Der salzige Geschmack der Luft riss mich kurz aus meinen Gedanken. Warum ich überhaupt eingeatmet hatte, wusste ich nicht. Es war wohl mehr ein leidvolles Seufzen gewesen, das sich nicht unterdrücken ließ und das sich alleine seinen Weg aus meiner Brust heraus gesucht hatte. Heimlich, verstohlen, fast unbemerkt, doch eben nur fast. Meinen scharfen Sinnen entging nichts und ich hasste sie dafür.
Ich stand auf einer kleinen Düne, den Blick auf den eisigen Nordatlantik geheftet und wartete. Der Himmel wusste, worauf ich wartete. Er sah sie schon kommen. Die Schwärze der Nacht, die in den vergangenen Stunden nur vom silbrigen Licht des Mondes und der Sterne erhellt worden war, hatte inzwischen einem sanften Rosa Platz gemacht. Einige entfernte Wolken erstrahlten gar in einem satten Orange. Es waren Vorboten der Sonne, die mich mit ihren brennenden Strahlen erlösen sollte.
356 Jahre, 4 Monate und 13 Nächte ist es nun schon her, seit ich zum letzten Mal die Sonne erblickt hatte. Die echte Sonne. Nicht eine dieser harmlosen, auf Zelluloid gebannten Ablichtungen, die man im Kino sehen konnte. Nein, der wahrhaftige Feuerball, der jeden Vampir innerhalb weniger Augenblicke in ein Häufchen Staub verwandeln konnte. Ihn sehnte ich herbei und das Flimmern des Ozeans am Horizont sagte mir, dass es nur noch wenige Minuten dauern würde.
Noch wäre Zeit. Zeit genug, um von diesem Hügel zu fliehen, den gnadenlosen Strahlen der Sonne zu entgehen und in irgend einem Loch Zuflucht zu finden, doch wozu? Es kämen doch nur weitere Nächte zu der schier endlos wirkenden Zahl hinzu. Was sollte das für einen Sinn machen? Was hatte überhaupt noch einen Sinn, wenn sie nicht bei mir war?
Ja, es gab eine Zeit, in der mir die Ewigkeit zu kurz erschien. Eine Ewigkeit, mit ihr an meiner Seite. Alles hätte so perfekt sein können. Unsere unzählbaren Nächte in immerwährender Zweisamkeit hätten schöner sein können, als die Tage der gesamten Menschheit. Dessen war ich mir sicher gewesen. Es hatte keine Zweifel gegeben.
Ich erinnerte mich noch genau an jenen Tag, oder besser gesagt, an jene Nacht. Wie jeden Abend seit acht Monaten, versteckte ich mich im Schatten einer Seitenstraße und beobachtete das Haus, in dem sie lebte. Ich wartete. Es spielte keine Rolle, ob es Minuten oder Stunden dauerte, bis sie an das Fenster ihres Zimmers trat und wie jeden Abend flüchtig auf die Straße sah, bevor sie den Rollladen schloss.
Jedes Mal fragte ich mich, was ihr Blick zu bedeuten hatte. Er wirkte forschend, hoffend und auch ein wenig melancholisch.
War ich der Grund? Dachte sie dabei an mich?
Nacht für Nacht wurde ich mir sicherer, dass sie mich in der Dunkelheit suchte. Unwissend, dass ich doch tatsächlich dort wartete und sie beobachtete.
So wie ich, konnte auch sie wohl niemals diese Nacht vergessen, als ich sie zum ersten Mal sah. Ich war damals auf der Suche nach einer leichten Beute und ihr süßer Duft hatte meinen brennenden Durst angefacht. Ich war ihr durch die kühle Nacht gefolgt und nur vereinzelt waren noch ein paar Leute in dieser Kleinstadt unterwegs. Es war bewölkt und das Licht des Mondes und der Sterne konnte kaum die Finsternis durchdringen. Hell genug für mich, aber nicht für sie.
Ihre schnellen Schritte verrieten mir, dass sie sich unwohl fühlte. Sie hetzte geradezu von dem Licht einer Straßenlaterne zum nächsten. Ich kannte das. So oft hatte ich es schon erlebt. Die Menschen waren so leicht zu durchschauen und ihr Verhalten war so berechenbar. Ihre Nervosität lag förmlich in der Luft und intensivierte das Aroma ihres Duftes.
Ich beobachtete jeden ihrer Schritte. Wie leicht es doch gewesen wäre, sie sofort in einen Schatten zu zerren, mit der Hand auf ihrem Mund den Angstschrei zu unterdrücken und dann meine Zähne in ihren Hals zu schlagen, um genüsslich zu trinken.
Verlangend strich ich mit meiner Zunge über meine Lippen und die dahinter verborgenen Fangzähne. Es waren tödliche Werkzeuge und nur zu einem Zweck erschaffen. Wer sie erblickte, der wusste, das Ende war gekommen. Tausende von Menschen hatte dieses Schicksal bereits ereilt. Sie alle waren vor Furcht wie erstarrt gewesen, wimmerten und flehten oder versuchten zu flüchten. Einige wenige wehrten sich sogar, doch keiner konnte dem Todesverhängnis entgehen. Sie alle waren Auserwählte, von mir dazu bestimmt, ihr Leben auszuhauchen, um meines zu verlängern. Und nun war die Reihe an diesem Mädchen.
Ich näherte mich ihr. Sicherlich hätte ich unbemerkt bleiben können, doch wozu? Sie konnte mir nicht entkommen und ich schlenderte fast gemütlich hinter ihr her. Mir fiel eine am Wegrand herumliegende Bierdose auf und ich trat grinsend nach ihr. Ein lautes Scheppern zerriss die Stille der Nacht und mein süßes Opfer zuckte vor Schreck heftig zusammen und blickte ängstlich über die Schulter. Sie schaute wie ein scheues Reh an ihrem lockigen rotbraunen Haar vorbei, das sie wie einen Vorhang leicht zur Seite geschoben hatte.
Lässig lehnte ich mich an eine Laterne und gewährte ihr einen Blick auf mich und wartete darauf, dass sie von Panik ergriffen, eine der bekannten Verhaltensmuster an den Tag legen würde, doch es kam anders. Es geschah etwas, das nie zuvor geschehen war. Mein Opfer … drehte sich mir halb zu und lächelte mich an. Da war ich es plötzlich, der wie versteinert da stand. Ungläubig starrte ich sie an, lauschte ihrer zarten Stimme, als sie mich mit einem fast flüsternden “Hi” ansprach. Verwirrt und fasziniert zugleich, konnte ich die Augen nicht von ihr abwenden. Ich versuchte meinen Durst zu ignorieren. Dieses Geschöpf hatte etwas an sich, dass mich weit aus mehr anzog, als der pulsierende Lebenssaft, der durch ihre Adern gepumpt wurde.
In jener Nacht hatte sich alles verändert. Zum ersten Mal ließ ich einen Menschen am Leben, an dem ich mich doch so einfach hätte nähren können, aber ich ließ es bleiben.
Mir war nicht wirklich klar, was ich eigentlich wollte, nur eines wusste ich mit Gewissheit. Es war nicht ihr Blut und das war mir unbegreiflich.
Ich hatte keine andere Wahl, als mich sofort von ihr zu entfernen. Trotz der Faszination, die sie auf mich ausübte, hätte ich mich nicht mehr lange beherrschen können. Ich suchte mir sofort ein anderes Opfer und trank, während ich noch immer ihr schönes Gesicht vor Augen und den wundervollen Klang ihrer Stimme in den Ohren hatte. Kaum, dass mein Durst gestillt war, trieb mich etwas in mir zu ihr zurück. Ich beeilte mich, die Leiche verschwinden zu lassen und spürte sie dann erneut auf. Diesmal achtete ich darauf, unbemerkt zu bleiben und folgte ihr heimlich.
Was hatte sie nur an sich, dass sie so eine Anziehungskraft auf mich ausüben konnte und ich ihr dennoch nicht schaden wollte? Ich war wie besessen von dem Gedanken, dieses Geheimnis zu lüften. Es lies mich nicht mehr los und quälte mich durch meine einsamen Tage, die ich in einem finsteren Versteck ausharren musste.
Alles hatte sich verändert. Früher hatte ich keine Probleme damit, alleine zu sein. Ich mochte es sogar und erfreute mich an der Ruhe. Doch seit diesem Erlebnis eilte ich immer sofort zu ihr, sobald die Sonne untergegangen war und ich mein Versteck für den Tag verlassen konnte, jedoch nur, um ein neues Versteck zu beziehen, von wo aus es mir möglich war, sie heimlich zu beobachten.
Die langen Nächte des Winters waren dabei ein Segen. Oft war sie bei Einbruch der Dunkelheit noch draußen unterwegs. Ich genoss es, mich unbemerkt in ihrer Nähe, aufzuhalten und sie zu betrachten, doch ich musste auf Abstand bleiben, denn ihr verlockender Geruch war zu stark und ich wollte sie nicht gefährden. Selbst wenn sie längst zu Hause war und in ihrem Bett schlief, konnte ich mich nicht von ihr lösen und wachte aus der Verborgenheit aus über sie. Es fiel mir schwer, mich hin und wieder in der tiefen Nacht zu entfernen, um meinen Durst zu stillen, doch das war ein notwendiges Übel und ich beeilte mich immer, so schnell wie möglich zu ihr zurück zu kommen.
Eine Zeit lang hatte ich sogar das Glück, noch dabei sein zu können, wenn sie am nächsten Morgen das Haus verließ. Erst, wenn das Morgengrauen mich zum Aufbruch zwang, trennte ich mich wieder von ihr.
Mit dem Frühjahr kamen dann die längern Tage und steigerten meine Qualen in der Einsamkeit. Dann konnte ich nur hoffen, dass ich sie wenigstens noch kurz am Fenster sehen konnte, bevor sie schlafen ging.
Es raubte mir fast den Verstand. Ich wollte bei ihr sein, wollte sie in meiner Nähe haben, doch das war so unmöglich. Ich konnte nicht Teil ihrer Welt werden. In der Stille meiner starren Brust, konnte kein Herz anfangen zu schlagen. Mein Durst würde immer zwischen uns stehen.
Aber ich wusste, dass sie so werden konnte wie ich. So wie es bei mir gemacht worden war, so könnte ich es auch bei ihr machen. Ich würde sie beißen, von ihrem Blut trinken, um mich zu stärken und dann würde ich meine Vene öffnen und sie von meinem trinken lassen.
Mein Entschluss dazu war längst gefasst und in dieser Nacht wollte ich ihn in die Tat umsetzen. Zunächst wartete ich, bis alle Lichter in dem Haus gelöscht wurden. Dann beobachtete ich noch ein Stunde lang die Umgebung, nur um sicher zu gehen, dass ich bei meinem Vorhaben nicht gestört wurde. Schließlich löste ich mich aus dem Schatten und eilte geräuschlos zum Haus.
Die Tür war kein Hindernis für mich und schnell geöffnet. Ich schlich die Treppe hinauf und lauschte kurz. Nur das ruhige Atmen der schlafenden Hausbewohner war zu hören. Auch ihre Atemgeräusche drangen in mein Ohr und schoben alles andere beiseite.
Ich betrat ihr Zimmer und musste kurz innehalten. Ihr betörender Duft war einfach überall, erfüllte den Raum. Nach einer kurzen Pause trat ich an ihr Bett. Sie war so wunderschön. Selbst im Schlaf umspielte ein fast unmerkliches Lächeln ihre Lippen. Ob sie wohl von mir träumte? Sachte streichelte ich ihre rosigen Wangen und lauschte ihrem ruhigen Herzschlag.
Ja, ich wollte sie. Ich wollte sie aus tiefster Seele. Fest entschlossen packte ich ohne zu zögern ihr Genick, neigte ihren Kopf zur Seite und schlug meine Zähne in ihren Hals. Ich sah noch kurz aus den Augenwinkeln, wie sie erschrocken ihre Augen aufriss, doch nahm ich gleich darauf nichts anderes mehr wahr, als ihren unglaublichen Geschmack. Ihr reines Blut war köstlicher, als ich es mir hätte vorstellen können. Ich verfiel in einen Rausch und trank gierig ihren Lebenssaft, der mich mehr und mehr belebte.
Es dauerte einige Augenblicke, bis ich mich wieder von ihr lösen konnte und sie beseelt anlächelte. Doch schon im nächsten Moment gefror mein Blick. Ihre Augen waren weit aufgerissen und leblos. Sie atmete nicht mehr und ihr Herz war still. Panisch biss ich in mein Handgelenk und ließ mein Blut in ihren Mund fließen. … Keine Reaktion. … Ich schüttelte sie, hämmerte auf ihren Brustkorb, küsste sie sogar, doch alles war vergebens. ... Ich hatte sie getötet.
Sie, das einzige Wesen auf diesem Planeten, das einen Zugang zu meinem kalten Herzen gefunden hatte, fiel meinem hungrigen Verlangen zum Opfer. Fassungslos starrte ich noch Stunden lang auf ihren toten Körper, immer hoffend, es würde vielleicht doch noch funktionieren.
Schließlich resignierte ich, wickelte sie in das blutgetränkte Bettlaken und trug sie hinaus. Ich rannte mit ihr in den Wald zu einer weit abgelegenen Stelle. Dort begrub ich sie und mit ihr meine Träume. Ich stellte einen Felsbrocken an das Kopfende ihres Grabes und ritzte ihren Namen hinein.
Diese Erinnerung im Sinn, stand ich nun an der Küste, den Blick gen Osten auf den Meeresspiegel gerichtet und wartete auf mein Ende. Ich sehnte mich danach, im Tode mit ihr vereint zu werden. Hoffte auf Erlösung. Flehte um Vergebung.
Der Ozean lag ruhig vor mir. Nur das Rauschen einer leichten Brandung und die Rufe einiger Möwen, die den nahenden Morgen begrüßten, waren zu hören. Der entfernte Himmel wurde immer heller. Lange würde es nicht mehr dauern und so zog ich meine Jacke und mein Hemd aus, um den verzehrenden Strahlen direkten Zugang zu meiner Brust zu gewähren.
Ich spürte schon die Hitze auf meiner Haut und sah, wie sie anfing, leicht zu dampfen, noch bevor die Sonne wirklich aufgegangen war. Das ungewohnte Licht der Dämmerung reizte meine Augen und ich schloss sie. Zunächst schimmerte es nur dunkel durch die Lider, doch dann erstrahlten sie plötzlich für eine Sekunde in einem blendenden, grellen Rot, um gleich darauf in ein tiefes, undurchdringliches und unwiderrufliches Schwarz überzugehen.
Ich stand im direkten Sonnenlicht und spürte, wie die gewaltige und unbändige Energie meinen Körper verzehrte. Für einen kurzen Moment konnte ich den Gestank meiner verbrennenden Haut riechen und die züngelnden Flammen hören, bis auch diese Sinneswahrnehmungen verschwanden. Jetzt hoffte ich nur noch, dass das Feuer sich einen schnellen Weg durch meine Brust bahnen würde, um mein Herz aufzubrechen und den kläglichen Rest meiner gequälten Seele zu befreien.
Dann erfasste mich eine Windböe und mein Körper verging in einer glühenden Aschewolke, die aus Millionen von Funken bestand. … Und dennoch war ich noch da. Meine Existenz war kaum noch mehr als ein Flüstern. Hatte ich eben noch zahllose Erinnerungen, so bestand ich jetzt nur noch aus einem Gedanken, einer unumstößlichen Gewissheit. “Ich liebe dich”.
Ich schwebte durch die Unendlichkeit, doch hatte ich nicht das Gefühl, ziellos zu treiben. Ich spürte die mir unbegreifliche magische Anziehungskraft, die mich eingefangen hatte. Auch wenn ich nichts sehen oder hören konnte, so wusste ich doch, dass da etwas war. Etwas, das auf mich wartete und dem ich immer näher kam.
In dem Moment, als ich ihre Präsenz erkannte, sich unsere Wesen berührten und unsere Gedanken vereinten, wusste ich, dass ich an meinem Ziel war und nie wieder alleine sein würde.
Zögerlich
öffnete ich meine Augen. Nein, ich war nicht tot. Ich stand nicht
auf einer Düne im Sonnenlicht oder schwebte durch das Universum,
sondern kniete in der Nacht vor ihrem Grab im Wald und seufzte
schwer.
Ich hatte es versucht. Mehr als einmal
wollte ich meine Existenz auf diese Weise beenden, doch immer, wenn
das frühe Licht den Himmel erstrahlen ließ, überkamen mich
quälende Zweifel und ich verlor den Mut und flüchtete in den
Schatten, um mich in einem finsteren Versteck zu verkriechen. Die
Vollendung meiner Sehnsucht durfte ich nur in meinen Gedanken erleben
und ich tat es an jedem ihrer Todestage, wenn ich ihr Grab
besuchte.
“Es tut mir leid, meine Geliebte. So
sehr es mich auch danach verlangt, mit dir vereint zu sein, so
unfähig bin ich doch, es zu vollbringen. Verzeih mir, dass du noch
länger auf mich warten musst.”
Ich löste
mich wieder von ihrer Ruhestätte und eilte in die Nacht hinaus. Ich
rannte so schnell ich konnte und hoffte, die leidvollen Erinnerungen
bis zum nächsten Jahr verdrängen zu können. Eine schwache
Hoffnung, war es mir in all den Jahren doch noch nie gelungen, sie zu
vergessen.
Hallo liebe Leserin / lieber Leser,
ich hoffe, meine kleine, traurige, vielleicht sogar schaurige Geschichte hat dich gut unterhalten. Jedenfalls würde ich mich über ein kleines Kommi sehr freuen.
Liebe Grüße
Chris
Texte: Alle Rechte liegen bei mir. Die Bezeichnung "Chris2010" auf dem Cover ist mein ursprünglicher BookRix-Username.
Bildmaterialien: Das Cover hat die BookRix-Userin "lostinlove" für mich erstellt.
Tag der Veröffentlichung: 16.02.2011
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Ich widme dieses Buch meiner Anja, denn unsere Seelen haben sich schon längst berührt.