, als wären wir schon einen halben Tag unterwegs, obwohl es doch eher ein bis zwei Stunden waren. Dieses ständige Auf und Ab zehrte an meinen Kräften und ließ meine Muskeln brennen. Vielleicht sollte ich Mr. Buckley davon erzählen, damit er sein Konditionstraining noch heftiger gestalten konnte. Das ganze hier im Laufschritt bewältigen zu müssen wäre allerdings absolut brutal. Und wer weiß, was Sylvia noch so alles einfallen würde, wenn Mr. Buckley ihr das Ruder überließ. Die Jungs würden jedenfalls Augen machen, wenn sie sehen könnten, zu welchen Leistungen diese Frau in der Lage war.

>Du bist mir vielleicht ein schweigsamer Begleiter<, sprach sie mich überraschend an und riss mich aus meinen Gedanken. >Ich dachte, dir müssten unzählige Fragen auf der Seele brennen. Oder fehlt dir die Luft, sie zu stellen?<
Süffisant grinste sie mich an und ich überlegte fieberhaft, was ich darauf erwidern sollte. Doch bevor mir etwas eingefallen war, sprach sie mich erneut an.
>Also wenn du keine Fragen stellen möchtest ... ich hätte da schon eine an dich.<
>O.K.<, gab ich kurz zurück und wartete gespannt auf ihre Frage.
>Wie habt ihr mich eigentlich gefunden? Hat Penelope euch einen Abschiedsbrief hinterlassen? Oder hatte sie euch von mir erzählt?<
>Nein, sie hatte Dad gegenüber nur einmal eine alte Freundin in Schweden erwähnt und er wusste, dass sie dich besucht hatte. Wir haben dich daher einfach gesucht und gehofft, dass du mir helfen kannst.<
>Aber Schweden ist groß. Woher wusstet ihr, wo ihr suchen müsst?<
>Das wussten wir nicht. Na ja, zumindest nicht genau. Dad hat alte Abrechnungen ihrer Kreditkarten durchsucht und einen Hinweis entdeckt, dass es irgendwo in der Umgebung von Kiruna sein musste.<
>Kreditkarten…<, wiederholte sie nachdenklich.
>Ähm ... wie soll ich das erklären ... damit kann man Sachen bezahlen.<
>Hör mal, Jüngelchen<, sagte sie leicht ärgerlich. >Ich mag vielleicht alt sein und in der Wildnis leben, aber das heißt nicht, dass ich nicht weiß, was eine Kreditkarte ist. Ich mische mich regelmäßig unter das Volk, um auf dem Laufenden zu bleiben. Unklar ist mir nur, wie euch ein Plastikkärtchen zu mir führen konnte.<
>Ich habe das nicht böse gemeint<, entschuldigte ich mich. >Die Belege haben uns nur einen Hinweis auf Kiruna gegeben und da sind wir eben hierher geflogen und haben jeden Tag eine andere Region abgesucht, bis ich dann auf die Schnitzereien in dem Laden gestoßen bin.<
>Die Schnitzereien?<, fragte sie mit einem kritischen Blick. >Woher wusstest du, dass die von mir sind? Du hast doch gesagt, du verstehst unsere Sprache nicht. Hast du mir etwa etwas vorgemacht?<
>Nein, hab ich nicht!<, verteidigte ich mich energisch. >Ich habe nur diese komischen Zeichen zuvor schon einmal in Moms Buch gesehen. Falls das überhaupt ein Buch ist.<
>Was für ein Buch?<, wollte sie wissen.

Ich überlegte eine kurze Weile, ob ich es aus meinem Rucksack holen sollte. Natürlich hatte ich es dabei. Ich hatte so sehr gehofft, dass ich etwas über die Bedeutung der Zeichen und Bilder erfahren könnte. Doch im Augenblick war ich nur wütend, weil sie mich erneut so ungerecht verdächtigt hatte. Verärgert schaute ich zu ihr, doch sie fing plötzlich an zu grinsen und schüttelte den Kopf.
>Du musst einfach ihr Sohn sein. Sie war früher genauso schnell eingeschnappt wie du.<
>Ich bin nicht eingeschnappt!<, gab ich energisch zurück.
Eingeschnappt waren vielleicht Mädchen, die ihren Dickkopf nicht durchsetzen konnten, aber das traf ja wohl kaum auf mich zu. Ich war es einfach nur leid, dass sie mir immer wieder mit Misstrauen begegnete. Sie jedoch fing passend zu ihrem Grinsen auch noch an zu lachen.
>Auch ich schätze es nicht, wenn man sich über mich lustig macht<, sagte ich in Anspielung darauf, wie sie mir vor noch nicht einmal zwei Stunden begegnet war. Allerdings hatte ich gleich darauf ein mulmiges Gefühl im Magen, kaum, dass ich das gesagt hatte.
>Verzeih mir, Nico<, sprach sie mich mit beschwichtigender Stimme erneut an, wobei sie sich das Grinsen nicht ganz verkneifen konnte, obwohl sie sich sichtlich bemühte. >Du erinnerst mich einfach viel zu sehr an Penelope. Eigentlich kannst du dich deswegen wahrlich glücklich schätzen, denn wenn es nicht so wäre, würde ich dich wohl kaum mit zu mir nehmen.<
Glücklich fühlte ich mich zwar nicht gerade, aber mir war durchaus bewusst, dass ich wirklich froh sein konnte, dass es so war. Wahrscheinlich musste ich einfach nur Geduld haben und sie besser kennen lernen. Sie war schließlich eine Freundin meiner Mutter. Die einzige, von der wir wussten. Eine innere Stimme sagte mir, dass wir einander vertrauen konnten, auch wenn wir uns noch nicht wirklich kannten. Ich atmete tief durch und versuchte die Verärgerung wieder abzuschütteln.

>Magst du das Buch sehen?<, fragte ich sie, woraufhin sie mir lächelnd zunickte.
Ich nahm meinen Rucksack von den Schultern und holte es heraus. Es fiel mir schwer, das Buch aus den Händen zu geben, doch nach einem kurzen Augenblick des Zögerns reichte ich es ihr schließlich. Neugierig nahm sie es in die Hände und betrachtete zunächst den verzierten Einband. Dann schlug sie es fast behutsam auf.
>Oh!<, sagte sie mit einer Stimme die überrascht und erfreut klang. >Das ist ihr Tagebuch. Ich wusste gar nicht, dass sie eines führt.<
>Dann ist das also wirklich eine Schrift?<
>Natürlich ist das eine Schrift. Es ist die Schrift unseres Volkes.<
“Unseres Volkes?”, wiederholte ich in Gedanken und fragte mich kurz, was für ein Volk sie damit meinte. Ob ich ebenfalls ein Teil dieses Volkes war, wo ich doch auch diese Fähigkeit hatte? Doch eigentlich war diese Frage für mich nicht so wichtig und ich schob sie wieder beiseite. Viel wichtiger war eine andere und meine Stimme zitterte vor Aufregung, als ich sie stellte.
>Was hat sie denn aufgeschrieben?<
>Das kann ich dir nicht alles vorlesen. Das würde ich ja noch nicht einmal schaffen, wenn wir die nächsten drei Tage nichts anderes machen würden.<

Enttäuschung machte sich in mir breit. Am liebsten hätte ich ihr das Buch wieder aus der Hand gerissen, als ihr dabei zuzusehen, wie sie neugierig und stumm darin blätterte. Doch ich widerstand dem Drang und verhielt mich ruhig. Ich bemerkte, dass sie das Meiste nur überflog und bald darauf zu den letzten Seiten wechselte. Dann lächelte sie plötzlich wieder und sprach mich an.
>Hier schreibt sie davon, was für ein süßes Baby du warst. Wie schön und kräftig deine Lebensenergie geleuchtet hat. Auch, dass sie unsagbar glücklich war. Mehr als jemals zuvor in ihrem Leben.<
Wieder blätterte sie weiter und kam schließlich zum letzten Eintrag. Ich konnte regelrecht mit ansehen, wie die gerade noch ausgestrahlte Freude von Sekunde zu Sekunde mehr aus ihrem Gesicht wich.
>Was steht denn da?<, fragte ich fast flüsternd.
>Sie schreibt, dass sie in einer archäologischen Fachzeitschrift einen Hinweis auf den Schlüssel entdeckt hätte und dass sie sich schließlich nach mehreren Tagen intensiven Überlegens dazu durchgerungen hätte, doch noch einmal auf die Suche zu gehen. Sie wollte es nicht wirklich, aber die Neugierde war zu groß. Sie konnte den Hinweis nicht ignorieren. Es war der Beste, den sie in all den Jahren je entdeckt hatte. ... Ach Penelope, warum nur hast du es nicht bleiben lassen?<

Ihre betrübte Miene wühlte auch mich innerlich massiv auf. Die Suche nach irgendeinem Schlüssel war also der Grund, warum Mom weggegangen war. Was war denn so besonders an diesem Ding, dass es für sie so wichtig war? Hatte es etwas mit dem Schlüssel an der Kette zu tun, den ich bei ihren Sachen gefunden hatte und den ich, seit wir hier in Schweden waren, immer um den Hals trug? Langsam zog ich an der Kette und holte ihn hervor.
>Ist das der Schlüssel?<
Überrascht schaute sie vom Buch auf und erst in meine Augen und dann auf den Anhänger.
>Nein<, sagte sie mit sanftem Lächeln. >Das ist nur ein Symbol. Ein altes Schmuckstück, wenn du so willst. In gewisser Weise ein Erbstück. Aber es wundert mich, dass sie die Kette nicht angelegt hatte, als sie auf ihre Expedition gegangen ist.<
>Vielleicht wollte sie die Kette einfach in Sicherheit wissen<, äußerte ich meine Vermutung, woraufhin sie wieder lächelte und mir zunickte.
>Vermutlich war es so und sicherlich ging sie davon aus, dass sie wieder zu euch zurückkehren würde.<
Auch ich musste lächeln. Irgendwie freute es mich, dass sie das gesagt hatte. Es fühlte sich schön an, zu wissen, dass Mom uns nicht verlassen wollte, auch wenn es bitterlich schmerzte, dass sie nicht zurückkam. Umso wichtiger musste wohl die Suche für sie gewesen sein.

>Sylvia? Weißt du etwas über diesen Schlüssel, den sie gesucht hat? Verrätst du mir, was es damit auf sich hat?<
>Ja und nein<, sagte sie nach kurzem Zögern und wirkte dabei angespannt.
>Ähm... was meinst du damit?<
>Ich kenne die Legenden über den Schlüssel, aber ich werde dir nichts davon erzählen. Es wäre nicht gut für dich, sonst rennst du womöglich auch dein ganzes Leben einem Mythos hinterher.<
>Aber meine Mutter...<
>Nein!< fiel sie mir energisch ins Wort. >Erstens würdest du das sowieso nicht verstehen und zweitens habe ich jetzt keine Lust auf eine Märchenstunde. Außerdem bist du aus einem anderen Grund hier bei mir. Oder hat sich daran etwas in den letzten fünf Minuten geändert?<
Ihre entschlossene Abwehrreaktion auf meine Frage verwirrte mich. Eigentlich wollte ich doch nur etwas mehr über Mom erfahren, aber diese Sache schien bei Sylvia ein wunder Punkt zu sein. Ich kannte sie zwar bei weitem noch nicht gut genug, um sie richtig einschätzen zu können, doch mir war klar, dass ich hier und heute nicht mehr von ihr über die Bedeutung des Schlüssels erfahren würde. Ich nickte ihr daher nur zu. Kurz darauf reichte sie mir leise seufzend das Buch. Sie wartete noch ab, bis ich es in meinem Rucksack verstaut hatte und richtete dann ihren Blick zum Himmel, der zunehmend wolkenverhangener wurde.
>Wir haben noch ein gutes Stück vor uns. Wir sollten uns sputen.<
Kaum, dass sie das gesagt hatte, marschierte sie auch schon zügig los. Ich stöhnte kurz auf und beeilte mich, zu ihr aufzuschließen.

Etwa eine Stunde später fing es von einem Moment auf den anderen an in Strömen zu regnen, was den Marsch nicht gerade einfacher machte. Das schroffe, felsige Gelände wurde schlagartig glitschig und bot kaum noch richtigen Halt. Es wurde auch merklich kühler und noch dazu peitschte einem der kräftige Wind die Wassermassen ins Gesicht. Auch wenn ich nicht schon so erschöpft gewesen wäre, hätte ich größte Mühe gehabt, den Weg unbeschadet zu überstehen. Mehrmals rutschte ich aus und phasenweise wirkte mein Klettern sicherlich mehr wie ein unfähiges Krabbeln.
Dass Sylvia trotz ihres Alters weitaus weniger Probleme als ich hatte, nagte massiv an meinem Stolz. Ich versuchte mir einzureden, dass sie nur dank ihres langen Wanderstabes so gut zurechtkam, aber im Grunde musste ich mir eingestehen, dass so ein Stock in meinen Händen für mich jetzt wohl eher eine zusätzliche Unfallgefahr, als eine Hilfe bedeuten würde. Schließlich blieb sie auf einer Anhöhe stehen und wartete auf mich. Ich war völlig außer Atem und flehte innerlich, dass wir hoffentlich bald am Ziel wären.
>Wir sind da<, sprach sie die erlösende Worte aus, als ich keuchend und schwitzend zur ihr aufgeschlossen hatte.
Der starke Regen ließ es kaum zu, dass ich mir einen vernünftigen Überblick über die Gegend verschaffen konnte, doch mir stand jetzt ohnehin nicht der Sinn danach, mir die Landschaft anzusehen. Ich wollte nur noch ins Trockene und mich ausruhen. Allerdings konnte ich nichts entdecken, das nach einem Haus oder wenigstens einer Art Unterschlupf aussah. Eigentlich konnte ich nur eine dichte Reihe Bäume erkennen.
>Wo wohnst du denn?<
>Das wirst du gleich sehen. Wir müssen nur noch ein kurzes Stück in den Wald hinein. Keine Sorge, du hast es bald geschafft.<

Ihr aufmunterndes Lächeln ließ mich direkt erleichtert durchatmen und mobilisierte meine verbliebenen Kraftreserven. Den letzten Abschnitt unseres Weges gingen wir fast gemütlich nebeneinander her, was mir sehr recht war. Es waren tatsächlich nur noch wenige hundert Meter, bis wir im Wald am Rande einer kleinen Lichtung ein Blockhaus erreichten.
Der Bereich vor der Tür war eine überdachte Veranda. Dort zog sie erst einmal ihre Stiefel aus. Ich tat es ihr gleich und konnte spürten, wie sich meine Füße darüber zu freuen schienen. Als Sylvia die Tür öffnete, hielt sie plötzlich einige Sekunden lang inne. Dann schüttelte sie fast unmerklich den Kopf und lächelte leicht vor sich hin.
>Stimmt etwas nicht?<, fragte ich vorsichtig.
>Nein, nein. Alles in Ordnung. Ich habe nur gerade überlegt, wann ich das letzte Mal Herrenbesuch gehabt habe... Ist schon verdammt lange her.<
Verdutzt schaute ich sie an, woraufhin sie breit grinste.
>Keine Angst, ich werde schon nicht über dich herfallen. Jetzt komm' erst einmal herein und ruhe dich ein wenig aus.<
Wir gingen hinein und legten zunächst die Jacken ab. Dann fiel ihr Blick auf meine gleichermaßen durchnässte wie auch von meinen Stolperarien verdreckte Hose und erneut stahl sich ein schelmisches Grinsen auf ihre Lippen.
>Also mit der setzt du dich nirgends bei mir hin.<
>Oh, ähm... ich habe noch etwas zum Wechseln dabei.<
>Gut, dann zieh' dich schon mal um. Ich mache es inzwischen etwas gemütlicher.<

Während ich mir frische Sachen aus dem Rucksack holte und mich umzog, begab sie sich zu der Feuerstelle. Eine leichte Glut war dort noch zu sehen, doch es dauerte nicht lange bis sie daraus wieder ein loderndes Kaminfeuer gemacht hatte. Dann winkte sie mich zu sich und wies mir einen mit Tierfellen bezogenen Sessel als Sitzplatz neben dem Kamin zu. Sie selbst ging in eine Ecke des Raumes, die man wohl als Küche bezeichnen konnte und fing an mit flinken Bewegungen Gemüse zu zerkleinern und in einen Topf zu werfen.
Dass sie noch immer keine Pause brauchte, war kaum zu begreifen. Ich war so froh, endlich ein wenig ausruhen zu können. Meine Muskeln kribbelten während allmählich die Anspannung von mir abfiel. Das prasseln des Regens auf dem Dach und das knistern des brennenden Holzes hatten eine zusätzliche beruhigende Wirkung auf mich. Um keinen Preis wollte ich jetzt aufstehen, auch wenn es mir ein wenig Unbehagen bereitet, dass sie sich keine Auszeit gönnte.

Während Sylvia vor sich hin arbeitete, ließ ich meinen müden Blick durch den Raum schweifen. Links neben der Tür schien eine Art Lagerplatz zu sein. Dort standen einige Holzkisten, Weidenkörbe, aber auch Decken, gegerbtes Leder und zusammengerollte Felle. Spontan dachte ich mir, dass sie wohl bestens auf dieses einsame Leben in der Wildnis vorbereitet war und sich weitestgehend wohl auch selbst vorsorgte. Vielleicht waren diese Dinge aber auch zum Verkaufen oder Handeln bestimmt. Schließlich erzählte uns der Mann in dem Souvenirshop davon, dass sie ab und zu vorbeikommen würde. Wie sie das alles aber transportierte, war mir ein Rätsel, denn für Fahrzeuge war die Gegend kaum passierbar und ein Hubschrauberlandeplatz wäre mir bestimmt aufgefallen. Bei dem Gedanken, sie könnte einen Hubschrauber fliegen, musste ich kurz schmunzeln, wobei ich mir alles andere als sicher war, ob ihr das nicht auch noch zuzutrauen wäre.
Ich schaute mich weiter um und entdeckte neben einem Esstisch auch eine beachtliche Büchersammlung in der hinteren Ecke. Viele der Einbände schienen sehr alt zu sein und ich fragte mich, wie diese Bücher wohl den Weg hierher gefunden hatten. Offensichtlich war sie jemand, der viel und gerne las, denn so eine Bibliothek entstand schließlich nicht von alleine.
Rechts von mir stand eine Werkbank an der Wand und daneben waren Stücke verschiedener Hölzer aufgeschichtet. Auf dem Tisch und in einem Regal standen einige Holzfiguren, von denen aber die meisten noch unvollendet waren. Ein paar sahen der Figur, die wir gekauft hatten, sehr ähnlich. Ob sie wohl immer die gleichen Skulpturen produzierte?

>Noch ein paar Minuten, dann bekommst du etwas Warmes in den Bauch<, sagte Sylvia lächelnd, während sie den Topf an einen Haken über der Feuerstelle hing und sich mir schräg gegenüber in einen mit Fellen ausgelegten Schaukelstuhl setzte.
Ich nickte ihr zu und konnte auch schon etwas von dem Essensduft wahrnehmen. Vermutlich war es ein Eintopf und es roch sehr vielversprechend. Mein Magen schien sich jedenfalls schon darauf zu freuen und entließ ein deutlich hörbares Knurren. Das plötzlich aufkommende Hungergefühl überraschte mich selbst, war aber eigentlich nach der Anstrengung der letzten Stunden nicht wirklich verwunderlich. Unklar war nur, was im Moment bei mir überwog. Der Hunger oder die Müdigkeit. Es sah aber ganz danach aus, als würde der Hunger vorerst das Rennen machen, denn die Neugierde auf Sylvias Einsiedlerküche war direkt ein wenig belebend. Überhaupt hatte ich hier in Schweden vieles ausprobiert, das mir ausgesprochen gut geschmeckt hatte. Da hatte unsere Schulkantine schon sehr viel Luft nach oben.
>Du hast dich wacker geschlagen<, sprach sie mich erneut an und zwinkerte mir zu.
>Ach ja?<, antwortete ich skeptisch mit hochgezogenen Augenbrauen.
>Ja, hast du. Betrachte den kleinen Test als bestanden.<
>Du hast mich getestet?<, fragte ich ungläubig. >Wie? ... Was? ... Warum?<
>Ich wollte sehen wie entschlossen du bist und ob du bereit bist, auch Entbehrungen auf dich zu nehmen, um dein Ziel zu erreichen. Denn eines muss dir klar sein, Nico. Der Weg, der vor dir liegt, wird für dich nicht einfach zu gehen sein.<
>Heißt das, ich muss jetzt jeden Tag so einen Marsch absolvieren?<
Während ich das fragte, fühlte ich mich gleich noch erschöpfter, doch sie brach geradezu in ein schallendes Gelächter aus. Auch wenn ich den Eindruck hatte, dass sie sich gerade über mich amüsierte, war ihr herzhaftes Lachen so ansteckend, dass ich mich ebenfalls nicht zurückhalten konnte.
>Du bist mir ja einer<, sagte sie grinsend und kopfschüttelnd. >Nein, so habe ich das nicht gemeint. Es geht darum, dass du dir anfangs sicherlich sehr schwer tun wirst, die Fähigkeit zu unterdrücken. Das wird für dich nicht weniger anstrengend sein.<
Ich seufzte kurz, doch eigentlich war mir das schon klar gewesen. Aber egal wie schwer es werden sollte, Aufgeben kam für mich nicht in Frage.
>Du kannst dir sicher sein, dass ich alles geben werde<, erwiderte ich und setzte mich in dem Sessel aufrecht hin. Ich war fest entschlossen, durchzuhalten und das wollte ich ihr auch beweisen.

Sie lächelte mir zu und stand dann kurz auf, um den Eintopf umzurühren. Ihre Bewegungen waren scheinbar mühelos und irgendwie auch fließend und harmonisch. Es kam mir so merkwürdig vor, denn abgesehen von ihrem Aussehen und ihrer Stimme hatte sie so gar nichts von einer alten Frau an sich.
>Wie machst du das nur?<, stellte ich schließlich die Frage, die mich schon geraume Zeit beschäftigte.
>Was denn? Umrühren? Das geht ganz einfach. Du nimmst einen Kochlöffel und führst dann kreisende Bewegungen im Topf aus.<
>Ha, ha! ... Sehr witzig. Du weißt, was ich meine.<
>Ach so. Du willst wissen, wie ich das mache, dass ich trotz meines Alters immer noch so gut aussehe.<
Während sie das sagte fuhr sie sich mit den Fingern durch die langen grauen Haare und grinste verschmitzt.
>Was? Nein!<
>Ach... findest du etwa, dass ich nicht mehr gut aussehe?<
Bei diesen Worten stemmte sie die Fäuste in die Hüften und hatte dabei einen Gesichtsausdruck, als wäre sie beleidigt.
>Ähm, doch schon<, stammelte ich, denn die Situation war mir schlagartig extrem unangenehm und machte mich nervös. Doch sie lachte schon wieder.
>Dann findest du mich also hübsch?<, setzte sie noch einen drauf und funkelte mich mit ihren mandelbraunen Augen an.
Oh Himmel, spielte sie wieder mit mir? Unsicher schaute ich sie einfach nur an, unfähig, im Augenblick etwas Vernünftiges von mir zu geben.
>Du bist wirklich niedlich, wenn du verlegen bist<, meinte sie schmunzelnd. >Sehr niedlich sogar. Es sind bestimmt viele Mädchen verrückt nach dir.<
>Das kann ich mir nicht vorstellen<, sagte ich, doch drängte sich augenblicklich Kassandras Bild in mein Bewusstsein und ich spürte, wie meine Wangen heiß wurden.
>Kö-Können wir vielleicht wieder das Thema wechseln?<, stotterte ich und hoffte, dieser peinlichen Situation dadurch entfliehen zu können.
>Wie schade. Aber wenn du darauf bestehst, dann wechseln wir das Thema. Also, was genau willst du von mir wissen?<
Erleichtert atmete ich kurz aber tief durch und versuchte dann, mich wieder auf den vorherigen Gedanken zu konzentrieren.
>Wie machst du das, dass du so… fit bist?<

Nach einer kurzen Pause, in der sie nachdenklich in dem Topf rührte, sprach sie mich mit nun deutlich ernsterer Stimme an, ohne mich dabei anzusehen.
>Was denkst du denn, wie ich das mache?<
>Ich kann mir nicht vorstellen, dass das nur an der frischen Luft und dem Training liegt. Aber erklären kann ich es mir nicht. Hat es etwas mit unserer Fähigkeit zu tun?<
>Ja, hat es. Was weißt du denn über unsere Gabe?<
>Dass sie tödlich für jeden ist, der uns zu nahe kommt<, erwiderte ich mit absoluter Ernsthaftigkeit und mit all der Ablehnung die ich dafür empfand.
Sylvia stoppte abrupt beim Umrühren und hielt kurz inne. Dann sah sie mich sehr eindringlich an.
>Ja, das stimmt<, bestätigte sie schließlich meine Aussage, >aber das ist bei weitem nicht alles. Was weißt du denn noch?<
>Nicht viel<, gab ich zu. >Von Dad weiß ich nur, dass Mom eine Schnittwunde bei ihm geheilt hat. Auch hat sie ihm erzählt, dass sie ihr Leben verlängern könnte. Irgendwie hängt das wohl zusammen.<
>So ist es, Nico. Das sind zwei wesentliche Aspekte dessen, wozu wir mit dieser Macht fähig sind. Zum einen die Möglichkeit, Energie von anderen Lebewesen aufzunehmen, um unser Leben zu verlängern. Zum anderen die Fähigkeit, Lebensenergie und damit den Körper direkt zu beeinflussen.<
>Aber ich will das gar nicht. Ich will ganz normal sein. Kann man das nicht irgendwie abstellen?<
>Abstellen?<, wiederholte sie verwundert. >Es ist ein Teil von dir, Nico. Den kannst du genauso wenig abstellen wie dein Gehirn. Du kannst doch auch nicht aufhören zu denken. Du kannst nur lernen, dein Denken zu beeinflussen und in eine bestimmte Richtung zu lenken. So ist es auch bei unserer Gabe.<
>Heißt das, ich muss einfach nur an etwas anderes denken und dann bin ich keine Gefahr mehr?<
>Also ganz so einfach ist es nicht, aber im Prinzip geht es in diese Richtung. Morgen werde ich dir zeigen, was ich meine. Es ist schon spät und jetzt sollten wir erst einmal etwas essen.<

Sie nahm den Topf von der Feuerstelle, holte zwei Holzschüsseln und füllte sie nacheinander mit einer Schöpfkelle. Dann reichte sie mir eine Schale und wir setzten uns an den Tisch. Auch der Suppenlöffel war aus Holz, aber so fein gearbeitet, dass sich ein gewöhnlicher Metalllöffel wohl selbst vor Neid verbiegen müsste.
>Die Löffel sehen echt toll aus. Hast du die auch selbst geschnitzt?<, fragte ich voller Bewunderung für ihr Talent.
>Habe ich, aber die sind nicht nur zum Ansehen da<, bestätigte sie lächelnd und zwinkerte mir dabei zu.
Das Essen duftete köstlich und ich probierte davon.
>Wow, das schmeckt klasse.<
>Im Ernst? Da muss die irische Küche aber verdammt schlecht sein.<
>Du hast ja keine Ahnung<, erwiderte ich und gleich darauf mussten wir beide herzhaft lachen.
>Wir haben übrigens eine deiner Figuren gekauft.<
>Ja, ich weiß. Victor hat mit davon erzählt.<
>Victor?<
>Das ist der Händler in dem Souvenirshop in Abisko. Jedenfalls hast du ihn ziemlich verwirrt. Er war sehr nervös, als er von euch erzählt und mir das Bild von Penelope gezeigt hat.<
>Ha-Hast du das Bild mitgenommen?<
>Ja, habe ich. Du willst es wohl wiederhaben, was?<
Ich nickte und sie stand lächelnd auf, ging nach hinten in einen Nebenraum und kam kurz darauf mit dem Bild wieder. Dann betrachtete sie es noch einmal, bevor sie es mir überreichte. Wortlos nahm ich es entgegen. Es war ein schönes Gefühl, dieses für mich so wertvolle Erinnerungsstück wieder in Händen zu halten.

>Weißt du eigentlich, wen die Skulptur darstellt, die du gekauft hast?<
>Ähm… nein. Leider nicht. Ich hielt es für die Darstellung einer antiken Gottheit oder so.<
Plötzlich fing sie an zu lachen, als ob ich den Witz des Jahrhunderts erzählt hätte.
>Eine Gottheit… Oh ja, manchmal kam er einem so vor, als würde er sich selbst für ein höheres Wesen halten. Deine Mutter hat ihn jedenfalls vergöttert.<
>Meine Mutter kannte ihn?<
>Aber selbstverständlich! Er ist dein Namenspatron. Nach ihm hat sie dich benannt.<
>Echt? Ich dachte Nico kommt von Nikolaus?<
>Heutzutage schon, aber deiner hat einen viel älteren Ursprung. Sein Name war Nikiforos. Sei froh, dass sie dir nur eine Kurzform davon verpasst hat. Nico ist ja eigentlich ganz nett.<
>Nikiforos klingt aber sehr ungewöhnlich und irgendwie… griechisch. Wer war er denn?<
>Oh, er war eine wichtige Persönlichkeit, ein Philosoph und unser Mentor. Deine Mutter und ich, wir waren sozusagen seine Schüler. Genau genommen waren wir seine Opfer, denen er gnadenlos seine unerschöpflichen Weisheiten eingetrichtert hat. Zumindest hat er es versucht. Deine Mutter hatte ihn jedenfalls wie einen Vater geliebt.<
>Entschuldige bitte, aber habe ich das gerade richtig verstanden?<, fragte ich ungläubig nach. >Er war der Lehrer und Mentor von meiner Mutter und dir?<
Im ersten Moment schien sie nicht ganz nachvollziehen zu können, warum ich so irritiert war. Doch dann ging ihr wohl ein Licht auf und sie lächelte wieder.
>Ach natürlich! Das muss sehr verwirrend für dich sein, dass deine Mutter und ich den gleichen Lehrmeister gehabt haben. In deinen Augen bin ich sicherlich viel Älter als sie. Nun ja, der Altersunterschied zwischen ihr und mir ist in der Tat sogar noch größer als du denkst und doch ist er bei unserem Volk völlig unbedeutend. Wir gehörten praktisch zur gleichen Generation.<
>Das verstehe ich nicht.<
>Nun ja, das ist eine lange Geschichte. Lass uns das vielleicht lieber auf morgen verschieben. Nicht, dass du heute Nacht noch Albträume davon bekommst.<
Sie schenkte mir noch ein Lächeln, das keinen Zweifel daran ließ, dass ich jetzt nicht mehr von ihr erfahren würde. Mir blieb also nichts anderes übrig, als mich seufzend wieder auf die leckere Mahlzeit vor mir zu konzentrierten und so ließ ich es mir einfach schmecken.

Gesättigt von dem guten Essen spürte ich, wie die Müdigkeit mehr und mehr Besitz von mir ergriff. Die intensive Wärme, die knisternd vom Kamin ausgestrahlt wurde und das unaufhörliche prasseln des Regens waren auch kaum geeignet, um mich wach zu halten. Dazu müsste ich mich wohl eher nach draußen in die strömenden Fluten stellen. Allerdings bezweifelte ich im Augenblick stark, mich überhaupt noch einmal richtig aufraffen zu können. Viel zu schwer fühlten sich meine Arme und Beine an und auch an meinen Augenlidern schienen Gewichte zu hängen.
>Du siehst aus, als könntest du jetzt eine ordentliche Portion Schlaf gebrauchen<, meinte Sylvia schmunzelnd. >War ja auch ein anstrengender Tag für dich.<
Ich unterdrückte ein Gähnen und kniff meine trockenen Augen ein paar Mal fest zusammen, um sie wieder an ihre Aufgabe zu erinnern. Ihr selbst waren die Strapazen des langen Marsches nach wie vor nicht anzusehen.
>Ich würde dich gerne noch etwas fragen, wenn ich darf.<
>Nun, das kann ich erst beurteilen, wenn ich die Frage gehört habe<, antwortete sie noch immer lächelnd.
>Was genau passiert da eigentlich mit mir? Warum sehe und fühle ich denn seit ein paar Monaten diesen Lichtschimmer bei allen Lebewesen und warum unterscheidet sich deine und meine Aura so deutlich von der anderer Menschen?<
>Also das waren jetzt mindestens drei Fragen, aber keine davon ist einfach und schnell zu beantworten.<
>Bitte, ich will doch nur wissen, was mit mir los ist.<
>Das verstehe ich, Nico. Lass es mich so sagen. Die Fähigkeit erwacht in uns, wenn wir erwachsen werden. Das ist jedem unseres Volkes so ergangen und du bist da keine Ausnahme. Du warst nur leider nicht darauf vorbereitet. Doch auch du kannst lernen, damit umzugehen.<
>Aber wie denn?<
>Eines nach dem anderen. Für heute ist es genug. Morgen ist auch noch ein Tag.<

Natürlich war ich nicht wirklich glücklich darüber, dass sie mir jetzt nicht mehr verraten wollte, doch blieb mir wohl nichts anderes übrig, als das zu akzeptieren. Abgesehen davon fühlte ich mich einfach nur matt und erschöpft und ich war vermutlich auch gar nicht mehr in der Lage, alles richtig aufnehmen zu können. Vielleicht war es tatsächlich das Beste, es für heute dabei zu belassen und sie morgen noch einmal darauf anzusprechen.
>Ja, du hast Recht<, erwiderte ich und nickte ihr zu.
>Nun, dann schauen wir mal, wo wir dich am besten für die Nacht unterbringen. Auf Gäste bin ich nicht wirklich vorbereitet, aber wir werden schon eine Lösung finden.<
Sie erhob sich und ging hinüber in den Bereich der Wohnung, den ich als Lager bezeichnen würde. Dort kramte sie in ein paar Kisten und Körben und schnappte sich einige große Bündel mit Fellen.
>Hier, nimm die mal<, sagte sie und überreichte mir die Bündel.
Sie selbst nahm sich auch noch einige und ging dann an mir vorbei zu einer der beiden hinteren Türen. Ich folgte ihr in den Raum, der sich schnell als Vorratskammer entpuppte. In diversen Regalen standen Gläser, die offensichtlich Marmeladen und eingekochtes Gemüse enthielten. Auch zahlreiche Konservendosen, Mehl-, Salz- und Zuckerpakete, wie auch Körbe mit Äpfeln und Kartoffeln standen dort. Mit dem Bestand hätte sie vermutlich einem kleinen Lebensmittelladen Konkurrenz machen können.
Der Raum war auch deutlich kühler als der Wohnbereich, was ich allerdings eher als angenehm empfand. Die Hitze eines offenen Feuers war zwar schön und gemütlich, doch dieser Raum versprach da schon eher einen erholsamen Schlaf.

>Leg die Bündel dort ab und fang schon mal an sie zu öffnen<, wies sie mich an und ich machte mich sofort daran, die Lederbänder aufzuknoten.
Geöffnet und ausgerollt hatten diese Felle eine beachtliche Größe und fühlten sich sogar ziemlich flauschig an.
>Von was für einem Tier sind die denn?<, fragte ich nach.
>Das sind Felle von meinen Rentieren.<
>Ach, du hast Rentiere?<
>Ja, ich habe eine nette Herde.<
>Im Ernst? Wo ist die denn?<
>Draußen natürlich. Wo denn sonst? In meinem Schlafzimmer ist nicht genügen Platz und so gut riechen die jetzt auch wieder nicht.<
>So habe ich das nicht gemeint. Ich habe eben keinen Stall gesehen, als wir hier angekommen sind.<
>Rentiere hält man ja auch nicht im Stall. Die sind im Wald.<
>Im Wald? Einfach so? Können die da nicht weglaufen?<
>Nein, das ist sehr unwahrscheinlich. Erstens ist dieser Wald ihre Heimat und es geht ihnen gut hier und zweitens passen meine Wölfe auf sie auf.<
Ich erinnerte mich an das Wolfsrudel, das mich und Dad am Treffpunkt “empfangen” hatte. Schon der erste Eindruck von diesen Tieren sagte mir, dass das keine gewöhnlichen Wölfe sein konnten. Die Vorstellung, dass Wölfe eine Herde Rentiere bewachen, kam mir zwar trotzdem sehr absonderlich vor, aber hier bei ihr schien sowieso nichts unmöglich zu sein.

>So, ich glaube, das hätten wir<, sagte sie und lenkte die Aufmerksamkeit wieder auf mein provisorisches Bett.
Sie hatte inzwischen mehrere Felle geschickt übereinander gestapelt und abschließend noch ein Bettlaken darüber gelegt. Dazu noch zwei dicke Wolldecken und ein in einen Leinensack eingepacktes kleines Fellbündel, das mir als Kopfkissen dienen sollte.
>Sieht sehr einladend aus<, sagte ich lächelnd und freute mich schon darauf, es auszuprobieren.
>Gut, dann wünsche ich dir eine gute Nacht. Ich bin nebenan, wenn du noch etwas benötigen solltest.<
>Danke, aber ich brauche nichts<, sagte ich und lag in Gedanken schon in dem verlockenden Bett. Allerdings fiel meinem müden Gehirn gleich im nächsten Moment doch noch etwas ein, das ich fragen sollte. >Ach, ich wüsste noch gerne, wo das Badezimmer ist.<
>Badezimmer?<, sagte sie verwundert. >Dass das hier kein 5-Sterne-Hotel ist, ist dir doch sicherlich schon aufgefallen, oder? Ich habe kein Badezimmer. Die sanitären Anlagen in Form eines Toilettenhäuschens findest du draußen hinter dem Haus. Einfach hier durch den Hinterausgang raus. Ist nicht zu verfehlen. Waschen kannst du dich morgen früh im Bach. Zur Not kannst du dir auch etwas Wasser über dem Feuer heiß machen. Es sei denn, du duschst lieber kalt, dann stellt dir Mutter Natur da draußen gerade eine hervorragende Gelegenheit zur Verfügung.<
>Nein Danke, ich verzichte.<
Die Vorstellung, mich jetzt im strömenden Regen zu waschen, hatte so gar nichts Verlockendes an sich. Eigentlich wollte ich nur noch meine Zähne putzen, aber darauf würde ich auch einmal verzichten können. Das würde ich dann eben morgen früh nachholen. Auf einen Toilettengang zu verzichten würde mir allerdings weitaus schwerer fallen. Das wollte ich lieber nicht riskieren und holte mir meine Schuhe und die Regenjacke. Wenigstens war der Weg mit breiten griffigen Steinen gepflastert und mit großer Erleichterung stellte ich fest, dass auch Toilettenpapier bereit stand.

Als ich wieder zurückkam, hatte sich Sylvia bereits in ihr Schlafzimmer zurückgezogen. Ich holte mir noch Moms Bild und stellte es in das Regal neben meinem Nachtlager. Dann zog ich mich schnell aus und ließ mich nur noch in das Bett fallen. Die Felle waren überraschend weich und gemütlich und den ungewöhnlichen Geruch empfand ich dabei kaum als störend. Es dauerte nicht lange und ich spürte eine tiefe innere Ruhe.
Der Regen fiel noch immer prasselnd auf das Dach, doch ich empfand das als ein sehr angenehmes Hintergrundrauschen, das gut auf jede Entspannungs-CD passen würde. Ansonsten hörte ich noch, wie Sylvia nebenan durch die Hintertür das Haus verließ und wenige Minuten später zurückkehrte. Geräusche ihrer Schritte drangen noch über den Boden zu mir durch und ich war kurz vor dem Einschlafen, als ich sie plötzlich leise singen hörte.
Die Melodie erkannte ich sofort und sie trug mich weit zurück in meine Kindheit. Es war das Schlaflied, das meine Mom immer für mich gesungen hatte. Längst vergessene Bilder tauchten wieder vor meinen geschlossenen Augen auf. Es war fast so, als könnte ich auch ihre streichelnde Hand und ihre Lippen beim Gutenachtkuss spüren. Es war eine wundervolle Erinnerung und sie ließ mich sanft in das Reich der Träume geleiten.


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Kapitel 8

Die Verbindung

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Als ich am nächsten Morgen erwachte, wusste ich im ersten Augenblick nicht wo ich war. Das sanfte Licht, das durch die zwei kleinen Fenster in den Raum fiel, spiegelte sich leicht in vielen der Gläser, die in den Regalen standen. Es war nicht sehr hell, aber es genügte doch, um mich einigermaßen orientieren zu können. Mit den Händen strich ich über das Bettlaken und fühlte das Fell darunter. Mit einem herzhaften Gähnen streckte ich mich und genoss noch etwas die behagliche Wärme.
Meine Nacht in diesem Fellbett war toll gewesen. Ich hatte super geschlafen und es fühlte sich noch immer wahnsinnig gemütlich an. Ich kuschelte mich noch einmal in die Decke und sortierte die aufkommenden Erinnerungen an den gestrigen Tag.
Ich konnte noch immer nicht richtig glauben, dass wir Sylvia gefunden hatten. Doch ich war hier, in ihrem Haus und lag in dem Bett, das sie für mich gemacht hatte. Ich erinnerte mich genau an unsere erste Begegnung an dem Treffpunkt und an den darauf folgenden anstrengenden Marsch hierher. Bei dem Gedanken griff ich instinktiv an meine Oberschenkel, die sich noch ein wenig verkatert anfühlten. Ich erinnerte mich auch daran, wie sie ein wenig aus Moms Tagebuch vorgelesen hatte und wie sie mir später von ihrem Mentor Nikiforos erzählt hatte.
Vor allem aber war da ein ganz besonders intensiver Gedanke in meinem Kopf. Eine Erkenntnis, die mir so große Hoffnung machte, dass sie warm in meiner Brust brannte. Es war möglich, diese Gefahr in mir unter Kontrolle zu bringen. Sie hatte sagte, dass sie mir den Weg zeigen würde und dass ich es üben müsste. Aber auch, dass diese Fähigkeit noch sehr viel mehr bedeuten würde.
Es war so verrückt, was ein einziger Tag alles verändern konnte. Davor war ich noch so verzweifelt gewesen und jetzt voller Zuversicht. Diese Gabe, wie Sylvia sie nannte, war bis gestern für mich einfach nur eine Last gewesen. Sie machte mich zur Gefahr für andere. Sie war schuld daran, dass Lilly sterben musste. Und alles was ich mir bisher gewünscht hatte, war, sie los zu werden. Doch nun? Nun hatte mir Sylvia die Chance offenbart, die Gefahr in mir unter Kontrolle zu bekommen. Sie hatte mir ihre Hilfe angeboten und ein neue Welt gezeigt. Und sie hat von so vielen Möglichkeiten gesprochen, wie diese Gabe genutzt werden konnte.

Ungeduld und Neugierde stiegen in mir auf. Heute sollte der erste Tag meines Trainings sein. Was würde Sylvia wohl mit mir anstellen? Würde sie mir beibringen, wie ich die Kontrolle behalten kann oder mir etwas ganz anders zeigen? Entschlossen schlug ich die Decke zurück und richtete mich auf. Der leichte Muskelkater, der mir noch in den Gliedern steckte, machte sich sofort bemerkbar, aber ich hatte schon schlimmeres erlebt. Ich reckte und streckte mich noch ein wenig und zog mir dann etwas über.
“Ob sie auch schon aufgestanden ist?”, fragte ich mich und öffnete leise die Tür zur Wohnstube. Sie war zwar nicht da, aber da der Esstisch für das Frühstück gedeckt war, ging ich davon aus, dass sie wohl schon längere Zeit wach sein musste. Allerdings waren nur ein Teller und alles andere in einem Halbkreis darum aufgestellt. Bedeutete das jetzt, dass sie schon gefrühstückt hatte und dass das für mich war? Oder hatte sie mich in ihrer morgendlichen Routine vergessen und nur für sich gedeckt? Nein, das erschien mir doch zu unwahrscheinlich. Sicherlich hatte sie einfach viel zu tun und wollte mich nicht wecken. Vielleicht traf sie auch irgendwelche Vorbereitungen für mein Training.
Der Duft von frischem Fladenbrot stieg mir in die Nase und ließ mir das Wasser im Mund zusammenlaufen. Das musste einfach für mich sein und so setzte ich mich an den Tisch und nahm mir ein Stück Brot. Es war sogar noch ein bisschen warm und schmeckte klasse. Sie hatte mir außerdem Wurst, Marmelade, Butter und ein großes Glas mit Milch hingestellt, von der ich auch gleich probierte. Die war ebenfalls etwas warm, hatte allerdings einen unbekannten, wenn auch nicht unangenehmen Geschmack. Ich vermutete, dass es Rentiermilch war. Auf einen Kaffee dürfte ich hier wohl nicht hoffen, was mich kurz enttäuscht aufseufzen ließ. Mir kam der Gedanke, ob ich sie wohl später danach fragen sollte, entschied mich aber dagegen. Auf keinen Fall wollte ich wegen meiner Frühstücksgewohnheiten undankbar erscheinen. Also ließ ich mir einfach das, was da war, richtig schmecken. Das fiel mir auch alles andere als schwer.

Nach dem Essen sah ich mich mit dem Problem konfrontiert, dass ich nicht so recht wusste, wohin ich die Sachen wegräumen sollte. Ich wollte ja nicht in ihren Schränken herumwühlen und eine Spülmaschine hatte sie sicherlich nicht. Ich konnte auch kein Waschbecken mit Wasserhahn entdecken. Auch in Bezug auf einen Kühlschrank herrschte Fehlanzeige. Ich entschied mich daher dafür, die Sachen erst einmal stehen zu lassen und sie später zu fragen, wo was hingehörte.
Ich erinnerte mich daran, dass sie von einem Bach gesprochen hatte, an dem ich mich waschen konnte. Da sie sich noch nicht hatte blicken lassen, schien es mir das Beste zu sein, mich auf die Suche nach diesem Bach zu machen. Weit weg konnte er ja nicht sein.
Kurzerhand schnappte ich mir meinen Kulturbeutel und ein Handtuch und verließ das Haus dann durch die Hintertür. Es war zwar kühl, aber die Luft war herrlich frisch und roch einfach nach Natur und Freiheit. Es war geradezu eine Wohltat, die Lungen damit zu füllen. Der Himmel zeigte nichts mehr von dem gestrigen Regenguss und erstrahlte in einem wolkenlosen Blau.
Ein kleiner Pfad führte in den Wald hinter dem Haus und nach einem schnellen Toilettengang beschloss ich, diesem einfach zu folgen. Schon nach kurzer Zeit nahm ich ein leises Plätschern wahr, was mir gleich das sichere Gefühl gab, auf dem richtigen Weg zu sein. Es dauerte auch nicht mehr lange und ich konnte den Bach sehen. Er war nicht sehr tief und das Wasser geradezu kristallklar. Ich schaute mich kurz um, ob ich hier auch wirklich ungestört war, wusch mich dann schnell und putzte mir die Zähne. Danach machte ich mich gleich wieder auf den Rückweg.

>Na du Murmeltier? Hast du gut geschlafen?<, begrüßte mich Sylvia, die gerade um das Haus herum kam.
>Ja danke. Sehr gut sogar. Und danke auch für das tolle Frühstück.<
>Nichts zu danken. Du sollst schließlich bei Kräften sein, wenn wir loslegen.<
>Ähm… ja, natürlich. Wann geht’s denn los?<, fragte ich etwas unsicher.
>Du kannst es wohl gar nicht abwarten, oder? Nun, das soll mir recht sein. Wir können gleich anfangen.<
>O.K., aber ich müsste noch den Frühstückstisch aufräumen. Ich wusste nur nicht, was wohin gehört.<
>Zerbrich dir darüber nicht den Kopf. Darum kümmere ich mich schon. Für dich habe ich jetzt eine andere Aufgabe. Komm mal mit.<
Mit einem etwas mulmigen Gefühl folgte ich ihr dorthin, wo sie gerade hergekommen war. Sie wies auf einen Baumstamm und bedeutete mir, mich dorthin zu setzen. Dann ging sie zu einem umgedrehten Weidenkorb, der an der Hauswand stand. Er war sehr groß, rechteckig und grobmaschig. Sie hob ihn an, holte etwas darunter hervor und murmelte dann ein paar Worte in ihrer eigenartigen Sprache. Als sie sich anschließend zu mir umdrehte und auf mich zukam, erkannte ich, was sie da hervorgeholt hatte.
>Hier! Halte das<, sagte sie und überreichte mir einen graubraunen Hasen.
Mit einem unguten Gefühl im Magen nahm ich das Tier entgegen. Sofort spürte ich seine Energie prickelnd auf meiner Haut. Wie versteinert saß ich da und hielt ihn auf meinem Schoß fest.
>Dieser unvorsichtige Schneehase da ist mir vorhin über den Weg gehoppelt. Nun ja, was soll ich sagen. Ich dachte mir gleich, der eignet sich hervorragend als Trainingsobjekt. Also habe ich ihn für dich eingefangen.<
>D-Danke<, antwortete ich, obwohl ich mich mit diesem “Geschenk” alles andere als wohl fühlte. >Aber sind Schneehasen nicht eigentlich weiß?<
Warum ich ausgerechnet diese Frage in dieser Situation stellte, war mir selbst ein Rätsel. Es war einfach das Erste, was mir bei diesem Tier in den Sinn kam. Es fiel mir schwer, im Augenblick klar zu denken.
>Nur im Winter sind sie weiß. Wusstest du nicht, dass sie zum Sommer hin ihr Fell wechseln?<
>Nein<, antwortete ich kurz und stellte dann eine viel wichtigere Frage. >Was soll ich denn jetzt machen?<
>Ist das nicht offensichtlich? Du sollst den Hasen einfach halten. Sonst nichts. Versuche einfach, das Gefühl der Spannung auf deiner Haut so zu akzeptieren, wie es ist. Nicht mehr und nicht weniger.<

“Nicht mehr und nicht weniger.” Diese Worte hallten wie Hohn in meinem Kopf wider. Wenn es mir so einfach möglich wäre, hätte ich meiner Tigerlilly nie etwas angetan. Und jetzt lag das Leben dieser hilflosen Kreatur hier in meinen Händen. Ein Leben, das ich ganz deutlich sehen und fühlen konnte. Das ich dem armen Geschöpf mit sanftem Streicheln brutal entreißen würde, wenn ich es nicht schaffte, die Kontrolle zu erringen.
Ganz ruhig saß das Tier auf meinem Schoß. Völlig ahnungslos, wie schutzlos es meiner Macht ausgeliefert war. Ich kraulte es eine Weile hinter den Ohren, ähnlich wie ich es bei meiner Lilly gemacht hatte. Es waren eher unbewusste Bewegungen meiner Finger, als würde ich das Gefühl brauchen, um mich selbst zu beruhigen. Doch es funktionierte nicht. Immer wieder lief mir ein Schauer über den Rücken, denn ich erinnerte mich mit Grauen daran, was damals passiert war. Mein ganzer Körper verkrampfte sich mehr und mehr in dem Wissen, dass es jederzeit wieder geschehen könnte.
Wie damals spürte ich auch jetzt, wie ich diese Energie immer stärker erfassen konnte. Ich fühlte die Struktur und die Art und Weise, wie sie strahlte. Auch das Kribbeln in meinen Händen und Armen veränderte sich, als würde es sich anpassen. Es war viel mehr als ein Déjà-vu, denn ich wusste mit schrecklicher Gewissheit, dass ich das tatsächlich alles schon einmal erlebt hatte.
“Nein!”, dachte ich nur. “Ich will das nicht. Es darf nicht wieder passieren.”
Ich spürte so deutlich, dass nicht mehr viel fehlte. Jede Sekunde könnte es wieder soweit sein, dass ich in diese Energie eintauchen und sie an mich reißen würde. Es war entsetzlich und ich stand kurz davor in Panik zu geraten. Ich hielt es nicht mehr aus und löste meine Hände ruckartig von dem Hasen. Doch das änderte nichts. Ich spürte die Aura noch immer ganz genau, als wären unsere Kraftfelder auf einmal miteinander verwoben.
>Bitte nimm ihn weg<, sagte ich zu Sylvia und sah sie hilfesuchend an.

Die ganze Zeit stand sie vor mir und beobachtete mich. Ihr Blick war einfach nur interessiert gewesen, doch nun schien sie ein wenig unzufrieden zu sein. Trotzdem kam sie näher und nahm den Hasen auf den Arm. Ich spürte regelrecht, wie dieses unsichtbare Band, das sich zwischen mir und dem Tier aufgebaut hatte, plötzlich abriss. Es war ein absolut seltsames Gefühl. Einerseits war ich sehr erleichtert, dass es vorbei war und doch war da auch ein irritierendes Unbehagen, weil der Kontakt unterbrochen wurde. Es war fast so, als wäre ein Teil von mir deswegen enttäuscht.
>Warum brichst du ab?<, fragte sie mich und schaute mir forschend in die Augen.
>Weil ich es nicht mehr ausgehalten habe.<
>Also so wird das nichts<, tadelte sie mich mit strenger Miene. >Wenn du die Spannung nur gerade mal fünf Minuten aushältst, ist das kaum eine Basis, mit der wir arbeiten können. Hast du nicht gesagt, du willst alles geben und durchhalten?<
>Das will ich doch, aber es wäre fast wieder passiert<, antwortete ich deprimiert.
>Was genau meinst du? Du solltest doch nichts weiter tun, als einfach den Kontakt zu spüren und dich dran gewöhnen.<
>Aber das kann ich nicht. Es war wieder genauso wie bei Lilly. Diese Spannung hat sich einfach aufgelöst und ich konnte nichts dagegen tun.<
>Hmm…<, gab sie nachdenklich von sich und blickte auf den Hasen, den sie in ihrem Armen hielt und streichelte. >Das ist wirklich bemerkenswert. Du hast keine Ahnung, was du da tust und doch kannst du ganz ohne Übung einfach so die Barriere überwinden.<
>Ich will das aber gar nicht können. Bitte, wie kann ich das denn verhindern?<
>Verhindern? Aber das ist doch die Grundlage für jeden Anwendungsbereich unserer Fähigkeit. Dass es dir schon jetzt so leicht fällt, ist eigentlich ein Geschenk.<
>Ein tolles Geschenk ist das! Ich will keine Geschenke, die mich zum Mörder machen.<
>Jetzt aber mal langsam, Nico. Alleine die fremde Energie für dich zu öffnen, ist nur die Grundlage. Da gehört noch mehr dazu. Kannst du dich noch daran erinnern, wie es war, als du deiner Katze die Lebensenergie entzogen hattest?<
>Ob ich mich daran erinnern kann? Ich wünschte, ich könnte es vergessen.<

All die Erinnerungen an das Erlebnis kamen in dem Augenblick wieder in mir hoch. Von der Freude, sie wieder streicheln zu können, bis zu dem Entsetzen, sie getötet zu haben. Wieder fühlte ich mich schuldig und ich war wütend auf mich selbst, dass ich damals so leichtsinnig war, mit ihrem Leben zu spielen.
>Also wenn das so ist, dann müsstest du doch auch wissen, dass da noch mehr war, als die Überwindung der Spannung. Ein weiterer Schritt. Erinnerst du dich?<
Fragend blickte ich sie an und versuchte zu verstehen, worauf sie hinaus wollte. In meinem Kopf ließ ich die Ereignisse noch einmal Revue passieren.
>Ich weiß es nicht genau. Es ging alles so schnell. Da war ein kurzer Moment, als ich das Gefühl hatte, in diese Aura eintauchen zu können. Meinst du das?<
>Ja genau und ich nehme an, das hast du dann auch gemacht.<
>Aber ich wusste doch nicht, was ich da tat.<
>Das war jetzt nicht als Vorwurf gemeint, Nico. Du sollst nur verstehen, was genau geschehen ist. Das, was du als Eintauchen bezeichnest, war nichts anderes als eine vollkommene Anpassung an die fremde Energie. Dadurch hast du sie in dich aufgenommen.<
>Du meinst, das hat sie getötet? Ich wollte doch nur, dass diese Spannung ganz verschwindet. Dass ich meine Lilly wieder wie früher streicheln konnte.<
>Das tut mir leid für dich, doch so schlimm wie du es im Moment auch noch empfindest, so wertvoll ist diese Erkenntnis auch für dich. Du weißt jetzt, was dazu geführt hat. Darauf können wir aufbauen.<

Kaum, dass sie das gesagt hatte, hielt sie mir auch schon wieder den Schneehasen hin.
>Du willst, dass ich ihn wieder nehme? Aber warum?<
>Ganz einfach. Wenn es dir schon so leicht fällt, dich dem fremden Energiemuster anzupassen, dann musst du jetzt wohl lernen, deine Instinkte zurückzuhalten und nicht in die Energie einzutauchen.<
>Ka-Kann ich denn nicht bitte vorher noch eine kurze Pause haben?<
Sylvia seufzte kurz auf und sah mich eindringlich an.
>Du brauchst keine Pause, sondern Übung. Also stell dich nicht so an und nimm jetzt den Hasen.<
Widerwillig fügte ich mich und nahm das Tier zurück. Sofort spürte ich wie zuvor die kribbelnde Spannung. Doch nicht nur das. Als ob sich etwas in mir an eben dieses Lebewesen erinnern könnte, passte ich mich noch schneller als vorhin wieder an. Das machte mich nur noch nervöser.
>Aber was, wenn ich es nicht schaffe?<, fragte ich unsicher.
>Na, was wird dann wohl sein? Dann ist der Hase tot und du hast ein bisschen mehr Lebensenergie in dir. Aber da das mein Hase ist, wäre es mir recht, du würdest ihn erst einmal am Leben lassen. Also streng dich an.<
Nachdem sie das gesagt hatte, drehte sie sich um und ging zurück ins Haus. Ich blickte ihr noch hinterher und fragte mich kurz, wie sie das mit der Lebensenergie gemeint hatte. Allerdings war es mir kaum möglich, ernsthaft darüber nachzudenken. Viel zu sehr zog die Energie, die ich zwischen meinen Fingern fühlen konnte, meine ganze Aufmerksamkeit auf sich.
>Nicht eintauchen! Nicht eintauchen!<, sagte ich zu mir selbst.

Sekunde um Sekunde wurde der Widerstand schwächer. Schon nach kurzer Zeit war kaum noch etwas von dieser abstoßenden Kraft zu spüren und viel zu schnell war der entscheidende Punkt erreicht. Offen und verletzbar lag die Lebensenergie dieses Geschöpfes in meinen Händen. Ich schluckte schwer, erinnerte mich an Lilly und versuchte mir vorzustellen, dass sie jetzt hier auf meinem Schoß sitzen würde. So, als hätte ich eine zweite Chance bekommen, um es dieses Mal richtig zu machen.
“Nicht eintauchen! Nicht eintauchen!”, wiederholte ich immer wieder dieselben Worte in meinem Kopf.
Ich fühlte die Aura so deutlich. Selbst mit geschlossenen Augen konnte ich die sanften Strahlen sehen. Dieses zarte Licht, das so verführerisch wirkte und geradewegs dazu einlud, in sie hinein zu greifen und sie aufzunehmen. Mein Mund fühlte sich plötzlich trocken an. Ich verspürte ein eigenartiges Verlangen, fast so, als wäre ich durstig und hielt ein Glas mit frischem, kühlem Wasser in meinen Händen. Natürlich war es kein Durst, aber etwas in mir begehrte diese Energie.
“Nur ansehen, Nico. Nur ansehen”, wiederholte ich ständig in Gedanken, als wäre es ein Mantra.
Es fiel mir schwer, mich zurückzuhalten und je länger ich es schaffte, desto verlockender schien die Energie zu werden. Gleichzeitig nahm ich sie aber auch immer klarer wahr. Zum ersten Mal fiel mir auf, dass es kein gleichmäßig leuchtendes Band war, das dieses Tier umgab. Es waren vielmehr unzählige einzelne Strahlen, die dicht aneinander lagen. Ich erkannte kleine Stellen, an denen die Aura stärker leuchtete als an anderen. Bemerkte winzige Schwankungen, die sich wie ganz leichte Wellen auf einer ansonsten ruhigen Wasseroberfläche ausbreiteten und wieder verebbten.
Es war absolut faszinierend und dabei unglaublich anziehend. Ich wollte so gerne meine Hand danach ausstrecken und sie berühren, wobei es im Grunde gar nicht meine Hand war, mit der ich danach greifen wollte. Meine Hände lagen beide direkt auf dem kleinen Hasen. Eine an seiner Seite und eine auf seinem Rücken. Ich spürte sein Fell auf meiner Haut und streichelte es. Es fühlte sich warm und weich an. Ich spürte sogar seinen Herzschlag sanft pochen. Genau das wollte ich doch auch mit meiner Tigerlilly haben, doch hatte ich es damals nicht geschafft. Nein, ich war ohne es zu wissen zu weit gegangen. Einen Fehler, den ich nie wieder begehen wollte. Fest entschlossen konzentrierte ich mich weiter darauf, die Energie nur zu betrachten und das Tier lediglich mit meinen Händen zu berühren.

Ich wusste nicht, wie lange ich schon da saß, vollkommen auf das Geschöpf in meinen Händen und mich selbst konzentriert. Nichts um mich herum nahm ich wirklich wahr, als wäre ich in einer tiefen Meditation versunken. Selbst mein eigenes Licht sah ich nun mit anderen Augen. Von dem Anblick und den Empfindungen war ich wie gefangen.
>Wie ich sehe, lebt der Hase noch<, drang plötzlich Sylvias Stimme zu mir durch.
Überrascht schaute ich zu ihr auf, wobei mir schlagartig schwindlig wurde. Alles fing an sich um mich zu drehen und ich musste mit beiden Händen nach dem Baumstamm greifen, auf dem ich saß.
>Hey, hey, langsam mein Lieber<, sagte sie und griff mit einer Hand nach meinem Nacken, während sie mit der anderen den Schneehasen von meinem Schoß nahm.
In dem Moment, wo sie ihn aus meiner Reichweite heraus nahm und die Verbindung jäh unterbrochen wurde, überkam mich eine extreme Übelkeit. Ich drehte schnell meinen Kopf aus ihrem stützenden Griff, ließ mich zur Seite fallen und schaffte es gerade so, mich auf dem Stamm abzustützen, bevor ich mich hinter ihm übergab. Es war absolut widerlich und ich fühlte mich hundeelend. Es dauerte eine ganze Weile, bis sich mein Magen wieder halbwegs beruhigt hatte.
>Geht es wieder?<, fragte mich Sylvia und berührte mich dabei sanft an der Schulter.
Stöhnend richtete ich mich auf. Mir war noch immer etwas übel und schwindlig. Zu einer Antwort war ich nicht wirklich in der Lage, aber ein Nicken brachte ich zustande.
>Warte einen Moment<, sagte sie und entfernte sich von mir. Ich hörte noch das quietschende Knarren des Weidenkorbs und kurz darauf ihre Schritte auf der Veranda.

Nach kurzer Zeit kam sie wieder und reichte mir einen Becher.
>Hier trink das. Das wird dir gut tun.<
Ich probierte einen Schluck davon. Es schmeckte zwar eigenartig, wenn auch süß, aber es ging mir tatsächlich gleich ein wenig besser.
>Was ist das?<
>Ach, das ist nur Zuckerwasser mit ein paar Kräutern, die ich gesammelt habe. Ist eine alte Angewohnheit von mir. Man weiß nie, wozu man die gebrauchen kann.<
>Danke, das hilft wirklich. ... Ich weiß gar nicht, was da gerade mit mir los war.<
>Das war wohl meine Schuld. Tut mir Leid. Ich hatte nicht damit gerechnet, dass du zu einer so tiefen Verbindung fähig bist. Wenn ich das geahnt hätte, hätte ich dich natürlich nicht aus deiner Trance gerissen.<
>Aus meiner Trance?<, fragte ich verwundert nach.
>So kann man es zumindest bezeichnen. Wenn wir uns auf ein anderes Wesen oder uns selbst voll und ganz konzentrieren, um die Energie zu erforschen und zu beeinflussen, dann gleiten wir in diesen Zustand ab. Der ermöglicht es uns, die Lebensenergie voll und ganz zu erfassen. Nur auf der Grundlage dieser Verbindung können wir unsere Fähigkeiten voll entfalten. Ich bin sehr beeindruckt, dass du dazu jetzt schon in der Lage bist.<
Dass Sylvia von mir beeindruckt war, zauberte sofort ein Lächeln auf mein Gesicht, auch wenn es noch schwach war. Aber das alleine sorgte schon dafür, dass ich mich gleich viel besser fühlte.
>Danke, das ist jetzt irgendwie cool, auch wenn ich keine Ahnung habe, was ich damit anfangen kann.<
>Nun, das kommt alles mit der Zeit. Hab Geduld. Aber das Wichtigste ist für den Moment, dass der Hase noch lebt. Ich finde das ist ein schöner Erfolg für dich, wenn auch keiner, auf dem du dich schon ausruhen kannst. Wir müssen das noch ein paar Mal wiederholen, damit du sicherer wirst. Du musst dich aber nicht jedes Mal gleich in Trance begeben.<
>Jetzt gleich?<, fragte ich unsicher. Die Vorstellung gefiel mir zwar nicht, denn mein Magen schien alles andere als bereit für eine zweite Runde zu sein, doch ich wollte Sylvia nicht enttäuschen.
>Nein, nein. Du machst jetzt erst einmal eine kurze Pause und erholst dich ein bisschen. Komm mit ins Haus.<

Drinnen wies sie mir einen Platz am Esstisch zu und holte noch eine Art Laugengebäck, das sie in einer Holzschale vor mir platzierte. Ich griff auch gleich zu und aß etwas davon, während sie mir noch einen Becher mit dem Kräuter-Getränk zubereitete. Den reichte sie mir dann und setzte sich zu mir.
Mit jedem Schluck und jedem Bissen von dem Gebäck ging es mir Stück für Stück besser. Mein Denken wurde allerdings unverändert von dem gerade Erlebten beherrscht. Das Bild der leuchtenden Aura war noch immer in meinem Kopf. Ich spürte auch nach wie vor die Verlockung, der ich die ganze Zeit widerstehen musste.
>Warum finde ich diese Energie nur so anziehend?<, fragte ich sie frei heraus.
>Wie soll ich das erklären?<, erwiderte sie nachdenklich. >Kannst du mir sagen, warum du gerade etwas isst und trinkst?<
>Na ja, weil du es mir gegeben hast.<
>Das meine ich nicht. Hast du dich schon mal ernsthaft gefragt, warum du Hunger oder Durst hast?<
>Ähm… Weil mein Körper Wasser und Nahrung braucht?<
>Stimmt. Und Lebensenergie braucht er auch. So wie dein Körper immer seine Reserven mit Nährstoffen auffüllen möchte, damit er richtig funktionieren kann, will er auch einen Vorrat an Lebensenergie anlegen.<
>Aber wozu denn? Ich meine, ich kann zwar verhungern oder verdursten, aber wenn ich esse und trinke, dann erhalte ich mich doch auch so am Leben, oder?<
>Das schon, aber irgendwann ist deine Energie aufgebraucht und dann stirbst du wie jedes andere Lebewesen auch, wenn du sie nicht rechtzeitig auffüllst.<
>Hmm...<, gab ich leise von mir und dachte über das nach, was sie gesagt hatte. >Heißt das etwa, dass ich nicht sterben muss, wenn ich es mache? Niemals?<
>Im Prinzip ja. Du kannst natürlich immer noch durch schwere Verletzungen sterben, aber nicht infolge des Alters.<

Bei dem letzten Wort konnte ich nicht anders, als sie genau zu betrachten. Irgendwie wirkten diese Worte aus ihrem Mund merkwürdig. Sie war doch nun wirklich alt, aber sprach davon, nie aufgrund ihres Alters zu sterben. War das denn wirklich erstrebenswert? Immer älter zu werden? Noch war sie ja auf mehr als beeindruckende Weise fit, aber wie lange noch? Und was dann, wenn ihr Körper mehr und mehr versagen würde? Plötzlich fing sie an zu grinsen, was mich total verwirrte.
>Ich glaube, ich weiß ganz genau, was du gerade gedacht hast<, sagte sie schmunzelnd. >Du fragst dich bestimmt, wie lange die alte Oma da noch leben will. Habe ich Recht?<
Ich fühlte mich ertappt und direkt unwohl in meiner Haut. Schlagartig wurde mein Gesicht heiß. Ich wollte wirklich nicht respektlos erscheinen. Die Situation war mir sehr unangenehm, aber ich konnte nicht anders, als bestätigend zu nicken.
>Wusste ich es doch<, verkündete sie triumphierend. >Aber eines hast du dabei nicht bedacht. Nämlich, dass ich so aussehe, weil ich es so will.<
Jetzt war ich erst recht irritiert und schaute sie ungläubig an. Wie meinte sie denn das nun wieder? Konnte sie etwa ihr Aussehen beeinflussen? War das der Grund für ihre außergewöhnlich klaren Augen, die mich gerade schelmisch anfunkelten? Aber warum dann nur die Augen und nicht der ganze Körper? Je mehr ich grübelte, desto breiter wurde ihr Grinsen. Sie war mir wieder einmal ein Rätsel.
>Wenn du das steuern kannst, warum siehst du dann nicht jung aus?<, wollte ich schließlich wissen, denn ich konnte mir keinen Reim darauf machen.
>Weil es so einfacher und unauffälliger ist. Die Menschen schenken einer alten Einsiedlerin weitaus weniger Aufmerksamkeit als einer jungen Frau. Unbeachtet zu bleiben, bringt einige Vorteile mit sich. Aber lange werde ich das Spiel leider nicht mehr durchziehen können. Ich stecke schon zu viele Jahre in dieser faltigen Hülle und das wird dann früher oder später doch bemerkt werden.<
>Heißt das, du machst dich dann einfach wieder jung?<
>Also so einfach ist es nicht, aber ja, ich mache meine Haut wieder jung. Und das ganz ohne Anti-Falten-Creme<, sagte sie mit einem leichten Kichern.
>Nur die Haut?<, fragte ich verwundert nach.
>Ja meinst du denn, der Rest von mir ist auch schon 100 Jahre alt? Ich habe mich nur äußerlich altern lassen. Meine Muskeln und Organe halte ich immer auf höchsten Niveau.<
>Das ist unglaublich. Kannst du mir zeigen, wie das geht?<
>Das, Nico<, sagte sie mit einem leichten Seufzen, >gehört du den Dingen, die jahrelange Übung erfordern. Tut mir leid, aber das kann ich dir nicht so einfach beibringen. Schon gar nicht in dieser kurzen Zeit.<

Irgendwie hatte ich so etwas geahnt, aber es dann tatsächlich zu hören, war doch deprimierend. Aber die Vorstellung, ewig leben zu können, den Körper immer wieder verjüngen zu können, faszinierte mich. Allerdings fragte ich mich, wie alt sie denn nun wirklich war?
>Darf ich dich fragen, wie lange du schon lebst?<
>Warum nicht? Was denkst du denn, wie alt ich bin?<
>Keine Ahnung<, sagte ich sofort.
>Dann rate doch mal.<
>Ich bin ganz schlecht in so etwas<, versuchte ich mich herauszuwinden.
>Na und? Ich verspreche dir, ich werde nicht beleidigt sein. Du kannst mich gar nicht zu alt schätzen.<
>Ach nein?<, erwiderte ich und fühlte mich direkt ein wenig provoziert. >Na gut. Du bist… 500!<
Im ersten Moment fürchtete ich, dass ich es vielleicht ein wenig übertrieben hätte, doch sie grinste nur.
>Ich sagte doch, du wirst mich zu jung schätzen<, meinte sie kichernd und zwinkerte mir zu.
“Wie jetzt?”, dachte ich bei mir. “Ist das ihr ernst?”
>Willst du etwa behaupten, dass du über 500 Jahre alt bist?<
>Oh ja. Sehr viel älter.<
>Aber so alt kann doch kein Mensch werden<, sagte ich ungläubig.
>Stimmt, aber wir schon. Und noch viel älter.<
>Und meine Mutter?<
>Sie auch, Nico. Wir wurden beide schon vor ein paar tausend Jahren geboren.<
>Ein paar tausend!?<, wiederholte ich diese unglaubliche Zahl.
>Ich kann es dir gar nicht genau sagen. Es spielte auch kaum eine Rolle bei unserem Volk. Wir haben unsere Lebensjahre nicht gezählt. Das Bewusstsein bezüglich des Laufs der Zeit kam mir erst viel später, als ich mehr unter Menschen lebte.<

Ich konnte kaum glauben, was sie da sagte. Doch warum sollte sie mir auch etwas vormachen und mich belügen? Aber konnte das wirklich stimmen? Konnte meine Mutter, die doch so jung aussah, in Wahrheit schon so lange gelebt haben?
>Da habe ich dir wohl ganz schön was zu knabbern gegeben<, meinte Sylvia zu mir. >Vielleicht solltest du dir den Hasen schnappen und ein bisschen mit ihm durch den Wald spazieren, um in Ruhe darüber nachzudenken. Das ist dann auch gleich eine gute Übung für dich.<
Etwas missmutig sah ich sie an. Mir war nicht wirklich nach einer weiteren Trainingseinheit, doch vermutlich hatte sie Recht. Mein Magen hatte sich inzwischen auch wieder beruhigt. Ich erhob mich mit einem Seufzen von meinem Platz, nickte ihr zu und ging in Richtung Tür.
>Er ist unter dem Weidenkorb<, sagte sie noch schnell. >Und vermeide es erst einmal eine Verbindung aufzubauen. Falls doch, dann versuche zumindest, dich langsam aus ihr zu lösen.<
>O.K.<, gab ich noch kurz zurück und ging dann nach draußen.
Ich hob den großen, schweren Weidenkorb an und holte das Tier darunter hervor. Der Schneehase hielt ganz still. Weder wehrte er sich, noch versuchte er wegzurennen. Sofort spürte ich bei der Berührung auch wieder sein Kraftfeld, das sich fast knisternd an meiner Aura rieb. Der Kontakt war erneut unangenehm, doch etwas war anders, hatte sich verändert. Trotz der Verlockung, die ich spürte, machte es mir diesmal keine Angst. Ich wusste, dass ich ihr widerstehen konnte.

Wie Sylvia mir empfohlen hatte, spazierte ich mit meinem kleinen Begleiter auf meinem Arm durch den Wald. Die unberührte Natur um mich herum war beeindruckend schön. Die Bäume, Sträucher und Gräser wirkten so gesund und kräftig. Sie alle schimmerten intensiv in ihrem eigenen Licht. Auch die Luft hatte ein unglaublich starkes Aroma, was vermutlich an den heftigen Regenfällen der vergangenen Nacht lag. Hier und da waren auch noch kleine Reste von Nebelschwaden zu sehen. Ein wunderbarer Ort, um nachzudenken und jeder Atemzug half mir dabei.
Die Vorstellung, meine Mom könnte schon seit Jahrtausenden leben, machte mir allerdings schwer zu schaffen. Das war einfach kaum zu glauben. Und doch musste ich mich selbst fragen, ob ich nicht schon einige Beweise dafür selbst in meinen Händen gehalten hatte. Ihr Tagebuch, das in einer so fremdartigen Schrift geschrieben war? Die Holzkassette mit der Darstellung einer antiken Stadt, die sie als ein Stück Heimat bezeichnet hatte? Dann ihre Fähigkeit zu heilen, von der mir Dad berichtet hatte? Und hatte er mir nicht auch davon erzählt, dass sie ihm selbst gesagt hatte, sie könne die Lebensenergie von anderen aufnehmen, um ihr eigenes Leben zu verlängern?
All das passte genau zu dem, was Sylvia mir gesagt hatte. Es musste einfach wahr sein, auch wenn es so unbegreiflich klang. Doch letztlich deckte es sich auch mit dem, was ich gerade selbst in diesem Moment erlebte. Ich spürte die Lebenskraft in diesem Hasen ganz deutlich. Sah sie mit eigenen Augen. Fühlte sie auf meiner Haut. Ich wusste nur zu gut, dass ich sie mir jetzt einfach nehmen konnte und ein Teil von mir verlangte danach, es zu tun. Wie das mein eigenes Leben allerdings verlängern sollte, konnte ich mir nicht erklären. Was musste man dazu noch machen? Wie funktionierte das genau? Vermutlich gehörte das auch zu den Dingen, die jahrelange Übung erforderten.

Ich wanderte schon geraume Zeit durch den Wald und befand mich bereits auf dem Rückweg, als ich plötzlich das entfernte Heulen eines Wolfes vernahm. Das überraschende Geräusch ließ mich kurz zusammenzucken und riss mich aus meinen Gedanken. Ein eiskalter Schauer rauschte über meinen Körper und hinterließ eine Gänsehaut. Ich hatte die letzte Begegnung mit Sylvias Wölfen nicht vergessen und eine weitere hätte mir jetzt gerade noch gefehlt. Ob die mich angreifen würden, wenn sie nicht in der Nähe war? Hätte ich überhaupt eine Chance gegen das Rudel? Das gehört definitiv zu den Dingen, die ich garantiert nicht herausfinden wollte. In mir stieg ein ziemlich mulmiges Gefühl auf und ich beeilte mich, zur Hütte zurück zu gelangen.
Mein kleiner Weggefährte hingegen schien das ganz gelassen hinzunehmen und zeigte keine Reaktion. Der Hase schmiegte sich unverändert an mich und ließ sich streicheln, als wäre er zahm und nicht erste heute Morgen eingefangen worden. Ich war direkt froh, dass ich ihn bei mir hatte. Nicht etwa, weil ich ihn zur Ablenkung den Wölfen vor die Füße hätte werfen können. Vielmehr beruhigte es mich, seinen warmen Körper an meiner Brust und den Armen zu spüren.
Unterwegs suchte ich den Waldrand nach Wolfsaugen ab, die mich vielleicht beobachteten, doch ich entdeckte keine. Hatte Sylvia nicht auch gesagt, die Wölfe würden ihre Rentiere bewachen? Dann müssten sie doch wirklich gut ausgebildet sein. Ähnlich wie Schäferhunde. War es da nicht eher unwahrscheinlich, dass sie mich angreifen würden? Bei dem Gedanken war mir etwas wohler zumute, aber entspannt war ich noch lange nicht. Erst als ich bei der Hütte ankam, atmete ich erleichtert durch.
Aus dem Kamin stieg Rauch auf und ich nahm direkt einen leckeren Duft wahr. Offensichtlich hatte meine Gastgeberin etwas zum Mittagessen zubereitet. Ich freute mich schon darauf, wieder etwas Neues kosten zu dürfen. Den Schneehasen platzierte ich schnell wieder unter dem Weidenkorb. Dort lagen inzwischen ein paar frische Gräser und Kräuter für ihn bereit, die er sich gleich schmecken ließ. Ich wünschte ihm einen guten Appetit und ging dann gleich ins Haus.

>Du kommst genau richtig<, begrüßte mich Sylvia, die gerade gebratenes Fleisch auf zwei Teller legte. >Dann hast du Taira wohl gehört.<
>Taira?<, wiederholte ich den Namen und schaute mich um, ob noch jemand hier war. Doch ich konnte niemanden entdecken.
>Sie ist eine junge Wolfsdame. Sehr schlau und gelehrig. Ich habe sie gebeten, nach dir zu rufen.<
>Ach, das war der Grund für das Wolfsgeheul<, stellte ich fest. >Das hat mich ehrlich gesagt ein bisschen erschreckt.<
>Erschreckt?<, fragte sie verwundert nach.
>Na ja, ich erinnerte mich an unsere erste Begegnung gestern. Da schienen sie mir nicht sehr freundlich gesonnen zu sein.<
>Ach natürlich, das hatte ich nicht bedacht. Tut mir leid. Aber sei unbesorgt. Von meinen Wölfen droht dir keine Gefahr mehr. Sie wissen, dass du mein Gast bist. Das Essen ist auch gleich fertig. Hier in der Schüssel kannst du deine Hände waschen.<
>Der Hase schien das geahnt zu haben<, erzählte ich, während ich mir die Hände säuberte. >Der war ganz ruhig und entspannt. Überhaupt war der richtig zahm.<
>Kein Wunder<, meinte sie mit einem Lächeln. >Ich habe ja auch seinen Fluchtinstinkt abgeschaltet. Du sollst schließlich den Einsatz deiner Fähigkeit trainieren und nicht die Hasenjagd.<
>So etwas kannst du?<
>Ja, kann ich. Das ist sehr hilfreich, wenn man sich mit der Haltung von Wildtieren beschäftigt.<
>Ist ja unglaublich<, gab ich bewundernd von mir.
Sylvia trug die Teller zum Esstisch und ich folgte ihr. Das Gericht sah wirklich lecker aus. Neben dem gebratenen Fleisch gab es auch einen Gemüsebeilage und einen Salat.
>Ist das Rentier?<, fragte ich, nachdem ich einen Bissen probiert hatte.
Der Geschmack erinnerte mich etwas an das Elchfleisch, das ich in Kiruna probiert hatte, war aber doch anders.
>Ja, das ist der Rest, den ich noch eingelagert hatte. Ich hoffe, es schmeckt dir trotzdem.<
>Ist sehr gut, danke.<

>Wie war denn dein Spaziergang?<, fragte sie mich nach einer Weile. >Ich nehme an, dem Hasen geht es gut?<
>Ja, der ist wohlauf. Es ist wirklich unglaublich. Ich meine, ich spüre nach wie vor seine verlockende Energie, aber jetzt, da ich weiß worauf ich achten muss, empfinde ich es nicht mehr als so bedrohlich. Mir ist natürlich klar, dass ich immer aufpassen muss, nicht versehentlich doch einzutauchen. Aber ich habe das Gefühl, das gut im Griff zu haben. Ich bin dir wirklich sehr dankbar, dass du mir das gezeigt hast.<
>Also so viel habe ich dir nun wahrlich noch nicht beigebracht. Wenn das Wissen um Anwendungsmöglichkeiten unserer Fähigkeit so groß und tief wie ein Ozean ist, dann habe ich dir gerade mal gezeigt, dass das Wasser darin nass und salzig ist.<
>Dann habe ich wohl noch einen langen Weg vor mir, bis ich ein Tiefseetaucher werde<, stieg ich auf ihr Beispiel ein, was uns beide kurz auflachen ließ. >Mir ist schon bewusst, Sylvia, dass ich wirklich nicht viel weiß. Ich bin weit davon entfernt, irgendetwas beeinflussen zu können. Ich verstehe ja noch nicht einmal, was es mit dieser Aura auf sich hat, woher das Leuchten kommt und warum ich die Energie fühlen kann.<
>Lass mich einmal versuchen, ob ich dir das einfach erklären kann. Die Lebensenergie steckt in jeder einzelnen Zelle und bildet mit dieser eine Symbiose. Da alle Zellen eines Körpers eine Einheit bilden, stellt auch die Energie eine Einheit dar. Und so wie die Zellen ihre Nährstoffe teilen und für Ausgleich sorgen, so verteilt sich auch die Lebensenergie gleichmäßig. Stell dir nun eine einzelne Körperzelle wie einen kleinen Staudamm vor, in dem der Energievorrat gespeichert ist. Unten befindet sich eine Turbine an dem Damm, die von dem Wasser angetrieben wird. Das, Nico, ist das Leben. Solange sich die Rädchen in der Turbine drehen, lebt die Zelle. Die so verbrauchte Energie ist die Aura, die du leuchten siehst. Wenn du dich konzentrierst, kannst du die Verbindung dazu nutzen, direkt auf einen einzelnen Staudamm zuzugreifen. Auf diesem Weg kannst du die Zelle beeinflussen und verändern. Jede einzelne für sich.<

Ich ließ ihre Worte auf mich wirken und tatsächlich hatte ich ein Bild im Kopf, das mir das Ganze irgendwie verständlicher machte.
>Ich glaube, ich verstehe, was du meinst. Aber es klingt… nun ja, schwierig, jede Zelle einzeln zu beeinflussen.<
>Das ist es auch<, sagte sie schmunzelnd. >Es dauert nicht ohne Grund viele Jahre, das zu erlernen. Doch zu wissen, wie man eine Zelle beeinflussen kann, ist noch gar nichts. Das ist so, als hättest du gelernt, eine Harfenseite anzuschlagen. Um die Harfe aber richtig spielen zu können, musst du noch viel mehr wissen und die Zusammenhänge verstehen. Du musst erkennen, was genau du bewirken kannst und wo du es tun musst. Doch wie bei allem, das man erlernt und übt, wird es mit der Zeit immer einfacher und läuft dann wie von selbst. Als kleines Kind musstest du doch auch lernen, wie man aufrecht geht. Langsam und ganz bewusst hast du einen Fuß vor den anderen gesetzt. Du warst wackelig und unsicher. Bestimmt bist du am Anfang auch oft hingefallen. Doch nun musst du dich nicht mehr darauf konzentrieren, zu gehen oder zu laufen oder zu rennen. Du hast das alles jahrelang trainiert und kannst es nun praktisch automatisch. Du setzt nur noch einen Impuls. Der Rest läuft praktisch von alleine.<
>Wie war das bei dir? Musstest du das auch alles Schritt für Schritt lernen?<
>Selbstverständlich. Auch das, was für dich so einfach ist, musste ich erst erlernen.<
>Was für mich einfach ist? Was meinst du?<
>Ich meine den Zugriff auf die Lebensenergie um sie aufzunehmen. Das, was bei dir scheinbar automatisch passiert, wenn du eintauchst. Du bist da wohl ein Naturtalent. So war das am Anfang bei mir nicht. Ich musste es erst lernen. Im Grunde ist es eine List, die man hier anwendet. Indem man seine Energie der des anderen Körpers angleicht, gaukelt man ihm vor, ein Teil von ihm zu sein. Gleichzeitig täuscht man ihn damit, dass man keine Lebensenergie mehr hätte. Das führt dazu, dass die fremde Lebensenergie blitzschnell herüber strömt, in dem Bestreben, für Ausgleich zu sorgen. Einen Ausgleich, den es aber nicht gibt. Es wirkt eher wie ein Dammbruch. So wird die fremde Energie vollständig in deinen Körper eingegliedert und das andere Wesen stirbt.<

>Das klingt jetzt irgendwie gemein<, sprach ich direkt aus, was mir dabei durch den Kopf ging.
>Gemein? Nein, in Wahrheit ist das sehr human. Diese Art zu töten ist sehr sanft und das Opfer spürt keinen Schmerz. In früheren Zeiten, bevor unser Volk diese Methode erlernt hatte, wurde auf herkömmliche Weise getötet. Wenn man ein Lebewesen zum Beispiel tödlich verletzt, wird die ganze verbliebene Energie auf einmal freigesetzt und kann von uns automatisch aufgefangen werden. Allerdings geht dabei viel Energie verloren. Sie strahlt nach allen Seiten ab und aufgefangen wird nur, was direkt in die eigene Richtung fließt. So mussten viel mehr Lebewesen getötet werden, um die gleiche Menge an Energie zu bekommen.<
>Das hört sich ja schrecklich an<, sagte ich leicht geschockt.
Ich wollte mir gar nicht vorstellen, wie man ein Tier nach dem anderen tötete, nur um an ein bisschen Lebensenergie zu kommen.
>Gemessen an heutigen Moralvorstellungen und gesellschaftlichen Werten war es das auch, aber die damalige Welt hatte eine andere Sicht auf diese Dinge. Die allerersten unserer Art bemerkten irgendwann, dass diejenigen, die auf die Jagd gingen oder in Kämpfen töteten, deutlich länger lebten als andere. Als sie sich des Zusammenhangs bewusst wurden, war der Weg unseres Volkes vorprogrammiert. Zu töten, um sich zu ernähren, war schon immer bei uns und den Menschen ganz normal und ist es auch heute noch. Leben und Tod gehören nun mal zusammen, so wie auch ein Rentier sterben musste, damit wir sein Fleisch essen konnten. Aber damals ging es bei unseren Vorfahren noch sehr viel weiter. Je mehr man tötete, desto länger lebte man. Und je mehr Lebensenergie das getötete Wesen hatte, desto stärker war der Effekt. Ich bin mir sicher, du kannst dir vorstellen, was das für Folgen hatte.<

Ich nickte ihr mit angespannter Miene zu. Natürlich konnte ich mir das ungefähr vorstellen. Es gefiel mir jedoch nicht, Teil eines Volkes zu sein, das rücksichtslos mordete, um die eigene Existenz zu verlängern. Andererseits wusste ich aber aus dem Geschichtsunterricht nur zu gut, dass auch die Menschheitsgeschichte voller Gräueltaten bis hin zum Völkermord war. Nur töteten diese aus anderen Motiven.
>Nikiforos hatte einmal zu Penelope und mir gesagt, dass bei allen Grausamkeiten, die unser Volk begehen würde, ab und zu auch etwas Gutes dabei herauskommen würde.<
>Etwas Gutes?<
>Ja, genau das hatte ich auch erwidert<, sagte sie schmunzelnd. >Er meinte darauf nur “Ihr beide zum Beispiel”.<
>Das hört sich gut an. Er hatte euch wohl sehr gerne gehabt.<
>Vermutlich hatte er das. Deine Mutter sicherlich mehr als alle anderen, doch ja, er mochte uns. Dich hätte er sicherlich auch gemocht, wo du ihr doch so ähnlich bist. Aber seine Botschaft beinhaltete mehr als das. Sie machte uns deutlich, dass unser Volk auch einiges vollbracht hatte, worauf man stolz sein konnte. Die lange Lebensdauer führte dazu, dass manche unter uns Großartiges leisteten. Stell dir vor, ein Leonardo da Vinci hätte tausend Jahre leben können. Was hätte er wohl alles erforscht und erfunden? Oder welche Werke hätte ein Shakespeare schaffen können, hätte er solch eine Lebensspanne besessen? So war das auch bei unserem Volk. Wir errichteten schon Häuser aus Stein, als die Menschheit gerade angefangen hatte, in Lehmhütten zu siedeln. Unsere Heimat war auch ein Ort der Kultur und der Kunst.<

Spontan erinnerte ich mich an die Schatulle, in der ich das Buch und den Schlüssel gefunden hatte.
>Von meiner Mom habe ich zu Hause noch eine Holzkassette, auf der Schnitzereien zu sehen sind, die eine antike Stadt darstellen. Dad sagte mir, dass sie die als ein Stück Heimat bezeichnet hätte.<
>Ach, die existiert noch?<, sagte Sylvia überrascht.
>Du weißt, was ich meine?<
>Natürlich. Ich hatte sie selbst gemacht.<
>Wow! Du hast die geschnitzt? Die ist echt großartig.<
>Nun ja, so ganz detailgetreu war sie wohl nicht. Man kann die Schönheit der Stadt auch unmöglich in einem Stück Holz festhalten.<
>Ihre Schönheit?<
>Oh ja. Sie war überwältigend. Die meisten Häuser waren aus reinstem Marmor errichtet und viele hatten prunkvolle Verzierungen aus Perlmutt und Edelsteinen. Du kannst dir nicht vorstellen, wie wundervoll Vitara im Licht der untergehenden Sonne ausgesehen hat.<
>Vitara? Ist das der Name der Stadt?<
>Das ist mehr als nur der Name unserer Heimat. Du musst wissen, in unserer Sprache hat ein Wort mehr Bedeutung, als nur eine Bezeichnung. Manche Wörter erzählen eine ganze Geschichte. Deshalb dauert es auch länger als ein Menschenleben, unsere Sprache zu erlernen. Der Begriff “Vitara” steht für alles, was unsere Heimat ausgemacht hat.<
>Und wo liegt diese Heimat?<
>Sie ist vernichtet, Nico. Der Berg, an den sich unsere Stadt so sorglos gekuschelt hatte, war ein schlummernder Vulkan. Wenn wir das geahnt hätten, wäre Vitara niemals dort aufgebaut worden. Doch obwohl unser Volk im Vergleich zu den Menschen unglaublich weit fortgeschritten und seiner Zeit weit voraus war, waren wir doch eine antike Gesellschaft. Wir hatten keine Ahnung, was da in der Erde unter unseren Füßen brodelte. Schließlich zerstörte der Vulkan vor vielen Jahrtausenden die Insel ohne Vorwarnung in einer gewaltigen Explosion und tötete jeden, der sich zu der Zeit dort aufhielt. Penelope und ich waren damals auf einer Forschungsreise mit Nikiforos. Wir hatten einfach Glück gehabt, aber der Großteil unseres Volkes war tot. Viele hunderttausend Leben waren ausgelöscht. Eine ganze Zivilisation mit all ihrer Kultur war einfach vernichtet. Danach war nichts mehr so wie früher.<

Sylvias Stimme hatte sich verändert, während sie von ihrer Heimat erzählte. Zum Ende hin wirkte sie immer deprimierter und auch in ihren Augen konnte ich Trauer erkennen. Wie viel musste ihr Vitara bedeutet haben, wenn sie selbst nach Jahrtausenden noch trauerte? Was mag sie da alles verloren haben? Ihr Zuhause? Ihre Familie? Ihre Freunde? Ich hätte ihr gerne etwas Trost gespendet, aber ich wusste weder, was ich sagen, noch, was ich tun sollte. Mir blieb nichts anderes übrig, als einfach abzuwarten. Nach kurzem Schweigen schien sie auch wieder gute Miene zum bösen Spiel machen zu wollen und setzte ein nicht sehr überzeugendes Lächeln auf.
>Ich denke, es ist jetzt genug mit dem Schwelgen in alten Erinnerungen. Du hast noch ein bisschen Training vor dir. Ich möchte, dass du nun übst, die Verbindung einzugehen und dich dann wieder langsam aus ihr zu lösen.<
>Also das Gleiche, was ich heute Morgen gemacht habe?<
>Fast das Gleiche. Nur diesmal ohne Übergeben<, meinte sie mit einem schon echter wirkenden Lächeln, das ich gerne erwiderte, obwohl sich mein gefüllter Magen bei dem Gedanken an das letzte Mal etwas zusammenzog.
>Musstest du mich jetzt daran erinnern? Ich habe doch gerade gegessen<, sagte ich etwas gequält.
>Dann sorge dafür, dass alles in deinem Bauch bleibt. Ich will dich schließlich nicht umsonst bekocht haben. Also gehe in die Verbindung, erforsche die Aura des Hasen und sieh dir die Energie an, die in jeder einzelnen Zelle steckt. Aber löse dich immer wieder langsam. Sei einfach behutsam. Aber für alle Fälle mache ich dir noch einen Aufguss mit den Kräutern.<
>O.K., ich werde es versuchen.<

Ich ging wieder nach draußen und holte den Hasen aus seinem Weidenkorbkäfig. Im ersten Moment spürte ich wieder das unangenehme Prickeln, als sich unsere Kraftfelder berührten. Es dauerte aber nicht lange, bis ich mich angepasst hatte. Ob das normal war, dass das immer schneller zu gehen schien? Gewöhnte man sich mit der Zeit an eine bestimmte Aura?
Der Gedanke machte mir Mut. Wenn dem so war, würde ich vielleicht bald keine Probleme mehr damit haben, meinen Dad oder meine Freunde zu berühren. Natürlich müsste ich immer aufpassen, dass ich nicht versehentlich doch in die Aura eintauchen würde, aber bei dem Schneehasen hatte ich das bis jetzt gut hinbekommen. Auch wenn die Lebensenergie immer eine verlockende Anziehungskraft hatte, so konnte ich ihr doch widerstehen. Andererseits war sie aber nicht so stark wie die eines Menschen. Wenn ich nur an die Energie von Kassandra dachte, würde mir schon mulmiger zumute.
Kassandra… Alleine für sie würde ich alles Mögliche auf mich nehmen, nur um die Chance zu bekommen, mit ihr zusammen sein zu können. Ich hatte es in letzter Zeit so oft vermieden, an sie zu denken. Es war einfach zu schmerzhaft gewesen, zu wissen, dass ich noch nicht einmal ihre Hand hätte halten können. Immer hatte ich sie aus meinem Bewusstsein geschoben, obwohl ich wusste, sie würde nicht lange fern bleiben. Doch jetzt hatte sich etwas verändert. Ich hatte Hoffnung. Jetzt begrüßte ich sie mit einem Lächeln, wenn sie in meinen Gedanken zurückkehrte.
Doch war ich wirklich schon bereit für sie? Der Energie eines kleinen Tieres konnte ich wohl widerstehen, aber wie würde es mir bei Kassandra ergehen? Schon immer hatte ihre Aura eine unglaublich heftige Wirkung auf mich. Nein, ich war wohl noch nicht wirklich weit genug. Auf jeden Fall war ich nicht bereit, etwas zu riskieren, bevor ich mir nicht absolut sicher war.
Für den Moment bedeutete das, genau die Übungen zu machen, die Sylvia von mir wollte. Ich hatte nur noch zwei Tage und die musste ich nutzen. Jetzt war einfach nicht der richtige Zeitpunkt, um in Träumen zu wandern. Dennoch, die Aussicht, ihr vielleicht schon bald nahe sein zu können, jagte mir ein angenehmes Kribbeln vom Kopf bis in die Fingerspitzen.

Mit dem Schneehasen auf dem Arm ging ich ein wenig spazieren, auf der Suche nach einer netten Sitzgelegenheit. An dem Baumstamm, auf dem ich heute Morgen gesessen war, hafteten noch zu frische unangenehme Erinnerungen. Für einen neuen Versuch wollte ich lieber einen neuen Platz haben.
Nicht weit vom Haus entfernt in der Nähe des Baches wurde ich fündig und setzte mich dort auf einen größeren Stein. Die Luft war hier durch das Wasser sogar noch ein bisschen frischer, als sie in dem Wald ohnehin war. Das sanfte Plätschern wirkte sehr entspannend und der leichte Wind ließ hier und da ein paar Blätter leise rascheln. Auch das Gezwitscher von ein paar Vögeln war zu hören. Die Sonne wurde kaum von den vorbeiziehenden Wolken verdeckt und lud dazu ein, sich ihr mit geschlossenen Augen zuzuwenden. Ich genoss die wärmenden Strahlen auf meinem Gesicht und kraulte gedankenverloren in dem weichen Fell meines kleinen Begleiters. Mein Atem wurde dabei wie von selbst langsamer und tiefer. Ich nahm die angenehmen Gerüche der Natur in mich auf und entspannte mehr und mehr. Hier und jetzt fühlte ich mich absolut wohl in meiner Haut und genoss den Augenblick.
Doch je mehr ich mich in der Entspannung verlor, desto stärker drang die eine besondere Wahrnehmung in den Vordergrund. Fast unmerklich schien dabei die Welt um mich herum zu verblassen, als wäre sie völlig unbedeutend. Als gäbe es nichts Wichtigeres als diese eine Sache. All meine Sinne schienen sich auf die leuchtende Energie zu konzentrieren, die ich auch jetzt wieder mit geschlossenen Augen sehen konnte. Sie war so faszinierend schön und anziehend. Wie schon heute Morgen verspürte ich wieder den Wunsch, in sie einzutauchen. Doch ich wusste ganz genau, dass ich das nicht durfte. Nur ansehen und bewundern.

Ich erinnerte mich an die Anweisungen von Sylvia, wonach ich mir das Leben, das in jeder einzelnen Zelle steckte, genauer ansehen sollte. Mir war nur nicht ganz klar, wie ich das machen konnte. Ich erkannte zwar die vielen kleinen Lichtstrahlen, die sich zu dieser schimmernden Aura vereinigten, aber den Ursprung zu ergründen, erwies sich als äußerst schwierig. Es kam mir so vor, als würde man versuchen, das Bild eines hochauflösenden Monitors nicht als Ganzes, sondern jeden Pixel einzeln wahrnehmen zu wollen. Vermutlich müsste ich dazu einfach nur näher heran gehen, doch genau davor hatte ich Angst.
Mein Herzschlag beschleunigte sich und ich hörte mein Blut in meinen Ohren rauschen. Nein, ich wollte im Moment nicht weiter gehen. Hatte Sylvia mir nicht auch aufgetragen, die vorsichtige Trennung aus der Verbindung zu trainieren? Dies schien mir jetzt die bessere Idee zu sein. Langsam versuchte ich mich zurückzuziehen. Ich bemerkte, dass sich mein Oberkörper dabei aufrichtete, aber diese physische Aktion bewirkte nichts. Ich fühlte die Lebenskraft noch immer viel zu deutlich. Wie sollte ich denn meine Aufmerksamkeit von ihr ablenken können? Sie war doch so anziehend und schön. Ich könnte noch nicht einmal den Blick vor ihr abwenden, denn meine Lider waren ja schon fest geschlossen.
Bei dem Gedanken öffnete ich spontan blinzelnd die Augen. Als hätte ich damit das Tor zu Welt wieder aufgestoßen, strömen die ganzen ausgeblendeten Wahrnehmungen wieder auf mich ein. Zum Anblick des Baches gesellte sich auch wieder das Plätschern des Wassers in meinen Ohren. Die leicht schwingenden Zweige der Sträucher und Büsche vereinigten sich mit dem Gefühl einer frischen Brise auf meiner Haut. Ganz bewusst atmete ich tief durch und spürte in meinem Magen, dass ich auf dem richtigen Weg war. Dem schien das aber nicht wirklich zu gefallen und er ließ mich einen leichten Anflug von Übelkeit spüren. Doch zum Glück wurde es nicht schlimmer.
Ich fühlte nun auch immer deutlicher die Kälte des Steins, auf dem ich saß. Sie kroch mir den Rücken hinauf und verbreitete das unerfreuliche Gefühl einer Verspannung. Es war so unangenehm, wie das zu schnelle Aufwachen aus einem Traum, wenn Arme und Beine noch wie gelähmt waren. Mein Körper lechzte in diesem Moment geradezu nach Bewegung und ich erhob mich langsam. Den Hasen setzte ich neben mir auf den Boden und ging ein paar Schritte zum Bachufer.
Der Kontakt war jetzt endgültig unterbrochen und ich fühlte mich halbwegs gut dabei. Im Vergleich zu heute Vormittag ging es mir sogar blendend. Mit verschränkten Fingern streckte ich die Arme über den Kopf, bog sie nach hinten und stellte mich auf die Fußballen. Die Dehnung tat gut und fühlte sich belebend an. Danach lockerte ich mich etwas und füllte meine Lungen intensiv mit der frischen Luft. Kühl drang sie in mich ein, was sich auch auf meinen Magen beruhigend auswirkte.

Nach ein paar weiteren Lockerungs- und Dehnübungen schaute ich mich wieder nach dem Hasen um. Der saß unweit der Stelle, wo ich ihn hingesetzt hatte und ließ sich saftige grüne Gräser im Schatten einer kleinen Baumgruppe schmecken. Ich ging zu ihm und nahm ihn auf den Arm. Kurz fühlte ich erneut die kribbelnde Spannung, die jedoch auch dieses Mal schnell wieder verschwand. Dann war da fast nur noch das Gefühl von weichem Fell und angenehmer Wärme.
Er lag wieder völlig ruhig an meiner Brust und ließ sich streicheln. Da war keine Gegenwehr bei ihm zu spüren. Kein Hauch von Scheu. Er hatte noch nicht einmal einen kleinen Hopser gemacht, als ich ihn hochgehoben hatte. Wie hatte Sylvia das nur angestellt? Wie war es überhaupt möglich, den Fluchtinstinkt eines Tieres abzuschalten? Musste sie dafür nicht das Gehirn manipulieren? Was konnte sie denn noch alles auf diesem Weg bewirken? Konnte sie das auch bei Menschen?
Die Vorstellung, welche Macht einem diese Fähigkeit verlieh, war beängstigend. Was könnte man einem Lebewesen nicht alles antun, wenn man sein Gehirn unter Kontrolle hätte?
Mir kam der Spruch eines Geschichtslehrers in den Sinn, der einmal im Unterricht zitiert hatte “Macht korrumpiert und absolute Macht korrumpiert absolut.” Hatte das mit dem zu tun, was Sylvia über ihr Volk erzählt hatte? Über “unser” Volk? Hatte diese Macht dazu geführt, dass sie so grausam wurden?
Aber so, wie Sylvia lebte, völlig abgeschieden und auf sich alleine gestellt, wollte sie diese Überlegenheit sicherlich nicht missbrauchen. Vermutlich hatte sie das nur im Interesse des Hasen getan. Ansonsten wäre das alles hier sicherlich ein furchtbar stressiges, um nicht zu sagen, grauenvolles Erlebnis. So aber konnte er die Situation ganz gelassen hinnehmen und sie vielleicht sogar genießen.

Mit meinem entspannten Trainingspartner auf dem Arm spazierte ich eine Weile durch den Wald, bis sich mein Magen wieder vollständig beruhigt hatte. Dann lehnte ich mich an einen Baumstamm und versuchte erneut über die Verbindung den Ursprung der kleinen Strahlen, aus denen die Aura bestand, zu erforschen. Es gelang mir ganz gut, die einzelnen dünnen Fäden zu erkennen und zu unterscheiden, doch ich wagte es nicht, ihnen bis zur Zelle zu folgen. Je näher ich kam, desto mehr fürchtete ich, zu weit zu gehen.
Ich versuchte es mehrmals, doch brach ich die Verbindung immer wieder ab, bevor etwas passierte. Es war enttäuschend, dass ich diese Aufgabe nicht meistern konnte. Das einzig Positive, das ich den Übungen abgewinnen konnte, war die abnehmende Übelkeit. Ein schwacher Trost.
Gerade als ich erneut einen Versuch deprimiert abgebrochen hatte, kam Sylvia vorbei. Bisher hatte ich das, was sie von mir erwartet hatte, immer gut hinbekommen, aber diesmal gelang es mir nicht. Ich hasste den Gedanken, sie enttäuscht zu haben. Das machte mir im Augenblick mehr zu schaffen, als die Tatsache, dass es mir nicht gelingen wollte.

>Was ist los, Nico? Du siehst etwas niedergeschlagen aus.<
>Es klappt nicht<, sagte ich mit hängendem Kopf und streichelte dabei dem Schneehasen über sein graubraunes Fell.
>Ach, so schlimm ist das jetzt auch wieder nicht. Aber warum hast du dir denn nichts von dem Kräuteraufguss geholt, wenn dir immer übel wird?<
>Nein, das ist es nicht. Das mit dem Lösen hat ganz gut funktioniert. Es ist das Erforschen der Lebensenergie, was ich nicht kann.<
>Nun ja, dann musst du das eben noch weiter üben, bis du den Strahlen in das leuchtende Zentrum der einzelnen Zellen folgen kannst.<
>Ich verstehe das schon, aber ich traue mich nicht näher heran.<
>Du traust dich nicht?<, fragte sei verwundert.
>Es ist so schwierig. Ich habe Angst, dass ich zu weit gehe und einen Fehler mache.<
>Das ist sehr unwahrscheinlich. Die Verbindung ist anders. Du wirst es sehen, wenn du es machst.<
>Aber ich will dem Hasen nicht schaden. Wenn etwas schief geht, töte ich ihn vielleicht.<
>Das wird nicht passieren. Falls doch ist es auch nicht schlimm. Letzten Endes ist er genau dafür da.<
>Was? Aber du hast doch gesagt, ich soll ihn nicht töten.<
>Das war heute Morgen, Nico. Jetzt solltest du seine Energie erforschen. Danach hat er seinen Zweck erfüllt.<
>Seinen Zweck? Was meinst du damit?<
>Na, der Hase ist fest für das morgige Mittagessen eingeplant.<
>Mittagessen? … Du willst ihn umbringen?<
>Nicht ich… Du!<
>Ich? Niemals!<, rief ich entsetzt.
Sylvia stöhnte auf und rollte mit den Augen. Ich verstand die Welt nicht mehr. Das konnte sie doch unmöglich von mir verlangen. Das ging mir viel zu weit. Sie wusste doch, dass ich mich selbst dafür hasste, dass ich meiner Lilly das angetan hatte. Wie konnte sie nur auf die Idee kommen, so etwas von mir zu verlangen?

>Jetzt hör mir mal zu<, sprach sie mich mit leicht verärgerter Stimme an. >Du bist zu mir gekommen, um den Umgang mit unserer Fähigkeit zu lernen. Anderen die Lebenskraft zu entziehen gehört zu unserer Existenz dazu. Ohne das kannst du nicht überleben.<
>Ich will das aber nicht. Ich will niemanden töten.<
>Himmel, du bist genauso störrisch wie deine Mutter, aber auch du wirst wie sie einsehen müssen, dass es nicht anders geht. Oder willst du dein Leben an den schrecklichsten Orten dieser Welt verbringen? Dort, wo Menschen wie Fliegen sterben? Dort, wo die Energie ohne dein Zutun von allen Seiten in dich strömt? Glaube mir, ab und zu einem Tier den sanften Tod zu schenken ist da die weitaus bessere Lösung. Wenn Penelope jetzt hier wäre, würde sie dir das auch sagen. Niemand weiß es besser als sie, denn sie hat es versucht.<
Unsicher schaute ich sie an. Konnte ich das glauben? Würde meine Mom wirklich wollen, dass ich dieses Tier töte, um mir seine Energie zu nehmen? Dieses hilflose Geschöpf, das sich doch so friedlich und voller Vertrauen an meine Brust schmiegte? Sylvia schien davon überzeugt zu sein. Ihre Stimme und ihre Mimik ließen keinen Zweifel daran. Aber das war doch nicht richtig, oder?
>Bitte, ich will das nicht machen<, sagte ich kleinlaut, doch sie verdrehte erneut genervt die Augen.
>Ich habe dir gesagt, dass der Weg, der vor dir liegt, nicht einfach ist. Was ist mit deiner Entschlossenheit? Hast du nicht gesagt, dass du alles geben wirst?<
>Doch schon, aber…<
>Kein aber, Nico. Manchmal muss man tun, was getan werden muss. Ob dir das nun gefällt oder nicht. Es ist wichtig, dass du das machst. Du musst lernen, diesen Schritt bewusst zu gehen. Wenn du dich dem verweigerst, kann ich dir nicht mehr helfen.<
Was sollte das heißen? Dass sie mir nicht mehr beibringen würde, wenn ich es nicht tat?
>Das ist nicht fair!<, beschwerte ich mich.
>Das Leben ist selten fair. Diese Lektion solltest du schon gelernt haben. Aber es geht hier nicht um Fairness. Es geht darum, dass man seinen Weg geht, egal wie viele Stolpersteine einem das Schicksal vor die Füße wirft.<

Ja, ich wusste, dass das Leben fies sein konnte. Natürlich wusste ich das. Aber was sie von mir verlangte, war grausam. Die Vorstellung, dass ich diesen Hasen töten sollte, war einfach abscheulich. Am liebsten würde ich ihm zur Flucht verhelfen, aber wie sollte das funktionieren, wenn er nicht wegrennen wollte?
>Lass mich bitte vorher noch einmal die Sache mit der Verbindung üben<, sagte ich, um etwas Zeit zu schinden.
Bei ihrem Blick hatte ich sofort das Gefühl, dass sie mich durchschaut hatte. Sie musterte mich kritisch und ich spürte, wie ich nervös wurde.
>Also gut<, lenkte sie kurz darauf ein. >Wenn du noch ein wenig üben willst, dann nur zu.<
Etwas erleichtert setzte ich mich auf den Boden, platzierte den Hasen auf meinem Schoß und streichelte ihm über das flauschige Fell. Dann schloss ich die Augen, atmete tief ein und versuchte mich auf seine Aura auszurichten. Dabei überlegte ich fieberhaft, was ich jetzt tun sollte. Dass Sylvia mir dabei zusah, machte es für mich nicht gerade einfacher. Es war mir kaum möglich, mich richtig zu konzentrieren. Ich fühlte mich beobachtet, um nicht zu sagen, überwacht. Auch nahm ich ihren bläulichen Lichtschimmer war, was mich zusätzlich ablenkte. Schließlich brach ich den Versuch ab.
>Ich kann nicht, wenn du mir dabei zusiehst<, sagte ich, was sie kurz aufstöhnen ließ.
>Wie du meinst. Dann lasse ich dich eben alleine. Aber komm mir nicht auf die dumme Idee, nachher ohne den Hasen zurück zu kommen. Das hier ist das Revier meines Wolfsrudels und die würden ihm einen weitaus unangenehmeren Tod bereiten als du.<

Kaum, dass sie das gesagt hatte, drehte sie sich um und ging. Jetzt, da sie ihre Wölfe ins Spiel gebracht hatte, sah ich keinen Ausweg mehr. Wie sollte der Hase überleben können, wenn er einfach sitzen blieb, wenn ein Wolf kam? Er wäre eine viel zu leichte Beute. Wenn ich nur wüsste, wie Sylvia das gemacht hatte, könnte ich ihm vielleicht helfen.
Ich schloss erneut meine Augen, verlangsamte meine Atmung und richtete mich auf das schimmernde Kraftfeld aus, das da auf meinem Schoß lag. Nach einer Weile spürte ich, wie die einzelnen Strahlen wieder deutlich und greifbar vor mir lagen. Doch wo sollte ich jetzt anfangen? Und wonach suchen? Und was dann tun?
Da ich davon ausgehen musste, dass sie etwas mit seinem Gehirn gemacht hat, konzentrierte ich mich auf seinen Kopf. Wieder hatte ich Hemmungen, näher heran zu gehen. Ich wollte ihm nicht schaden. Ich hatte noch immer Angst davor, dass ich ihn vielleicht unabsichtlich töten würde. Aber war das nicht sowieso sein Schicksal, wenn ich es nicht versuchen würde? Hatte ich denn eine andere Wahl?
Innerlich seufzend folgte ich ganz langsam einer einzelnen Leuchtspur zu ihrem Ursprung. Immer wieder hielt ich inne, nur um mich zu vergewissern, dass noch nichts passiert war. Dann ging ich zögerlich wieder ein bisschen weiter. Sehr langsam tastete ich mich vorwärts. Stück für Stück näherte ich mich. Dass das Verlangen nach der Energie nicht stärker wurde, je näher ich kam, verwunderte mich. Damit hatte ich nicht gerechnet. Ich dachte, es würde schlimmer werden, aber das war nicht der Fall. Ganz im Gegenteil. Je kleiner der Bereich wurde, auf den ich mich konzentrierte, desto schwächer wurde die Anziehungskraft. Allmählich legte ich meine Zurückhaltung ab und wagte mich weiter vor. Was ich dann plötzlich erkennen konnte, raubte mir den Atem.

Das leuchtende Zentrum einer Zelle lag plötzlich offen vor mir. Es war so winzig und doch wunderschön. Wie ein in der Sonne glitzernder Tautropfen an einem einzelnen Grashalm. Doch vor mir lag nicht nur dieser eine Grashalm. Um ihn herum waren unzählige weitere Lichtpunkte, als wäre es eine große Wiese und überall glitzerte es.
Eine ganze Weile bewunderte ich einfach den Anblick, bis mir bewusst wurde, dass ich überhaupt keine Ahnung hatte, was ich jetzt machen sollte. Ich spürte, dass ich etwas tun könnte. Dass ich sprichwörtlich nach den Sternen greifen könnte. Doch um was zu tun? Was hatte Sylvia denn mit ihnen gemacht?
Ich schaute mir eine Zelle nach der anderen an. Alle waren sich ähnlich und doch waren sie unterschiedlich. Es kam mir vor wie ein Puzzle mit Millionen von Teilen, das man zu einem Nachthimmel zusammensetzen sollte. Wie sollte ich da nur herausfinden, welches Puzzleteil ich wie drehen oder schieben musste?

Es waren vermutlich Stunden vergangen, als ich schließlich das Vorhaben aufgab. Es machte einfach keinen Sinn. Ich konnte nichts tun. Sylvia hatte wohl nicht übertrieben, als sie sagte, es würde Jahrzehnte dauern, diese Fähigkeit zu beherrschen und anwenden zu können. Welches Wissen musste sie sich wohl angeeignet haben, um in diesem Chaos von Lichtern zu erkennen, welche Bedeutung jeder einzelne Punkt hatte und wie man ihn verändern musste?
Langsam löste ich mich aus der Verbindung und schlug meine Augen auf. Die Sonne stand schon recht tief am Horizont und erstrahlte bereits in einem leichten Orange. Ein schöner Anblick, bei dem mir schwer ums Herz wurde. Ich wusste, was jetzt kommen würde und das unangenehme Gefühl in meinem Magen hatte diesmal andere Ursachen, als die aufgelöste Verbindung.
Ich hob das Tier von meinem Schoß und versuchte mich aufzurichten. Meine Beine wollten aber nicht so recht. Sie waren steif und fühlten sich taub an. Es fiel mir schwer sie auszustrecken, doch als mir das dann endlich gelungen war, piekste es überall, als würde ich mit tausenden von Nadeln gepiesackt werden. Ich hasste dieses eingeschlafene Gefühl. Wenn die Verbindung einen echten Nachteil hatte, dann, dass der Körper dabei jedes Mal irgendwie steif wurde. Es dauerte zwei, drei Minuten, bis es endlich vorbei war. Doch damit war auch der Zeitpunkt gekommen, da ich das unvermeidliche nicht mehr länger hinauszögern könnte.
Der Schneehase saß noch genau da, wo ich ihn abgesetzt hatte und futterte irgendwelches Grünzeug. “Henkersmahlzeit!”, kam mir dabei in den Sinn. Irgendwie hoffte ich, dass es ihm wenigsten gut schmecken würde. Aber es verdeutlichte mir auch genau das, was Sylvia gesagt hatte. Er hatte keine Chance zu überleben. So frei von Ängsten und Instinkten war er einfach nur noch eine leichte Beute für jedes Raubtier. Um ihn zu retten, müsste ich ihn schon mit zu mir nach Hause nehmen, aber das würde sie nicht zu lassen. Da war ich mir sicher. Genauso wenig würde sie ihn wieder zu dem machen, was er vorher war. Sein Schicksal war besiegelt. Das war es schon gewesen, als er heute Morgen ihren Weg gekreuzt hatte.

Ich nahm ihn wieder hoch und ging mit ihm zurück zum Haus. Es war mit dem Abend kälter geworden. Zumindest war mir kalt. Umso intensiver spürte ich die Wärme, die von dem Tier auf meinen Armen ausging. Noch wirkte sie auf meine Brust, doch schon bald würde es auch dort eiskalt werden.
Sylvia hatte mein Kommen wohl bemerkt oder vielleicht sogar nach mir Ausschau gehalten. Jedenfalls kam sie heraus und mir entgegen. Aus dem Blick, den sie mir zuwarf, wurde ich nicht schlau. Vielleicht interpretierte ich auch zu viel hinein, aber irgendwie konnte ich alles Mögliche in ihren Augen erkennen. Vor allem Verärgerung, Ungeduld und Anspannung schienen darin zu liegen.
>Bist du jetzt bereit?<, sprach sie mich mit einer Stimme an, aus der ich die gleichen Emotionen herauszuhören glaubte.
>Nein, bin ich nicht<, antwortete ich mürrisch.
Wie sollte ich dazu auch bereit sein? Konnte es ihr denn nicht schnell genug gehen? Hätte sie mich nicht zuvor wenigstens fragen können, wie es mit der Verbindung gelaufen war?
>Es hat dieses Mal übrigens geklappt<, ergänzte ich verärgert.
>Ich sagte ja, es ist anders.<
>Du hättest es mir auch besser erklären können.<
Wieder rollte sie genervt mit den Augen und gab mir das Gefühl, dass nicht mehr viel fehlte, bis ich den Bogen überspannt hätte.
>Jetzt hör mir mal gut zu. Es ist ein Unterschied, ob dir jemand von seinen Erfahrungen erzählt oder ob du diese selbst machst. Wir haben auch nicht viel Zeit, um dir die notwendigen Grundlagen zu vermitteln. Ich habe dir versprochen, dass ich dir helfen werde und dass ich dir in den drei Tagen beibringen werde, was du wissen musst, um die Kontrolle zu behalten. Deshalb ist es so wichtig, dass du das alles selbst erlebst. Nur auf diesem Weg bekommst du in der kurzen Zeit das nötige Verständnis für die Zusammenhänge. Und deshalb musst du nun auch den nächsten Schritt gehen. Du weißt, was du zu tun hast.<

Ja, ich wusste es. Mir war klar, was sie von mir jetzt erwartete. Aber ich wollte es nicht tun. Natürlich war mir bewusst, dass Tiere sterben mussten, wenn man ihr Fleisch essen wollte. Und doch war es ein gewaltiger Unterschied, ob man ein Lebewesen zu diesem Zweck selbst erlegte oder einfach in eine Metzgerei ging. Auch wenn es mir etwas heuchlerisch vorkam, da ich oft und gerne Fleisch aß, wollte ich nicht selbst töten. Vor allem nicht ihn. Ich hatte den Schneehasen den ganzen Tag gestreichelt und durch den Wald getragen. Ihm jetzt das Leben zu nehmen, mit voller Absicht, erschien mir einfach falsch.
>Bitte Sylvia. Kannst du das, was du mit ihm gemacht hast, nicht wieder rückgängig machen und ihn laufen lassen? Ich will ihn nicht töten.<
>Ach nein?<, sagte sie gereizt. >Du strapazierst meine Geduld, Nico. Soll ich dir vielleicht einen anderen Hasen fangen? Wäre das dann besser? Glaubst du etwa, ich kenne meine Rentiere nicht, die ich hin und wieder schlachte? Doch das ändert nichts, denn es ist notwendig. Genauso wie das hier jetzt notwendig ist.<
>Dann mach du es doch. Du brauchst seine Energie bestimmt dringender als ich<, sagte ich, denn schließlich war ich viel jünger als sie.
>Dringender?<, wiederholte sie und sah mich fragen an. Dann wurde ihr plötzlich klar, was ich damit gemeint hatte. >Himmel, ich habe dir schon einmal gesagt, dass ich so alt aussehe, weil ich das so will. Glaube mir, ich habe größere Reserven als du. Aber das spielt hier keine Rolle. Es geht nicht darum, dass du seine Lebenskraft brauchst. Du sollst das tun, weil du diese Erfahrung machen musst. Jetzt zögere das Unvermeidliche nicht unnötig länger hinaus. Es ist höchste Zeit. Tu es endlich und schenk dem Tier einen sanften Tod. Oder ich breche ihm einfach das Genick, damit du die Wirkung spürst, wenn so etwas in deiner Nähe passiert.<
>Das meinst du nicht ernst.<, sagte ich entsetzt.
>Doch, das meine ich todernst.<

Das Funkeln in ihren Augen ließ keinen Zweifel an ihren Worten. Dass sie mir damit drohte, fand ich einfach nur fies von ihr. Sie wusste genau, dass ich den Hasen nicht leiden lassen wollte. Sie trieb mich in die Enge und ließ mir keinen Ausweg. Egal ob sie das mit guten Absichten tat oder nicht. In diesem Moment hasste ich sie dafür.
Ich hob den Hasen hoch auf meine Brust, damit er seinen Kopf in meiner Halsbeuge ablegen konnte. Dann streichelte ich ihm ein letztes Mal über seine langen, weichen Ohren.
>Es tut mir leid, mein kleiner Freund<, flüsterte ich ihm zu.
Dann schloss ich schnell meine Augen und tat, was von mir verlangt wurde. Ich tauchte bewusst in die Aura ein und sofort löste sich der leichte Widerstand auf. Praktisch im gleichen Moment rauschte ein Kribbeln meine Arme hinauf und in mich hinein. Es fühlte sich an, als würden bei dem Fluss der Lebensenergie Glückshormone freigesetzt werden und mich überkam ein kurzes Hochgefühl. Es war ein trügerisches Wohlbefinden, denn ich wusste, was der Grund war. Ich hatte fast das Gleiche damals bei Lilly gefühlt, doch das hier war etwas stärker, als ich es in Erinnerung hatte.
Als ich die Augen wieder öffnete, sah ich Sylvia vor mir, die erneut einen undefinierbaren Blick auf mich richtete. Wortlos reichte ich ihr den toten Hasen.
>Ich hatte nicht erwartet, dass du das so schnell kannst<, sagte sie mit sanfter Stimme zu mir, die allerdings auch von leichter Bewunderung getragen wurde. Eine Bewunderung, die ich nicht wollte.
>Behalte dein beschissenes Lob für dich!<, fuhr ich sie an und drehte mich um.
>Nico!<, rief sie mir noch hinterher, doch ich ignorierte sie.

Ich wollte sie jetzt nicht mehr sehen und lief geradewegs durch den Hintereingang in die Speisekammer, die mir als Schlafzimmer diente. Laut krachend knallte die Tür zu. Meine Augen brannten und mein Herz schlug wie wild und ließ meine Finger vibrieren. Ich ballte die linke Hand zur Faust und legte die rechte verkrampft auf meinen Brustkorb. Deutlich fühlte ich, wie er durch die schnelle und stoßweiße Atmung immer wieder bis zum Zerreißen gespannt wurde. Eine nicht enden wollende Gänsehaut zog über meinen Nacken bis in die Haarspitzen. Unruhig ging ich auf und ab und versuchte zu begreifen, was da gerade passiert war. Versuchte mich selbst zu beruhigen. Versuchte einen klaren Kopf zu bekommen.
Ja, es hatte sich gut angefühlt, aber ich hasste es. Ich verfluchte dieses Glücksgefühl in meiner Brust, das mich noch immer in leichten Wellen durchströmte. Wenn ich könnte, würde ich es herausreißen. Ich wollte keine Freude durch den Tod eines anderen Wesens empfinden. Das war einfach abscheulich. Nie wieder wollte ich das erleben.
Mit zitternden Knien setzte ich mich mit dem Rücken zum Bett auf den Boden und starrte auf meine bläulich schimmernden Hände. Es waren die Hände, die eben noch den Hasen gehalten hatten. Die ihm Sicherheit und Geborgenheit versprochen und ihm dann heimtückisch das Leben geraubt hatten. Sie rochen nach wie vor nach ihm und ich spürte noch immer die Erinnerung an das weiche Fell in den Fingerspitzen.
Warum hatte Sylvia mich nur dazu gezwungen? Ging es wirklich nur darum, dass ich diese Erfahrung machte? Sie wusste doch, dass mir das mit Lilly schon passiert war. Oder ging es um etwas anderes? War es ein weiterer Test gewesen? Wollte sie nur herausfinden, wozu sie mich bringen konnte? Ich war ratlos und wünschte, mein Dad wäre hier, damit ich mit ihm darüber reden könnte. Am liebsten würde ich noch heute mit ihm nach Hause fliegen. Schon lange hatte ich mich nicht mehr so alleine gefühlt.


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Kapitel 9

Taira

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>Hallo Nico!<, begrüßte mich Colin.
Wir hatten gerade den Check-Out am Cork-Airport hinter uns gelassen, als er auf einmal vor mir stand.
>Mensch, Colin. Du hier? Was für eine Überraschung<, sagte ich und schlug in seine erhobene Hand ein.
>Ha! Ich bin doch gar nicht die Überraschung. Schau mal, wen ich hier mitgebracht habe.<
Er trat einen Schritt zur Seite um den Blick freizugeben. Da sah ich sie. Kassandra. Sie war tatsächlich da und lächelte mich an. Ich konnte mein Glück kaum fassen. Eigentlich hätte ich sauer auf Colin sein müssen, dass er das einfach getan hatte. Aber wie könnte ich bei ihrem Anblick auf irgendjemanden auf dieser Welt sauer sein? Alles um mich herum trat in den Hintergrund. Nichts anderes war mehr von Bedeutung für mich.
Sie sah genauso schön aus, wie ich sie in Erinnerung hatte. So hatte sie damals ausgesehen, als ich ihr die Tür beim Verlassen der Schule aufgehalten hatte und wir kurz ins Gespräch kamen. Sofort erinnerte ich mich, wie ich sie furchtbar enttäuscht hatte, als ich nicht den Mut aufbringen konnte, mit ihr auf die Abschlussfeier zu gehen. Einen Fehler, den ich nur zu gerne korrigieren würde. Diesmal wollte ich alles richtig machen, auch wenn ich in ihrer Nähe sofort schrecklich nervös wurde.
>Hallo Kassandra<, kam es fast stammelnd aus meinem Mund, was ihr Lächeln noch wundervoller zu machen schien.
Sie selbst sagte nichts. Sie stand einfach nur da und strahlte mich an. Alles an ihr strahlte. Ihr Lächeln. Ihre Augen. Ihre Aura. Doch war mir die Situation deshalb nicht unangenehm. Ganz im Gegenteil. Ich könnte stundenlang dastehen und sie einfach ansehen. Das alleine war alles, was ich im Moment brauchte, um glücklich zu sein. Keine Worte. Nur sie.

Nach einem endlosen Augenblick fiel mir ein, dass ich ein Geschenk für sie dabei hatte.
>Ich habe dir etwas mitgebracht<, sagte ich zu ihr, holte meinen Rucksack von den Schultern und öffnete ihn.
>Hier bitte!<, sagte ich und überreichte ihr einen graubraunen Hasen.
>Für mich?<, fragte sie freudig überrascht und nahm das Tier entgegen.
Ich nickte und war unendlich froh, dass ihr mein Mitbringsel gefiel. Doch die Freude währte nicht lange. Unerwartet wurde es von einem Moment auf den anderen kälter und dunkler. Ich spürte geradezu, wie ein drohendes Unheil heraufzog.
>Was tust du da!<, fuhr mich Sylvia an, die auf einmal neben uns stand. Zornig funkelte sie mich an.
>Das ist nur ein kleines Geschenk für Kassandra<, verteidigte ich mich.
>Ach ja? Glaubst du, ich weiß nicht, was das ist? Warum lebt der Hase noch? Du solltest ihn doch töten?<
>Aber ich wollte doch nur…<
>Ich habe dich gewarnt, Nico!<, fiel sie mir ins Wort. >Ich werde dir nicht mehr helfen, wenn du nicht tust, was ich sage. Jetzt musst du mit den Konsequenzen leben!<
Im nächsten Moment ertönte ein entferntes Wolfsgeheul. Was hatte sie nur vor? Ich bekam furchtbare Angst, dass sie Kassandra etwas antun könnte.
>Es tut mir leid<, rief ich Sylvia zu, doch der Wind pfiff so laut, dass ich mir nicht sicher war, ob sie mich überhaupt gehört hatte.
Sie beachtete mich nicht und schaute auf eine kleine Nebelwand in der Nähe. Als ich ihrer Blickrichtung folgte, sah ich die Wölfe, die heraus brachen und auf uns zu rannten. Panik stieg in mir auf.
>Bitte tu ihr nichts<, schrie ich gegen den Wind, doch sie reagierte einfach nicht auf mich.

Als die Wölfe bei uns angekommen waren, nahmen sie eine Halbkreisposition um Kassandra herum ein. Sie sah furchtbar ängstlich aus. Ich stand da und war wie gelähmt. Eine eisige Kälte hatte von mir Besitz ergriffen und ließ mich zittern.
>Nico, bitte hilf mir<, hörte ich ihre zaghafte Stimme, die mir das Herz zu zerreißen drohte.
>Sylvia! Ich flehe dich an. Ich tue auch alles was du willst. Nur bitte lass sie gehen.<
Ein durchdringendes Donnergrollen ließ die Luft erzittern und ich hörte, wie der Wind den Regen in einer Woge nach der anderen gegen das Dach peitschte.
>Dafür ist es jetzt zu spät!<, sagte sie mit einem zornigem Blick und wandte sich gleich darauf von mir ab.
Hilflos musste ich mit ansehen, wie sie auf Kassandra zuging. Doch sie stand einfach da, völlig unfähig wegzulaufen. Gefangen im Kreis eines knurrenden Wolfsrudels. Sie nahm den Hasen fest in den Arm und beugte sich halb über ihn, als würde sie ihn beschützen wollen. Dabei fürchtete sie doch selbst um ihr Leben. Das war ihr so schmerzhaft deutlich anzusehen.
>Nein! Bitte nicht!<
Der Lärm um mich herum war ohrenbetäubend. Ich konnte so laut schreien wie ich wollte, aber ich hörte mich dabei noch nicht einmal selbst. Ich versuchte zu ihr zu gelangen, um mich schützend vor sie zu stellen, doch ich konnte mich nicht von der Stelle rühren. Meine Beine waren steif und der Sturm drückte mich immer weiter zurück.
Dann sah ich das Grauenhafte. Sylvia hob die Hand und Griff nach Karas Gesicht. Sie erstarrte bei der Berührung und sackte im nächsten Augenblick zusammen. Blitze zuckten grell über den Himmel und ein weiterer Donnerhall ließ den Boden erbeben.
>Kassandra!<, brüllte ich und riss die Augen auf.

Mein Herz hämmerte wie verrückt gegen meinen Brustkorb, als wollte es ihn durchbrechen und Kara zu Hilfe eilen. Mein Atem ging hektisch und stoßweise und ich zitterte am ganzen Körper. Ein Blitz erhellte den Raum für den Bruchteil einer Sekunde und offenbarte mir, wo ich war. Ich lag vor meinem Fellbett auf dem Boden der Speisekammer und hatte mich dort zusammengerollt. Meine rechte Hand hatte sich schmerzhaft um den Schlüssel unter meinem T-Shirt verkrampft und meine linke drückte auf meinen Bauch.
Langsam, unendlich langsam setzte ich mich auf. Meine Glieder waren wie steifgefroren und jede Bewegung fiel mir schwer und schmerzte. Ich war mir nicht sicher, ob das jetzt Traum oder Wirklichkeit war. Noch immer hörte ich den Wind, der durch einige Ritzen pfiff und den Regen, der auf das Dach prasselte. Meine Augen suchten in der Dunkelheit nach Kassandra. Ein weiterer Blitz, gefolgt von einem grollenden Donner ließ mich zusammenschrecken.
“Reiß dich zusammen”, sagte ich zu mir selbst.
Erst nach einer ganzen Weile realisierte ich, dass ich einen Albtraum gehabt hatte und da draußen tatsächlich nur ein Gewitter tobte. Das war der Ursprung der Geräusche gewesen, die sich unerbittlich einen Weg in meinen Traum gebahnt und ihn so grausam echt gemacht hatte. Doch hier war nichts außer mir. Nichts außer Schatten, die von gelegentlichen Blitzen zuckend in den Raum geworfen wurden.
Noch immer hatte ich Kassandras Bild vor mir, wie sie leblos zusammengebrochen war. Es war entsetzlich gewesen. Im wahrsten Sinne des Wortes mein schlimmster Albtraum. Mich von diesem Bild zu lösen und zurück in die Wirklichkeit zu finden, fiel mir unsagbar schwer.

Ich fror erbärmlich und konnte mich nicht mehr daran erinnern, wie ich hier auf dem Boden liegend eingeschlafen war. Doch allzu lange konnte es nicht her sein. Dazu war es noch zu finster. Ich wusste nur noch, dass ich mich elend gefühlt hatte und nicht wusste, was ich tun sollte. Irgendwann war mir heiß geworden und ich hatte mein Sweatshirt ausgezogen. Doch jetzt war mein T-Shirt vom Schweiß klatschnass und eiskalt. Auch meine Hose fühlte sich unangenehm klamm an.
Ich quälte mich auf die Beine und zog bibbernd die feuchten Sachen aus, die ich achtlos auf den Boden warf. Am liebsten würde ich jetzt eine heiße Dusche nehmen, doch hier stand nur das zur Auswahl, was Mutter Natur zu bieten hatte. Ein strömender, kalter Gewitterregen. Das war das letzte, was ich im Augenblick gebrauchen konnte. Da schlüpfte ich lieber nackt unter die Decke, darauf hoffend, dass sich bald die erlösende Wärme ausbreiten und das Zittern aus meinem Körper vertreiben würde.
Es waren quälende Minuten, bis ich eine Erwärmung wahrnehmen konnte. Minuten, in denen ich versuchte, mich selbst von der Kälte abzulenken. Angestrengt suchte ich nach einem tieferen Sinn in dem Albtraum. Einer versteckten Botschaft. War es nur eine grausame Verarbeitung meiner gestrigen Erlebnisse oder wollte mir mein Unterbewusstsein wieder etwas mitteilen? So wie damals, als es mich vor der Gefahr warnte, die ich für alle Lebewesen um mich herum darstellte? Doch was war das hier für eine Nachricht? Sollte Sylvia tatsächlich eine Gefahr für Kassandra sein? Oder hätte diese Gefahr nur bestanden, wenn ich den Schneehasen nicht getötet hätte? In meinem Traum hatte er schließlich noch gelebt.
Ein Sinn wollte sich mir nicht erschließen und je länger ich darüber nachdachte und je stärker die Wärme unter der Decke zu spüren war, desto mehr übermannte mich wieder die Müdigkeit. Letztlich klammerte ich mich nur noch an einen Gedanken. Kassandra lebte und war in Sicherheit und bald würde ich sie wieder sehen. So schlief ich halbwegs beruhigt wieder ein.

Als ich wieder erwachte, war die Sonne bereits aufgegangen. Es war zwar trotzdem nicht richtig hell, aber wenigstens war das Gewitter vorbei. Ich fühlte mich auch einigermaßen gut. Die Erinnerungen an den Albtraum waren zwar noch sehr präsent, aber wenigstens wurde ich in meiner zweiten Schlafphase davon verschont. So war ich etwas erholt und recht fit für den Tag. Ich hoffte sehr, dass heute nichts auf meinem Trainingsplan stehen würde, das mit dem von gestern Abend vergleichbar oder noch schlimmer war. Ich war fest entschlossen, so etwas nicht noch einmal mit mir machen zu lassen.
Mit einem Seufzen verließ ich die Wärme meines Bettes und suchte mir die Sachen zusammen, die noch am ehesten tragbar erschienen. Hätte ich mit dem dreitägigen Aufenthalt hier gerechnet, hätte ich mir mehr Klamotten mitgenommen. Da dem aber nicht so war, musste ich nun mit dem auskommen, was ich zur Verfügung hatte. Dann zog ich mir schnell etwas über und öffnete die Hintertür, um zur Toilette und anschließend zum Bach zu gehen.
Ich setzte gerade einen Fuß vor die Tür, als sich vor mir etwas bewegte. Abrupt blieb ich stehen. Da saß ein einzelner Wolf direkt neben dem gepflasterten Weg und beobachtete mich aufmerksam. Erschrocken schaute ich mich um, ob noch weitere Wölfe hier waren, konnte aber keine entdecken.
Was machte dieser Wolf hier? War er vielleicht gar nicht wegen mir hier, sondern wollte zu Sylvia? Wie würde er wohl reagieren, wenn ich an ihm vorbeigehen wollte? Konnte ich das riskieren? Er sah nicht wirklich feindselig aus, aber ich fühlte mich trotzdem unsicher.

>Sylvia?!<, rief ich halblaut ihren Namen, in der Hoffnung, dass sie in der Nähe war.
Kurz darauf ging hinter mir die Tür zum Wohnbereich auf. Sie sah mich an und erkannte sofort, warum ich sie gerufen hatte. Mit einem Lächeln kam sie näher, ging an mir vorbei und stellte sich neben den Wolf.
>Guten Morgen, Nico. Darf ich dir Taira vorstellen? Sie wird heute deine Trainingspartnerin sein.<
>Taira? War das nicht die Wolfsdame, die gestern nach mir … ähm … gerufen hatte?<
>Genau das ist sie.<
>O.K. Und was soll ich mit ihr machen?<
>Das Gleiche, was du gestern mit dem Hasen gemacht hast.<
>Du willst, dass ich mit ihr das Gleiche mache?<, fragte ich entsetzt nach.
Ich wollte das nicht noch einmal machen müssen und ich hätte nie gedacht, dass sie einen ihrer Wölfe auf diese Weise opfern würde.
>Nein, entschuldige<, sagte sie sofort mit jetzt etwas angespannter Miene. >So habe ich das nicht gemeint. Nur den Teil mit dem Zusammensein und der Verbindung.<
>Ach so<, sagte ich erleichtert.
>Am besten gehst du dich jetzt erst mal fertig machen. Danach besprechen wir alles Weitere beim Frühstück. Taira wartet hier, bis du bereit bist. In Ordnung?<
>In Ordnung<, bestätigte ich mit einem Nicken und wandte mich dann dem Toilettenhäuschen zu. Ich bekam noch mit, wie Sylvia sich kurz zu der Wölfin hinunterbeugte und etwas zu ihr in ihrer eigentümlichen Sprache sagte. Als ich wieder heraus kam, war sie allerdings schon weg. Taira hingegen saß immer noch da und sah mich irgendwie erwartungsvoll an. So recht wusste ich nicht, wie ich mich ihr gegenüber verhalten sollte. Allerdings wollte ich sowieso erst einmal zum Bach gehen und mich waschen.

Das Wasser fühlte sich heute besonders kalt an. Überhaupt schien mir die Temperatur ziemlich gefallen zu sein. Die Regengüsse der vergangenen Nacht hatten wohl für eine deutliche Abkühlung gesorgt und auch den Pegel des Baches deutlich ansteigen lassen. Der Himmel war durch die dicke Wolkendecke ganz trüb und ich hatte starke Zweifel, ob sich die Sonne heute noch blicken lassen würde. Es war fast so, als würde sich die Natur offiziell vom Sommer verabschieden. Und Abschied stand mir bevor. Morgen schon würde ich mich mit Dad auf die Heimreise machen. Dann würde sich zeigen, ob mir das Training und die Unterweisungen von Sylvia etwas gebracht hatten.
Auch wenn der gestrige Abend schlimm war und eine ebenso quälende Nacht zur Folge hatte, klammerte ich mich doch noch immer an die Hoffnung, dass mir das alles hier helfen würde. Dass ich dadurch mein Leben besser in den Griff bekommen würde. Vor allem aber, dass ich überhaupt ein normales Leben führen konnte. Das kurze Gespräch mit ihr erweckte zumindest den Eindruck, dass sie so etwas nicht noch einmal von mir fordern würde. Ein beruhigender Gedanke, der mich positiv auf das Training mit dem Wolf einstimmte, obwohl mir das Tier unheimlich war.

Als ich vom Bach zurückkam, saß Taira noch immer am gleichen Fleck. Aufmerksam beobachtete sie mich. Ihre Augen wirkten dabei aber eher freundlich statt feindselig, soweit ich das überhaupt beurteilen konnte. Bisher hätte ich eine Katze immer einem Hund vorgezogen. Ihre Körpersprache konnte ich schon immer sehr gut deuten und mich schnell mit ihnen anfreunden. Ein Hund war mir da eher suspekt. Wie sollte das dann erst mit einem Wolf funktionieren? Nun ja, ein gewöhnliches Tier war das hier jedenfalls nicht. Ich würde wohl darauf vertrauen müssen, dass Sylvia wusste, was sie da tat.
>Ähm, ich komme dann nachher wieder<, sagte ich unsicher und fast entschuldigend zu der Wolfsdame, als ich an ihr vorbei zur Hintertür ging.
Es kam mir zwar irgendwie merkwürdig vor, so mit dem Tier zu sprechen, aber Sylvia hatte das vorhin schließlich auch gemacht. Ich hatte das Gefühl, dass Taira genau wusste, warum sie hier war. Vielleicht verstand sie auch, was ich gerade zu ihr gesagt hatte. Mir schien es jedenfalls so zu sein, denn sie legte sich ganz gelassen auf den Boden, während ich das Haus betrat und die Tür vorsichtig hinter mir schloss.

>Komm und setz dich<, begrüßte mich Sylvia und stellte eine dampfende Tasse neben meinen Teller, als ich den Wohnbereich betrat. >Ich habe dir einen frischen Kräutertee aufgebrüht.<
>Einen Kräutertee? Aber mir ist doch gar nicht übel.<
>Nein, nicht so einer wie gestern. Der hier stärkt die Abwehrkräfte und wird dir gut tun.<
>Krank fühle ich mich aber auch nicht<, meinte ich etwas irritiert zu ihr, während ich an dem Tee roch und vorsichtig daran nippte.
Ein Kaffee wäre mir zwar lieber gewesen, aber auch in dieser dunklen Flüssigkeit konnte man wunderbar seinen Blick versenken. Ich mochte das Gefühl, das sich auf der Haut ausbreitete, wenn der Atem den heißen Dampf noch stärker aufsteigen ließ und sich einem auf das Gesicht legte. Speziell bei diesem Tee war das sogar richtig wohltuend. Der wäre sicherlich auch bei einer Erkältung gut für Inhalationen geeignet.
>Man sollte nicht warten, bis man krank ist, bevor man etwas für die Gesundheit tut. Ich dachte nur, mit dem Tee wirst du dich besser fühlen, nach der schlechten Nacht.<
Erschrocken blickte ich auf. Hatte sie etwa mitbekommen, dass ich einen Albtraum hatte?
>Woher weißt du, dass ich nicht gut geschlafen habe?<
>Ich habe dich gehört<, antwortete sie und wirkte dabei etwas bedrückt.
>Trotz des Gewitters?<
>Ja, … du hast im Schlaf ziemlich laut aufgestöhnt und ich glaube, du hast nach einer Kassandra gerufen.<
Ich nickte leicht. Mir war nicht klar gewesen, dass man mich hatte hören können. Ich dachte, ich hätte nur im Traum ihren Namen geschrien. Dass Sylvia das mitbekommen hatte, war mir ziemlich unangenehm.
>Willst du darüber reden?<, fragte sie vorsichtig, doch ich schüttelte gleich mit dem Kopf.
Sylvia seufzte leise. Ich spürte, dass sie gerne mit mir darüber gesprochen hätte, doch offensichtlich wollte sie sich mir nicht aufdrängen. Stattdessen nahm sie sich etwas Brot und Wurst und begann zu essen.

Eine Zeitlang frühstückten wir beide schweigend. Eigentlich machte mir so etwas nichts aus. Das gab es auch zwischen Dad und mir, dass wir einfach zusammen am Tisch saßen ohne uns groß zu unterhalten. Doch hier mit ihr fühlte es sich merkwürdig an. Irgendwie lag eine belastende Spannung in der Luft und ich hatte das unangenehme Gefühl, dass es an mir lag. Hätte ich ihr von Kassandra erzählen sollen? Nein, das wollte ich einfach nicht.
Ich war hierhergekommen, um zu lernen, wie ich Kassandra vor dem beschützen konnte, das in mir steckte. Doch hier hatte sich mir völlig unerwartet eine andere Welt offenbart. Eine Welt, zu der Sylvia und wohl auch ich gehörten. Aber nicht sie. Aus der musste ich Kassandra unbedingt heraus halten. Ich glaubte zwar nicht wirklich, dass Sylvia ihr etwas antun würde, aber der Traum hatte mich sehr verunsichert. Davon konnte ich mich nicht so einfach frei machen. Dafür waren die Erinnerungen daran noch zu frisch und viel zu aufwühlend.
>Wegen des Trainings mit dem Wolf…<, sprach ich sie an, um das Schweigen zu durchbrechen und auch gleich das Thema zu wechseln, >was hast du denn da geplant?<
>Nichts Besonderes. Es geht heute darum, die Intensität zu steigern. Ein so junger Wolf hat viel mehr Energie in sich als ein Hase. Das wirst du sofort spüren, wenn du den Kontakt aufnimmst. Es wird deutlich verlockender und dadurch anstrengender für dich sein. Aber das ist auch kein Wunder. Würdest du Taira die Lebenskraft entziehen, würde dir das mindestens zwei Jahre bringen. Bei dem Hasen waren es höchstens ein bis zwei Wochen.<

Es schnürte mir die Kehle zu, wie emotionslos sie darüber sprach, was ich beim Morden gewinnen würde. Wie konnte sie bei einem so abscheulichen Gedanken nur so nüchtern und sachlich sein? War das die einfache Mathematik des Todes? Töte fünfhundert Wölfe und du lebst eintausend Jahre? Angewidert legte ich das Stück Brot in meiner Hand auf den Teller zurück. Ich konnte jetzt nichts mehr essen. Sylvia las mir meine Stimmung sicherlich im Gesicht ab, denn auch ihre Miene veränderte sich augenblicklich. Angespannt sah sie mich an und ich rechnete damit, dass sie mir gleich eine Standpauke halten würde.
>Hör mal, Nico<, sagte sie dann aber mit überraschend sanfter Stimme. >Du machst es mir nicht gerade einfach. Ich habe nie behauptet, eine gute Mentorin zu sein. Nikiforos war ein brillanter Lehrmeister, aber leider haben mich seine Unterweisungen nicht auch zu einem gemacht. Ich habe keine Ahnung davon, wie man einen Neuling unterrichtet und es ist schwieriger, als ich es mir vorgestellt hätte.<
Ich verstand durchaus, was sie mir damit sagen wollte. Aber der einengende Druck auf meiner Brust löste sich dadurch nicht auf. Außer einem leichten Nicken brachte ich keine Erwiderung zustande.
>Als du gestern zornig gegangen bist und mich da draußen stehen gelassen hast<, fuhr sie fort, >da war ich im ersten Moment ebenfalls ziemlich wütend. Am liebsten hätte ich dich noch am gleichen Abend aus meinem Haus geworfen. Ich empfand dein Verhalten als sehr undankbar. Aber es hat mich auch zum Nachdenken gebracht. Es dauerte eine Weile, bis mir klar wurde, dass ich einen Fehler gemacht habe. In dem Punkt haben mir die vielen Jahre bei Nikiforos dann doch geholfen, denn ich dachte darüber nach, was er wohl getan hätte, wenn du bei ihm so reagiert hättest. Da wurde mir bewusst, dass es nie dazu gekommen wäre, denn er hätte dich nicht gezwungen, wie ich es getan habe.<

Während sie das erzählte, spiegelte sich Bedauern in ihrem Blick wider. Dass sie in dieser Sache einen Fehler einräumte, schenkte mir neuen Mut. Ich fühlte mich dadurch etwas erleichtert und atmete tief durch. Fast so, als wollte ich die unsichtbaren Ketten, dir meinen Hals und meine Brust umschnürten, damit aufbrechen. Noch einmal nickte ich ihr zu und sie redete weiter.
>Verstehe mich bitte nicht falsch. Ich halte es nach wie vor für richtig und wichtig, dass du diese Erfahrung gemacht hast. Aber ich hätte dir die Wahl überlassen müssen. Hätte warten müssen, bis du dazu bereit bist. Das habe ich bedauerlicher Weise nicht. Dadurch, dass du das nicht freiwillig, sondern unter Zwang getan hast, hat es für dich noch schlimmer gemacht. Das wurde mir schmerzlich bewusst, als ich deinen Albtraum mitbekommen habe. Ich muss mich deshalb bei dir dafür entschuldigen, Nico. Es tut mir leid. Ich verspreche dir, ich werde dich nicht noch einmal zu etwas zwingen, das du nicht tun willst.<
>Danke<, antwortete ich mit kratziger Stimme. >Ich glaube, ich sollte mich dann mal ans Training machen.<
>Tu das. Ich hoffe, du bekommst das auch wieder gut hin. Taira ist etwas Besonderes, sozusagen mein Liebling in dem Wolfsrudel. Ich würde es sehr bedauern, wenn ihr etwas zustoßen würde.<
Irritiert schaute ich sie an. Warum hatte sie das jetzt gesagt?
>Wenn du sie so gerne hast, warum hast du sie dann ausgewählt?<
>Weil dieses Mädchen am besten für dein Training geeignet ist. Sie ist sehr klug und hat ein gutes Wesen. Das wird es dir leichter machen, mit ihr zu arbeiten. Und dabei ist sie auch noch sehr jung, was die Herausforderung für dich größer machen wird. Sie ist einfach die beste Kandidatin.<
>O.K., ich werde mein Bestes geben. Aber ich weiß nicht so recht, was genau ich jetzt mit ihr machen soll. Ich meine, wird sie die ganze Zeit stillhalten, wie der Hase? Hast du sie auch so manipuliert?<
>Nein, bei ihr ist es etwas anderes. Ich habe nicht in ihr Gehirn eingegriffen, um sie zahm zu machen. Meine Wölfe sind nicht gewöhnlich. Sie sind intelligenter und kommunikativer. Ich arbeite schon sehr lange mit dem Rudel. Hin und wieder versuche ich mit kleinen Eingriffen eine Verbesserung zu erreichen. Auf Taira bin ich dabei ganz besonders stolz. Sie wird sicherlich eine Leitwölfin werden. Du wirst sehen, du wirst mit ihr sehr gut üben können.<
>O.K., dann gehe ich mal zu ihr.<
>Wenn du Lust hast, dann mach doch einen Waldlauf mit ihr. Dann wird ihr nicht so schnell langweilig und dir würde die Bewegung sicherlich auch gut tun.<
Ich nickte ihr zu, obwohl ich nicht so genau wusste, ob das jetzt so eine gute Idee war. Laufschuhe und Trainingskleidung hatte ich schließlich nicht dabei. Nun ja, irgendwie würde es schon gehen. Ich trank meinen Tee aus, verabschiedete mich von ihr und ging durch den Hinterausgang nach draußen.

Die Wölfin stand bereits vor der Veranda und schien auf mich zu warten. Ob sie genauso aufgeregt war wie ich? Ich fragte mich, ob sie sich der Gefahr bewusst war, die von mir ausging. Sylvia meinte ja, sie wäre sehr intelligent. Vielleicht wussten ihre Wölfe, wozu sie in der Lage war. Womöglich hatten sie das alle auch schon selbst miterlebt.
>Hallo Taira<, begrüßte ich sie unsicher. >Du weißt was wir machen sollen, oder?<
Sie legte den Kopf schief und schaute mich aufmerksam an. Mit ihr zu sprechen kam mir noch immer ein bisschen merkwürdig vor. Die Situation war ganz anders als mit dem Hasen. Den hatte ich einfach gehalten und das war’s. Einen Wolf konnte ich aber nicht einfach so auf den Arm nehmen und mit ihm durch die Gegend spazieren. Hatte Sylvia deshalb gemeint, ich sollte mit ihr joggen gehen?
>Wollen wir ein Stück zusammen laufen?<
Ich kam die Veranda herunter und ging in Richtung Wald. Sofort setzte sie sich in Bewegung und kam an meine Seite, wie ein Hund, der bei Fuß lief. Durch ihre plötzliche Nähe spürte ich auch direkt ihre Aura. Die Stärke überraschte mich im ersten Moment und ließ mich zusammenzucken. Ich musste für kurze Zeit stehen bleiben, woraufhin mich zwei graue Wolfsaugen verwundert anschauten.
Nun war mir klar, was Sylvia mit “Intensität” gemeint hatte. Da hatte sie nicht übertrieben. Natürlich hatte ich schon stärkeres erlebt, aber mein rechtes Bein kribbelte ganz schön unter dem Einfluss von Tairas Kraftfeld. Ich brauchte einen Augenblick, um mich daran zu gewöhnen und weitergehen zu können. Es fühlte sich merkwürdig an, doch erinnerte es mich auch an Erlebnisse aus dem Fußballtraining. Gerade wenn wir Zweikämpfe geübt hatten, war es ganz ähnlich gewesen, da es dann auch ständig kurze Begegnungen gegeben hatte. Die hatten mir auch immer zu schaffen gemacht, vor allem, wenn der Kontakt länger dauerte.
Ich atmete schwer durch, bei dem Gedanken, dass das hier auf jeden Fall sehr lange dauern sollte. Dieses Training würde auf keinen Fall einfach werden. Daran bestand kein Zweifel. Aber ich wusste auch, wie wichtig das war und ich wollte das unbedingt schaffen.

Wir machten uns auf den Weg zu einem Rundgang durch den Wald. Wie von Sylvia angeregt ging ich schon bald in einen leichten Dauerlauf über. Für die Wölfin an meiner Seite war das sicherlich nicht mehr als ein gemütliches Traben. Sie hatte absolut kein Problem damit, sich meiner Geschwindigkeit anzupassen. Allerdings brachte mich das Kribbeln in meinem Bein ein paar Mal ins Stolpern. So dauerte es eine ganze Weile, bis wir einen gemeinsamen Rhythmus gefunden hatten.
Nach etwa einer viertel Stunde stellte ich dann irritiert fest, dass sich die anfängliche Spannung nach und nach abbaute. Es war eigenartig und ganz anders als bei meiner Tigerlilly. Wenn sie früher auf meinem Schoß gesessen war, hatte ich ständig dieses leichte prickelnde Gefühl gehabt und das hatte sich nie aufgelöst. Ich hatte es immer gespürt, so wie bei allen Begegnungen mit einer anderen Lebenskraft, wenn sich diese unhörbar knisternd an meiner Aura rieb. Nur wenn ich jemanden angefasst hatte, schien es mit der Anpassung sehr rasch zu gehen. Bei dem Hasen war es sogar bei jedem weiteren Kontakt noch schneller gegangen. Doch offensichtlich war eine direkte Berührung mit meinen Händen dafür gar nicht erforderlich.
Ein wenig beunruhigte mich diese neue Erkenntnis. Irgendwie hatte sich in den zwei Tagen hier etwas bei mir verändert. Nahm ich die Energie durch die Unterweisungen und Übungen nun konkreter wahr? Oder war ich mir dessen nun einfach bewusster geworden? Es war mir nicht ganz klar, aber ich hoffte sehr, dass dies vielleicht ein gutes Zeichen war. Dass es bedeutete, dass ich auf dem richtigen Weg war, diese Fähigkeit besser beherrschen zu können. Schließlich hatte sich der Unfall mit Lilly nicht wiederholt. Auch meiner Trainingspartnerin neben mir, deren anziehendes Licht so deutlich zu sehen und greifbar war, schien es nach wie vor gut zu gehen. Und ich wollte unbedingt, dass es auch so blieb.

Nachdem wir etwa zwei Stunden durch den Wald gelaufen und fast wieder am Ausgangspunkt waren, fühlte ich mich total ausgelaugt. Dabei war es nicht unbedingt das Joggen, das mich so erschöpfte. Das Tempo war nicht sehr hoch gewesen und die frische kühle Luft war perfekt für ein ausgedehntes Lauftraining. Es lag auch nicht an den Schuhen oder der Kleidung. Meine Puls- und Atemfrequenz waren nahezu optimal und ich fühlte mich auch fit. Und doch schrie jede Faser meines Körpers nach einer Pause.
Ständig die Energie der Wölfin zu fühlen raubte mir die Kraft. Sie war so verlockend und etwas in mir wollte sie haben. Immer wieder blitzten die noch so frischen Erinnerungen in mir auf, wie gut es sich angefühlt hatte, die Lebenskraft des Hasen aufzunehmen. Ich versuchte sie zu verdrängen. Sagte mir selbst, dass ich das nie wieder erleben wollte. Rief mir ins Bewusstsein, welche Folgen das hätte. Es funktionierte zwar, doch hatte ich nicht damit gerechnet, dass es auf die Dauer so anstrengend sein würde.
>Ich brauche mal eine Pause<, sagte ich zu Taira, die mich aufmerksam anschaute.
In ihrem Blick war eine gewisse Skepsis zu erkennen, als ich mich langsam rückwärts von ihr weg bewegte. Es schien ihr nicht zu gefallen und sie folgte mir prompt.
>Würdest du bitte da bleiben?<, bat ich in der Hoffnung, dass sie mich verstehen würde und versuchte es auch mit einer Geste zu verdeutlichen.
Ein fast winselndes Knurren war die Antwort, doch wenigstens zögerte sie, mir weiter zu folgen. Allerdings sah sie irgendwie unglücklich dabei aus und wirkte sehr unruhig. Ich hatte den Verdacht, dass sie von Sylvia die Anweisung erhalten hatte, immer direkt in meiner Nähe zu bleiben. Dass ich das jetzt nicht wollte, machte ihr wohl zu schaffen, was mir wiederum ein schlechtes Gewissen bescherte.
>Nur kurz, bitte. Wir können gleich weiter machen.<
Noch einmal gab sie dieses sonderbare Geräusch von sich, was ich als widerwilliges Einverständnis deutete. Begeistert war sie davon zweifellos nicht. Sie folgte mir in kurzem Abstand zu dem in der Nähe fließenden Bach. Ich brauchte dringend etwas Wasser und auch sie trank ein wenig, lief aber gleich danach ungeduldig auf und ab. Nachdem ich meinen Durst gestillt hatte, gönnte ich mir gerade mal eine Minute, um kurz durchzuatmen. Für Taira war es wohl quälend lange und so fügte ich mich schon bald wieder seufzend meinem Schicksal.

Ich setzte mich auf den Boden und lehnte mich an einen Baum. Taira schaute mich irritiert an und jaulte leise. Entweder wusste sie nicht, was das jetzt zu bedeuten hatte oder ihr gefiel mein Verhalten nicht. Vermutlich hatte sie erwartet, dass wir gleich weiterlaufen würden und wusste jetzt nicht so recht, was sie tun sollte. Die Situation fand ich irgendwie komisch und ich musste grinsen.
>Na komm schon her, du Quälgeist<, sagte ich schmunzelnd zu ihr und klopfte mit der flachen Hand neben mir auf den Boden. Das schien sie wiederum genau zu verstehen, denn sie kam sofort zu mir und setzte sich.
Natürlich spürte ich gleich wieder die Spannung, was mich kurz die Luft anhalten ließ. Obwohl ich damit gerechnet hatte, war es doch jedes Mal ein so intensives Gefühl, dass es immer einen Augenblick dauerte, bis ich mich daran gewöhnt hatte. Und bei ihr war es auch um einiges heftiger als gestern bei dem Hasen. Es war ein regelrechter prickelnder Schauer, der mir über den Körper lief. Ob ich mich daran wohl jemals gewöhnen könnte?
>Darf ich dich anfassen?<, fragte ich vorsichtig.
Ein leises Brummen ertönte, während sie sich neben mir hinlegte und scheinbar entspannt hechelte.
>Ich nehme an, das heißt ja<, sagte ich und streckte langsam die Hand aus.
Das Wolfsfell zum ersten Mal zu berühren war überraschend toll. Ich hätte eher einen rauen Pelz erwartet, doch das hier war ganz anders. Es fühlte sich außerordentlich weich an, fast seidig. Durch den direkten Körperkontakt löste sich auch die Spannung im Nu auf. Ich musste schlucken, als ich ihr schimmerndes Licht unmittelbar deutlich spürte. Die Verlockung war wahrhaftig sehr stark, aber um keinen Preis wollte ich eintauchen und sie an mich reißen.
Da ihr meine Berührung nichts auszumachen schien, fing ich an sie sanft zu streicheln, um mich damit selbst etwas abzulenken. Es gefiel mir und ihr schien es da nicht anders zu gehen. Schon kurze Zeit später legte sie den Kopf auf meinem Oberschenkel ab. Das war absolut irre. Hätte mir vor drei Tagen jemand gesagt, dass ich heute alleine in einem Wald sitzen und einen Wolf streicheln würde, hätte ich ihn für verrückt erklärt. Allerdings galt das wohl für eine ganze Menge von dem, was ich in den letzten zwei Tagen erlebt hatte. Es war so viel Unglaubliches passiert, dass nichts und niemand mich auch nur annähernd darauf hätte vorbereiten können.

Den Rest des Vormittags verbrachte ich damit, mich auf die Verbindung zu konzentrieren. Einerseits war das direkt erholsam, weil ich bei ihr wie bei dem Hasen in diesem Zustand die Verlockung der Energie nicht so sehr spürte. Es war sogar noch extremer, weil der Reiz vorher ungleich stärker gewesen war. Andererseits war es aber auch sehr faszinierend und überraschend. Zwar war die Ähnlichkeit zu dem Hasen sehr groß, doch sah das Licht in den Zellen der Wölfin teilweise ganz anders aus. Als ob man Sterne an einem anderen Himmel sehen würde.
Wie gestern auch verlor ich dabei erneut das Zeitgefühl und wurde erst durch ein sich ständig wiederholendes, fiependes Geräusch allmählich zurückgeholt. Diesmal war es hart, mich von ihr zu lösen. Vielleicht weil ich so lange vertieft war. Vielleicht lag es aber auch an der Wucht, mit der ich plötzlich wieder die ganze Intensität ihrer Aura spürte. Jedenfalls war die Übelkeit wieder ziemlich heftig. Es hatte nicht viel gefehlt und ich hätte mich übergeben müssen.
Es dauerte auch einige Zeit, bis ich die Steifheit aus meinen Gliedern vertreiben konnte. Allerdings fror ich nicht, obwohl es ziemlich kühl war. Taira hatte sich die ganze Zeit an meine Seite gekuschelt und mich gewärmt. Nur die andere Körperhälfte war etwas kälter aber das war nicht so schlimm. Ich raffte mich auf, reckte mich kurz und hoffte, dass sich mein Magen schnell wieder beruhigen würde. Ein paar tiefe Atemzüge später machte ich mich mit wackeligen Beinen auf den Rückweg zum Haus.

Taira blieb von sich aus vor der Tür sitzen. Ich verabschiedete mich kurz von ihr und ging hinein. Sylvia stand an der Feuerstelle und rührte in dem großen Kessel herum. Vermutlich stand heute wieder ein Eintopf auf dem Speiseplan und ich ahnte schon, dass es ein Hasengericht war. Das wiederum war nicht gerade hilfreich, die Rebellion in meinem Bauch zum Abklingen zu bringen.
>Geht es dir nicht gut?<, fragte sie mich, gleich nachdem sie mich hereinkommen sah.
>Nicht wirklich. Mir ist schlecht. Ich habe mich gerade etwas zu schnell aus der Verbindung gelöst.<
>Oh, ich verstehe<, erwiderte sie, nahm gleich darauf ein kleines Bündel Kräuter von einem Haken an der Wand und hing es in einen großen Becher. Dann streute sie noch Zucker darüber und goss das Ganze mit Wasser aus einer Karaffe auf.
>Hier bitte<, sagte sie und reichte mir den Becher. >Lass es zwei Minuten ziehen und dann kannst du es trinken.<
Ich bedankte mich und hielt mir den Becher unter die Nase. Alleine schon der leichte Geruch der Kräuter hatte eine wohltuende Wirkung und ich atmete ihn langsam ein.
>Wie ist das Training denn gelaufen?<, frage sie nach.
>Ganz gut eigentlich. Jedenfalls bis kurz vor Schluss. Taira war die ganze Zeit an meiner Seite gehangen wie eine Klette. Sie hat mir kaum eine Verschnaufpause gegönnt.<
>Hat sie das<, meinte Sylvia schmunzelnd, was meinen Verdacht bestätigte, dass sie genau das von ihr erwartet hatte. >Na, dann will ich deiner engagierten Trainingspartnerin mal eine Kleinigkeit zur Belohnung geben.<
Sie nahm eine Schüssel und ging mit dieser nach draußen. Ich hörte noch, wie sie in ihrer Sprache etwas zu Taira sagte, bevor die Tür hinter ihr zufiel. Wie gerne würde ich diese Sprache beherrschen. Gerade eben hatte sie so merkwürdig vertraut geklungen, obwohl sie mir doch vollkommen fremd war. Oder etwa nicht? Hatte meine Mutter früher zu mir in dieser Sprache gesprochen, wenn sie mit mir alleine war?

Gedankenverloren rührte ich mit dem Kräuterbüschel in dem Becher, nahm es schließlich heraus und trank einen Schluck. Heilsam breitete sich die Flüssigkeit in meinem Magen aus und sorgte dafür, dass er sich wieder beruhigte.
>Willst du auch etwas essen?<, fragte Sylvia, die wieder hereingekommen war.
>Ich… weiß nicht.<
>Nun ja, ich habe mir lange überlegt, was ich heute kochen soll. Eigentlich ist Haseneintopf eine Spezialität von mir, aber nachdem was gestern passiert ist, war ich mir nicht sicher, ob du davon essen würdest. Ich habe ihn aber trotzdem gemacht. Ich halte es nach wie vor für wichtig, dass du den Sinn begreifst. Aber ich überlasse es dir, was du essen möchtest. Alternativ gibt es einen Salat. Es ist auch noch etwas von dem Laugengebäck da, wenn dir das jetzt lieber ist.<
Im ersten Moment war ich überrascht, dass sie mir so direkt sagte, was sie beabsichtigt hatte. Aber ich war auch dankbar dafür, dass sie mir die Entscheidung überließ. Offensichtlich hatte sie das heute Morgen wirklich ernst gemeint, dass sie mich zu nichts mehr zwingen wollte.
>Ich glaube nicht, dass ich jetzt etwas von dem Haseneintopf essen möchte. Aber Salat und Gebäck hört sich gut an.<
>Wie du möchtest<, sagte sie und holte Schüsseln und Besteck.

>Wie war es denn für dich, den ganzen Vormittag Tairas Energie zu spüren?<, fragte sie mich während des Essens.
>Ziemlich anstrengend<, gab ich zu. >Lässt das eigentlich irgendwann nach?<
>Was? Dass es anstrengend ist?<
>Nein, dass die Energie so verlockend ist.<
Sylvia schüttelte leicht den Kopf.
>Tut mir leid, aber darauf kannst du nicht hoffen. Stelle dir die Energie mal wie ein Glas Wasser vor, das du in deinen Händen hältst. Und auch, wie herrlich es deinen Durst stillt, wenn du trinkst. Du weißt, was ich damit meine, oder?<
Ich nickte, wobei mich die Erinnerungen an die beiden Male, in denen ich Lebensenergie aufgenommen hatte, sehr belasteten. Ich hätte auf diese Empfindungen gerne verzichtet, aber ich musste mir selbst eingestehen, dass es sich auf eine verstörende Art und Weise gut angefühlt hatte.
>Und du hast bisher noch nicht viel aufgenommen, Nico. Je stärker sie ist, desto besser wird sie dir schmecken und umso schwieriger wird es, dem Verlangen zu widerstehen. Deshalb sagte ich dir ganz am Anfang, dass das, was du brauchst, vor allem Selbstbeherrschung ist.<
Ich erinnerte mich an unsere erste Begegnung. Damals war sie für mich auf den ersten Blick eine feindselige und misstrauische alte Einsiedlerin gewesen. Unglaublich, was sich in zwei Tagen alles geändert hatte. Auch wenn wir uns noch nicht richtig angefreundet hatten, so lagen doch Welten zwischen heute und vorgestern.
>Lebst du deshalb hier draußen in der Einsamkeit?<, frage ich nach. >Weil es so anstrengend ist, der Energie immer zu widerstehen?<
Sie antwortete nicht sofort, sondern schaute mich zunächst nachdenklich an. >Menschliche Gesellschaft ist … schwierig<, sagte sie schließlich. >Es ist nicht nur die Verlockung der Energie. Wir leben einfach um ein Vielfaches länger. Wenn du dich auf eine Beziehung zu einem Menschen einlässt, wirst du ihn früher oder später verlieren. Und glaube mir, es wird immer viel zu früh sein.<
Ich ließ ihre Worte auf mich wirken und sagte nichts dazu. Das war auch nicht nötig. Sie wusste, dass ich verstanden hatte. Die Vorstellung, meinen Vater, meine Freunde und auch Kassandra irgendwann zu verlieren, war bedrücken. Das konnte sie mir sicherlich ansehen. Aber sollte ich deshalb darauf verzichten? War im Zweifelsfall eine kurze Beziehung denn nicht besser als gar keine?

Auch als ich das Training am Nachmittag wieder aufgenommen hatte, beschäftigte mich der Gedanke noch eine ganze Weile, ohne dass ich zu einem Ergebnis gekommen wäre. Irgendwann gab ich es auf, denn die Nähe der Wölfin zu spüren war erneut sehr anstrengend, sodass ich ohnehin nicht nachdenken konnte. Diesmal joggten wir auch nicht mehr durch den Wald, sondern machten nur einen ausgedehnten Spaziergang. Den unterbrachen wir auch häufiger, damit ich die Verbindung eingehen konnte. Wenigstens bekam ich das etwas besser hin, sodass mir nicht jedes Mal übel wurde.
Wir waren gerade ziemlich weit vom Haus entfernt unterwegs, als Taira überraschend stoppte und leise knurrte. Erschrocken blieb ich stehen. Wie angewurzelt stand sie da, und schaute starr zur Seite. Ich folgte ihrer Blickrichtung, konnte aber zunächst nichts entdecken. Plötzlich bemerkte ich eine Bewegung in größerer Entfernung, die mir das Blut in den Adern gefrieren ließ. Dort streifte ein Braunbär durch den Wald. Ich wusste, dass es Bären in Schweden gab, aber ich war noch nie einem begegnet.
Ich hatte nicht die leiseste Ahnung, wie man sich gegenüber Bären verhalten sollte. Weglaufen oder stehen bleiben? Leise sein oder Lärm machen? Für den Moment schien es mir das klügste zu sein, mich einfach an der Wölfin an meiner Seite zu orientieren. Irgendwie hatte ich das Gefühl, dass sie mich im Notfall wohl verteidigen würde, aber ich hoffte sehr, dass es nicht zu einer Konfrontation kam. Oder vertraute Taira darauf, dass ich sie verteidigte? Wusste sie, welche Macht Sylvia hatte und ob ich diese auch hatte? Würde ich denn in so einer Notsituation meine Fähigkeit überhaupt einsetzen können?
Unwillkürlich stellte ich mir Szenen vor, wie ein Kampf mit diesem riesigen Tier aussehen könnte. Es war ein verzweifelter Versuch, sich noch schnell auf etwas vorzubereiten, das einen letztlich doch eiskalt erwischt hatte. Mir huschten ein paar Möglichkeiten durch den Kopf, wie ich es vielleicht schaffen könnte, doch keine dieser Fantasien wollte ich gerne erproben und wahr werden lassen.
Als der Bär sich dann nach kurzer Zeit wieder in Bewegung setzte, war ich sehr erleichtert, dass er sich von uns entfernte. Allerdings war er in die Richtung gegangen, in die wir ursprünglich auch gehen wollten.
>Was meinst du?<, fragte ich Taira. >Sollen wir lieber zurückgehen?<
Ein zustimmendes Brummen ertönte und wir machten kehrt.

Es war schon später Abend, als wir wieder am Haus ankamen. Ich verabschiedete mich von ihr und bedankte mich, dass sie mir so eine gute Trainingspartnerin war. Ob sie mich verstanden hatte, konnte ich nicht sagen, aber sie machte den Eindruck, dass sie ganz zufrieden mit sich war. Vielleicht hatte ihr der Tag mit mir sogar Spaß gemacht. Langweilig war es jedenfalls nicht gewesen und zum Ende hin hätte man es sogar kurz als richtig aufregend bezeichnen können.
Als ich die Tür öffnete, wollte ich eigentlich sofort von der Begegnung mit dem Bären erzählen, doch der Gedanke verstummte augenblicklich in meinem Kopf, als ich Sylvia ein Lied summen hörte. Sie saß auf einem Hocker an ihrer Werkbank und schnitzte an einer Figur. Dabei hatte sie die Melodie auf den Lippen, die ich schon an meinem ersten Abend gehört hatte und die mir so vertraut war. Sofort hatte ich wieder ein Bild von meiner Mom im Kopf.
>Ich kenne dieses Lied<, sagte ich zu ihr.
>Wirklich?<, erwiderte sie mit einem Lächeln auf den Lippen. >Wer hätte das gedacht.<
>Meine Mutter hatte es immer gesungen, wenn sie mich zu Bett gebracht hatte.<
>Das ist ja auch ein Schlaflied. Vermutlich das älteste der Welt. Penelope hat es schon immer geliebt und oft gesungen oder zumindest gesummt. Vor allem, wenn sie gut gelaunt war. Ich muss oft an sie denken, seit du hier bist. Weißt du, Nico, ich glaube, deine Mutter wäre die letzten Tage sehr stolz auf dich gewesen.<
>Wirklich?<
>Ganz sicher sogar. Du hast ihr alle Ehre gemacht.<

Ein warmes Gefühl machte sich schlagartig in meiner Brust breit, als wäre dort eine winzige Brandbombe explodiert. Irgendwie fühlte ich mich plötzlich meiner Mom ganz nah, obwohl sie mir schon so lange fehlte.
>Du hast sie sehr gut gekannt, oder?<, fragte ich sie, denn ich wollte so gerne erfahren, was Sylvia alles über meine Mutter wusste. >Ich habe leider nur ganz wenige Erinnerungen und Andenken an sie und vieles verstehe ich einfach nicht. Wie zum Beispiel ihr Tagebuch, das ich nicht lesen kann. Oder diese Kette mit dem Schlüssel, dessen Bedeutung ich nicht kenne. Kannst du mir nicht ein bisschen von ihr erzählen?<
Lächelnd legte sie die Figur und ihr Schnitzmesser zur Seite und ging zum Kamin. Dort setzte sie sich in den Schaukelstuhl und wies auf den Sessel, in den ich mich setzen sollte. Dann überlegte sie eine ganze Weile, beobachtete mich und schmunzelte dabei. Für mich war das die reinste Tortur. Ich konnte kaum erwarten, mehr zu erfahren und empfand ihr Zögern als furchtbar nervenaufreibend.
>Nun ja, was soll ich dir denn erzählen?<, fing sie endlich an. >Ehrgeizig war sie. Klug und talentiert, doch auch sehr ungeduldig. In den Punkten scheint ihr euch extrem ähnlich zu sein.<
Sie grinste, als sie das sagte und ließ sich erneut ein wenig Zeit, bis sie weitererzählte.
>Jedenfalls konnte ihr nichts schnell genug gehen. Sie versuchte schon zu laufen, bevor sie überhaupt stehen konnte. Ihre Ungeduld war ihr größter Gegner. Immer wieder stellte sie sich neuen Herausforderungen, ohne zu wissen, wie sie diese meistern sollte. Doch das hielt sie nicht davon ab, sich mit vollem Einsatz einer Sache zu widmen. Manchmal war sie regelrecht besessen, wenn sie sich etwas in den Kopf gesetzt hatte. Nikiforos beeindruckte das sehr. Sie war definitiv sein Liebling, auch wenn er das nie öffentlich zugegeben hätte. Ich glaube, er hat sie sogar für ihre Selbstlosigkeit bewundert.<
>Selbstlosigkeit?<
>Ja. Sie hatte die Fähigkeit, andere mit unserer Gabe zu heilen, nahezu perfektioniert. Das war wirklich beeindrucken, wenn auch in den Augen unseres Volkes reine Zeitverschwendung.<
>Das verstehe ich nicht. Warum denn Zeitverschwendung? Heilen zu können ist doch eine gute Sache?<
>Unter den Menschen sind fähige Heiler hoch angesehen, aber nicht bei uns. Jeder unseres Volkes lernt etwas Heilkunst für sich selbst, denn wir können unsere Gabe bei Unseresgleichen nicht einsetzen.<
>Echt nicht?<, sagte ich erstaunt, denn damit hatte ich nicht gerechnet.
>Du hast mich doch vor zwei Tagen gefragt, warum sich unsere Aura von der der Menschen unterscheidet. Nun, vielleicht kann ich dir jetzt die Antwort geben. Was genau die Ursache ist, kann ich dir nicht sagen. Physiologisch sind wir den Menschen eigentlich vollkommen gleich. Und doch sind wir anders. Unsere Lebensenergie ist anders. Wir können die Energie von jedem anderen Lebewesen beeinflussen oder abziehen, nur nicht die von Angehörigen unseres Volkes. Deshalb erkennen wir einander auch sofort.<
>Deshalb also der Unterschied? Fühlt es sich deshalb auch so anders an, wenn ich dich berühre, als wenn ich andere berühre?<
>Genau so ist es<, bestätigte sie lächelnd.
>Aber wie kommt es dann, dass ich außer dir noch keinen anderen getroffen habe, der eine Aura in der gleichen Farbe hat?<
>Weil von unserem Volk nicht mehr viele übrig sind. Und die, die es noch gibt, bleiben lieber im Verborgenen.<
>Wieso denn? Sind wir nicht ein Volk?<, fragte ich verwundert.
>Wir waren

ein Volk. Wie ich dir schon erzählt habe, wurde unsere Heimat vor langer Zeit zerstört und die, die noch leben…<

Mitten im Satz hatte sie abgebrochen und starrte nachdenklich vor sich hin. Ich wunderte mich und schaute sie abwartend an. Warum war sie auf einmal ins Stocken geraten? Spontan kam mir ihr Misstrauen bei unserer ersten Begegnung in den Sinn und ich fragte mich, ob es da einen Zusammenhang gab. Als sie nach einer gefühlten Ewigkeit noch immer nichts sagte, sprach ich sie vorsichtig darauf an.
>Wo liegt denn das Problem mit … unseren Verwandten?<
Vermutlich hatte ich sie damit aus den Gedanken gerissen, denn sie schaute mir erst kurz irritiert, doch dann fest und entschlossen in die Augen.
>Das Problem? Ganz einfach. Man kann Keinem trauen.<
Wieder folgte eine quälende Pause, in der mich die Neugierde fast vor Ungeduld platzen ließ.
>Warum nicht?<, fragte ich nach, doch sie ließ sich erneut Zeit, bevor sie antwortete.
>Die Meisten unseres Volkes sind nicht gerade das, was man als “gute Menschen” bezeichnen würde<, erklärte sie schließlich. >Sie sind machthungrig, rücksichtslos, brutal, hinterlistig und was du dir sonst noch so vorstellen kannst. Wärst du einem von ihnen begegnet, wärst du jetzt vermutlich tot.<
Geschockt schaute ich sie an. Ich konnte kaum glauben, was sie mir da sagte. Was könnten die anderen denn gegen mich haben? Aber warum sollte sich Sylvia so etwas ausdenken?
>Warst du bei unserem Treffen deshalb so … vorsichtig? Wenn ich mich richtig erinnere, hattest du auch von einem Hinterhalt gesprochen und davon, dass meine Mutter in der Gewalt von irgendjemandem stecken würde.<
Erneut legte sie eine Pause ein. Bisher hatte sie bei unseren Gesprächen noch nie so nachdenklich und gleichzeitig auch in gewisser Weise verkrampft gewirkt. Es schien mir, als würde da ein heftiger Konflikt in ihrem Innern ausgetragen werden. Auch als sie weiter sprach, entspannte sich ihre Miene nicht.
>Die Welt ist für uns nicht sicher, Nico. Die anderen unserer Art sind auch ein Grund, warum ich lieber in der Einsamkeit lebe. Denn eines muss dir klar sein. Sie sind außerordentlich gefährlich. Penelope ist ein großes Risiko eingegangen, weil sie dieser fixen Idee von dem Schlüssel der Hoffnung gefolgt ist.<
>Dann sag mir doch bitte, was es mit diesem Schlüssel auf sich hat, damit ich es verstehe.<
>Damit du ihr nacheiferst und dich auch in sinnlose Gefahr begibst? Kommt überhaupt nicht in Frage. Ich will nicht, dass du den gleichen Fehler begehst.<
>Sylvia, bitte. Ich…<
>Nein, nein und nochmal nein. Ich werde das nicht zulassen!<

Ich stöhnte auf und schüttelte resigniert den Kopf. Schon wieder war ich mit ihr an einem Punkt angelangt, an dem sie sich weigerte, mir mehr zu erzählen. Das ärgerte mich mindestens genau so sehr, wie es mich deprimierte. Ich spürte, wie es in mir gärte.
>Das ist nicht fair<, brach es aus mir heraus und ich konnte meine Verärgerung dabei nicht ansatzweise verbergen. >Du kennst meine Mom so gut, doch ich weiß fast nichts von ihr. Du weißt, was ihr wirklich wichtig im Leben war. Etwas, das ihr sogar noch wichtiger war als Dad und ich. Doch du willst es mir einfach nicht sagen.<
>Was redest du denn da?<, erwiderte sie verwundert mit betroffen klingender Stimme. >Das war ihr bestimmt nicht wichtiger als ihre Familie.<
>Ach nein? Warum ist sie dann gegangen, um dieses Ding zu suchen? Warum hat sie uns verlassen? Warum ist sie jetzt nicht bei mir, um mir alles beizubringen? Warum musste ich denn ohne Mutter aufwachsen?<
Mein Körper vibrierte vor Anspannung und ich ballte meine Hände zu Fäusten, damit Sylvia meine zitternden Finger nicht sehen konnte. Von einem Moment auf den anderen waren diese Worte aus mir herausgesprudelt, als wäre in mir ein Staudamm gebrochen, der bisher alles sicher zurückgehalten hatte. Ich hatte das doch gar nicht gewollt. Ich wollte nicht so von meiner Mutter denken. Ich wollte diese Leere nicht wieder fühlen. Nicht mit dem Schmerz, der dadurch in mir verursacht wurde. Ich hatte das doch alles hinter mir gelassen. Doch jetzt saß ich hier und konnte nicht verhindern, dass sich trotz meiner verkrampften Körperhaltung eine Träne aus meinem Auge stahl.
>Nico<, sagte sie mit sanfter Stimme. >Es tut mir leid. Ich wollte doch nur…<
>Das ist mir egal!<, fuhr ich sie an. >Du weißt, dass ich ein Recht darauf habe, es zu erfahren. Sag mir wofür das hier steht!<
Bei meinem letzten Satz holte ich die Kette hervor, zog sie mir über den Kopf und hielt sie zwischen uns. Der goldene Schlüssel glänzte im flackernden Licht des Kaminfeuers. Er funkelte und überstrahlte damit alles, als wüsste er ganz genau, dass es im Augenblick nur um ihn ging.

Sylvias schaute eine Weile stumm auf den glänzenden, goldenen Schlüssel. Nur ganz langsam löste sie sich von seinem Anblick und sah mir dann direkt in die Augen. Ich konnte in ihrem Gesicht erkennen, dass da noch immer ein heftiger Kampf in ihrem Innern tobte. Sie wirkte hin und her gerissen, doch unser Blickkontakt währte nur für einen kurzen Moment. Gleich darauf erhob sie sich und drehte sich zur Feuerstelle um.
Enttäuscht schaute ich sie von der Seite an. Ich hatte so sehr gehofft, dass sie mir verraten würde, was meine Mom wirklich dazu gebracht hatte, uns zu verlassen. Aber sie machte keine Anstalten, mir etwas zu erzählen. Stattdessen stand sie einfach da und stocherte mit einem Schürhaken in der Glut.
Mit jedem auffliegenden Funken, der sich knisternd aus dem Feuerholz löste, verwandelte sich die Wut in mir in Resignation. Ich ließ meine Kette noch kurz durch meine Finger gleiten und legte sie danach wieder um. Noch einmal betrachtete ich den Schlüssel in meinen Händen, bevor ich ihn schließlich mit einem kurzen Seufzer unter mein T-Shirt gleiten ließ. Ich blickte erneut zu Sylvia, die unverändert auf die Flammen vor sich fixiert war.
Ich konnte mir kaum vorstellen, dass sie von der Faszination des Feuers dort gehalten wurden. Sie hatte sich schlicht von mir abgewandt und wollte nicht mehr mit mir reden. Das anhaltende Schweigen empfand ich zunehmend als belastend. Auch die Luft schien mir hier drinnen immer dicker zu werden. Ich verspürte das stärker werdende Bedürfnis, mich nach draußen zu begeben und einmal tief durchzuatmen. Eine frische Brise würde mir jetzt gut tun.

>Wenn Penelope und ich früher an einem Lagerfeuer saßen, dann hatte sie oft stundenlang in die Flammen gestarrt<, sprach mich Sylvia völlig unerwartet an, als ich mich gerade in Richtung Tür begeben wollte.
Überrascht hielt ich inne und drehte mich zu ihr um. Sie stand noch immer da, den Blick auf die Glut geheftet. Nur langsam schien sich ihre Körperhaltung zu entspannen.
>Das Feuer erinnerte sie immer an unseren Mentor. Du musst wissen, sein Tod hatte tiefe Narben in ihrer Seele hinterlassen. Wir waren dabei, als er in den Flammen starb. Unfähig ihn zu retten, mussten wir mit ansehen, wie er mit Feuer zu Tode gefoltert wurde.<
>Gefoltert?<, rutschte es aus mir heraus, obwohl ich eigentlich nichts sagen wollte, um sie nicht zu unterbrechen.
>Ja. … Denke bitte nicht, wir hätten ihn nicht retten wollen. Wenn da auch nur der Hauch einer Chance gewesen wäre, hätten wir es versucht. Aber gegen eine Bande, die den großen Nikiforos bezwingen konnte, waren unsere Aussichten gleich Null. Im Grunde hatten wir Glück, dass wir sein Schicksal nicht teilen mussten. Hätten sie uns entdeckt, wären wir sicher auch ermordet worden.<
>Aber warum?<
>Warum? Du willst wissen warum?<, erwiderte sie energisch und drehte sich dabei zu mir um. Wut und Verzweiflung waren ihr ins Gesicht geschrieben. Auch wenn sie gerade davon gesprochen hatte, dass vor allem meine Mutter unter seinem Tod gelitten hätte, konnte ich deutlich erkennen, dass das auch für sie galt.
>Der Schlüssel war der Grund!<, fuhr sie fort. >Er hat sich mit seiner verdammten Suche nach diesem Ding selbst in dieses Schicksal geführt. Und alles nur wegen einer uralten Prophezeiung.<

Sie wandte sich wieder schwer atmend der Glut zu und machte erneut eine längere Pause.
>Was für eine Prophezeiung?<, fragte ich nach, denn ich fürchtet schon, sie würde wieder in ein anhaltendes Schweigen verfallen.
>Die Prophezeiung vom Schlüssel der Hoffnung<, fuhr Sylvia fort. >Sie besagt, dass der Schlüssel gefunden wird, wenn das Volk dem Bösen anheimfällt. Der letzte Gerechte des Volkes würde ihn finden und das Übel vernichten. Und übel waren die Zeiten, dass es übler nicht mehr ging. Unser Volk war in den Augen der Menschen das personifizierte Böse. Rücksichtslos und brutal wurden sie unterdrückt, versklavt und nicht selten zum Vergnügen getötet, nur um sich an dem Fluss der Energie zu berauschen. Sehr wenige von uns hatten Mitleid mit den Menschen. Nikiforos war überzeugt davon, dass die Zeit bald kommen würde. Er warnte unser Volk in seinen Ansprachen, doch obwohl er sehr angesehen war, hörte kaum jemand auf ihn. Allerdings waren sie sich in einem Punkt einig. Wenn es den Schlüssel tatsächlich gab und er jemals gefunden würde, dann von Nikiforos. Und deshalb trachteten ihm viele nach dem Leben.<
>Was kann dieser Schlüssel denn, dass er so wichtig ist?<
>Das weiß niemand, Nico. Das ist es ja gerade. Es ist eine vage Prophezeiung. Weder ist bekannt, was er bewirkt, noch, wie er überhaupt aussieht. Die meisten hielten ihn für eine Art Waffe, mit der man die Energie unserer Art kontrollieren könnte. Deshalb sind viele hinter ihm her gewesen. Jeder wollten ihn haben, um die Herrschaft an sich reißen zu können. Und fast alle von denen vertraten die Auffassung, dass niemand ihn bekommen sollte, wenn sie ihn nicht selbst haben konnten.<
>Weißt du, wie genau diese Prophezeiung lautet?<
>Ob ich das weiß? Natürlich weiß ich das. Nikiforos hat uns den Text geradezu eingebläut und uns jeden Teil analysieren lassen. Sie ist in unserer Sprache verfasst. Ich könnte sie für dich übersetzten, aber versprich dir nicht zu viel davon. Du musst wissen, dass diese Prophezeiung sehr alt ist.<
>Ich würde sie trotzdem sehr gerne hören.<
>Nun ja<, begann sie mit einem leichten Seufzen. >Entsprechend unseren Überlieferungen stammte sie aus den Anfängen unseres Volkes. Aus der Zeit, als unsere besondere Fähigkeit entdeckt wurde. Eine Schamanin, die ein außergewöhnliches Verständnis für die Zusammenhänge in der Natur hatte, verkündete sie. Diese Frau war sozusagen eine spirituelle Anführerin unseres Volkes. Der Legende nach hatte sie Visionen von der Zukunft. Eine davon führte zu dieser Prophezeiung.<
Sylvia schien um einen sehr sachlich, nüchternen Ton bemüht zu sein. Ich spürte zwar, dass ihr bei diesem Thema nicht wirklich wohl war, aber ich war sehr froh, dass sie mir davon erzählen wollte. Gespannt hörte ich ihr zu.
>Also sinngemäß lautet sie wie folgt<, fuhr sie fort. >Dunkle Tage stehen bevor. Tage, an denen das Volk seine Macht maßlos missbrauchen und die Welt ins Ungleichgewicht stürzen wird. An denen es vergessen wird, dass wir alle Kinder der gleichen Mutter sind. An denen es unwiderruflich dem Weg des Bösen folgen und blind für Güte und Mitgefühl wird. … Doch wenn alleine die Hoffnung alles sein wird, was den Unterdrückten noch bleibt, kommt die Stunde des letzten Gerechten des Volkes. Von ihm wird der Schlüssel gefunden werden. Mit ihm wird er die Macht des Volkes durchbrechen und Vergeltung üben. Dann wird das Übel sein Ende finden.<

>…die Macht des Volkes durchbrechen<, wiederholte ich leise. >Und deshalb wurde Nikiforos getötet?<
>Ja<, bestätigte sie, >aus diesem Grund haben sie ihm aufgelauert, ihn überwältigt und gefoltert. Sie wollten aus ihm herauspressen, was er über den Schlüssel wusste. Doch letzten Endes wollten sie ihn vor allem töten, damit er keine Gefahr mehr werden konnte.<
Mit betrübter Miene wandte sie sich wieder dem Kamin zu. Still beobachtete ich sie dabei, wie sie eine Zeitlang das Feuer schürte und dann den Kessel mit den Resten vom Mittagessen wieder über den Flammen platzierte. Während sie vor sich hin rührte, ließ ich mir all das, was ich gerade gehört hatte, durch den Kopf gehen. Wie würde ich wohl empfinden, wenn ich mit ansehen müsste, wie jemand brutal bei lebendigem Leibe verbrannt wurde? Jemand, der mir viel bedeutete? Wie quälend musste da die Hilflosigkeit und Trauer sein?
>Möchtest du jetzt etwas von dem Eintopf haben?<, fragte sie und holte mich damit aus meiner Gedankenwelt zurück.
Ich nickte ihr kurz bestätigend zu. Eigentlich war ich noch immer nicht sonderlich scharf darauf, etwas davon zu essen, aber ich hoffte, sie würde mir dann noch mehr erzählen, wenn wir noch ein wenig zusammen aßen.

>Warum spielt der Schlüssel denn heute noch eine Rolle?<, fragte ich sie schließlich nach dem Essen, um das Thema wieder aufzugreifen. >Hast du nicht gesagt, dass unser Volk mit dem Untergang von Vitara fast vollständig vernichtet wurde?<
>Das ist eine gute Frage. Die hatte sich Nikiforos auch gestellt. Damals, als das große Unglück geschah, waren deine Mutter und ich zusammen mit unserem Mentor auf einer Reise. So haben wir überlebt. Er dachte sogar, dass es gerade diese Katastrophe gewesen sein könnte, vor der die Prophezeiung gewarnt hatte. Schließlich war die Zerstörung unserer Heimat ein Ereignis, das alles verändert hatte. Er war davon überzeugt, dass die Menschheit nun von dem Übel, das wir über sie gebracht hatten, befreit wäre. Er hatte ja keine Ahnung, wie falsch er da lag.<
>Er lag falsch? Das verstehe ich nicht.<
>Nicht alles an Vitara war schlecht, Nico. Auch wenn wir für die Menschen der schlimmste Albtraum waren, herrschten doch auch Gesetz und Ordnung in unserer Welt. Wir hatten klare Strukturen, die den Zusammenhalt unseres Volkes sicherten. Doch die sind genauso vernichtet worden. Damals waren nur noch einige hundert, höchstens ein, zwei tausend von uns übrig. Sie alle waren nun mehr oder weniger auf sich alleine gestellt. … Und sie konnten tun und lassen, was sie wollten.<
>Du meinst, sie haben einfach wie bisher weiter gemacht?<
>Nein, viel schlimmer. Viele haben sich zu Herrschern über die Völker der Menschen erhoben. Unsere Überlegenheit gab ihnen die Macht dazu. Eine Macht, die sie auslebten. Manche erhoben sich selbst zu Königen. Andere sogar zu Göttern. Dass sich vor Jahrtausenden praktisch aus dem Nichts plötzlich große menschliche Zivilisationen entwickelt haben, war kein Zufall.<
>Du meinst, dass unser Volk dafür verantwortlich war?<
>Oh ja. Wir haben die Menschen auf diesen Weg geführt. Alles, was die verbliebenen Vitaraner noch interessierte, war der Ausbau ihres jeweiligen Herrschaftsgebietes. Schon bald wurden aus Brüdern und Schwestern Konkurrenten und schließlich erbitterte Feinde. Sie haben die Menschen benutzt und in sinnlose Kriege gestürzt. Unser Volk hat sie gelehrt, rücksichtslos und grausam zu sein. Zu morden, zu plündern und zu versklaven. Und die Menschen waren gute Schüler.<

Ungläubig schüttelte ich den Kopf. Es klang so unfassbar, was sie da erzählte. Das konnte doch nicht sein, dass dieses Volk, zu dem ich auch gehörte, so durch und durch böse war. Nein, das wollte ich nicht wahrhaben.
>Aber es können doch nicht alle so gewesen sein. Es muss doch auch welche gegeben haben, die nicht so grausam waren. So wie dich, meine Mutter und Nikiforos. Ihr habt das doch auch nicht mitgemacht, oder?<
Betreten schaute sie mich an. Ich war entsetzt, dass ich Betroffenheit in ihren Augen erkennen konnte. Das durfte einfach nicht wahr sein. Nicht sie. Nicht meine Mutter.
>Nun ja. Einige von uns haben es sicherlich mit guten Absichten gemacht<, begann sie zu erklären. >In dem Bestreben, den Menschen Kultur, Gesetze und Ordnung zu vermitteln. Die guten Seiten von Vitara wiederaufleben zu lassen. Werte wie Gerechtigkeit und Ehre hoch zu halten. Doch letztlich musste man bereit sein, diese Werte auch mit Gewalt zu verteidigen, denn andernfalls war alles umsonst.<
>Du meinst, der Zweck heiligt die Mittel?<
>So ungefähr<, sagte sie mit einem Nicken. >Aber irgendwann war Nikiforos diesen Weg leid. Er hatte erkannt, dass unser Volk der Menschheit dadurch nur noch mehr Leid gebracht hatte. Für ihn stand fest, dass die Prophezeiung mit dem Untergang von Vitara noch nicht erfüllt sein konnte. Ganz im Gegenteil. Die Anzahl der verbliebenen Angehörigen unseres Volkes reduzierte sich immer weiter. Sie ermordeten sich gegenseitig. Keiner traute dem anderen. Sie arbeiteten höchstens zeitweilig zusammen und verbündeten sich, um einen größeren Widersacher in die Knie zu zwingen. Wir drei waren da mit unserer Verbundenheit wohl eine Ausnahme. Aber das lag alleine an deiner Mutter. Sie hatte so ein grenzenloses Vertrauen in ihn und mich. Ich bewunderte sie dafür, auch wenn ich es für sehr leichtsinnig hielt. Aber ich habe sie auch geliebt. Sie war mir eine Schwester und eine Freundin. Letztlich war das auch der Grund, warum ich sie und unseren Mentor auf der erneuten Suche nach dem Schlüssel der Hoffnung begleitet hatte. Bis zu dem Tag, an dem er ermordet wurde.<
>Das muss schrecklich für euch gewesen sein.<
>Ja, das war es. Vor allem für deine Mutter. Alles was ihr von ihm geblieben war, war die Kette, die du um den Hals trägst. Es war seine Kette und er hatte sie immer unter der Kleidung getragen. Penelope hatte sie damals entdeckt, als sie die Asche mit seinen Überresten einsammelte, um ihm die letzte Ehre zu erweisen. An seinem Grab schwor sie ihm, die Suche fortzuführen.<
>Und du?<, fragte ich vorsichtig nach.
>Ich? Ich habe versucht, sie davon abzubringen. Doch es war zwecklos. Eine Zeitlang hatte ich sie begleitet, obwohl sie wusste, dass ich nicht daran glaubte, ihn jemals zu finden. Für mich war und ist er nur ein Mythos. Nicht mehr als eine Gutenachtgeschichte. Letztlich gingen wir getrennte Wege, aber wir trafen uns immer wieder und hielten über die Jahrtausende an unserer Freundschaft fest.<
Sie lächelte leicht, als sie das sagte. Doch ich spürte, dass sie ihr nicht weniger fehlte als mir.
>Du vermisst sie auch, oder?<
>Du hast keine Ahnung wie sehr. Aber dass sie nicht mehr da sein soll, kann ich einfach nicht glauben. Vielleicht will ich es nur nicht wahrhaben. ... Vielleicht ist sie es auch nicht.<
>Wie meinst du das?<
>Ich habe nichts gespürt! Als Vitara unterging und meine Familie starb, hatte ich es gefühlt. Als Nikiforos ermordet wurde und sein Licht erlosch, hatte ich es auch gefühlt. Aber ich habe nie etwas gefühlt, dass mich glauben ließ, Penelope wäre tot.<


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Kapitel 10

Die Quelle

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“Meine Mom lebt vielleicht noch.”
Dieser Satz hatte sich in meinem Gehirn festgesetzt und ließ mich nicht mehr los. Bis spät in die Nacht hatte er mich beschäftigt und jetzt, direkt nach dem Aufwachen, war er auch gleich wieder der erste Gedanke. Mein Kopf war voll von Erinnerungen an die intensiven Gespräche mit Sylvia am gestrigen Abend. Lange hatten wir noch über diese Möglichkeit geredet. Vor allem eine Frage hatte mich dabei am meisten beschäftigt. Was hielt denn Mom davon ab, zurückzukommen? Wenn sie noch am Leben war, warum war sie dann nicht bei uns oder hatte uns wenigstens eine Nachricht zukommen lassen?
Sylvia war davon überzeugt, dass es da nur einen Grund geben könnte, warum sie sich nicht bei Dad und mir meldete. Wenn sie noch lebte und sich so verhielt, dann musste das unserem Schutz dienen. Vielleicht war sie von anderen unserer Art entdeckt worden? In diesem Falle würde sie untertauchen und versuchen, die Spur von uns abzulenken. Selbst wenn es für sie die Hölle sein musste, würde sie alles tun, um Gefahr von uns abzuwenden. Daran hatte Sylvia nicht den geringsten Zweifel.

Die Aussicht, meine Mutter eines Tages vielleicht wiederzusehen, wirkte wie eine Droge auf mich. Ich konnte nicht mehr klar denken. Ich wollte sie so sehr zurückhaben, dass jeder Muskel meines Körpers vor Ungeduld zuckte. Und dennoch… Trotz dieser Vorfreude war die Vorstellung, meine Mutter könnte wirklich noch irgendwo auf dieser Welt sein, für mich nicht so einfach zu akzeptieren. Es zerriss mich beinahe, dass ein Teil von mir sich dagegen sträubte und es nicht wahrhaben wollte. Immer wieder fing mein Herz an zu rasen. Ständig hatte ich mich in der Nacht unruhig in meinem Bett gewälzt. Mein Kopf hatte sich angefühlt, als würde er gleich explodieren. Warum nur wollte etwas in mir nicht daran glauben? Sie war doch meine Mutter. Sollte ich mich nicht darüber freuen, dass sie vielleicht noch lebte? Natürlich tat ich das auch, aber eben nicht nur.
In den vergangenen Jahren hatte ich mich nach und nach damit abgefunden, dass sie weg war und ich sie nie wiedersehen würde. Sie war gestorben. Irgendwo weit weg in einem fremden Land. Das hatte ich zu meiner Realität gemacht. Ich wollte diese gemeine Wut nicht mehr spüren, dass sie uns einfach verlassen hatte. Wollte nicht mehr Tag für Tag hoffen, dass sie doch noch zurückkommen könnte. Natürlich vermisste ich sie wahnsinnig und es tat so weh, aber der Tod war nun mal endgültig. Dagegen konnte niemand etwas ausrichten. Und das zu akzeptieren hatte es mir leichter gemacht damit klarzukommen.
Doch jetzt? Wenn sie noch lebte… Wenn wahrhaftig die Aussicht darauf bestand, sie zurückzubekommen… Wie sollte ich damit nur umgehen? Sollte ich sie suchen? Könnte ich sie überhaupt finden, wenn sie sich im Verborgenen hielt? Würde sie das überhaupt wollen? Sollte ich lieber warten, bis sie von sich aus zurückkehren würde? Wie lange würde das dauern? Was waren für sie schon 100 Jahre? Bestand überhaupt eine realistische Chance, dass sie eines Tages tatsächlich wieder da ist? Vielleicht ja. Vielleicht war das durchaus möglich. Aber sollte ich mich an diese Hoffnung klammern? Was würde das für Dad und mich bedeuten, wenn wir fest daran glauben würden? Wie sollten wir dann noch weitermachen können? Wie bisher?
Es war zum Verzweifeln. Ich liebte sie und wollte sie so sehr zurückhaben und doch wollte etwas in mir, dass ich nicht darauf hoffte. Etwas, das vor langer Zeit akzeptiert hatte, dass sie tot war. Doch auf diese Stimme wollte ich jetzt nicht hören.

Entschlossen stand ich auf und packte meine Sachen zusammen. Überraschender Weise fühlte ich mich fit und energiegeladen, obwohl ich wegen unserer interessanten Gespräche bis zum späten Abend und meiner unruhigen Nacht nur wenig Schlaf bekommen hatte. Es lag wohl trotz meiner mahnenden inneren Stimme hauptsächlich daran, dass die kleine Chance bestand, meine Mom eines Tages vielleicht wiederzusehen. Egal wie gering die Wahrscheinlichkeit auch war oder wie schwach der Hoffnungsschimmer am Horizont leuchtete. Er war da und verschaffte mir einen enormen Auftrieb. Ich war dadurch richtig gut gelaunt und freute mich auf den Tag.
Abgesehen davon hatte es gestern zwischen Sylvia und mir eine Art Durchbruch gegeben. So offen hatte sie bisher noch nie mit mir gesprochen. Da war keine Zurückhaltung mehr, die ich bisher bei solchen heiklen Themen bei ihr gespürt hatte. Mein Gefühl sagte mir, dass sie es irgendwie auch gebraucht hatte, mit mir über meine Mom zu sprechen und ich war sehr froh, dass sie es getan hatte.

Nachdem mein Rucksack gepackt und ich somit startklar war, ging ich zu Sylvia in den Wohnbereich.
>Guten Morgen, Nico. Bereit für deinen letzten Tag?<, begrüßte sie mich.
>Natürlich<, antwortete ich, >was steht heute auf dem Trainingsplan?<
>Nicht direkt ein Training. Ich dachte mir, du magst vielleicht zum Abschluss deines Aufenthaltes hier einen kleinen Ausflug mit mir machen. Da wir uns erst gegen Mittag mit deinem Dad treffen, würde ich dir gerne noch meine Rentierherde zeigen.<
>Cool. Die würde ich sehr gerne sehen. Aber vorher muss ich etwas frühstücken. Ich habe einen Bärenhunger.<
>Also Bär habe ich zwar nicht im Angebot, aber wir werden dich schon satt bekommen<, meinte sie schmunzelnd.
Ich setzte mich zu ihr an den Tisch und wir ließen es uns gleich schmecken. Im Gedanken ging ich dabei kurz durch, ob ich auch alles eingepackt hatte oder ob noch irgendetwas fehlte. Heute würde es definitiv zurück nach Irland gehen und ich wollte natürlich nichts vergessen. Ich freute mich schon darauf, Nana wiederzusehen und auch Colin und … Kassandra.
>Shit!<, rutschte mir ein kleiner Fluch heraus.
>Na hör mal. So schlecht schmeckt mein Brot nun wirklich nicht<, sagte Sylvia gespielt empört.
>Nein, das meine ich nicht. Ich habe nur etwas vergessen.<
>Was denn?<
>Ein Mitbringsel. Für meine … ähm … Freunde.<
Sylvia lächelte verschmitzt.
>So, so, deinen Freunde. Kann es vielleicht sein, dass es da eher um eine Freundin geht?<
>Na ja, nicht direkt. Also ich meine, sie ist nicht meine Freundin<, sagte ich verlegen.
>Aber das hättest du wohl gerne, oder?<
>Ja schon, aber… es ist alles so kompliziert.<
>Und was genau ist so kompliziert?<, fragte sie grinsend.
>Einfach alles<, antwortete ich.
Es fiel mir schwer, über Kassandra zu reden und ich wollte das im Grunde auch nicht. Ich wünschte mir nur, sie da raushalten zu können. Ich wollte sie beschützt wissen. Vor allem vor dieser unheimlichen Kraft, die in mir steckte. Ich war auch guter Dinge, das zu schaffen, denn schließlich hatte ich inzwischen schon viel von Sylvia gelernt. Aber ich war trotzdem noch immer besorgt um sie. Wie sollte ich das auch nicht sein, wenn ihr Licht das stärkste war, das ich jemals gefühlt hatte? Ob Sylvia wusste, woran das lag?

>Darf ich dich etwas fragen?<
>Natürlich darfst du das. Wäre auch nicht das erste Mal. Aber ich muss dich warnen. In Beziehungsfragen bin ich keine Expertin.<
>Nein, nein. Es geht um etwas anderes. Ich wollte dich fragen, ob du es schon einmal erlebt hast, dass jemand eine extrem starke Aura hat.<
>Was meinst du mit extrem stark?<
>Na ja, dass sie heller strahlt als alle anderen und sich viel intensiver anfühlt.<
>Hmm…<, gab sie nachdenklich von sich. >Das ist schwer zu sagen, aber es hört sich nach einer ernsten Krankheit an.<
>Eine Krankheit?<, sagte ich entsetzt und starrte sie fassungslos an. Kassandra sollte krank sein? Richtig schwer krank? Das konnte doch nicht sein. Nein, das durfte einfach nicht sein.
>Vermutlich ist das die Ursache. Bei Krankheiten oder Verletzungen wird mehr Energie abgestrahlt, weil dabei Zellen sterben. Aber was genau dahinter steckt, kann ich nicht sagen. Es kommt auf verschiedene Faktoren an. Wie zum Beispiel, wie lange das so bleibt und welche Bereiche des Körpers betroffen sind.<
>Es ist ihr ganzer Körper<, sagte ich mit fast erstickter Stimme. >Seit ich ihre Aura sehen kann, ist das so.<
>Moment mal. Ihre

Aura? Geht es etwa um das

Mädchen?<
>Sie heißt Kassandra<, sagte ich mit kratziger Stimme.
Ich konnte kaum noch reden. Vor meinem inneren Auge sah ich sie wieder, wie in meinen Albträumen, leblos am Boden liegen.
>Oh?!<, gab sie verwundert von sich. >Dann ist sie also das Mädchen, von dem du neulich so schlecht geträumt hast? Und bei dem alles so kompliziert ist?<
Ich nickte zur Bestätigung. Zu mehr war ich im Augenblick nicht imstande.
>Also wenn das so ist, hätte ich vielleicht noch eine andere Diagnose für dich.<
Eine andere Diagnose? Überrascht schaute ich sie an. Was meinte sie damit?
>Du klingst, als wärst du über beide Ohren verliebt, Nico. Penelope hatte auch gesagt, dass das besonders schöne und strahlende Licht deines Vaters das Erste gewesen wäre, dass ihr an ihm aufgefallen ist. Nur deshalb hat sie sich überhaupt auf ihn eingelassen. Doch davon habe ich nichts bemerkt, als ich ihm vor drei Tagen begegnet bin. Für mich sieht seine Aura ganz normal aus. Da spielt dir wohl deine von Gefühlen beeinflusste Wahrnehmung einen Streich.<
>Ist das dein Ernst? Dann ist sie also nicht krank?<, fragte ich voller Hoffnung.
>Wahrscheinlich nicht, aber das kann ich so oder so nicht beurteilen. Ich habe jedenfalls weder das eine noch das andere jemals selbst gesehen.<

Eine gewaltige Last war mit einem Mal von mir abgefallen und erlöst atmete ich tief durch. Wenn alles nur daran lag, dass ich sie einfach anders wahrnahm. Wenn das der Grund war, warum ich in ihrer Nähe kaum atmen konnte. Wenn ich nur deshalb diese Albträume hatte, dann gab es vielleicht doch eine Zukunft für uns.
>Vielen Dank Sylvia, du weißt gar nicht, wie sehr du mir damit geholfen hast.<
>Keine Ursache<, sagte sie kurz und lächelte wieder.
Doch plötzlich fiel mir noch etwas auf. Ich war so erleichtert gewesen, dass es mir erst gar nicht bewusst geworden war.
>Sylvia? Wenn du sagst, dass du weder das eine noch das andere selbst gesehen hast, heißt das etwa, dass du noch nie…?<
>Noch nie was? Dass ich noch nie beim Augenarzt war, um mir eine Brille verordnen zu lassen?<
>Was? Nein, ich meine…<
>Ich weiß, was du meinst<, fiel sie mir schmunzelnd ins Wort. >Du willst wissen, ob ich noch nie geliebt habe. Die Antwort ist ja. Zumindest noch nie einen Menschen. Das heißt nicht, dass ich ihre Gesellschaft nicht hin und wieder zu schätzen wüsste, doch ich würde mich nie so auf einen Menschen einlassen.<
>Warum denn nicht?<
>Warum? Ganz einfach, weil ihre Lebenserwartung viel zu kurz ist. Ich habe schon viele Menschen überlebt, die ich mochte und jeder Verlust hat geschmerzt. Ich habe wirklich nicht das Bedürfnis, einen Menschen zu überleben, den ich vielleicht lieben würde. Nein Danke, darauf verzichte ich und ich rate dir, es mir gleich zu tun.<
Ich sagte nichts dazu. Schon gestern hatte sie etwas in der Richtung angedeutet, doch mir gefiel der Gedanke nicht. Natürlich tat es entsetzlich weh, einen geliebten Menschen zu verlieren. Ich wusste das nur zu gut. Ich hatte meine Mom verloren. Zumindest war das bisher meine Realität gewesen. Vielleicht war das nicht genau das Gleiche, aber Schmerz blieb Schmerz. Und dennoch. Selbst wenn ich die Wahl hätte und meine Mutter aus meinem Leben streichen könnte, würde ich es nie tun. Ich würde sie nie vergessen wollen, nur damit ich den Verlust nicht mehr fühlte.

Nach dem Frühstück räumten wir noch zusammen auf und verließen das Haus. Wir überquerten den Bach und wanderten in nördlicher Richtung durch den Wald. Diese tolle Landschaft hatte eine beruhigende Wirkung auf mich. In tiefen Atemzügen nahm ich die frische Luft in mich auf und genoss den Augenblick. Nicht dass wir in Irland schlechte Luft hätten, ganz im Gegenteil, aber einen Wald wie diesen hier gab es dort nicht. Die satten Farben der Bäume und Sträucher und ihre überall intensiv leuchtende Lebenskraft faszinierten mich. Auch der Himmel zeigte sich von seiner besten Seite und verschönerte mit einem kräftigen Blau den noch jungen Tag. Es schien fast so, als wollte sich die Natur zum Abschied von ihrer besten Seite zeigen.
Nach ein paar Minuten gesellten sich zwei Wölfe zu uns. Sylvia sprach kurz mit ihnen, kraulte sie hinter den Ohren und tätschelte sie. Es schien mir bei beiden irgendwie gleich abzulaufen, als ob sie darauf achten würde, keinen zu bevorzugen. Vermutlich war es so ein Begrüßungsritual. Danach liefen sie in geringem Abstand auf Sylvias Seite neben uns her. Auch Taira schloss sich uns wenig später an. Sie kam allerdings, nachdem sie auf die gleiche Weise begrüßt worden war, zu meiner großen Überraschung direkt an meine Seite. Schlagartig spürte ich durch ihre unmittelbare Nähe wieder das intensive Kribbeln in meinem Bein. Ich brauchte einen Moment, um mich daran zu gewöhnen, versuchte aber, mir nichts anmerken zu lassen. Doch es dauerte nicht lange, bis ich damit klar kam und sie ebenfalls begrüßend streicheln konnte.
>Anscheinend mag sie dich<, meinte Silvia schmunzelnd.
>Ja, scheint tatsächlich so<, gab ich zur Antwort. >Aber das beruht auf Gegenseitigkeit. Ich glaube, ich werde sie vermissen.<
>Du kannst sie ja mal besuchen kommen, wenn du möchtest. Der nächste Sommer kommt bestimmt. Die Winter sind bei uns zwar ebenfalls sehr schön, aber auch äußerst kalt und noch bist du nicht so weit, als dass du dich solchen Verhältnissen richtig anpassen könntest.<
Mir war sofort klar, dass sie damit sicherlich etwas anderes gemeint hatte, als wie man sich sicher durch Eis und Schnee bewegte oder welche Winterkleidung man anziehen sollte. Vermutlich gab es auch eine Methode, unsere Fähigkeit zum Schutz vor Kälte einzusetzen. Doch wie auch immer das gehen sollte, war mir im Moment egal. Ich freute mich einfach, dass sie mich quasi einfach so indirekt eingeladen hatte, sie nächstes Jahr erneut zu besuchen.
>Ich würde sehr gerne wiederkommen, wenn das möglich ist. Dad wird bestimmt nichts dagegen haben.<
>Vermutlich nicht<, sagte sie lächelnd.
>Hast du gehört, Taira? Ich komme dich vielleicht nächstes Jahr wieder besuchen.<
Das fiepende Brummen, das daraufhin von ihr zu hören war, wertete ich einfach mal als zustimmende Vorfreude. Ich streichelte noch einmal über ihre Seite und dann setzten wir unseren Weg fort.

Es dauerte noch etwa eine halbe Stunde, bis wir uns schließlich dem Waldrand genähert hatten und ich eine größere Lichtung in der Ferne erkennen konnte. Plötzlich sagte Sylvia mit strenger Stimme nur ein einziges Wort in ihrer Sprache und machte eine kurze Handbewegung. Die Wölfe schienen ganz genau zu wissen, was dieses Kommando zu bedeuten hatte, denn Taira stieß sofort einen lauten, heulenden Ruf aus und gleich darauf rannten alle drei wie von der Tarantel gestochen los. Verdutzt schaute ich Sylvia an, doch sie nickte nur nach vorne in Richtung des Waldrands.
Als wir dort ein paar Minuten später ankamen, musste ich feststellen, dass die Landschaft ihr Gesicht verändert hatte. Vor uns lag eine große Wiese, die jedoch an den Rändern fast nahtlos in eine eher karge Steppenlandschaft überging, mit schroffen, felsigen Hügeln an den Seiten und einer schneebedeckten Bergkette im Hintergrund. Der Anblick war wahrlich nicht schlecht und würde sich sicherlich gut auf eine Postkarte machen, doch von Rentieren war hier weit und breit nichts zu sehen. Sollten die nicht hier sein? Und wo waren die Wölfe?
Gerade als ich Sylvia fragen wollte, wo denn ihre Herde abgeblieben war, hörte ich etwas, das ich nicht genau zuordnen konnte. Die knackenden Geräusche waren nicht sehr laut, doch von Sekunde zu Sekunde schienen sie näher zu kommen. Dann war es soweit. Von rechts rannten die ersten Rentiere über einen der Hügel auf das Gelände vor uns und ihnen folgte ein wahrer Strom von Tieren.
Ich war überrascht, dass es nicht sehr laut war. Ich hatte schon in einigen Western gesehen, wie eine Rinderherde über die Steppe getrieben wurde. Die machten dabei immer einen Wahnsinnslärm und ihr Hufgetrampel schien den Boden erzittern zu lassen. Doch hier war das ganz anders, als ich es mir vorgestellt hätte. Die ganze Herde, flankiert von dem Wolfsrudel, strömte auf die Lichtung und das Lauteste schien mir dabei dieses merkwürdige Knacken und Knistern zu sein. Auch die Größe der Herde überraschte mich. Ich hatte vielleicht mit ein paar Dutzend Rentieren gerechnet, aber das hier waren bestimmt mehr als einhundert.
>Wow! Sylvia, ich hatte nicht erwartet, dass du eine so große Herde hast<, sagte ich bewundernd.
>Ach was. So groß ist die gar nicht. Eigentlich ist sie sogar recht klein, aber für mich alleine reicht sie völlig. Es gibt hier in Skandinavien auch einige Herden, die mehrere Tausend Rentiere umfassen. Aber das liegt auch daran, dass die meisten ihre Tiere zusammen mit anderen halten. Meine Methode ist eher ungewöhnlich und das liegt nicht nur daran, dass ich Wölfe als Aufpasser habe.<

Staunend beobachtete ich, wie die riesige Herde von den Wölfen durch geschickte Manöver eingekreist und damit gebremst wurde. Allerdings war die Unruhe der Tiere deutlich zu spüren und viele wirkten auf mich sehr nervös. Das war jedoch etwas, das ich auch sehr gut nachvollziehen konnte. Ich hatte es schließlich selbst schon erlebt, von diesem Wolfsrudel eingekreist zu sein und nicht zu wissen, was als nächstes passieren würde. Doch ähnlich wie damals bei unserer ersten Begegnung, gab Sylvia auch hier ein kurzes Kommando und die Wölfe zogen sich etwas zurück, wo sie sich dann scheinbar entspannt niederlegten.
Es dauerte dann nur etwa eine Minute, bis Ruhe in die Herde eingekehrt war und einige Tiere anfingen zu grasen. Das war wohl der Augenblick auf den Sylvia gewartet hatte, denn sie meinte nur kurz >Komm mit< zu mir und ging dann voran zu dem Weideplatz. Als wir uns näherten, hatte ich den Eindruck, dass alle Rentieraugen auf mich gerichtet waren. Allerdings wirkten sie so friedlich, dass ich das als reine Neugierde empfand, obwohl manche Geweihe echt bedrohliche Ausmaße hatten. Dennoch war es irgendwie witzig, wenn auch merkwürdig, mitten in eine Herde hineinzulaufen, die einen ganz genau zu beobachten schien.
Weniger witzig war dabei das Gefühl, die Energie von so vielen Tieren wahrzunehmen. Überall um mich herum sah ich die kräftig leuchtenden Strahlen und es war vollkommen unmöglich, den Berührungen aus dem Weg zu gehen, wenn ich in Sylvias Nähe bleiben wollte. Und das wollte ich. Ich war mir sicher, dass dies hier nicht nur dazu diente, mir die Rentiere zu zeigen, sondern auch, um meine Selbstkontrolle einer abschließenden Prüfung zu unterziehen. Einer Prüfung, der ich mich stellen musste und stellen wollte. Also atmete ich noch einmal tief durch und wagte mich dann mitten unter die Tiere.
Spontan erinnerte mich diese Situation an den Torjubel nach dem entscheidenden Treffer in meinem letzten Fußballspiel, als eine Horde Mannschaftskameraden mich sozusagen unter sich begrub. Damals war das extrem heftig für mich gewesen, doch hier und jetzt hatte ich das Gefühl, schon besser damit klar zu kommen. Gut, die Lebenskraft dieser Tiere war nicht ganz so stark wie die von Menschen, aber doch deutlich intensiver als die von Taira. Es war ziemlich anstrengend und kostete mich viel Konzentration, nicht bei jedem neuen kribbelnden Schauer zusammenzuzucken und zurückzuweichen. Sylvia hingegen schien das nicht aus der Ruhe zu bringen. Sie lief durch die Reihen, tätschelte hier und da ein Tier und wirkte völlig entspannt.
>Ich wünschte, ich könnte das auch<, sagte ich bewundernd. >Macht es dir denn gar nichts aus, all diese Energie um dich herum zu fühlen? Oder spürst du sie nicht?<
>Doch, natürlich nehme ich sie wahr, aber ich bin daran gewöhnt. Oder sagen wir mal, ich kann mich soweit konzentrieren, dass ich das Verlangen danach praktisch ausblenden kann.<
>Ausblenden? Das würde ich auch gerne können.<
>Keine Sorge, du wirst das auch noch lernen<, meinte sie zu mir und fing plötzlich an schelmisch zu grinsen. >Nach ein paar hundert Jahren Übung bemerkst du es kaum noch.<
>Na toll<, erwiderte ich, musste aber auch grinsen, obwohl ich mir nicht sicher war, ob sie das mit den paar hundert Jahren nicht doch ernster gemeint hatte, als sie es gesagt hatte.

>Da ist ja schon das Erste<, rief sie mir zu und ich schloss neugierig zu ihr auf.
Dann sah ich, was sie gemeint hatte. Da war ein Jungtier, das sich halb hinter seiner Mutter versteckt hatte. Allerdings schien die anders als ihr Junges das Ganze eher gelassen zu beobachten. Das Kalb hingegen wirkte sichtlich nervös. Plötzlich, viel schneller, als man es ihr jemals hätte zutrauen können, sprang Sylvia mit einem Satz auf das kleine Tier zu, packte es und zwang es scheinbar mühelos auf den Boden. Das Kleine hatte keine Chance und blökte ängstlich. Als Nächstes zog Sylvia ein Messer aus ihrer Gürtelschlaufe, was nun auch mich beunruhigte.
>Was hast du vor?<, fragte ich vorsichtig, denn ich befürchtete schon, sie würde das Junge jetzt töten wollen.
>Ich will es Kennzeichnen<, lautete ihre kurze Antwort und dann schnitt sie auch schon mit flinken Bewegungen zwei Kerben in ein Ohr des Kalbs.
Überrascht bemerkte ich, dass die Wunde praktisch nicht blutete. Das Tier zappelte auch nicht, wobei ich mir aber nicht sicher war, ob das nun daran lag, dass es keine Schmerzen hatte, oder daran, dass Sylvia es so fixiert hatte. Ich schaute auch zu der Mutter und sah, dass diese die gleiche Markierung am Ohr hatte. Sie machte das wohl mit all ihren Tieren so.
>Ist das ein Besitzzeichen?<
>Korrekt. Das machen die Samen so mit ihren Rentieren. Hin und wieder kreuzen deren Herden die Wege meiner Tiere und damit es keine Missverständnisse gibt, habe ich meine ebenfalls mit Markierungen versehen.<
Eigentlich hatte ich erwartet, dass sie das Kleine jetzt wieder frei gab, doch das tat sie nicht. Stattdessen legte sie eine Hand auf den Kopf des Kalbs, schloss die Augen und schien sich zu konzentrieren. Gebannt schaute ich zu, wie sie und das Jungtier praktisch regungslos in ihrer Position verharrten. Ich achtete auch auf die Strahlen der Aura, doch konnte ich nicht erkennen, was sie da machte. Nur in einem Punkt war ich mir sicher. Sie entzog dem Tier nicht die Lebensenergie.

Nach ein paar Minuten löste sie sich wieder und erhob sich. Auch das kleine Rentier stand wieder auf. Es wirkte etwas verwirrt, aber bei weitem nicht mehr so nervös wie noch vor Sylvias Behandlung. Fragend blickte ich sie an, was sie lächeln ließ.
>Du willst bestimmt wissen, was ich gerade gemacht habe<, sagte sie, worauf ich nur kurz nickte. >Nun, ich habe dem Jungen die Scheu vor mir genommen.<
>Wie denn?<
>Also um das richtig nachvollziehen zu können, müsstest du die genaue Funktionsweise des Gehirns verstehen. Lasse es mich so formulieren. Wenn du weißt, wo und wie solche Funktionen gesteuert werden, kannst du sie auch beeinflussen. Letztlich hast du auch dort nur Zellen, die du manipulieren kannst. Aber das Gehirn ist äußerst komplex und Fehler haben hier in der Regel fatale Folgen. Bis du dich daran versuchen kannst, musst du noch sehr viel lernen.<
>Das ist mir schon klar und das will ich auch gar nicht. Ich hätte es nur gerne mal genauer gesehen, wenn das möglich ist.<
>Du willst mir dabei zusehen? … Nun ja, warum nicht?<
Sie schaute sich nach einem weiteren Jungtier um und entdeckte auch gleich eines. Auch diesmal schnappte sie es sich mit spielender Leichtigkeit und brachte die Ohrmarkierungen an. Danach winkte sie mich zu sich. Ich setzte mich ihr gegenüber auf der anderen Seite des Rentiers auf den Boden und schaute sie erwartungsvoll an.
>Also gut, Nico. Ich möchte, dass du die Verbindung eingehst und dich auf seinen Kopf konzentrierst. Genauer gesagt auf diesen Bereich hier.<
Während sie das sagte, zeigte sie mit zwei Fingern auf die Region, die ich beobachten sollte. >O.K.<, gab ich kurz zur Antwort. Allerdings war ich mir nicht sicher, ob ich das hinbekommen würde. So zielgerichtet hatte ich mich noch nie auf die Verbindung konzentriert. Aber wenn sie sich sogar auf die richtigen Zellen konzentrieren konnte, müsste ich mich doch eigentlich wenigstens auf den Bereich konzentrieren können.
>Gut, dann fange an.<
Ich legte meine Hand in den Nacken des Kalbs und spürte beim Kontakt sofort einen kribbelnden Schauer, der mir über den Körper lief. Die Aura dieses Tieres fühlte sich sehr stark an und war äußerst verlockend. Es war nicht ganz einfach, sich zu entspannen und die Verbindung einzugehen, doch zum Glück hatte ich das gestern schon mit Taira geübt. Noch einmal atmete ich tief durch und folgte dann den leuchtenden Strahlen zu ihren Ausgangspunkten.

Wieder einmal stand ich wie vor einem sternenklaren Nachthimmel und bewunderte die Schönheit dieser unzähligen Lichter. Auch wenn mir nichts auffiel, was Sylvia hier vielleicht beeinflusste, genoss ich doch den Anblick. Nach einer kurzen Weile fragte ich mich allerdings, ob ich hier auch in der exakten Region war. Von außen betrachtet schien es nicht ganz so schwierig zu sein, sich auf einen bestimmten Teilbereich zu konzentrieren. Doch jetzt war ich mir nicht sicher, ob ich hier auch richtig war.
Ich streifte ein wenig durch dieses kleine Universum bis ich plötzlich etwas spürte. Da war etwas, das ich nicht genau zuordnen konnte. Eine Präsenz, die weder zu mir noch zu dem Tier gehörte. Ich fühlte sie ganz genau und bewegte mich in die Richtung, aus der diese Wahrnehmung zu kommen schien. Als ich beim Ursprung angelangt war, sah ich etwas, das mir wie kleine blaue Blitze vorkam. Es ging alles rasend schnell und ich konnte dem kaum folgen. Ich versuchte mich auf einen noch kleineren Bereich zu konzentrieren und hoffte, dass es dort auch passieren würde.
Die Sekunden verstrichen und jede einzelne kam mir wie eine Ewigkeit vor. Einerseits wollte ich die Chance nicht aufgeben, hier etwas genauer sehen zu können, doch andererseits befürchtete ich, dort draußen noch mehr zu verpassen. Doch ich hatte Glück. Direkt vor mir konnte ich erkennen, wie auf einmal nacheinander in einigen Sternen das klar leuchtende Zentrum von einer bläulich schimmernden Energie kurz überlagert wurde. Dann löste sich das Blau einfach wieder auf und das Licht der Zelle hatte sich ein kleines bisschen verändert.
Beeindruckt von dem, was ich gesehen hatte, zog ich mich wieder etwas zurück und beobachtete noch eine Weile im größeren Überblick die kleinen blauen Blitze, bis diese aufgehört hatten. Danach löste ich mich wieder langsam aus der Verbindung.

Die Aura des Rentiers gleich wieder mit voller Intensität zu spüren war heftig und raubte mir kurz den Atem. Ich war so fasziniert von dem gerade erlebten gewesen, dass ich nicht daran gedacht hatte, was mich immer nach der Verbindung erwartete. In dem Moment musste ich einfach die Hand von dem Tier nehmen und mich ein Stück von ihm entfernen.
>Alles in Ordnung?<, fragte Sylvia besorgt.
>Ja, es geht schon<, gab ich zur Antwort. >Das Lösen fällt mir noch immer nicht ganz so leicht. Aber es war wirklich einmalig, das mitanzusehen. Diese kleinen blauen Blitze kamen von dir, oder? Das war dein Licht, das ich da gesehen und gespürt hatte.<
>Stimmt. Wenn man Zellen beeinflussen will, kostet das immer etwas eigene Lebenskraft.<
>Wie meinst du das? Heißt das etwa, dass du deine eigene Energie opfern musst, um eine andere zu beeinflussen?<
>Genau das heißt es. In diesem Fall ist es aber nicht sehr viel gewesen. Ich bin da ziemlich effizient.<
>Dann überträgst du also Energie von dir auf das Tier? Lebt es dadurch auch länger?<
>Nein, das nicht. Es ist nicht möglich, dass du einen Teil deiner Lebenskraft verschenkst und auf einen anderen überträgst. Sie wird bei solchen Aktionen schlicht verbraucht. Aber wie gesagt, es kostet nicht viel und abgesehen davon fülle ich meine Reserven ohnehin bei anderer Gelegenheit wieder auf.<
>Ich verstehe<, sagte ich und musste gleich wieder an den Hasen denken. Aber ich kannte inzwischen ihre Einstellung zu dieser Sache und wollte mich nicht noch einmal deswegen mit ihr streiten.

>Weißt du, was mich wirklich überrascht hat?<, sagte ich, um das Thema zu wechseln. >Die Aura bei den jungen Tieren scheint mir stärker zu sein als bei den ausgewachsenen.<
>Gut beobachtet. Das ist tatsächlich so. Wenn ein neues Geschöpf entsteht, ist schon in den ersten Zellen die Energie für das ganze Leben enthalten. Da der Körper aber noch so klein ist, erstrahlt sie viel intensiver.<
>Wirklich? Dann haben Babys also am meisten davon?<
>Oh ja und ihre reine Lebenskraft ist unsagbar verlockend.<
Während sie das sagte, hatte sie einen merkwürdigen Glanz in den Augen und schien für einen kurzen Moment ganz in Gedanken versunken zu sein. Als ob alte Erinnerungen in ihr erwacht wären. Aber schon im nächsten Augenblick änderte sich schlagartig ihr Gesichtsausdruck. Mit dem Blick zum Boden gerichtet und hängenden Schultern wirkte sie von einer Sekunde auf die andere sehr betroffen. Irritiert schaute ich sie an. Ich verstand nicht, was gerade mit ihr los war. Allerdings wuchs ein Verdacht in mir. Ein grausamer Verdacht.
>Sylvia? Du hast doch nicht etwa…<
Ich konnte es nicht aussprechen. Alleine die Vorstellung war furchtbar. Doch der Blick, den sie mir zuwarf, schien meine schlimmsten Befürchtungen zu bestätigen. Konnte das wirklich wahr sein? Sie war doch eine Freundin meiner Mutter? Ich wollte das einfach nicht glauben.

Stille. Endlose Sekunden verstrichen, in denen keiner von uns beiden sich auch nur bewegte. Selbst die ganze Rentierherde um uns herum war so ruhig, dass ich sie praktisch nicht mehr wahrnahm.
>Es ist nicht so, wie du jetzt vielleicht denkst, aber ich habe in meinem langen Leben schon so manches getan, auf das ich nicht stolz bin<, begann sie mit bedrückter Stimme zu erklären. >Sich an Säuglingen der Menschen zu vergreifen, galt auch bei unserem Volk als Verbrechen. Doch nach dem Untergang von Vitara hatten die alten Gesetze keine Bedeutung mehr und es kam zu solchen Gräueltaten. Baal war einer der Schlimmsten. Er hatte sich als Gott aufgespielt und ließ sich Kinder opfern. Er wollte vor allem Babys, die erst wenige Wochen alt waren. Danach hat man die Leichen einfach verbrannt.<
>Das ist ja furchtbar. … Aber was hat das mit dir zu tun?<
>Ich hatte Baal immer verachtet und ich hätte es nie für möglich gehalten, dass ich etwas in dieser Art tun könnte. Doch es gab eine Zeit, lange nachdem Baal beim Fall Karthagos zu Tode kam, da lebte ich abgeschieden und alleine in den Wäldern, ähnlich wie jetzt auch. Für die Menschen war ich heute wie damals eine Einsiedlerin. Aber seinerzeit, als es noch keine Ärzte in jeder Siedlung gab, sah man in mir auch eine Heilerin. Vieles hatte ich bis dahin schon gelernt und kannte mich gut mit Kräutern und dergleichen aus. So machten sich nicht selten Menschen auf den Weg zu mir, um meine Hilfe in Anspruch zu nehmen.<
>Aber anderen zu helfen ist doch eine gute Sache. Darauf kann man doch stolz sein.<
>Ja, wäre es dabei geblieben, dann vielleicht. Aber eines Tages kam eine junge Frau zu mir. Ich erkannte sofort an der zweiten Aura in ihrem Bauch, dass sie schwanger war. Sie sprach davon, dass es ein uneheliches Kind sei, was in der damaligen Zeit für eine Frau sehr schwerwiegende Folgen hatte und nicht selten ein Todesurteil bedeutete. Sie flehte mich an, ihr zu helfen. … Und das tat ich.<
>Dann hast du also eine Abtreibung durchgeführt?<
>Nicht nur das. Als ich das wunderbare Licht des Babys fühlte, ertrug ich den Gedanken nicht, diese reine und so anziehende Energie zu vergeuden. So habe ich der Mutter einen starken Tee gebraut, der sie in einen tiefen Schlaf versetzte. Danach habe ich mir einfach geholt, was ich so sehr begehrte.<
>Ich verstehe. Aber damit wolltest du ihr im Grunde doch nur helfen wollen, oder?<
>Das habe ich mir anfangs auch eingeredet, doch in Wahrheit gibt es daran nichts schönzureden. Ja, die junge Mutter wollte, dass ich das tat, aber ich hätte ihr anders helfen können. Hätte sie dabei unterstützen können, das Kind alleine aufzuziehen und ein neues Leben zu beginnen. Doch das habe ich nicht. Niemand sollte sich so am Tod eines Babys erfreuen, aber ich war begierig, diese Erfahrung zu machen. Und du hast keine Ahnung, wie sehr ich das genossen habe. Du kennst das Gefühl nicht, Nico. Es war wie ein Rausch. Als ob pures Glück durch die Adern strömt. Es war einfach überwältigend und es blieb auch nicht bei diesem einen Mal. Schnell hatte sich herumgesprochen, dass ich auch solche Probleme lösen konnte. Bald schon machte ich mir noch nicht einmal mehr Gedanken darüber, warum die jeweilige Mutter dies wollte. Es war mir egal. Ich tat es einfach, weil es nichts anderes gab, das sich auch nur ansatzweise so unglaublich anfühlte. Dass ich diese Menge an Energie nicht brauchte und auch gar nicht mehr speichern konnte, so dass sie einfach verloren ging, spielte für mich keine Rolle. Ich wollte nur noch den Fluss fühlen und genießen. Erst sehr viel später wurde mir wirklich bewusst, was aus mir geworden war.<

Erneut herrschte eine Zeitlang betretenes Schweigen. Ich wusste nicht so recht, wie ich mit ihrem Geständnis umgehen sollte. Ich fand es schlimm, aus welcher Motivation heraus sie das gemacht hatte. Auch wenn in unserer heutigen Zeit Abtreibungen, soweit ich wusste, keine Seltenheit waren, fand ich das nicht gut. Doch es schien mir auch so, als würde sie das wirklich aus tiefstem Herzen bereuen. Sollte ich sie jetzt, nachdem sie mir davon erzählt hatte, dafür verurteilen? Was wusste ich schon davon, wie ihr Leben damals war? Außerdem war sie doch noch immer Moms Freundin und mir eine so große Hilfe.
>Hast du das auch meiner Mom erzählt?<
Überrascht schaute sie mich an, doch dann nickte sie.
>Wie hatte sie darauf reagiert?<
>Sie hatte mir natürlich ins Gewissen geredet, aber nicht direkt Vorwürfe gemacht. Schon immer hatte Penelope ein großes Herz und sie hatte mir schneller verziehen, als ich das selbst konnte. Es gab nur eine Sache, die sich dadurch zwischen uns verändert hatte. Etwas, bei dem ich nie erwartet hätte, dass ich das jemals vermissen könnte. Doch es war so.<
>Was war es denn?<, fragte ich vorsichtig nach.
>Sie hatte mich danach nie wieder gefragt, ob ich ihr bei der Suche nach dem Schlüssel helfen würde.<
Zuerst verstand ich nicht ganz, welche Bedeutung das eigentlich für sie hatte, wo sie das Ganze doch ohnehin nur für einen Mythos hielt, aber dann dämmerte es mir. Wenn der Schlüssel laut der Prophezeiung nur vom letzten Gerechten des Volkes gefunden werden konnte, musste meine Mom wohl zu dem Schluss gekommen sein, dass Sylvia nicht mehr dafür in Frage kam. Das musste wirklich hart für sie gewesen sein, auch wenn beide weiterhin an der Freundschaft festgehalten hatten.
>Komm, lass uns weiter machen. Es muss hier noch mehr Jungtiere geben<, sagte sie und wandte sich der Herde zu.
Ich nickte und folgte ihr. Vielleicht war es wirklich das Beste, sich jetzt einfach wieder auf diese Aufgabe zu konzentrieren und die Vergangenheit ruhen zu lassen.

Wir blieben noch den ganzen Vormittag draußen bei den Rentieren. Es war absolut faszinierend, sie bei ihrer Arbeit zu beobachten, aber mit der Zeit auch verdammt anstrengend. Ständig in Berührung mit diesen vielen Tieren zu kommen kostete mich sehr viel Konzentration und raubte mir mehr und mehr die Kraft. Als es dann endlich Zeit wurde, dass wir uns zum Treffpunkt mit meinem Dad aufmachten, war ich sehr erleichtert. Der nun noch anstehende Marsch erschien mir da vergleichsweise geradezu erholsam.
Zuerst gingen wir aber zurück ins Haus, um noch ein Mittagessen einzunehmen. Danach schnappte ich mir meine Sachen und wir machten uns auf den Weg. Taira begleitete uns, was mich einerseits sehr freute, denn ich hatte sie irgendwie inzwischen richtig gerne. Doch andererseits bedeutet das, dass ich noch länger ihre Nähe fühlen musste, denn sie schien darauf zu bestehen, direkt an meiner Seite zu gehen.
>Ach komm schon, Taira. Lass mir wenigstens ein bisschen Luft zum Atmen. Der Tag war bis jetzt echt anstrengend.<
>Tja, Nico. Sieht so aus, als wäre dein Training doch noch nicht vorbei<, meinte Sylvia lächelnd zu mir und die anhängliche Wolfsdame brummte auch noch zustimmend.
Es freute mich, dass sich Sylvias Laune wieder gebessert hatte. Der Vormittag war doch ziemlich bedrückend gewesen und ich war erleichtert, dass wir nicht in derselben Stimmung auseinandergehen würden. Also fügte ich mich in mein Schicksal, auch wenn ich wirklich gerne eine längere Pause gehabt hätte.
>Na gut, aber ab und zu ein bisschen Abstand wäre echt nett von dir, du Quälgeist<, sagte ich zu Taira und tätschelte ihre Seite.
Dann hatte ich eine Idee. Ich nahm einen am Wegrand liegenden Ast und warf ihn in hohem Bogen auf eine Wiese.
>Los, Taira. Hol das Stöckchen<, sagte ich zu ihr, doch die knurrte nur mürrisch und sah mich an, als ob ich den Verstand verloren hätte.
Sylvia fing sofort lauthals an zu lachen.
>Also wirklich, Nico<, meinte sie, während sie sich eine Träne aus den Augen wischen musste. >Auch wenn sie auf meine Kommandos hört, ist sie doch kein Hund.<
>Mist. Aber einen Versuch war es wert. Ich glaube, dir ist gar nicht bewusst, wie anstrengend das für mich ist, ohne Unterbrechung ihre Aura zu fühlen.<
>Doch mein Lieber, das ist es. Ich war schließlich auch einmal jung und unerfahren, auch wenn das ein paar Zeitalter zurückliegt. Und deshalb weiß ich auch, dass du jede Gelegenheit nutzen solltest, um dich daran zu gewöhnen.<
>O.K. Tut mir leid, Taira<, sagte ich seufzend und kraulte sie kurz hinter den Ohren. Ihre wohliges Brummen zeigte mir, dass sie meine Entschuldigung angenommen hatte.

Eine Zeit lang folgten wir schweigend unserem Weg und ich bewunderte derweil Tairas schimmerndes Licht. Trotz der Anstrengung, der Verlockung permanent widerstehen zu müssen, war es doch auch einfach schön, es anzusehen. Irgendwie hatte es etwas Magisches an sich. Dieses Licht, das den Unterschied zwischen Leben und Tod bedeutete. Diese Energie, die schon im Mutterleib scheinbar aus dem Nichts entstand.
>Wo kommt es eigentlich her?<, sprach ich aus, was mir gerade durch den Kopf ging.
>Wo kommt was her?<, fragte Sylvia verwundert zurück.
>Ich meine das Licht. Die Lebenskraft, die plötzlich einfach da ist, wenn ein neues Lebewesen entsteht.<
>Das, Nico, ist das große Mysterium des Lebens<, sagte sie lächelnd. >Bei unserem Volk glaubt man an die Quelle.<
>Die Quelle?<
>Sie ist der Ursprung aller Lebensenergie und dorthin kehrt sie zurück, wenn sie verbraucht ist. Sie befindet sich in einem ewigen natürlichen Kreislauf. So wie Wasser, das in den Flüssen ins Meer fließt und über Verdunstung und Regen wieder zum Ausgangspunkt zurücktransportiert wird. Die Energie geht nie wirklich verloren. Alles befindet sich im Gleichgewicht. Unsere Philosophen waren der Auffassung, dass es ähnlich wie beim Wasser auf der Erde eine konstante Menge an Lebensenergie gibt, die sich alle Lebewesen teilen müssen.<
>Aber das kann doch nicht sein<, gab ich zweifelnd zurück. >Heute existieren doch viel mehr Menschen auf der Welt als früher und sie leben auch viel länger.<
>Ach ja? Und was gibt es dafür weniger? Hast du dir schon einmal überlegt, wer den Preis für die vielen Menschen bezahlt? Wie viele Tier- und Pflanzenarten schon ausgestorben sind? Hast du eine Vorstellung davon, wie die Welt vor 10.000 Jahren ausgesehen hat? Wie viele Wälder es gab, die heute längst verschwunden sind? Wie viele sterbende Regionen in den Ozeanen existieren, die früher voller Leben waren? Warum die Wüsten immer größer werden?<

>O.K., das … ähm … klingt irgendwie logisch<, sagte ich, nachdem ich eine Weile darüber nachgedacht hatte.
>Das hat nichts mit Logik zu tun, Nico. Das kann man nicht nachrechnen, auch wenn die Zusammenhänge offensichtlich sind. Im Grunde ist es einfach die Vorstellung, dass eine natürliche Ordnung der Dinge existiert. Und das ist eine Frage des Glaubens. In gewisser Weise ist das der Kern unserer Religion gewesen.<
>Unser Volk hatte eine eigene Religion?<
>Selbstverständlich. Und manches davon findet sich auch in anderen Glaubensrichtungen wieder. Aber das ist auch kein Wunder, denn schließlich sind wir alle Teil dieser Welt und somit auch Teil der gleichen natürlichen Ordnung.<
>Und was war das für eine Religion? Hatte unser Volk an verschiedene Götter geglaubt oder an einen Gott?<
>Weder noch. Den Götterglauben haben die Menschen selbst entwickelt. Allerdings war das auch etwas, das die Überlebenden unseres Volk auszunutzen wussten.<
>Wie das denn?<
>Ganz einfach. Sie haben sich gerne zu Göttern aufgespielt oder wenigstens als Halbgötter ausgegeben. Mit ihren Fähigkeiten war es ihnen auch ein Leichtes, die Menschen zu beeindrucken. Und sie haben gerne die Mythen und Legenden der Völker benutzt. Das war noch einfacher, denn nicht wenige davon waren gerade von uns beeinflusst.<
>Ach ja? Welche denn?<
>Vor allem solche, die mit Tod oder Dämonen zu tun haben<, meinte sie Augenzwinkernd. >Aber auch so manches Fabelwesen geht auf uns zurück. Wie zum Beispiel ein Zentaur.<
>Wie bitte?<, sagte ich ungläubig. >Willst du mir etwa weismachen, dass es tatsächlich Zentauren gegeben hat?<
>Das war doch keine eigene Rasse. Das waren Leute aus unserem Volk, die mit ihrem Körper experimentiert haben.<
>Also das glaube ich jetzt nicht<, gab ich mit einem Kopfschütteln von mir. >Du veralberst mich doch.<
>Warum sollte ich? Du hast doch selbst schon richtigerweise vermutet, dass ich zum Beispiel meine Muskeln verbessert habe, um schneller, kräftiger und ausdauernder zu sein, als es gewöhnliche Menschen sein könnten. Aber ich verstehe, dass du dir nicht vorstellen kannst, zur Hälfe aus Pferd zu bestehen.<

Wieder einmal grinste sie mich so breit an, dass ich wirklich nicht wusste, ob sie das jetzt ernst gemeint oder doch nur gescherzt hatte. Dann machte sie auch noch ein Geräusch wie ein wieherndes Pferd und scharrte mit den Füßen.
>Jetzt hör aber auf<, rief ich ihr zu, fand die Situation aber so komisch, dass ich mir ein Schmunzeln nicht verkneifen konnte. >Und überhaupt, warum sollte man sich als Fabelwesen oder Halbgott ausgeben wollen?<
>Na, weil das eine sehr simple und für die damaligen Menschen akzeptable Erklärung für unsere Überlegenheit war. Vor allem in Griechenland war das seinerzeit weit verbreitet.<
>Dann warst du damals in Griechenland?<
>Ja. Penelope und ich haben dort so einiges erlebt. Dort waren auch viele andere Überlebende von uns unterwegs. Die griechische Kultur erinnerte uns stark an unsere Heimat und ihre Entwicklung wurde auch von uns gefördert. Wir wollten ein zweites Vitara aufbauen, doch es gab einfach keinen Zusammenhalt mehr in unserem Volk. Letztlich bekriegte man sich lieber, als zusammenzuarbeiten. Aber es war irgendwie auch eine schöne Zeit gewesen.<
>Griechenland…<, wiederholte ich leise murmelnd und versuchte mich an alles zu erinnern, was ich aus dem Geschichtsunterreicht darüber wusste. Dabei fiel mir wieder ein, dass Moms Lieblingsbuch ja aus der Epoche stammen musste.
>Von Dad weiß ich, dass Mom gerne Homers Ilias und Odyssee gelesen hat. Ich finde es aber ehrlich gesagt ziemlich schwierig zu lesen.<
>Homers Dichtkunst ist auch wahrlich anspruchsvoll, aber ich hätte nicht gedacht, dass du altgriechisch lesen kannst.<
>Kann ich auch nicht. Ich habe eine Übersetzung gelesen. Allerdings fand ich die nicht sehr witzig, wobei Dad gemeint hat, Mom hätte es sehr amüsiert.<
>Ha! Das glaube ich. Das war schließlich ihr Lieblingsbuch. Kein Wunder, sie kommt schließlich selbst darin vor.<
>Im Ernst? Mom kommt darin vor?<, fragte ich erstaunt.
>Ist dir das denn nicht aufgefallen?<, erwiderte sie fast vorwurfsvoll. >Es gibt nur eine Penelope in diesem Buch.<
>Aber ich wusste doch bis vor drei Tagen noch nicht einmal, wie Moms richtiger Name lautet, geschweige denn, dass sie schon seit Jahrtausenden lebt<, verteidigte ich mich. >Abgesehen davon hätte ich nie gedacht, dass diese Geschichte einen wahren Kern haben könnte.<
>Und ob sie den hat. Aber das ist jetzt nicht so wichtig. Nun, da du ihren richtigen Namen kennst, weißt du sicherlich auch, wer sie damals war.<
>N-Nein, nicht wirklich. So gut habe ich es vielleicht doch nicht gelesen und ich bin auch noch nicht ganz durch.<
>Tja<, gab sie seufzend von sich. >Dann werde ich mich wohl in Schweigen hüllen müssen, um dir die Spannung nicht zu verderben.<
>Aber das kannst du doch nicht machen<, sagte ich entsetzt. >Komm schon. Bitte erzähle es mir.<

Eine kurze Weile ließ sie mich zappeln und grinste vor sich hin. Aber dann gab sie sich zum Glück doch einen Ruck.
>Also gut. Dann will ich mal nicht so sein<, fing sie an. >Wer Odysseus war, weißt du, oder?<
>Ja klar, das ist der mit dem Trojanischen Pferd.<
>Meine Güte. Alle kennen die Sache mit dem Pferd und bewundern ihn deswegen. Dabei denkt keiner daran, dass der Krieg damals schon zehn Jahre gedauert hatte, ohne dass einer dieser Griechen auch nur eine vernünftige Idee gehabt hätte, wie man die Sache schnell beenden könnte. Zigtausende waren schon gestorben, aber unsereins hatte sich ja gerne am Tod der Menschen erfreut. Also warum die Sache unnötig beschleunigen? Die Stadt war außerdem dermaßen ausgehungert, dass sie ohnehin nicht mehr lange durchgehalten hätte. Aber so bekamen die ruhmreichen Eroberer wenigstens noch ihr abschließendes Gemetzel und Odysseus höchste Anerkennung.<
>Dann war Odysseus auch einer von unserem Volk?<
>Nein, der war ein Mensch. Zugegeben, ein Prachtexemplar der damaligen Zeit, aber nur ein Mensch. Achilles hingegen gehörte zu uns. Eigentlich kein so übler Kerl. Zumindest hatte er sich aus der Politik weitestgehend herausgehalten und war nicht so machthungrig wie andere. Ihm ging es mehr um die Ehre und den Erfolg auf dem Schlachtfeld. Er gehörte auch noch zu denen, die nur die Energie aufnahmen, die von sterbenden Feinden zu ihm strömte. In die Aura eines anderen einzutauchen um dessen Lebenskraft vollständig zu stehlen empfand er als unehrenhaft. Als ob es ehrenhafter gewesen wäre, chancenlose Menschen im Kampf niederzumetzeln. Aber er war nun mal ein begnadeter Krieger gewesen. Der Beste, den unser Volk jemals hatte. Kein Mensch hätte es mit ihm aufnehmen können und in der Schlacht geriet er oft in einen wahren Blutrausch. Jahrtausende lang perfektionierte er die Kampfkunst mit Schwert und Speer. Selbst der große Nikiforos hätte ihm nicht das Wasser reichen können. Aber leider war Achilles nicht der Schlaueste. Er nutzte unsere Gabe nur, um sich jung und gesund zu halten. Als ihn ein vergifteter Pfeil in die Ferse getroffen hatte, war es um ihn geschehen. Das war sehr tragisch gewesen, aber letztlich wohl auch der Grund, warum Odysseus endlich nach einem Weg gesucht hatte, den Krieg zu entscheiden. Und das hat ihn letztlich so weltbekannt gemacht.
>Das ist wirklich faszinierend, aber was hat das jetzt mit meiner Mom zu tun?<
>Sei doch nicht so ungeduldig. Denk doch mal an die arme Penelope. Die hatte damals all die Jahre zu Hause auf ihren edlen und nun auch noch überaus berühmten Gemahl warten müssen.<
>Heißt das etwa, dass Mom die Frau von Odysseus war?<
>Genau das. Die liebreizende Penelope, die ganze zwanzig Jahre auf ihren sterblichen Ehemann gewartet hatte. Jeden Tag hoffte sie sehnsüchtig auf seine Heimkehr, statt dass sie ihn verlassen und ihr Leben genießen würde. Aber was sollte ich machen? Ich wollte es ihr ausreden, aber sie liebte ihn einfach. Sie ist schon immer ihren Gefühlen gefolgt, egal wohin sie das gebracht hatte. Am liebsten wäre sie ihm nach Troja gefolgt, um auf ihn aufzupassen, aber das durfte sie natürlich nicht. Als seine Gemahlin und Königin musste sie zurück bleiben. Und dann gab es da auch noch Telemachos. Einen Sohn von Odysseus, den sie als ihren eigenen ausgab und groß zog. Stattdessen hat sie mich gebeten, ihm zu folgen und auf ihn aufzupassen. Die ersten zehn Jahre hatte das auch gut geklappt, doch nach dem Sieg trennten sich leider unsere Wege und ich hatte ihn aus den Augen verloren. Als Odysseus endlich zurückkehrte, hatte Penelope wirklich alles getan, um ihn gesund zu halten. Sie hatten auch noch einige glückliche Jahre zusammen, doch wenn die Lebenskraft aufgebraucht ist, gibt es nichts mehr, das man tun kann. Als er starb, war sie am Boden zerstört und es dauerte eine Ewigkeit, bis sie wieder richtig anfing zu leben. Eigentlich dachte ich, sie hätte damals ihre Lektion gelernt und würde sich nie mehr auf einen Menschen einlassen. Doch kaum dreitausend Jahre später war sie schon wieder so weit, ihrem Herzen zu folgen und sich erneut voll und ganz auf einen Menschen einzulassen.<

Mir war sofort klar, dass sie das auf meinen Dad bezog und ein warmes Gefühl durchströmte augenblicklich meine Brust. Wie stark muss wohl diese Liebe zu ihm gewesen sein, wenn sie dafür das Leid in Kauf nahm, ihn eines Tages zu verlieren? Vor allem, wenn sie das schon einmal erlebt hatte? Doch ein anderer Gedanke sorgte dafür, dass das schöne, warme Gefühl abrupt in meinen Bauch wanderte und sich dort in ein schmerzhaftes Brennen verwandelte.
>Wenn sie ihn so sehr geliebt hat, warum hat sie uns dann verlassen?<, sprach ich aus, was mir durch den Kopf ging. >Warum war ihr der Schlüssel denn wichtiger als die Liebe?<
>Oh Nico<, sagte Sylvia sanft, blieb stehen und griff mir an meine Schultern. Ihr Blick war dabei voller Mitgefühl und ich spürte ihre sanfte Aura, die sich fast zärtlich an meine schmiegte. >Das war er sicherlich nicht. Ich bin davon überzeugt, dass sie niemals vorhatte, euch zu verlassen, sondern euch beschützen wollte. Die Zeiten sind heute für uns nicht weniger gefährlich als damals. Noch immer mordet sich unser Volk gegenseitig. Doch sie glaubte nun einmal an die Prophezeiung und die Entdeckung des Schlüssels wäre ein Wendepunkt. Aber ihr muss irgendetwas zugestoßen sein. … Vielleicht kann ich herausfinden, was passiert ist.<
Überrascht schaute ich sie an.
>Du willst es herausfinden?<
>Ja, das will ich. Nach unseren Gesprächen heute Morgen ist mir bewusst geworden, dass ich ihr das schuldig bin. Ich lebe ohnehin schon zu lange hier und es wird Zeit, dass ich meine Zelte abbreche. Dank dir kenne ich ihren letzten Tagebucheintrag und weiß zumindest, wo ich mit der Suche anfangen kann.<
>Du meinst Babylon?<
>Ja. Es ist zwar nicht so einfach sich im heutigen Irak archäologisch zu betätigen, aber ich werde schon einen Weg finden.<
>Ich weiß nicht, was ich dazu sagen soll.<
>Du musst gar nichts dazu sagen<, meinte sie lächelnd, doch ich spürte wieder diesen inneren Zwiespalt, der mich schon die ganze Nacht beschäftigt hatte. Doch jetzt in diesem Augenblick überwog die Freude darüber, dass sich mir eine echte Chance offenbarte, meine Mom vielleicht wiedersehen zu können. Zumindest war es die Chance, endlich Gewissheit zu bekommen, was mit ihr geschehen war. Was konnte ich mir denn mehr wünschen? Ich war mir auch sicher, dass Dad sich ebenfalls nichts mehr wünschte als das.
>Darf ich dich begleiten?<, fragte ich, denn wenn ich helfen könnte, wollte ich das unbedingt tun.
>Auf gar keinen Fall!<, fuhr sie mich direkt an, kaum, dass ich meine Frage gestellt hatte. >Schlag dir das aus dem Kopf, Junge. Das ist viel zu gefährlich.<
>Aber ich…<
>Kein aber! Ich könnte ihr nicht nachforschen und gleichzeitig auf dich aufpassen. Wenn dich einer von ihnen erwischt, hättest du keine Chance. Du bleibst genau dort, wo Penelope dich zurückgelassen hat. Sie muss davon überzeugt gewesen sein, dass du dort sicher bist, sonst wäre sie nicht auf die Suche nach dem Schlüssel gegangen. Und bisher warst du das ja auch. Versprich mir, dass du zu Hause bleibst.<
Das gefiel mir nicht. Ich wollte auch meinen Beitrag leisten. Außerdem sahen vier Augen schließlich mehr als zwei. Doch ihre zwei Augen funkelten mich drohend an. Ich kannte sie inzwischen gut genug um zu wissen, dass sie in diesem Punkt nicht mit sich verhandeln lassen würde.
>Also gut. Ich verspreche es<, gab ich schließlich nach. >Aber nur unter einer Bedingung. Egal was du herausfindest, versprich mir, dass du es mir sagen wirst.<
Sylvia überlegte kurz und sah mich kritisch an. Doch dann nickte sie.
>Einverstanden<, sagte sie kurz und wir besiegelten das Abkommen mit einem Handschlag.

>Warst du schon einmal dort?<, fragte ich, nachdem wir uns wieder auf den Weg gemacht hatten.
>Ja, das ist aber schon eine Weile her<, meinte sie jetzt wieder lächelnd. >Damals war es die wohl prächtigste Stadt der Welt. Penelope war vor allem von der Architektur fasziniert und liebte die hängenden Gärten.<
>Wahnsinn. Ich kann mir kaum vorstellen, was ihr schon alles gesehen haben müsst. Ich glaube, so mancher Archäologe oder Historiker würde sich liebend gerne mit dir darüber unterhalten.<
>Und mir kein Wort glauben<, sagte sie leicht lachend. >Oder wie würdest du reagieren, wenn ein alte Frau behauptet, sie wäre bei der Gründung Roms dabei gewesen?<
>Im Ernst? Warst du wirklich dabei?<
>Nun ja, das war eigentlich nichts Besonderes. Es haben ohnehin so ziemlich alle aus unserem Volk auf die eine oder andere Weise ihre Fußspuren in der Geschichte hinterlassen.<
>Also ich finde das toll. Was genau hast du denn damals mit der Gründung von Rom zu tun gehabt?<
>Ach weißt du<, fing sie seufzend an. >Diese Erinnerungen schmerzen mehr, als dass ich gerne daran zurückdenke. Es war sowieso nur reiner Zufall. Woher hätte ich auch wissen sollen, was sich daraus entwickelt? Ich wollte doch nur zwei Findelkinder in einem etruskischen Dorf in Sicherheit bringen. Dass dies die Geburtsstunde des Römischen Reiches war, konnte ich ja nicht ahnen. Jedenfalls bin ich für längere Zeit dort geblieben und wurde damals von allen Rhea Silvia genannt, falls dir das etwas sagt.<
>Ähm … Nein, tut mir leid<, antwortete ich verlegen.
>Macht nichts, den Namen kennen die Wenigsten. Penelope hatte mich natürlich nicht so genannt. Für sie war ich immer nur Ilia.<
>So wie die Ilias von Homer?<
>Nein, damit hat das nichts zu tun. Es ist einfach eine Kurzform von Silvia. Das Wort Ilias ist eine alte Bezeichnung für Troja. Womit wir wieder bei deinem geliebten Pferd wären, das du so gut kennst.<
>Klar, das ist ja auch überlebenswichtig<, gab ich schmunzelnd zurück. >Aber ich verspreche dir, dass ich zu Hause nachforschen werde, was es so alles über Rhea Silvia zu wissen gibt. Wer weiß, vielleicht stoße ich auf ein verborgenes Geheimnis von dir.<
>Ich werde dich nicht davon abhalten, aber denk daran, dass die Römer ihre eigene Geschichte extrem mystifiziert haben. Du darfst höchsten zehn Prozent von dem glauben, was so überliefert wird. Dann bist du halbwegs nahe an der Wahrheit dran.<
>O.K., werde ich mir merken.<

Den Rest des Weges alberte ich ein wenig mit Taira herum, indem ich hin und wieder versuchte, vor ihr zu flüchten, was natürlich vollkommen aussichtslos war. Trotzdem machte es Spaß und sie ließ mich erst recht nicht mehr aus den Augen. Ich hielt ihr auch noch zwei Mal ein Stöckchen vor die Nase, doch auf dieses Spiel wollte sie sich absolut nicht einlassen. Kurz bevor wir beim Treffpunkt ankamen, rief mich Sylvia dann noch einmal zu sich.
>Nico, es gibt da noch etwas, das wir besprechen müssen<, meinte sie mit ernster Stimme zu mir. >Es ist wirklich sehr wichtig, dass du deinem Vater nichts von alledem erzählst, was du hier bei mir gelernt und erfahren hast. Vor allem nichts über Penelope. Ich habe es in seinen Augen gesehen, als wir uns vor drei Tagen hier unterhalten hatten. Er will nicht wahrhaben, dass sie tot ist und wenn er erfährt, dass ich auch meine Zweifel daran habe, wird er sie suchen gehen. Aber das darf nicht sein, Nico. Das Risiko ist viel zu groß. Sie würde niemals wollen, dass er sich solch einer Gefahr aussetzt. Deshalb musst du darüber absolutes Stillschweigen bewahren.<
>Ja, ich verstehe. Ich werde ihm nichts davon sagen. Aber wenn du sie findest, dann…<
>Mache dir bitte keine allzu große Hoffnungen. Die Wahrscheinlichkeit ist nicht sehr hoch und so eine Suche kann sehr lange dauern.<
>Aber du hältst mich doch auf dem Laufenden, oder?<
>Nein, Nico. Eine regelmäßige Kontaktaufnahme wäre ebenfalls zu riskant. Sollte mir etwas zustoßen, möchte ich keine Spuren hinterlassen, die zu dir führen. Du musst dich in Geduld üben. Eines Tages werde ich mich wieder bei dir melden und bis dahin… lebe dein Leben.<
>Das sagt sich so leicht<, erwiderte ich etwas betrübt.
>Kopf hoch. Du bist sehr talentiert und wirst das schon in den Griff bekommen. Trainiere regelmäßig weiter, was du bei mir angefangen hast. Du musst dich bewusst der Nähe von anderen aussetzen, um dich mit der Zeit daran zu gewöhnen. Und damit du nach und nach ein besseres Gefühl für deine Fähigkeiten entwickelst, solltest du dich des Öfteren auf dich selbst konzentrieren. So, als würdest du die Verbindung mit deiner eigenen Aura eingehen.<
>Das geht?<, fragte ich ungläubig.
>Natürlich. Nur so können wir uns selbst heilen. Versuche es, wenn du die nötige Ruhe hast. Zum Beispiel nach dem Zubettgehen. Aber sei vorsichtig und gehe sehr behutsam vor. Beobachte zum Beispiel, wie dein Körper Verletzungen selbst heilt. Irgendwann wirst du dann erkennen, dass du diese Schritte erheblich beschleunigen kannst, wenn du die betroffenen Zellen entsprechend beeinflusst. Noch einfacher ist es übrigens, eigene Krankheiten zu heilen. Zumindest die meisten. Die Erreger haben in der Regel auch eine Lebensenergie. Die ist zwar unheimlich schwach, aber man kann sie gerade im eigenen Körper sehr leicht aufspüren und abziehen. Da kannst du praktisch nichts falsch machen. Probiere das auf jeden Fall aus.<
>Das werde ich. Danke für den Tipp.<

>Tja, mehr kann ich im Moment nicht für dich tun. Du hast mein ruhiges Leben zwar ziemlich durcheinander gebracht und ich hätte dich zwischendurch am liebsten erwürgt, aber am Ende muss ich sagen, dass es doch gar nicht so übel mit dir war. Ich könnte mich vielleicht doch daran gewöhnen, deine Mentorin zu werden und dir noch das Eine oder Andere beizubringen. Nun ja, falls wir uns wiedersehen, können wir das ja in Erwägung ziehen, wenn du interessiert bist.<
>Klar bin ich interessiert. Das ist ein echt tolles Angebot. Vielen Dank.<
>Doch zunächst muss ich mich, wie du weißt, erst um etwas anderes kümmern. Also warte erst einmal ab, bis ich mich wieder bei dir melde. Und bedenke bitte, dass es durchaus möglich ist, dass wir uns nie wieder sehen.<
Ich nickte ihr zu. Mir war klar, dass sie sich in Gefahr begab. Das, was Mom zugestoßen war, könnte auch ihr widerfahren. Ich hoffte natürlich, dass alles gut gehen würde, aber darauf konnte ich mich nicht verlassen. Ein bisschen hatte ich ein schlechtes Gewissen, denn auch wenn es ihre eigene Idee gewesen war, so war es doch gewissermaßen meine Schuld, dass sie sich auf diese riskante Suche machen wollte. Doch wer außer ihr könnte das sonst machen? Sie kannte die Gefahren und war bereit dazu, sich ihnen zu stellen. Sie kannte auch meine Mutter besser als irgendjemand anderes. Nein, es gab keine Alternative und mir blieb nichts anderes übrig, als zu hoffen, dass alles gut ausgehen würde.

Ein kurzes Knurren von Taira riss mich aus meinen Gedanken.
>Was ist los?<, fragte ich sie und folgte ihrer Blickrichtung, jedoch ohne etwas zu entdecken.
>Sie hat bestimmt deinen Vater gewittert<, meinte Sylvia. >Wir sind fast da. Ich denke, du solltest dich jetzt von ihr verabschieden. Ich möchte nicht, dass er dich zusammen mit ihr sieht.<
>Hast du gehört, Taira?<, sagte ich und kniete mich vor ihr hin. >Jetzt ist es wohl an der Zeit, auf Wiedersehen zu sagen.<
Offensichtlich hatte sie das verstanden, denn sie gab einen winselnden Laut von sich, der mir direkt eine Gänsehaut im Nacken bescherte.
>Ich werde dich auch vermissen.<
Ein letztes Mal streichelte ich ihr über das seidig weiche Fell und kraulte sie noch einmal hinter den Ohren. Zu meiner großen Überraschung machte sie noch einen Schritt auf mich zu und legte ihren Kopf auf meine Schulter. Die Wärme ihres Fells so plötzlich an meinem Hals zu spüren ging mir durch und durch. Es fühlte sich einfach schön an. Als sie dann noch einmal direkt an meinem Ohr leise brummte, jagte mir das einen prickelnden Schauer über den Rücken.
>Mach’s gut, Taira<, sprach ich ein letztes Mal zu ihr und erhob mich wieder.
>Komm Nico. Wir sollten deinen Vater nicht unnötig warten lassen.<
Sylvia machte noch eine kurze Handbewegung und Taira legte sich auf den Boden. Dort sollte sie wohl warten, bis Sylvia vom Treffen mit meinem Dad zurückkam.
>Was wird denn aus ihr, den anderen Wölfen und deinen Rentieren, wenn du dich auf die Suche machst?<
>Also um die musst du dir nun wirklich keine Sorgen machen. Sowohl das Rudel als auch die Herde können sich hervorragend selbst versorgen. Aber vielleicht verkaufe ich auch die Rentiere, denn ich glaube nicht, dass ich so bald hierher zurückkehren werde. Besitz ist immer schwierig mitzunehmen, wenn man ein neues Leben beginnt. Wenn es etwas gibt, das den Menschen auffällt, dann sind es Besitztümer. Das gilt Hierzulande ganz besonders für Rentiere.<
>Dann war das eben ein Abschied für immer?<, fragte ich erschrocken und blickte zur Taira zurück. >Aber ich dachte, ich könnte sie irgendwann wiedersehen.<
>Das will ich auch gar nicht ausschließen. Wenn alles gut läuft, wird sich das bestimmt machen lassen. Glaube mir, ich hänge auch an den Wölfen. Aber wer weiß schon, was die Zukunft bringt.<

Auf unserem letzten Stück des Weges schaute ich noch ein paar Mal zu Taira, bis sie aus meinem Blickfeld verschwunden war. Obwohl dieser Abschied etwas traurig war, freute ich mich doch auch mit jedem Schritt mehr auf meinen Dad. Ich hoffte nur, dass er mich nicht allzu sehr mit Fragen bombardieren würde. Zumindest mit keinen, die ich nicht beantworten durfte. Aber so wie ich Dad kannte, musste ich mir eigentlich keine Sorgen machen. Bisher hatte er es immer akzeptiert, wenn ich über etwas nicht sprechen wollte.
Als wir die letzte Kuppe überquerten, konnte ich ihn schon sehen. Ich winkte ihm zu und spürte, wie meine Beine anscheinend eigenmächtig beschlossen hatten, das Tempo etwas zu erhöhen. Auch er winkte und kam mir entgegen.
>Hallo Dad<, begrüßte ich ihn mit einer Umarmung.
Wow. Seine Aura war selbst im Vergleich zu den jungen Rentieren sehr stark, doch ich wollte jetzt keinen Rückzieher machen.
>Hallo Nico<, erwiderte er und klang dabei irgendwie überrascht, wenn auch erfreut. >Es scheint so, als hätten dir die drei Tage richtig gut getan.<
>Haben sie<, bestätigte ich. >Sylvia hat mir sehr geholfen.<
>Nur keine falsche Bescheidenheit<, meldete sie sich zu Wort. >Du hast schließlich auch ordentlichen Einsatz gezeigt. Es ist also dein Verdienst.<
>Trotzdem, Sylvia. Ich bin dir sehr dankbar. … Für alles.<
Sie wusste genau, was ich mit “alles” meinte und nickte mir lächelnd zu.
>Auch ich möchte mich bedanken<, wandte Dad sich an sie. >Ich würde mich gern erkenntlich zeigen. Wenn es etwas gibt, das ich…<
>Das ist nicht nötig<, fiel sie ihm ins Wort. >Ich habe alles was ich brauche und ich habe es gerne getan. Abgesehen davon war ich das Penelope einfach schuldig. Kein Junge sollte seine Mutter so früh verlieren. Doch leider kann ich nicht mehr für ihn tun. Alles Weitere liegt nun in seiner Hand.<
Es war beeindruckten, wie überzeugend Sylvia sein konnte. Wüsste ich es nicht besser, hätte ich ihr in dem Moment voll und ganz abgenommen, dass sie Mom für tot hielt. Ich konnte Dad ansehen, wie sehr sie ihm fehlte.
>Nun, dann danke ich für die großzügige Hilfe<, sagte er. >Ich denke, wir sollten dann allmählich aufbrechen.<
>Ach, da wäre noch eine Sache<, meinte Sylvia, beugte sich zu ihm und flüsterte ihm etwas ins Ohr.
Obwohl ich ganz in der Nähe stand, konnte ich kein Wort verstehen. Dad hingegen nickte ihr zu. Dann schüttelten sie noch zum Abschied die Hände.

>So Nico<, wandte sie sich abschließend noch einmal an mich. >Bevor du gehst, habe ich noch ein kleines Geschenk für dich.<
>Ein Geschenk? Aber das ist doch nicht nötig.<
>Es ist nichts Besonderes. Nur ein kleines Andenken. Hier bitte.<
Mit diesen Worten überreichte sie mir lächelnd einen kleinen Lederbeutel. Gespannt öffnete ich den verknoteten Riemen und schüttete den Inhalt vorsichtig auf meine Hand. Zum Vorschein kam eine Kette aus verzierten Holzperlen. Ich holte sie ganz heraus, um sie besser betrachten zu können. Das Holz war von einem so dunklen braun, dass es fast schwarz erschien. Auf jeder einzelnen Perle konnte ich Schriftzeichen erkennen, die mich sofort an Moms Tagebuch erinnern.
>Wow. Die ist wirklich schön.<
>Freut mich, dass sie dir gefällt. Ich bin sicher, du findest eine Verwendung dafür<, sagte sie mit einem Augenzwinkern.
Ihr verschmitztes Lächeln verwirrte mich. Dann hatte ich plötzlich eine Ahnung, was es bedeutete. Schlagartig spürte ich, wie mein Kopf anfing zu kribbeln und mein Gesicht heiß wurde. Hatte sie mir diese Kette etwa geschenkt, damit ich sie weiterverschenkte? Ich selbst würde sie wohl nie tragen, aber ich kannte jemanden, dem sie sicherlich unheimlich gut stehen würde. Die Farbe des Holzes schien mir perfekt zu Kassandras Haaren zu passen.
>Ähm… ich denke schon<, sagte ich verlegen.
>Das ist ein ganz besonderes und äußerst seltenes Holz<, erklärte Sylvia, während ich die Kette betrachtete. >Es hat eine einzigartige Eigenschaft.<
>Welche denn?<
Sie blickte für den Bruchteil einer Sekunde zu Dad und ich ahnte sofort, dass diese Information nicht für ihn bestimmt war.
>Ich bin sicher, das findest du heraus.<
Mit einem Nicken ließ ich die Kette zurück in den Beutel gleiten und verknotete den Riemen sorgfältig. Meine Neugierde auf diese besondere Eigenschaft, was auch immer das war, musste ich erst einmal zurückstellen.

>Dann ist auch für uns der Moment gekommen, an dem sich unsere Wege wieder trennen<, meinte Sylvia mit einem kleinen Seufzer zu mir. >Es hat mich gefreut, dich kennengelernt zu haben und ich wünsche dir alles Gute für die Zukunft.<
>Das wünsche ich dir auch. Und noch einmal danke für alles<, sagte ich und nahm sie kurzentschlossen in den Arm.
Sie schien überrascht zu sein, doch sie erwiderte die Umarmung, was mich sehr freute. Es fühlte sich richtig gut an, ihre Aura so komplett zu spüren. Die war einfach ganz anders als die von normalen Menschen. So weich und sanft. Genau so müsste es sich auch anfühlen, wenn ich meine Mom umarmen würde.
Und wieder einmal keimte die Hoffnung in mir, dass ich das irgendwann erfahren würde.


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Kapitel 11

Frankie

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>Endlich!<, kam es seufzend über meine Lippen, als ich mich erleichtert in mein Bett fallen ließ.
Schlafen war das Einzige, das ich jetzt wollte. Alleine sein und schlafen. Dabei war es gerade erst später Nachmittag. Doch das war für mich vollkommen ohne Bedeutung. Ich war einfach total erledigt. Der Rückflug war extrem anstrengend gewesen und ich war sehr froh, dass ich es nun überstanden hatte und zu Hause war. Mit letzter Kraft hatte ich mein Gepäck in mein Zimmer geschleppt und mitten im Raum fallen gelassen. Heute noch auszupacken wäre definitiv zu viel verlangt.
Die letzte Nacht bei Sylvia war schon relativ kurz gewesen. Dann noch der Flug nach Stockholm, auf dem ich die ganze Zeit Dads Aura spüren musste. Manchmal auch die von den Leuten die vor und hinter mir saßen. Gut, das hatte ich auch schon beim letzten Flug aushalten müssen, aber da war ich nicht so müde gewesen.
In Stockholm hatten wir dann einen knapp dreistündigen Aufenthalt, bis es schließlich weiter in Richtung London ging. Dort bekamen wir ärgerlicher Weise wegen irgendeines Kongresses kein Hotelzimmer für die Nacht und mussten auf dem Flughafen ausharren. Doch an Schlaf war da auch nicht zu denken. Nicht nur, weil es so unbequem war. Alleine die Tatsache, dass wir bei weitem nicht die Einzigen waren, die im Wartebereich übernachten mussten, verhinderte, dass ich zur Ruhe kam.
Erst gegen Mittag startete dann unser dritter und letzter Flug. Auf dem war ich dann irgendwie doch kurz eingeschlafen, aber das hatte mich eher noch müder gemacht. Als wir dann endlich Zuhause angekommen waren, wollte ich nur noch in mein Bett.

Unter Einsatz meiner letzten Energiereserven schob ich mir auf dem Bett liegend die Schuhe von den Füßen und verkroch mich halb unter der Decke. Eine wohlige Wärme breitete sich allmählich in meinem Körper aus und ich bekam gerade noch mit, wie Dad wenig später ins Zimmer kam und die Vorhänge zuzog. Dann wünschte er mir noch eine gute Nacht, worauf ich nur noch mit einem leisen Brummen reagieren konnte. Nur Augenblicke später glitt ich in einen tiefen Schlaf.

Als ich wieder erwachte, hörte ich zunächst nur das leise Plätschern des Regens. Ich erinnerte mich spontan an die regnerische Nacht bei Sylvia, aber hier hörte es sich ganz anders an. Es war irgendwie vertrauter und sehr beruhigend. Als ob mir jeder einzelne Tropfen sagen wollte, dass ich wieder zu Hause war. Ich genoss das schöne Gefühl und döste noch ein wenig vor mich hin. Doch noch einmal einschlafen war mir nicht mehr möglich. Dafür war ich zu ausgeschlafen.
Ein Blick auf das dunkelrote Display meines Radioweckers verriet mir, dass es inzwischen kurz nach fünf war. Eigentlich viel zu früh zum Aufstehen, doch andererseits hatte ich gut zwölf Stunden geschlafen und fühlte mich fit für den Tag. Vielleicht war es auch gar nicht schlecht, so früh aufzustehen. Ich wollte ohnehin etwas früher in die Schule um mich in Ruhe orientieren zu können, wo mein neues Klassenzimmer war, welche Lehrer ich hatte und wer sonst noch so in meine Klasse kam. Doch jetzt hatte ich erst einmal etwas Anderes vor und dafür auch noch jede Menge Zeit.
Ich stand auf, reckte und streckte mich, zog dann die Vorhänge zurück und warf einen Blick aus dem Fenster. Es war noch dunkel, doch auch so hätte ich wegen der Regengüsse wohl kaum sehr weit sehen können. Als ich mich wieder vom Fenster abwandte, fiel mein Blick auf Moms Schatulle, die gleich daneben auf dem Schreibtisch stand. Sylvia hatte mir in der kurzen Zeit so vieles über Vitara erzählt, dass mir bei dem Anblick der Schnitzerei spontan Bilder in den Sinn kamen, wie diese Stadt einmal ausgesehen haben könnte. Doch dann erinnerte ich mich daran, wie ich diese Schatulle überhaupt gefunden hatte.
„Verdammt“, fluchte ich leise.
Warum nur hatte ich vergessen, Sylvia nach dem Grund für das anfängliche Leuchten in der schmalen Spalte zu fragen? Das hatte ich doch eigentlich unbedingt machen wollen. Doch jetzt war es zu spät und das ärgerte mich. Zumal ich auch nicht so bald eine Chance bekommen würde, sie danach zu fragen. Wer wusste schon, wann und ob ich sie überhaupt jemals wiedersehen würde? Natürlich hoffte ich ganz fest darauf. Darauf, und natürlich, dass ich meine Mutter wiedersehen würde. Aber diese ungewisse Zukunft lag in einem weit entfernten Dunkel.
Ich wünschte mir, ich hätte mehr Zeit gehabt, um mich mit Sylvia zu unterhalten und von ihr zu lernen. Leider war mir das nicht vergönnt gewesen, doch ich war fest entschlossen, ihre Ratschläge zu befolgen und mit dem Training fortzufahren.

Seufzend setzte ich mich an meinen Schreibtisch und schaltete den PC an. Das Erste, das ich machen wollte, war nach „Rhea Silvia“ zu suchen und ich staunte nicht schlecht, dass es weit mehr als eine Million Treffer gab. Von wegen, dass den Namen kaum jemand kennen würde. Kopfschüttelnd begann ich zu lesen. Erstaunlicher Weise stand da sogar ihr Spitzname Ilia, den sie von Mom hatte. Verrückt, dass so etwas ebenfalls über die Jahrtausende überliefert wurde.
Während ich vieles über die verschiedenen Legenden las, fragte ich mich bei jedem Detail, ob das nun der Wahrheit entsprechen könnte. Bei manchen war ich mir sofort sicher, dass sie nicht stimmen konnten. Wie zum Beispiel, dass Romulus und Remus ihre Söhne gewesen sein sollten, die sie von dem Gott Mars empfangen hätte. Sie hatte mir gegenüber ja selbst von Findelkindern gesprochen. Bei anderen konnte ich mir den Grund für diese Mythen zumindest denken. Denn da sie unsterblich war, lag es nahe, dies der Einmischung eines Gottes zuzuschreiben. So soll sie von dem Flussgott Tiberius gerettet, zur Frau genommen und mit ewigem Leben beschenkt worden sein.
Besonders interessant fand ich aber den Teil mit der Wölfin, die die Kinder gesäugt haben soll. Woher mag diese Legende gekommen sein? Hatte Sylvia vielleicht auch damals ein Rudel, das sie kontrollierte? Hatte sie tatsächlich einer der Wölfinnen aufgetragen, die Kinder zu säugen, damit sie nicht verhungerten? Oder waren die Wölfe tatsächlich nur Beschützer der Kinder gewesen und der Rest nichts als reine Fantasie? Auch wenn das Meiste einfach rätselhaft blieb, so war es doch sehr interessant gewesen, mehr über ihre Vergangenheit zu erfahren.

Als nächstes schaute ich auf Colins Website vorbei und entdeckte dort einige neue Bilder. Offensichtlich hatte er ein paar Urlaubstage mit Eileen verbracht und ein paar Schnappschüsse eingestellt. Die beiden sahen auf den Fotos richtig glücklich aus und ich beneidete sie. Wie gerne würde ich auch mit Kassandra am Strand stehen und den Arm um sie legen können. Ob mir das durch das Training schon möglich war? So recht konnte ich nicht daran glauben, aber alleine die Vorstellung bescherte mir ein vorfreudiges Kribbeln im Bauch.
Bei dem Gedanken an Kassandra erinnerte ich mich spontan an das Geschenk, das Sylvia mir beim Abschied noch überreicht hatte. Was war wohl das Besondere an dieser Kette? Ich ging zu meinem Gepäck, das noch immer dort stand wo ich es fallengelassen hatte, und fing an meinen Rucksack und den Koffer auszupacken. Moms Tagebuch, das Foto von ihr in dem silbernen Rahmen, die Skulptur von Nikiforos und den kleinen Lederbeutel platzierte ich zunächst auf meinen Schreibtisch. Die ganze Wäsche landete vorerst auf einem Stapel. Um die würde ich mich später noch kümmern. Jetzt zog es mich erst einmal ins Badezimmer.

Ich konnte es kaum erwarten, endlich wieder eine heiße Dusche zu nehmen. Natürlich hatte es einen besonderen Reiz, so wie Sylvia in der freien Natur zu leben, aber die Möglichkeit, ein richtiges Badezimmer benutzen zu können, war absolut nicht zu verachten. Dabei hätte ich nie gedacht, dass ich so etwas eigentlich Selbstverständliches wie eine Dusche einmal als Luxus empfinden würde.
Schnell hatte ich mich ausgezogen und mich unter den dampfenden Wasserstrahl gestellt. Die Hitze, die in tausenden Tropfen auf mich niederprasselte, bescherte mir im ersten Moment eine Gänsehaut. Doch schon nach kurzer Zeit hatte ich mich daran gewöhnt und entspannte zusehends. Es war die reinste Wohltat und ich genoss es in vollen Zügen.
Für einen Moment verspürte ich eine so tiefe innere Ruhe, dass ich die Augen schloss, tief die warme, feuchte Luft einatmete und mich wie von selbst auf meine eigene Aura konzentrierte. Das Rauschen des Wassers drang nur noch gedämpft zu mir durch. Es war ein eigenartiges Gefühl. Irgendwie beobachtete ich mich selbst, als wäre ich nicht in mir. Dabei spürte ich mich und meine Lebensenergie in diesem Moment ganz bewusst und intensiv. Ich betrachtete den bläulichen Schimmer, der mich einhüllte. Sah die Millionen kleiner Lichtstrahlen, die aus dem winzigen leuchtenden Zentrum einer jeden Zelle herausbrachen. Es war fast so, als würde ich mich selbst auf eine ganz neue Art und Weise wahrnehmen.
Doch allzu lange wollte ich nicht in diesem meditationsähnlichen Zustand verharren und kehrte allmählich wieder zurück. Das Prasseln des heißen Wassers drängte sich als erstes in mein Bewusstsein und angenehm überrascht stellte ich fest, dass mir dieses Mal nicht ansatzweise übel wurde. Ob das normal war, wenn man sich aus einer Konzentration auf sich selbst löste? Wie gerne würde ich mich jetzt mit Sylvia darüber unterhalten, doch das war leider unmöglich.

Nachdem ich zu Ende geduscht und mir schließlich etwas Frisches angezogen hatte, brachte ich noch schnell meine schmutzigen Sachen in die Waschküche im Keller. Danach zog es mich in die Küche. Ich hatte einen riesen Hunger und genehmigte mir erst einmal eine Schüssel Müsli. Nebenbei kochte ich auch gleich eine Kanne Kaffee. Es dauerte auch nicht lange, bis der ganze Raum von dem herrlichen Duft erfüllt war. Nichts gegen Sylvias Kräutertee, aber so ein Kaffee am Morgen ist doch etwas ganz Anderes.

Ich goss mir eine große Tasse ein und konnte nicht widerstehen, gleich dran zu nippen. Obwohl ich mir Lippen und Zunge leicht verbrannte, bereute ich es nicht. Dafür hatte ich diesen Geschmack in den letzten Tagen zu sehr vermisst. Ich setzte mich an den Tisch und versenkte meinen Blick in dieser glänzenden, schwarzen Flüssigkeit. Immer wieder atmete ich das Aroma tief ein und genoss es, den Dampf auf meinem Gesicht zu spüren. Meine Haut prickelte leicht und in diesem Moment hatte ich das gute Gefühl, wieder richtig zu Hause angekommen zu sein.
Ein Blick auf die leise tickende Wanduhr verriet mir, dass es inzwischen Viertel vor Sieben war. Dad würde sicherlich auch bald aufstehen. Ich deckte noch schnell den Frühstückstisch für ihn und überlegte dann, wie ich mir die Zeit am besten vertreiben könnte, bist er aufgestanden war. Dabei fiel mir ein, dass ich mir das Geschenk von Sylvia eigentlich noch näher anschauen wollte. Kurzentschlossen ging ich wieder nach oben in mein Zimmer, um das aufgeschobene Vorhaben nun in die Tat umzusetzen.

Ich stellte die Kaffeetasse auf meinem Nachttisch ab, machte leise Musik an und nahm den kleinen Lederbeutel vom Schreibtisch. Auf dem Bett liegend knotete ich ihn auf und holte die Holzkette vorsichtig heraus. Langsam, Perle für Perle, ließ ich die Kette durch meine Finger gleiten und betrachtet jedes Einzelteil ganz genau.
Sylvia hatte das Holz wirklich unglaublich toll bearbeitet. Die Oberfläche war makellos glatt und glänzend und es fühlte sich irgendwie gut an, sie auf der Haut zu fühlen. Die Schriftzeichen, die auf jede Perle mit äußerst dünnen, filigranen Linien eingraviert waren, sahen einfach perfekt aus. Gerne hätte ich gewusst, was sie bedeuten und ich hoffte, dass ich es irgendwann erfahren würde. Allerdings interessierte mich noch mehr, was denn nun das Besondere an dieser Kette sein sollte. Außer, dass sie wirklich ein Beispiel für meisterhafte Holzbearbeitung war, konnte ich nichts Außergewöhnliches an ihr entdecken.
Eine gute Viertelstunde später gab ich es schließlich auf. Es war fast so wie damals, als ich Moms Tagebuch Blatt für Blatt durchgesehen und doch keinen blassen Schimmer davon hatte, was die ganzen Bildchen und Zeichen zu bedeuten hatten. Wenigstens wusste ich diesmal, dass da eine uralte Schrift eingraviert war und dass es auch jemanden gab, der sie lesen konnte. Jemanden, den ich hoffentlich irgendwann wiedersehen würde.
Seufzend setzte ich mich auf und ließ die Kette wieder in den Lederbeutel gleiten. Doch gerade, als ich den Riemen wieder zuziehen wollte, bemerkte ich etwas. Im ersten Moment glaubte ich, meine Augen würden mir einen Streich spielen, doch bei genauerem Hinsehen bestätigte sich die flüchtige Wahrnehmung. Die Holzperlen waren von einem leichten, bläulichen Schimmer umgeben. Doch wie war das möglich und warum war es mir nicht schon vorher aufgefallen?
Sofort holte ich die Kette wieder heraus und legte sie auf mein Bett. Hier auf dem weißen Laken war das schwache Leuchten ganz deutlich zu erkennen. Konnte es wirklich sein, dass in dieser Kette Leben steckte? Spontan schloss ich die Augen und versuchte mich auf diese Aura zu konzentrieren. Jedoch ohne Erfolg. Ich konnte sie nicht erfassen. Ich spürte noch nicht einmal ihre Präsenz. Da war gar nichts. Nein, dieses Holz konnte nicht wirklich lebendig sein. Und doch war da dieses schwache Schimmern.

Ein kurzes Klopfen an der Tür schreckte mich auf und riss mich aus meinen Gedanken.
>Ja?!<, rief ich zur Tür, die gleich darauf einen Spalt geöffnet wurde.
>Hier duftet es nach Kaffee. Ich nehme an, du bist schon auf?<
>Ja Dad, bin ich. Komm rein.<
>Oh!? Und ausgeräumt hast du auch schon, wie ich sehe.<
>Schon ist gut<, sagte ich schmunzelnd. >Ich bin bereits eine Weile wach.<
>Frühstückst du dann gleich mit mir oder hast du schon?<, fragte er lächelnd.
>Beides<, antwortete ich grinsend und nahm den Lederbeutel, um die Kette wieder einzupacken.
>Was hast du da?<, wollte er wissen.
>Das ist das Geschenk von Sylvia, das sie mir bei unserem Abschied gegeben hat.<
>Darf ich es mal sehen?<
Ich zögerte einen Moment, doch mir fiel nichts ein, das dagegen sprechen könnte. Sylvia hatte mir die Kette schließlich gegeben, als Dad dabei war. Ein Geheimnis konnte ihre Existenz also nicht sein. Außerdem musste ihr bewusst gewesen sein, dass ich ihre Andeutung, ich würde dafür schon eine Verwendung finden, auf Kassandra beziehen würde. Wobei mir noch immer schleierhaft war, was sie damit gemeint hatte.
>Ja, warum nicht?<, meinte ich schließlich und breitete sie erneut auf dem Laken aus.

Dad kam näher und betrachtete sie einfach so, wie sie dalag.
>Hmm…<, gab er kurz darauf grüblerisch von sich.
>Was ist?<, wollte ich wissen.
>Das Holz und diese Gravuren kommen mir bekannt vor.<
>Sie kommt dir bekannt vor?<, fragte ich verwundert nach.
>Ja. Nele hatte mir… warte kurz.<
Abrupt drehte er sich um und ging nach nebenan in sein Zimmer. Ich hörte, wie er gleich darauf einen Schrank öffnete und so etwas wie >Wo habe ich ihn denn?<, murmelte. Doch schon kurze Zeit später ertönte ein freudiges >Ah, da ist er ja<, und er kam wieder zurück. >Hier. Dieses Stück war das erste Geschenk deiner Mutter an mich<, sagte er und präsentierte mir eine große, quadratische Schmuckschachtel, die er gleich darauf öffnete. >Damals waren wir noch ganz frisch zusammen.<

Vorsichtig nahm er den großen, hölzernen, an einem Lederband befestigten Anhänger heraus und legte ihn sich um. Nie zuvor hatte ich so etwas gesehen, doch dieses Stück trug zweifellos die Handschrift von Sylvia oder zumindest von ihrem Volk.
Dad hatte Recht mit seiner Vermutung. Das Holz sah tatsächlich wie das der Kette aus. Doch hier war es ganz anders bearbeitet worden. Der Anhänger schien aus einem Stück gemacht zu sein und stellte vier ineinander verschlungene Kreise dar, die wiederum von vier größeren, entgegengesetzt angebrachten Viertelkreisen durchzogen waren. Außerdem fiel mir auf, dass auf jedem dieser schwungvollen Elemente die gleichen filigranen Schriftzeichen angebracht waren, wie auch auf meiner Kette. In gewisser Weise mussten diese beiden Exemplare eine sehr ähnliche Bedeutung haben, auch wenn sie sehr unterschiedlich aussahen.
Allerdings konnte ich mir kaum vorstellen, dass mein Vater diesen Anhänger früher tatsächlich getragen hatte. Im Grunde trug er gar keinen Schmuck. Überhaupt war sein Ehering, den er niemals ablegte, das einzige Schmuckstück, das ich bisher an ihm gesehen hatte. Kaum vorstellbar, dass er früher dieses Ding getragen hatte.
Wäre das Teil aus Gold gewesen, hätte es wunderbar zu einem dieser Gangsterrapper gepasst, die sich ja gerne mit solch protzigen Ornamenten behängten. Das Muster würde sich vermutlich auch gut als Tattoo machen, doch an Dad würde es nur befremdlich aussehen.

>Und das hast du früher wirklich so getragen?<, frage ich ungläubig, denn das Bild wollte einfach nicht in meinen Kopf passen.
>Ja, habe ich<, meinte er lächelnd. >Meistens unter der Kleidung, da es nicht gerade mein Stil ist. Doch ich habe es ihr zuliebe getan. Für sie spielte es keine Rolle, wie ich es trug. Es war ihr zu Beginn unserer Beziehung einfach nur sehr wichtig, dass ich es praktisch immer trug, wenn wir zusammen waren. Sogar wenn wir … ähm … uns geküsst haben.<
Verwirrt schaute ich ihn an. Im ersten Moment hatte ich es nicht verstanden, doch dann wurde mir schlagartig klar, was er wohl ursprünglich sagen wollte.
>Oh Dad, ich bin doch kein Kleinkind mehr<, sagte ich lachend. >Ich bin 15, nicht fünf oder zehn. Und das Gespräch mit den Bienen und Blumen haben wir auch längst hinter uns. Schon vergessen?<
>Nein, natürlich nicht. Aber das ist ... privat. Darauf möchte ich wirklich nicht näher eingehen.<
>Schon gut, Dad.<
Amüsiert schüttelte ich leicht mit dem Kopf. Doch gleich darauf kam mir ein ganz anderer Gedanke. Warum wollte Mom denn, dass er diesen Anhänger ständig trug?
>Hatte Mom dir eigentlich auch den Grund verraten, warum sie wollte, dass du dir dieses Stück um den Hals hängst?<
>Nicht, dass ich wüsste<, gab er nachdenklich von sich. >Sie meinte damals nur, dass mich dieses Amulett beschützen würde. Ich muss zugeben, dass das schon recht merkwürdig für mich war, da ich sie eigentlich überhaupt nicht für abergläubisch gehalten hatte, aber es lag ihr so viel daran, dass ich ihr gerne diesen Gefallen getan hatte.<

>Darf ich es mal in die Hand nehmen?<, fragte ich, worauf er nach kurzem Zögern schließlich nickte.
Vorsichtig nahm ich den Anhänger aus der Schachtel und begutachtete ihn. Auch bei diesem Stück fühlte sich das Holz angenehm auf der Haut an. Es schien mir auch ein ähnliches Gewicht wie die Kette zu haben, doch von einem bläulichen Leuchten war nichts zu sehen oder zu fühlen. Nein, im Grunde spürte ich auch hier gar nichts Lebendiges.
Unschlüssig, was das zu bedeuten hatte, legte ich es wieder zurück. Ich wusste zwar noch immer nicht, was es mit der Kette und diesem Anhänger auf sich hatte, doch ich hatte zumindest ein bisschen mehr erfahren. Allerdings erschien es mir wenig plausibel, dass das Amulett ein Talisman sein sollte. Wenn das seine tatsächliche Bedeutung wäre, müsste die Kette auch einer sein, doch davon hatte Sylvia nichts gesagt. Sie hatte es noch nicht einmal angedeutet. Bisher war ich davon ausgegangen, dass diese Kette im Grunde für Kassandra gedacht war und die Tatsache, dass Mom etwas Vergleichbares Dad geschenkt hatte, bestärkte mich in dieser Vermutung. Doch was dahinter steckte, war mir ein Rätsel.

Nachdem Dad die Schachtel wieder verschlossen und ins Schlafzimmer zurückgebracht hatte, gingen wir in die Küche und frühstückten zusammen. Wir unterhielten uns noch ein wenig über unsere Highlights aus dem Schwedenurlaub und auch kurz über das neue Schuljahr. Doch viel Zeit zum Plaudern hatten wir leider nicht mehr und er musste sich schon bald auf den Weg machen.
Zum Abschied klopfte er mir wie so oft kurz auf die Schulter und sofort breitete sich von der berührten Stelle ein kribbelnder Schauer aus. Doch diesmal schaffte ich es, bei dem Kontakt mit seiner Aura nicht zusammenzuzucken. Dad quittierte dies mit einem aufmunternden, fast stolzen Lächeln und auch ich fühlte mich gut deswegen. Mit Dankbarkeit dachte ich an Sylvia und an alles, was ich bei ihr gelernt hatte. Durch sie hatte ich die Zuversicht gewonnen, dass ich mit meiner Fähigkeit wirklich klarkommen könnte.

Ich ging wieder in mein Zimmer, um mich für die Schule fertig zu machen und meine Sachen zu packen. Die Kette lag immer noch auf meinem Bett, doch etwas hatte sich verändert. Sie leuchtete nur noch ganz schwach, als ob die Lebensenergie fast vollständig verflogen wäre. Verwundert hob ich sie hoch und betrachtete sie genauer. Spüren konnte ich immer noch nichts und direkt in meiner Hand war von dem Leuchten praktisch überhaupt nichts zu sehen. Doch als ich sie dann in den Lederbeutel gleiten ließ, schien es mir so, als wäre der Schimmer wieder etwas stärker geworden.
Erneut holte ich die Kette heraus und breitete sie auf dem Bettlaken aus. Tatsächlich! Jetzt war die bläuliche Aura wieder eine Spur deutlicher zu sehen. Hatte das womöglich etwas mit dem Kontakt meiner Hand zu tun? Nahm die Kette womöglich ein wenig von der Energie auf, die von mir abgestrahlt wurde? War es das, was das Besondere an diesem Holz sein sollte? Eine Art Lebensenergie-Fluoreszenz?
Für den Moment erschien mir das als die plausibelste Erklärung, wobei mir immer noch nicht klar war, warum es Mom dann so wichtig war, dass Dad den Anhänger trug und warum Sylvia mir gerade dieses Geschenk gemacht hatte. Es musste einfach noch mehr dahinter stecken, doch das würde ich wohl erst dann herausfinden können, wenn Kassandra diese Kette trug.

Kassandra. Alleine an sie zu denken, machte mich schon nervös. Wie sollte ich ihr dieses Geschenk denn überreichen und was sollte ich dazu sagen? Dass es ein Mitbringsel aus Schweden war? Würde sie es überhaupt annehmen? Und wie sollte ich sie dann dazu bringen, es immer zu tragen, wenn ich den Grund dafür doch noch nicht einmal selbst wusste? Oder sollte ich lieber noch damit warten?
Verunsichert stand ich da und dachte nach. Ich erinnerte mich daran, wie ich vor einem Monat Colin das Versprechen gegeben hatte, nach meiner Rückkehr aus Schweden Kassandra anzusprechen. Damals war ich mir nicht sicher gewesen, ob ich dann auch wirklich in der Lage sein würde, dieses Versprechen auch einzulösen. Doch inzwischen war vieles passiert und mein Gefühl sagte mir, dass mir dieses Geschenk von Sylvia dabei helfen könnte, mit ihr zusammen zu kommen.
Vorerst fasste ich den Entschluss, die Kette einfach mitzunehmen und auf die richtige Gelegenheit zu warten. Ich hob sie vom Bett auf und ließ sie wieder in den Lederbeutel gleiten, den ich dann sorgfältig verschnürte und in meiner Schultasche verstaute. Danach zog ich noch meine Schuluniform an und machte mich auf den Weg.

Zum Glück hatte der Regen inzwischen nachgelassen oder zumindest eine Pause eingelegt. So konnte ich problemlos mit dem Rad fahren und musste nicht auf den Bus warten. Der Himmel war allerdings noch immer stark bewölkt und die Pfützen schimmerten silbern in diesem dunstigen Licht. Doch gerade in dem Nieselregen wirkte die Lebenskraft der Pflanzen besonders schön und stark und erinnerte mich an den Wald in Schweden.
Ich konnte ihn im Gedanken direkt vor mir sehen. Auch Taira, wie sie mich bei den Spaziergängen begleitet hatte. Wie ich mit ihr die Verbindung geübt hatte und auch, wie wir uns voneinander verabschieden mussten. Ich hoffte sehr, dass es ihr gut ging, aber sicherlich hatte Sylvia Recht damit, dass die Wölfe sehr gut alleine klarkommen würden.

Bei der Schule angekommen schloss ich mein Rad ab und machte mich auf den Weg zum Aushang neben dem Sekretariat. Dort fand ich auch gleich auf einer Liste meinen Namen. Colin stand ebenfalls darauf, aber das war zu erwarten gewesen. Genauso wie die anderen Klassenkameraden, die sich wie ich für das Senior Cycle entschieden hatten. Als meine Augen dann allerdings beim flüchtigen Überfliegen der Namenslinste „Kassandra“ aufschnappten, stockte mir der Atem. Konnte das wirklich sein? Ging Kassandra wirklich in meine Klasse? Noch einmal überprüfte ich die Liste. Auch Eileen stand darauf. Nein, es gab keinen Zweifel. Unsere Klassen mussten wohl wegen der vielen Abgänger zusammengelegt worden sein.
Damit hatte ich nicht gerechnet und das machte mich schlagartig sehr aufgeregt. Natürlich hatte ich mich darauf gefreut, sie wieder öfters sehen zu können. Doch künftig in die gleiche Klasse zu gehen, war etwas vollkommen anderes. Was, wenn sie sich neben mich setzen wollte? Könnte ich das überhaupt aushalten? Und wie sollte ich mich dann noch auf irgendetwas anderes konzentrieren können?
Als zwei andere Schüler plötzlich neben mir auftauchten, um vermutlich ebenfalls die Aushänge zu studieren, ging ich lieber weiter. Ich wollte jetzt keine andere Aura spüren. Ich war auch so schon beunruhigt und ratlos genug. Was sollte ich jetzt nur machen?

Ich ging eine ganze Weile ziellos durch das noch sehr ruhige Schulgebäude und starrte dabei auf den Boden, als ob ich im Muster der Fliesen eine Lösung für mein Problem finden könnte. Doch konnte es überhaupt eine Lösung dafür geben? Und wie sollte die aussehen? Mit Kassandra in einer Klasse zu sein, war gleichermaßen Traum wie Albtraum. Ich wusste nicht, ob die Freude darauf oder die Panik davor überwog. Ich wusste nur, dass ich beides überdeutlich spürte und jeder Gedanke daran jagte mir einen prickelnden Schauer nach dem anderen bis in die Haarspitzen.
Wie sollte ich es nur den ganzen Tag in ihrer Nähe aushalten können? Aber um eine Versetzung in eine andere Klasse zu bitten wäre auch keine Option. Das würde ich ihr niemals erklären können. Und das wollte ich auch gar nicht. Ich wollte in ihrer Nähe sein, auch wenn ich Angst davor hatte. Ich konnte nur beten, dass ich mich mit der Zeit daran gewöhnen würde, sie ständig spüren zu können.
Eine solche Extremtherapie hätte ich zwar nie und nimmer im Sinn gehabt, aber bei Sylvia hatte ich letztlich auch viel mehr geschafft, als ich mir vorher hätte erträumen lassen. Auch wenn die Nähe von Taira oder den Rentieren kein Vergleich zu Kassandra war, schürte es doch ein bisschen Hoffnung in mir, dass alles gut werden könnte.

>Hey Nico!<, hörte ich plötzlich eine bekannte Stimme, die mich aus den Gedanken riss.
Überrascht schaute ich auf. Ich erblickte Colin und Eileen, die lächelnd und händchenhaltend ein paar Meter von mir entfernt standen und etwas versetzt dahinter war Kassandra. Ihr Licht strahlte wieder so unglaublich intensiv und sie sah einfach wunderschön aus. Doch ihre Miene wirkte eher abweisend und sie sah noch nicht einmal in meine Richtung. Verunsichert schaute ich sie sekundenlang an, doch sie würdigte mich keines Blickes.
>Hallo Leute<, sagte ich schließlich zögerlich und versuchte Colin und Eileen anzulächeln, doch so recht wolle mir das nicht gelingen und es fiel mir schwer, die Augen von Kassandra abzuwenden. Was hatte sie nur?
>Wie war dein Urlaub?<, wollte Colin wissen und zog meine Aufmerksamkeit damit wieder auf sich.
>Ganz gut<, antwortete ich nach einer kurzen Pause. >Schweden ist toll.<
>Haben die da kein Handy-Netz? Du hättest dich ruhig mal zwischendurch melden können.<
Auf diese Frage hin rammte ihm Eileen plötzlich den Ellenbogen in die Seite und funkelte ihn böse an. Auch Kassandra schaute irgendwie mürrisch zu ihm.
>Aua!<, beschwerte sich Colin. >Ich werde ja wohl noch meinen besten Freund fragen dürfen, warum er sich vier Wochen lang nicht gemeldet hat.<
Irritiert schaute ich von einem zum anderen. Was hatte das jetzt zu bedeuten?
>Ähm, na ja<, begann ich die Frage zu beantworten, >wir waren schon viel in der Wildnis unterwegs. Da gibt’s tatsächlich kein Handynetz. Aber seit wann willst du denn im Urlaub von mir angerufen werden?<
>Ach, ist nicht so wichtig<, meinte Colin und rieb sich die Rippen an der Seite.

>Kommst du, Eileen?<, hörte ich Kassandra mit gereizter Stimme sagen. >Ich will mir einen Platz aussuchen, bevor alle guten weg sind.<
>Was? Wovon redest du? Was für gute Plätze? Die sind doch alle gleich<, erwiderte Eileen verwirrt.
>Nein, sind sie nicht. Du weißt genau was ich meine.<
>Ja, aber… wollen wir nicht zusammen…?<
>Ach, mach doch was du willst<, fuhr Kassandra sie an. >Ich gehe jetzt.<
Kaum, dass sie das gesagt hatte, drehte sie sich um und marschierte los.
>Kara! Jetzt warte doch mal!<, rief Eileen ihr nach, doch sie ging einfach weiter.
>Man! … Sorry, aber ich muss ihr hinterher<, sagte sie entschuldigend zu uns und sah mich dabei kurz etwas merkwürdig an. Doch gleich im nächsten Moment nahmen ihre Augen ein fast drohendes Funkeln an, als sie sich noch einmal an Colin wandte. >Und du… du denkst gefälligst an das, was du mir versprochen hast oder dein Kopfkissen wird das einzige sein, das du in nächster Zeit küssen wirst!<
Ohne eine Erwiderung abzuwarten drehte sie sich um und rannte Kassandra hinterher.

Verwirrt schaute ich den Mädchen nach und verstand nicht, was hier gerade los war. Am allerwenigsten konnte ich Kassandras abweisendes Verhalten begreifen. Warum hatte sie mich denn nicht ein einziges Mal angesehen? Konnte sie mich nicht mehr leiden? Hatte sie vielleicht im Urlaub einen anderen kennengelernt und mich aus ihrem Leben gestrichen?
Bei dem Gedanken zog sich alles in mir zusammen und verklumpte zu einer harten, unbeweglichen Masse in meinem Bauch. War jetzt alles umsonst gewesen? Hatte ich mir vergeblich Hoffnung auf eine gemeinsame Zukunft gemacht? Was sollte ich jetzt nur tun?

>Weiber!<, gab Colin kopfschüttelnd von sich und klopfte mir dabei auf die Schulter, wodurch mich der unerwartete Kontakt mit seiner Aura im ersten Moment leicht zusammenzucken ließ. >Ich sag‘ dir, die können so was von nerven, das glaubst du nicht.<
>Vielleicht solltest du dann lieber mitgehen.<
>Auf gar keinen Fall. Wenn die beiden so mies drauf sind, krieg nur ich das am Ende wieder ab.<
>Du kriegst es wieder ab? Wie meinst du das?<, fragte ich verwundert nach?
>Na ja, wir waren in den letzten Wochen ein paar Mal zu dritt unterwegs und das war fast jedes Mal eine Katastrophe. Aber damit ist jetzt hoffentlich endgültig Schluss. Zu viert wird es in Zukunft bestimmt wesentlich besser.<
„Zu viert“, hallte es in meinem Kopf nach und bestätigte schmerzlich meine Befürchtung. Kassandra hatte also jemanden kennengelernt und sie planten sogar schon gemeinsame Aktivitäten. Konnte es überhaupt noch schlimmer kommen? So hatte ich mir den ersten Schultag ganz und gar nicht vorgestellt. Wer war der Typ überhaupt, mit dem sie jetzt zusammen war?
>Wer… ist denn der Vierte?<, fragte ich nach und versuchte dabei möglichst gelassen zu klingen, was mir aber nicht wirklich gelang.
>Wer das ist? Na wer wohl. Du natürlich. Jedenfalls wenn du deinen Arsch endlich hoch bekommst und das Versprechen hältst, das du mir vor deiner Abreise gegeben hast. Alter, noch so ein Dreierdate überstehe ich nicht. Und ich habe das Gefühl, dass es jetzt in der Schule noch übler wird. Echt jetzt, du musst mir helfen. Ich will Eileen auch mal ganz für mich alleine haben, aber die glaubt ständig, sich um Kara kümmern zu müssen.<
>Dann hat sie gar keinen Freund?<
>Was? Natürlich nicht. Wie kommst du denn darauf? Hat sie auf dich etwa frisch verliebt gewirkt?<
>Nein, hat sie nicht<, sagte ich und kam mir plötzlich ziemlich blöd vor. >Aber von mir will sie anscheinend nichts mehr wissen.<
>Hey, komm mir nicht mit der Tour. Versuch‘ erst gar nicht, dich da heraus zu reden. Du wirst gefälligst dein Versprechen halten. Das bist du mir schuldig.<
>Aber Colin, sie hat mich gerade noch nicht mal angesehen.<
>Na und? Dann stell dich halt beim nächsten Mal dorthin, wo sie hinguckt.<
>Ha ha. Sehr witzig. Selten so gelacht.<
>Ich meine das ernst, Nico. Hier herumstehen und jammern wird dir auch nicht helfen.<
>Und was soll ich deiner Meinung nach tun?<, fragte ich leicht gereizt.
>Na was schon. Auf sie zugehen, mit ihr reden und ihr zeigen, dass du scharf auf sie bist. Dann wird das schon.<

Etwas missmutig ließ ich seine Worte auf mich wirken. Gut, ich hatte es versprochen und ich wollte es ja auch, aber Colin hatte leicht reden. Als er Eileen angesprochen hatte, waren sie auf einer Party und gut gelaunt gewesen. Aber die Schule ist nun mal keine Party und Kassandra offensichtlich alles andere als gut gelaunt. Und wie kam er überhaupt darauf, dass sie noch was von mir wollen würde, wo sie mich doch noch nicht einmal eines Blickes gewürdigt hatte? Irgendwie schien mir das völlig aussichtslos und es deprimierte mich total. Aber wenn ich es nicht versuchen würde, würde ich mir bestimmt ewig Vorwürfe machen und Colin mir damit nicht weniger lange in den Ohren liegen.
>O.K., ich werde es versuchen<, gab ich seufzend nach.
>Na also, geht doch. Aber wenn möglich noch vor der Abschlussfeier in drei Jahren, klar?<
>Man, jetzt hör schon auf zu nerven.<
>Gut, für den Moment hör ich auf, aber wenn du nicht in die Gänge kommst, kann ich noch viel nervender werden. Vergiss nicht, ich hab jetzt eine Freundin und die weiß ganz genau wie das geht.<
>Sag mal, weiß Eileen eigentlich wie du über sie redest?<
>Jetzt male mal nicht gleich den Teufel an die Wand. Wehe du sagst etwas. Die macht mich alle.<
>Schon gut<, erwiderte ich leicht lachend. Colin schaffte es mit seiner Art einfach immer wieder, meine Laune zu heben, auch wenn mir eigentlich gar nicht nach Lachen zumute war. Ich war froh, einen besten Freund wie ihn zu haben.
>Aber wenn sie so nervt, warum bist du dann mit ihr zusammen?<, hakte ich nach.
>Hast du keine Augen im Kopf? Eileen ist ja wohl der absolute Hammer. Und abgesehen davon kann sie auch ganz anders sein. Das entschädigt dann mehr als genug.<
>Du Glückspilz<, meinte ich schmunzelnd aber auch etwas neidisch.
>Allerdings!<, sagte er breit grinsend.
>Was hat sie vorhin eigentlich damit gemeint, dass du dran denken sollst, was du ihr versprochen hast?<
>Was? Ähm … ach, ist nicht so wichtig.<
>Also ich weiß nicht. So wie sie dich angefunkelt hat, schien es ihr sehr wichtig zu sein. Von ihrer Drohung ganz zu schweigen.<
>Ja schon … ist aber echt keine große Sache. … Hast du dich eigentlich schon für die neue Fußballmannschaft eintragen.<
>Nein, noch nicht<, antwortete ich leicht verwundert, dass er so schnell das Thema gewechselt hatte. Aber offensichtlich wollte er nicht darüber reden, was er Eileen versprochen hatte und ich wollte nicht nachbohren. Es ging mich im Grunde ja auch nichts an.
>Dann lass uns das doch gleich machen. Die Liste hängt bestimmt am Schwarzen Brett aus.<

Wir gingen zusammen zum Aushang und fanden auch gleich die gesuchte Liste. Schnell hatten wir unsere Namen darauf gesetzt, obwohl ich mir noch gar keine Gedanken darüber gemacht hatte, ob ich dieses Jahr überhaupt in die Schulmannschaft wollte. Aber für Colin schien das außer Frage zu stehen und seine Vorfreude war direkt ansteckend. Er fing auch gleich an, Theorien über unsere künftige Aufstellung anzustellen und wer die Kameraden ersetzen könnte, die von der Schule abgegangen sind. Zum Glück waren das nicht so viele aus der Stammelf. Das machte uns direkt Hoffnung, dieses Jahr vielleicht wieder im Kampf um den Titel mitmischen zu können.
Unsere positive Stimmung hielt aber leider nicht sehr lange an. In dem Moment, da wir unser neues Klassenzimmer betraten, war Colins gute Laune schlagartig wie weggeblasen. Er blieb wie angewurzelt stehen und starrte auf die hintere linke Ecke der U-förmig angeordneten Schreibtische. Als ich seiner Blickrichtung folgte, sah ich dort Eileen und Kassandra sitzen. Dann fiel mir auf, dass die Plätze neben den beiden schon alle belegt waren.
>Das darf ja wohl nicht wahr sein<, gab er verärgert von sich.
Eileen, die das offensichtlich mitbekommen hatte, schaute auf. Ihrem Gesichtsausdruck nach zu urteilen, war ihr die Situation sichtlich unangenehm. Ihr Blick schien gleichermaßen um Verständnis und Verzeihung zu bitten, aber Colin war einfach nur sauer.
>War ja klar<, brummte er, zog am nächstbesten freien Schreibtisch einen Stuhl zurück und knallte seine Tasche darauf.
>Na, da freut sich aber einer auf die Schule<, wurde vom Nachbartisch lachend geäußert.
>Halt die Klappe, Finn<, fuhr Colin ihn an, woraufhin der die Hände beschwichtigend hob.
>Hey, wenn du genau so aggressiv ins Fußballtraining einsteigst, wird Coach Buckley seine helle Freude an dir haben<, setzte der noch grinsend oben drauf.
>Dann bete du lieber mal, dass er mir nicht dich als Partner im Zweikampftraining zuteilt. Das könnte deine Frisur ruinieren.<
Ein kleines Gelächter brach in der Klasse aus. Zumindest unter unseren alten Klassenkameraden, die auch wussten, dass Finn die längsten Haare der Mannschaft hatte und als Einziger ein Haarband im Training und bei Spielen trug. Seine glatte, schwarze Mähne war ihm geradezu heilig. Er galt auch als absoluter Mädchenschwarm, was seinen Qualitäten als Stürmer aber keinen Abbruch tat.
Die kleine Drohung von Colin hatte bei ihm allerdings Wirkung gezeigt und er verzichtete auf weitere Sticheleien. Er wusste genau, dass Colin ein verdammt guter Außenverteidiger war und er hasste es, im Training gegen ihn spielen zu müssen. Und der wirkte trotz seines gelungenen Scherzes immer noch ziemlich gereizt.

Eileen sah währenddessen mehr als unglücklich aus, suchte ständig Blickkontakt mit Colin und hoffte wohl, ihn so irgendwie beschwichtigen zu können. Kassandra hingegen schaute erst gar nicht in unsere Richtung und unterhielt sich stattdessen mit ihrer anderen Banknachbarin, als ob sie das Ganze gar nichts anginge. Dabei waren sie und Eileen meines Wissens doch schon ewig Freundinnen und saßen deshalb auch jetzt wieder zusammen. Was war nur der Grund für ihr merkwürdiges Verhalten? So kannte ich Kassandra überhaupt nicht. Sie war doch sonst immer die Nette und Gutgelaunte. Zumindest hatte sie immer so auf mich gewirkt, wenn ich sie gesehen hatte. Aber jetzt? Darauf konnte ich mir einfach keinen Reim machen.

Als später dann der Unterricht begonnen hatte, schaute ich anfangs noch einige Male zu ihr, doch sie beachtete mich nach wie vor nicht. Eigentlich sollte ich damit umgehen können, denn schließlich hatte sie mich noch bis vor gut zwei Monaten überhaupt nicht wahrgenommen, aber jetzt tat es richtig weh. Bisher war es nur ein unerfülltes Sehnen gewesen, da sie mich nicht kannte. Nun allerdings war es die pure Ablehnung und die versetzte mir jedes Mal, wenn ich sie anschaute, einen Stich in die Brust. Mir blieb letztlich nichts Anderes übrig, als zu versuchen, nicht ständig an sie zu denken und mich seufzend auf unseren neuen Klassenlehrer, Mr. MacTaggart, zu konzentrieren. Das war jedoch leichter gesagt als getan.
Schon kurz nachdem ich mich neben Colin hingesetzt hatte, wusste ich, dass es wieder sehr anstrengend werden würde, den ganzen Tag seine Aura zu spüren. Und auch Brian, mein neuer rechter Banknachbar, machte es für mich nicht einfacher. Natürlich kannte ich das schon. Ich hatte es ja auch letztes Jahr durchgemacht, seit das mit meiner Wahrnehmung der Lebensenergie angefangen hatte. Doch nun war es etwas anders.
Die Erfahrungen bei Sylvia haben es verändert. Haben mich verändert. War es früher immer nur die kribbelnde Spannung gewesen, die ich fühlen konnte, erfasste ich inzwischen mehr und mehr die Struktur dieses Kraftfeldes. Das war mir schon auf dem Rückflug von Schweden passiert, als ich die anderen Menschen um mich herum spüren musste. Irgendwie passte ich mich nun den fremden Energien ganz von alleine an. Auch wenn ich es nicht wollte. Und jetzt in der Schule war es das Gleiche. Die Verbindung baute sich einfach auf und ich konnte es nicht verhindern, egal wie sehr ich mich dagegen sträubte, ich konnte nichts dagegen tun.
Es dauerte noch nicht einmal eine halbe Stunde bis die Spannung überwunden war und Colins Lebensenergie offen und Verwundbar vor mir lag. Und in gleichem Maße, wie sich die Verbindung aufgebaut hatte, war auch dieses merkwürdige Verlangen in mir angewachsen. Dieses heimliche und so grausame Begehren, in die Energie einzutauchen und sie aufzunehmen. Doch das war etwas, dem ich niemals nachgeben durfte. Das wusste ich ganz genau. Nie wieder sollte mir das passieren. Nicht bei ihm und auch bei sonst niemandem. Ich musste diese Verlockung einfach ertragen. Es gab keine Alternative.
Von meinem Training mit Taira wusste ich zwar, dass die anziehende Kraft nachlassen würde, wenn ich mich stärker auf das Licht und seinen Ursprung konzentrieren würde, doch das war hier nicht wirklich eine Option. Wie hätte ich denn da noch dem Unterricht folgen können? Und was wäre dann in den Pausen? Wenn die Verbindung jedes Mal unterbrochen wird und sich mir der Magen umdreht? Nein, das konnte nicht funktionieren.

Als es dann nach den ersten Unterrichtseinheiten zur ersten großen Pause klingelte, stand Colin auf, verabschiedete sich kurz und ging hinaus. In dem Moment war ich froh, dass ich saß, denn auch wenn ich keine tiefere Verbindung mit ihm eingegangen war, bereitete mir die Unterbrechung leichte Übelkeit. Ich wünschte, ich hätte Sylvia nach der Zusammensetzung ihres Kräuteraufgusses gefragt, damit ich mir davon immer eine Kanne mit in die Schule nehmen könnte. Der hätte mir jetzt bestimmt gut getan.
Kurz nach Colin ging auch ich nach draußen um frische Luft zu schnappen und mir die Beine zu vertreten. Am Automaten holte ich mir noch schnell eine Cola, die mir hoffentlich auch etwas helfen konnte, wenn mir schon kein Kräutertee zur Verfügung stand. Und tatsächlich war es eine Wohltat, als mir die ersten Schlucke des kalten Getränks die Kehle hinab glitten. Es dauerte nicht lange und es ging mir schon spürbar besser.
Draußen sah ich beim Herumspazieren auch Eileen, die offensichtlich kurze Zeit später das Klassenzimmer verlassen haben musste. Sie stand bei Colin im überdachten Bereich des Schulhofs und redete mit ihm. Dass es inzwischen wieder angefangen hatte zu regnen war ihr anscheinend egal. Bei solchem Wetter hatte ich sie früher sonst nie im Außenbereich gesehen, aber heute hatte sie augenscheinlich einen guten Grund dafür.
Als ich dann sah, wie sie sich kurz küssten, drehte ich mich um und ging in die andere Richtung. Nicht dass es mich gestört hätte, dass sie sich ihre Zuneigung so offen zeigten. Das war an der Schule zwar eigentlich verboten, aber so streng wurde da nun auch wieder nicht darauf geachtet. Es war auch nicht so, dass ich es ihnen vielleicht nicht gönnen würde. Natürlich nicht. Colin war mein bester Freund und ich freute mich für ihn. Es war nur so, dass ich bei dem Anblick sofort an Kassandra denken musste und sich meine Brust anfühlte, als würde sie mit Stahlseilen eingeschnürt werden. Ich hatte so sehr gehofft, einen guten Start mit Kassandra zu bekommen. Hatte ich heute Morgen noch befürchtet, dass mir die Nähe zu Kassandras Aura die größten Probleme bereiten könnte, war ich inzwischen eines Besseren belehrt worden. Sie nicht spüren zu dürfen war noch viel schlimmer.

Der zweite Unterrichtsblock des Vormittags verlief ähnlich wie der erste. Kassandra ignorierte mich weiterhin und ich versuchte mich auf den Unterricht zu konzentrieren, damit ich nicht an sie denken musste und auch die Energie der Menschen um mich herum nicht so deutlich wahrnahm. Eileen wirkte immer noch irgendwie schuldbewusst und auch Colin schien nach wie vor oder schon wieder angefressen zu sein. In der Mittagspause erfuhr ich dann auch den Grund dafür. Denn als Colin in der Kantine direkt auf unsere alten Plätze bei unseren Mannschaftskameraden zusteuerte, war ich doch sehr verwundert.
>Eileen meint, es wäre besser so<, antwortet Colin mürrisch auf meinen fragenden Blick.
Dass ihm das nicht gefiel, konnte ich natürlich verstehen. Eigentlich hatte ich damit gerechnet, dass ich auf seine Gesellschaft verzichten müsste, damit er bei seiner Freundin sitzen konnte. Das wäre für mich auch selbstverständlich gewesen. Ich hätte auch verstanden, wenn er mit Eileen und Kassandra zusammen an einem Tisch sitzen würde, auch wenn ich ganz froh war, dass es nicht so gekommen ist. Trotzdem tat es mir für ihn leid und ich klopfte ihm aufmunternd auf die Schulter.
>Na komm, das Essen wirst du schon ohne sie aushalten und danach kannst du dich wieder draußen mit ihr treffen und knutschen. Hier in der Kantine würde das ohnehin zu viel Aufsehen erregen.<
Überrascht sah er mich an, erwiderte dann aber doch kopfschüttelnd mein Grinsen.

Beim Essen war natürlich die bevorstehende neue Fußballsaison das Hauptthema in unserer Runde. Vor allem, mit welcher Aufstellung wir spielen würden und wie die Abgänge kompensiert werden könnten. Zu meiner Überraschung sahen mich praktisch alle wieder auf meiner alten Position im Mittelfeld, obwohl ich in der Rückrunde der letzten Saison kaum zum Einsatz gekommen war. Ich wurde sogar gefragt, ob meine Schulterverletzung wieder verheilt wäre und ob ich mich fit fühlen würde, was ich natürlich bestätigen konnte. Es war cool, sich wieder als richtiger Teil der Mannschaft zu fühlen und ich war froh, mich auf der Liste eingetragen zu haben. So hatte dieser Tag wenigstens etwas Positives mit sich gebracht.

Bei diesem Gedanken kam mir erneut Kassandra in den Sinn und ich konnte nicht anders, als in ihre Richtung zu schauen. Sofort bemerkte ich, dass auch sie gerade in diesem Moment zu mir sah und schlagartig breitete sich ein heißes, kribbelndes Gefühl in meinem Bauch aus. Kassandra wandte zwar schnell ihren Blick wieder ab, aber ich war mir trotzdem absolut sicher, dass sie mich angesehen hatte. Und es war kein feindseliger Blick gewesen. Zumindest hatte er nicht so auf mich gewirkt.
Wieder saß ich da und verstand die Welt nicht mehr. Bisher hatte sie mich doch den ganzen Tag total gemieden. Hatte mir das Gefühl gegeben, Luft für sie zu sein. Eine unangenehme, stinkende Luft, der man lieber aus dem Weg ging. Und doch hatte sie gerade zu mir geschaut. Das konnte doch kein Zufall gewesen sein, oder?
Immer wieder warf ich flüchtige Blicke zu ihr, um festzustellen, ob sie vielleicht noch einmal herüberschaute. Aber das geschah nicht. Stattdessen hatten Eileen und ich mehrmals kurzen Blickkontakt, was mir wiederum eher unangenehm war. Jedes Mal fühlte es sich an, als ob sie mich auf frischer Tat ertappt hätte, dabei sah sie mich eher freundlich an.
Als sie dann nach dem Essen mit Colin nach draußen ging, verließ auch Kassandra die Mensa. Wehmütig sah ich ihr hinterher und überlegte kurz, ob ich ihr vielleicht folgen und sie ansprechen sollte, um die Situation zu klären. Aber schon bei dem Gedanken daran fing mein Herz an wie wild zu rasen und meine Knie wurden weich. Nein, ich konnte das jetzt nicht. Noch nicht. Vielleicht morgen, aber nicht heute. Nicht nach dem, was an diesem Tag schon alles passiert war.

Der Nachmittagsunterricht war dann wieder fast genauso wie der Vormittag. Unser Lehrplan füllte sich zusehends und zeigte deutlich, dass dieses Schuljahr kein Spaziergang werden würde. Doch wesentlich mehr belastete es mich, dass ich für Kassandra wieder Luft zu sein schien.
Nach Schulschluss hatte sie dann schneller das Klassenzimmer verlassen, als ich meine Sachen überhaupt zusammenpacken konnte. Dabei hatte sie eigentlich gar keinen Grund zur Eile, denn ihr Bus kam nicht so früh und Eileen, die immer mit ihr fuhr, nahm sich auch noch die Zeit, sich von Colin richtig zu verabschieden. Nicht dass ich erwartet hätte, dass Kassandra sich von mir verabschieden würde. Aber dass sie so darauf bedacht war, bloß nicht in meine Nähe zu kommen, tat einfach weh und ich wusste nicht, wie ich damit umgehen sollte.
Eileen schaute mich irgendwie betroffen an, als ich mich bei Colin und ihr verabschiedete. Ich hatte fast den Eindruck, dass sie mir ansehen konnte, was in mir vorging. Aber das machte es für mich nur noch schlimmer. Denn wenn sie es wusste, hatte sie es bestimmt auch schon ihrer besten Freundin gesagt. Doch für die existierte ich trotzdem nicht mehr.
Deprimiert machte ich mich auf den Weg zu meinem Rad. Leider schüttete es wieder wie aus Kübeln, aber ich hatte keine Lust zu warten, bis der Regen nachließ. Alternativ könnte ich natürlich das Rad stehen lassen und mit dem Bus fahren, doch das war nicht wirklich eine Option für mich. Schon den ganzen Tag war ich der Nähe meiner Banknachbarn ausgesetzt gewesen und fühlte mich zu erschöpft, um mich jetzt noch in einen vollbesetzten Bus zu zwängen. Und die Aussicht, noch mehr von Kassandra ignoriert zu werden, war auch alles andere als verlockend. Ich wollte einfach nur so schnell wie möglich nach Hause, zog meinen Regenumhang aus der Tasche und fuhr los.

Ich brauchte gut 20 Minuten für den Heimweg und war am Ende trotz Regencape ziemlich durchnässt. Dabei hatte es nach einiger Zeit sogar fast vollständig aufgehört zu schütten. Das Wasser stand mir aber trotzdem regelrecht in den Schuhen und vor allem meine Hose war klatschnass.
Kaum, dass ich durch die Haustür war, hing ich gleich den Regenumhang in unsere separate Garderobe mit der Tropfschale. Danach zog ich die Schuhe aus und hörte währenddessen Schritte auf der Treppe. Nur wenige Sekunden später erschien Mrs. O'Brien freundlich lächelnd im Flur und kam auf mich zu.
>Hallo Nana<, begrüßte ich sie.
>Hallo mein Lieber<, grüßte sie freudig zurück, schaute mich dann aber mit leicht kritischem Blick und hochgezogener Augenbraue von oben bis unten an, wobei ihr besonders mein tropfender Hosensaum zu missfallen schien.
>Ähm, tut mir leid, dass ich hier alles nass mache<, sagte ich schuldbewusst.
>Ist nicht so schlimm<, meinte sie schon wieder lächelnd. >Am besten ziehst du die patschnassen Sachen gleich aus, damit ich sie waschen kann.<
>Das ist doch nur Wasser, Nana. Das trocknet doch wieder.<
>Nichts da<, meinte sie energisch. >Das ist schmutzig von der Straße und das gibt nur hässliche Flecken. Also her damit.<
>Schon gut<, gab ich schmunzelnd klein bei, zog Hose, Socken und Hemd aus und reichte sie ihr.
>Schön, ich bringe das gleich nach unten und du kannst dir oben etwas Sauberes anziehen.<
>Aye, Aye, Ma’am<, bestätigte ich schnell und lief dann eilig die Treppe hinauf.
Aus meinem Zimmer holte ich mir noch frische Sachen und ging damit ins Badezimmer. Ich wollte erst noch eine kurze Dusche nehmen, bevor ich mich anzog.

Als ich frisch geduscht und nun mit trockenen Klamotten am Körper das Bad wieder verließ, bemerkte ich sofort meine Schultasche, die offensichtlich von der guten Fee des Hauses abgewischt und mir vor die Tür gestellt worden war.
>Danke Nana!<, rief ich die Treppe hinunter, hob die Tasche auf und ging in mein Zimmer, wo ich sie neben meinem Schreibtisch fallen ließ. In dem Moment bemerkte ich aus den Augenwinkeln eine kleine Bewegung auf meinem Bett und dreht erschrocken ruckartig den Kopf herum.
>Wo kommst du denn her?<, sagte ich überrascht, als ich erkannte, was da zusammengerollt in geduckter Haltung in einer Vertiefung mitten auf meiner Decke lag.
Saphirblaue Augen, die im Verhältnis zu dem kleinen Köpfchen geradezu riesig wirkten, schauten mich aufmerksam, aber auch leicht ängstlich an. Langsam näherte ich mich und kniete mich vor das Bett.
>Keine Angst, ich tue dir nichts<, sprach ich sanft das kleine Kätzchen an und betrachtete es.
Sein Fell sah richtig witzig aus. Es schien aus willkürlich angeordneten roten, weißen und dunkelgraugetigerten Haarbüscheln zu bestehen. Fast so, als wäre es aus irgendwelchen Resten zusammengeflickt worden. Selbst das Gesicht war bunt. Die Partien um die Ohren waren bis über die Augen auf der einen Seite rot und auf der anderen Seite getigert, während es darunter bis zur Brust wieder weiß war. >Du siehst ja lustig aus<, sagte ich schmunzelnd. >Wer hat dir denn das Fell zusammengenäht, hm? Bist du aus Frankensteins Werkstatt ausgebrochen?<
Ein leises Maunzen kam als Antwort und ich spürte den wachsenden Wunsch in mir, dieses süße Fellknäul zu streicheln und auf den Arm zu nehmen. Doch ich wusste nicht so recht, ob ich das tun sollte. Seine Aura hatte ein schönes, gleichmäßiges und kräftiges Leuchten. Bestimmt würde es sehr verlockend wirken und ich hatte den ganzen Tag schon so viel aushalten müssen. Doch dieses Kätzchen hatte auf mich noch eine ganz andere Anziehungskraft als die seiner Energie. Ich konnte den Blick einfach nicht von ihm abwenden. Mehrmals zwinkerte ich ihm zu, in dem ich beide Augen für ein, zwei Sekunden zudrückte, was von dem kleinen Geschöpf gleich darauf erwidert wurde. Erneut maunzte es und vorsichtig und langsam streckte ich die Hand danach aus, bis es daran schnuppern konnte.

Gleich beim ersten Kontakt mit ihrer Energie spürte ich sofort, wie stark und verlockend sie war. Sogar etwas kraftvoller als ich die von Taira in Erinnerung hatte, was mich bei der geringen Körpergröße schon sehr überraschte. Aber sie war nicht so heftig, als dass ich es nicht aushalten könnte. Der Tag in der Schule hatte mir da weitaus mehr abverlangt. Trotzdem war es anstrengend, aber ich wollte das Kätzchen unbedingt mal kurz streicheln.
Als ich es schließlich mit den Fingern sanft an der Seite des Köpfchens berührte, schmiegte es sich sofort in meine Hand und fing laut an zu schnurren. Es schien sich beim Schnurren sogar einige Male zu verschlucken, wodurch es nur noch niedlicher wirkte. Das erinnerte mich auch sofort an meine Lilly, bei der das manchmal ganz ähnlich war. Es war einfach schön, das zu hören und das unglaublich weiche Fell unter den Fingerkuppen zu spüren.
Nach einer Weile richtete sich das Kätzchen auf. Seine Pfoten waren im Gegensatz zu dem bunt gemusterten Rest seines Körpers komplett schneeweiß. Mit wackeligen Schritten kam es auf der weichen Decke langsam auf mich zu. Es sah einfach zu putzig aus, wie es dabei zweimal auf dem instabilen Untergrund umfiel, sich aber gleich wieder aufrappelte und weiter auf mich zu bewegte. Schließlich stand es direkt vor mir und berührte mit seiner kleinen, feuchten Nase kurz meine Nasenspitze. Ein prickelnder Schauer rauschte mir gleich darauf über den Nacken. So etwas hatte ich schon seit einer gefühlten Ewigkeit nicht mehr empfunden. Es war einfach unglaublich schön, wie es dann seinen kleinen, flauschigen Körper an meinem Gesicht entlangstreifte und dabei wie verrückt immer lauter schnurrte. Ich konnte nicht anders, als es vorsichtig auf den Arm zu nehmen, zu streicheln und zu kraulen. Dass sich seine Aura dabei nach wie vor so verlockend anfühlte, versuchte ich so gut es ging zu verdrängen.

>Das sieht ganz so aus, als wäre die Überraschung gelungen<, hörte ich Nana fröhlich sagen, die plötzlich vor der noch offenen Tür stand. Ich hatte gar nicht bemerkt, dass sie die Treppe heraufgekommen war und schaute sie verwundert an.
>Überraschung? … Ist das hier deine Katze?<
>Nein, nicht meine. Deine.<
>Meine? Du meinst, du willst sie mir schenken?<
>Genau das, mein Lieber<, antwortete sie sanft lächelnd.
Ich wusste nicht so recht, was ich dazu sagen sollte. Mir war nicht ganz wohl bei dem Gedanken, künftig wieder eine Katze zu haben. Auf der einen Seite gefiel mir die Vorstellung, denn ich hatte dieses kleine Geschöpf schon vom ersten Augenblick an in mein Herz geschlossen. Doch auf der anderen Seite saß die Erinnerung an das, was ich Lilly angetan hatte, noch immer so schmerzhaft tief.
>Ich weiß nicht ob das so eine gute Idee ist, Nana<, sagte ich unsicher, während sich das schnurrende Fellknäul auf meinem Arm genießerisch dem Kraulen hingab und sich an mich kuschelte.
>Schau doch mal da in den Spiegel, Nicoschatz<, meinte sie zu mir und deutete auf den Wandspielgel in meinem Zimmer. >Als dein Vater mich anrief und fragte, ob ich kurzfristig eine Katze für dich besorgen könnte, war ich zunächst auch sehr skeptisch. Aber jetzt? Das ist doch Liebe auf den ersten Blick bei euch beiden.<
>Mein Vater hat dich darum gebeten? Aber wieso?<
>Das habe ich ihn auch gefragt, aber er meinte nur, dass es gute Gründe dafür gäbe. Mehr weiß ich leider auch nicht.<
„Was für gute Gründe?“, fragte ich mich in Gedanken, während ich mich selbst mit dem Kätzchen auf dem Arm im Spiegel ansah. So klein wie dieses Geschöpf auch war, so hell strahlte doch sein intensives Licht. Was hatte Dad sich nur dabei gedacht? War das wieder eine seiner extremen Ideen, wie damals, als er einfach meine Hand ergriffen hatte und sie nicht mehr los ließ? Heute Abend würde ich von ihm auf jeden Fall eine Erklärung fordern, doch was sollte ich jetzt tun?
Kurz überlegte ich, es einfach Nana zu reichen und von ihr zu verlangen es zurück zu nehmen, doch das wollte ich nicht wirklich. Auch wenn es gerade sehr anstrengend war, seine kräftig strahlende Energie zu ertragen, musste ich Nana im Grunde Recht geben. Ich mochte dieses süße kleine Fellknäul, das sich da noch immer leise schnurrend und mit fest geschlossenen Augen in meinen Arm gekuschelt hatte. Auch wenn es viel Kraft kostete, so war es auf der anderen Seite einfach ein wunderschönes Gefühl, dieses federleichte Kätzchen im Arm zu halten.

>Wie heißt es denn?<, fragte ich Nana, die sofort glücklich lächelte, als sie erkannte, dass ich es behalten wollte.
>Ich glaube, sie hat noch keinen. Such dir einfach einen Namen aus.<
>Dann bist du also eine sie?<, sagte ich zu dem Kätzchen. >Also wenn du noch keinen Namen hast, dann müssen wir das natürlich sofort ändern.<
Ich überlegte, welcher Name zu ihr passen würde. Dabei fiel mir beim Streicheln ihres witzig gemusterten Fells wieder ein, was mein erster Gedanke war, als ich sie auf meinem Bett liegend entdeckt hatte. In dem Moment wusste ich, wie sie heißen sollte.
>Ich glaube, ich nenne dich Frankie.<
>Frankie?<, wiederholte Nana verwirrt. >Das ist aber ein ungewöhnlicher Name für eine Katze. Wie bist du denn darauf gekommen?<
>Na ja, als ich sie zum ersten Mal gesehen hatte, fand ich ihr chaotisches Fell so witzig. Ich meine, es sieht doch aus, als ob Dr. Frankenstein persönlich die unterschiedlichen Haarbüschel zusammengenäht hätte. Da ist Frankie doch ein passender Name, nicht wahr?<
>Also wirklich.<, meinte sie leicht empört. >Wie kann man etwas so niedliches nur mit Frankensteins Monster vergleichen.<
>Ach, ich bin sicher, Frankie gefällt ihr Name. Nicht wahr, Frankie?<, sagte ich und kraulte sie seitlich unter dem Kopf, was sie gleich etwas lauter schnurren ließ.
>Frankie…<, wiederholte sie noch einmal Kopfschüttelnd aber schmunzelnd den Namen. >Nun denn, wenn es so sein soll, dann soll es eben so sein. Ich werde mich dann mal wieder an die Arbeit machen. Du bist ja jetzt mit deinem kleinen Monster beschäftigt.<
>Warte kurz!<, rief ich ihr hinterher, als sie sich gerade umgedreht hatte und mein Zimmer verlassen wollte. Vorsichtig legte ich Frankie zurück in die Kuhle in meiner Bettdecke und ging dann auf Nana zu.

>Danke Nana<, sagte ich lächelnd und tat etwas, das ich schon so lange nicht mehr gemacht hatte. Doch nun, nach allem, was ich bei Sylvia gelernt und in den letzten Tagen erlebt hatte, fühlte ich, dass ich es wieder tun konnte. Ich nahm sie in den Arm.
Im ersten Moment musste ich sie damit wirklich sehr überrascht haben, denn es dauerte einen Augenblick, bis sie die Umarmung erwiderte. Doch dann drückte sie mich so fest an sich, als müsste sie alle verpassten Umarmungen der vergangenen Monate auf einmal nachholen.
>Habe ich doch gerne gemacht, mein Lieber. Sehr gerne<, antwortete sie mit liebevoller und sichtlich gerührter Stimme, was mir ein warmes, freudiges Gefühl im Bauch bescherte.
Auch wenn es schön war, Nana nach so langer Zeit wieder in den Arm zu nehmen, musste ich mich nach einer kurzen Weile doch wieder von ihr lösen. Ihre Aura war zwar nicht so stark, als dass ich es nicht aushalten könnte, aber ich war einfach schon zu erschöpft von dem Tag und brauchte dringend eine Pause. Nana schien mir das aber nicht übel zu nehmen. Sie sah direkt glücklich aus und streichelte mir kurz über die Wange.
>Nun muss ich mich aber wirklich wieder ans Werk machen<, sagte sie lächelnd. >Die Wäsche bügelt sich nicht von alleine.<
>Ähm… ja, ich verstehe. Tut mir leid, dass wir dir vom Urlaub immer so viel Arbeit mitbringen.<
>Ach was<, winkte sie ab. >Dafür bin ich doch da. Hattet ihr denn eine schöne Zeit in Schweden?<
>Oh ja, es war toll. Die Reise hat sich definitiv gelohnt. Ich habe auch viele Fotos gemacht. Willst du sie mal sehen?<
>Sicher will ich, aber das muss noch warten. Jetzt habe ich erst einmal zu tun.<

Während sie sich in die Waschküche begab, holte ich kurzentschlossen die Katzen-Sachen, die wir nach Lillys Tod weggeräumt hatten, wieder vom Dachboden. Es war ein komisches Gefühl, diese Dinge wieder zu sehen und in der Hand zu halten. Jedes einzelne Stück stand für viele schöne Erinnerungen mit ihr. Die Decke, auf der sie immer im Wohnzimmer geschlafen hatte. Die Bürsten, mit denen ich ihr hin und wieder zu ihrer großen Freude das Fell gestriegelt hatte. Und der Kratzbaum, den sie anfangs absolut ignoriert hatte, da sie sich ihre Krallen lieber am Teppich oder den Polstermöbeln wetzen wollte. Es hatte Monate gedauert, ihr das abzugewöhnen und ich hoffte, dass das mit Frankie besser laufen würde.
Auf der anderen Seite waren alle diese Gegenstände aber auch mit dem einen schlimmen Ereignis verwoben. Mit meinem furchtbaren Fehler, den ich nicht wiedergutmachen konnte. Kurz überlegte ich, ob es nicht vielleicht besser wäre, diese Dinge hier zu lassen und für Frankie neue zu kaufen, doch das wollte ich nicht. Nicht nur, weil es Verschwendung gewesen wäre. Nein, es ging mir viel mehr um etwas Anderes. Es war meine Schuld, was mit Lilly passiert war und damit musste ich leben. Ich wusste nur, dass ich das nie wieder zulassen würde und vielleicht war es sogar gut, wenn mich diese Sachen immer wieder mahnend daran erinnern würden.
Nachdem ich alles wieder aufgestellt hatte, holte ich Frankie aus meinem Zimmer und zeigte ihr die Sachen. Ausgiebig beschnupperte sie jedes einzelne Teil. Bestimmt konnte sie Lilly riechen, denn auch mir schien es so, als könnte ich noch eine Spur ihres Geruches wahrnehmen. Doch letztlich schien sich Frankie nicht daran zu stören und spielte schon bald ausgelassen mit den Bällen und einer Stoffmaus, die ich an einem Faden ziehen konnte. Nana hatte auch schon Katzenfutter besorgt, so dass es unserem kleinen Tiger an nichts fehlte.

Später am Abend, Nana war bereits kurz nach dem Abendessen gegangen und Frankie hatte es sich tatsächlich auf der Decke im Wohnzimmer bequem gemacht und schlief seelenruhig, setzte ich mich an den PC. Ich wollte noch die Urlaubsfotos sichten und sortieren, ein paar aussuchen, die ich auf meinen Website stellen konnte und auch ein paar für Nana ausdrucken. Nach einer Weile stolperte ich allerdings über ein paar ältere Bilder, die ich noch vor dem Urlaub gemacht hatte. Es waren Fotos von Moms Schatulle, dem Schlüssel und der Seite aus dem Tagebuch. Sofort erinnerte ich mich daran, dass ich diese Dinge ins Internet gestellt hatte, um mehr über ihre Bedeutung herauszufinden.
Ein mulmiges Gefühl beschlich mich. Nach allem was ich von Sylvia wusste, gab es dort draußen auch einige aus dem alten Volk, die alles andere als nett waren. Sie wäre sicherlich nicht gerade begeistert gewesen, wenn sie wüsste, dass ich diese Fotos ins Internet gestellt hatte. Abgesehen davon kannte ich inzwischen ihre Bedeutung. Es schien mir daher das Beste, die Bilder wieder heraus zu nehmen.
Ich ging gleich auf die Seite, wo ich sie eingestellt hatte und sah, dass es inzwischen noch ein paar Rückmeldungen eingegangen waren. Ich überflog sie schnell und schmunzelte, als ich immer wieder von der Vermutung las, es könnte sich dabei einerseits um eine Schatzkarte und andererseits um einen Hinweis auf Atlantis handeln. Nach allem was ich nun wusste, war das im Grunde auch gar nicht so abwegig. So viele Mythen und Legenden gingen nach Sylvias Erzählungen auf die Geschichte unseres Volkes zurück, dass ihre alte Heimat durchaus der Ursprung für die Atlantis-Sage gewesen sein könnte. Unmöglich war es jedenfalls nicht.
Doch als ich weiter las, stolperte ich über einen ganz anderen Eintrag:
„Ich wünsche einen schönen guten Tag. Diese Gegenstände sind wirklich sehr interessant. Vor allem die Buchseite ist faszinierend. Da ich Antiquitätenhändler bin, habe ich des Öfteren mit antiken Schriften und Dokumenten zu tun. Etwas in dieser Art habe ich schon einmal gesehen. Ich würde dieses Buch daher gerne in Augenschein nehmen und eventuell für meine Sammlung kaufen. Bitte nehmen Sie doch zu mir Kontakt auf. Selbst wenn Sie es nicht verkaufen wollen, so würde ich es doch gerne begutachten. Sicherlich kann ich Ihnen dann mehr über Herkunft und Wert berichten. Ich verbleibe daher in Erwartung Ihrer Rückmeldung.“

Nervös las ich die Zeilen mehrmals durch. War es wirklich möglich, dass der Absender mit dem merkwürdigen Usernamen Akatash ein Antiquitätenhändler war, der zufällig schon einmal etwas Ähnliches gesehen hatte? Sollte ich vielleicht zu ihm Kontakt aufnehmen? Nein, alleine bei dem Gedanken sträubten sich mir alle Nackenhaare und es beschlich mich ein ungutes Gefühl. Egal wie wahrscheinlich oder unwahrscheinlich es war, dass es sich dabei um jemanden aus dem alten Volk handeln könnte, wollte ich lieber kein Risiko eingehen. Außerdem wusste ich doch inzwischen, was es mit dem Buch und den anderen Dingen auf sich hatte und niemals könnte ich etwas davon verkaufen.
Ich wollte gleich meinen Eintrag und die Bilder löschen, doch fand ich keine Möglichkeit dafür. Es war auf dieser Seite wohl nicht vorgesehen, dass jemand seine Frage wieder herausnimmt. Das war mehr als ärgerlich und so blieb mir fürs Erste nichts anderes übrig, als einen weiteren Eintrag zu schreiben und mitzuteilen, dass sich die Sache für mich erledigt hätte. Wenigstens hatte ich keine Kontaktdaten eingestellt. Kaum auszudenken, wenn dieser Akatash tatsächlich von dem alten Volk wäre und jetzt meinen Namen und meine Adresse hätte.
Vorsichtshalber schrieb ich noch an den Administrator der Seite und bat darum, den Eintrag und insbesondere die Bilder komplett zu löschen. Auch wenn nicht wirklich etwas Schlimmes passiert war, beunruhigte mich die Sache doch etwas und ich ärgerte mich über mich selbst, dass ich die Bilder überhaupt dort eingestellt hatte. Ich löschte sie auch gleich von meinem Computer, schaltete diesen danach aus und ging hinunter ins Wohnzimmer.

Frankie schlief tief und fest auf der Decke und ließ sich davon nicht stören, dass ich mich ein Stück neben ihr auf die Couch setzte und den Fernseher einschaltete. Nur kurz schlug sie die Augen auf, sah mich an, schloss sie wieder und schnurrte leise. Ich konnte nicht widerstehen und streichelte sie ein wenig, obwohl ich dadurch schon wieder ihre Aura spüren musste. Doch es war einfach so schön zu sehen, dass sie nach ihrem ersten aufregenden und anstrengenden Tag jetzt die innere Ruhe und Zufriedenheit hatte und schlafen konnte.

Es war schon kurz nach zehn, als Dad endlich nach Hause kam. Er sah müde aus, aber man konnte ihm die Freude auch deutlich ansehen, als er ins Wohnzimmer kam und unseren kleinen Familienzuwachs auf dem Sofa schlafen sah.
>Die sieht ja niedlich aus<, flüsterte er. >Wie heißt sie denn?<
>Frankie<, antwortete ich. >Ein kleine Anspielung auf das chaotische Fell. Sozusagen die Kurzform von Frankensteins Katze.<
>Hätte sie dann nicht Fratze heißen müssen?<, sagte er leise lachend, worüber auch ich lachen musste.
Von unserem Gelächter geweckt, schlug sie die Augen auf und beobachtete etwas verunsichert meinen Dad.
>Alles in Ordnung, Kleines<, sprach ich sanft zu ihr und streichelte ihr beruhigend über Kopf und Rücken, woraufhin sie sofort wieder anfing zu schnurren und sich sichtlich entspannte. Dann stand ich auf, schaltete den Fernseher aus und verließ mit Dad das Wohnzimmer.
>Ich glaube, da hat Mrs. O'Brien eine gute Wahl getroffen<, meinte er zu mir, kaum, dass wir den Raum verlassen hatten. >Es freut mich, dass du das Kätzchen angenommen hast.<
>Wie hätte ich da auch nein sagen sollen? Aber was ich dich fragen wollte… warum hast du überhaupt gewollt, dass sie mir eine Katze besorgt?<
>Das war nicht meine Idee. Diese alte Frau aus Schweden wollte es. Sie hatte mich bei unserem Abschied darum gebeten. Sie sagte, dass es gut wäre, wenn du ein Haustier zum Üben hättest. Es schien ihr jedenfalls wichtig zu sein und ich sollte mich darum kümmern.<
>Sylvia wollte das?<, fragte ich verwundert nach. >Aber warum hatte sie das dir und nicht mir gesagt?<
>Also das weiß ich nun wirklich nicht. Ich kann da nur spekulieren, aber das bringt uns auch nicht weiter. Letzten Endes kommt es doch darauf an, dass du nun eine Katze hast, oder?<
Ich nickte ihm zu. Ein bisschen ärgerte es mich, dass sie das nicht mit mir besprochen hatte, aber sie hatte wohl geahnt, dass ich mir nicht so einfach ein Tier zum Experimentieren besorgen würde. Doch jetzt hatte ich Frankie. Auch wenn mir der Gedanke, in ihr ein Trainingsobjekt zu sehen, ganz und gar nicht gefiel, war mir klar, dass Sylvia einen guten Grund dafür gehabt haben musste. Es war ihr sogar so wichtig, dass sie meinen Vater einbezog. Letztlich musste ich den Umgang mit meinen Fähigkeiten irgendwie lernen und das weiter üben was Sylvia mir beigebracht hatte. Ich würde mich wohl mit dem Gedanken anfreunden müssen, künftig mit Frankie zu üben. So wie zuvor mit Taira. Ich hoffte nur inständig, dass dabei nichts schief ging.


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Nachwort

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Hallo liebe Leserin / lieber Leser,

ich freue mich sehr, dass du auch das Nachwort liest, denn das macht mir Hoffnung, dass dir das Buch gefallen hat. Bist du neugierig wie es weitergeht? Weitere Kapitel sind natürlich geplant. Es soll schließlich ein richtiges Buch werden. Aber das braucht eben viel Zeit. Zeit, die ich sehr gerne investiere, wenn das Buch meinen Lesern gefällt. :-)

Gib mir doch bitte ein Kommi oder schreibe mir eine persönliche Nachricht, was du von der Geschichte hältst. Gerade bei diesem Buch, das eben nicht nur eine Kurzgeschichte und auch keine FanFiktion ist, bin ich besonders gespannt, wie es bei meinen Lesern ankommt.

Liebe Grüße
Chris

Impressum

Texte: Alle Rechte liegen bei mir.
Bildmaterialien: Das Cover hat die BookRix-Userin "lostinlove" für mich erstellt.
Lektorat: Ohne meine Betaleserin Julia wäre ich da vollkommen aufgeschmissen ;-)
Tag der Veröffentlichung: 13.06.2011

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Ich widme dieses Buch meiner Anja, die ich über alles liebe. Sie ist das Licht meines Lebens. Sie ist der Schlüssel meiner Hoffnung.

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