Dies ist meine zweite FanFiktion, die auf der Twilight-Reihe von Stephenie Meyer beruht und zu nicht kommerziellen Zwecken von mir geschrieben und hier veröffentlicht wurde. Die aus den Bis(s)-Büchern entnommenen Charaktere sowie die Grundidee sind selbstverständlich geistiges Eigentum von Stephenie Meyer oder wem auch immer sie die Rechte übertragen hat. Meine Storyline und meine Ideen zu diesem Buch gehören mir und dürfen nicht ohne meine Zustimmung zu kommerziellen Zwecken verwendet werden.
Soviel zum Thema “Urheberrechte”.
Dieses Buch ist die Fortsetzung meines Erstlingswerks “Bis(s) zum neuen Jahr”. Es ist aus der Sicht von Renesmee geschrieben und beginnt im Sommer vor ihrem fünften Geburtstag. Zwei Kapitel sind auch aus Jacobs Sicht geschrieben. Um die Handlung nachvollziehen zu können, solltest du zuvor mein gerade erwähntes erstes Buch gelesen haben.
Begleite nun Nessie in ein aufregendes neues Leben, mit Schulalltag und erwachsen werden und eben allem, das dazu gehört. Erfahre, wie sie sich mit der Trennung von Jacob arrangiert hat und wie sie versucht, aus ihrer neuen Situation das Beste zu machen. Erlebe ihr Gefühlschaos, das auch ein Halbvampir-Teenager durchmachen muss. Witz, Dramatik, Liebesglück und -leid und auch Erotik kommen natürlich nicht zu kurz.
Ich denke, dieses Buch ist insgesamt für Leser(innen) ab 16 Jahren geeignet, da es ab Kapitel 16 teilweise recht heftige Szenen gibt.
Dann bleibt mir nur noch eines zu sagen: “Ich wünsche dir gute Unterhaltung.”
Chris
“Toc, toc.”
Ein
klopfendes Geräusch an meiner Tür weckte mich.
»Hmm?!«
Mehr
als ein müdes Stöhnen konnte ich im Moment einfach nicht
aus mir heraus bringen.
»Liebling. Es wird langsam Zeit.
Stehst du jetzt bitte auf?«
Es war die Stimme meiner Mom. Musste das jetzt sein? Mit halb zugekniffenen Augen schaute ich auf meinen Wecker. Es war noch nicht mal halb zehn.
»Noch zehn Minuten,
Mom!?«
Sie seufzte vor der Tür. Ich konnte es deutlich
hören. Genauso wie ich Dad hören konnte, wie er im
Hintergrund offensichtlich möglichst geräuschvoll
irgendetwas über den Boden zog. Halbvampir-Ohren können
manchmal echt lästig sein.
»Also gut, Schatz, aber
dann wird aufgestanden, ja?«
»Ja. Mom.«
Gut, die Sonne war schon hinter den schweren Regenwolken aufgegangen, aber aufstehen? Ich zog mir die Decke über den Kopf. Ich wollte nicht aufstehen. Jetzt schon gar nicht und auch nicht in zehn Minuten oder in einer Stunde. Ich wollte einfach nur in meinem Bett bleiben. Am besten den ganzen Tag und morgen auch noch und auch übermorgen. Nur nicht aufstehen.
»Das geht aber nicht
Liebling. Du musst aufstehen.«
»Dad! Halt’ dich
aus meinen Gedanken raus!«
Man! Kann es denn überhaupt
etwas Furchtbareres geben, als einen gedankenlesenden Vater?
»Mom,
bitte!?«
»Ist ja gut Sternchen. Ich schirme dich ja
schon ab.«
“Oh man”, dachte ich bei mir. “Jetzt bin ich viel zu aufgewühlt, um noch mal einschlafen zu können. Das machen die doch mit Absicht.”
Da es wohl sinnlos war, das Unvermeidliche weiterhin hinauszuzögern, quälte ich mich schließlich doch aus dem Bett. Ich reckte und streckte mich, gähnte noch mal herzhaft und stand auf. Dann packte ich mir ein paar frische Klamotten aus dem Schrank und schleppte mich aus dem Zimmer heraus, um ins Bad zu gelangen.
»Guten Morgen, Schatz«,
begrüßten mich Mom und Dad im Chor.
»Morgen«,
gab ich mürrisch zurück.
Beide schauten mich mitleidig an, doch ich wollte sie nicht ansehen. Ich wusste ja selbst, dass es blöd von mir war, mich so gegen den Umzug zu sträuben, aber ich wollte hier nicht weg. Dabei wusste ich noch nicht mal selbst so genau, warum ich eigentlich nicht gehen wollte. Die Familie würde ja schließlich zusammenbleiben. Außer Opa natürlich. Der blieb hier und den würde ich ganz besonders vermissen und das hatte ich auch allen gesagt.
Natürlich hatten sie mich mit Gegenargumenten überhäuft. Ganz vorne weg: “Du kannst dort eine Schule besuchen. Das wünschst du dir doch so sehr.” Ja, natürlich war das ein großer Wunsch. Schule, Freunde, Abwechslung, aber trotzdem. Das war hier doch mein Zuhause und ich war doch noch nicht mal fünf Jahre alt. O.K. Mein Spiegelbild sagte etwas Anderes. Das sagte mir: “Hey Süße, du bist locker 15! Sogar fast 16”, wobei ich das nicht wirklich beurteilen konnte. Außer durch Fernsehen und Internet hatte ich ja keine Vergleichsmöglichkeiten, aber Carlisle meinte letzte Woche bei meinem monatlichen Untersuchungstermin auch, dass mein Entwicklungsstand fast dem einer 16-jährigen entspräche.
Mich jeden Monat von ihm durchchecken zu lassen, war inzwischen auch eine lästige Pflichtübung. Natürlich vertraute ich Carlisle bedingungslos, aber er ist eben mein Opa, mein Freund, mein Berater und inzwischen leider auch mein Gynäkologe. Ich weiß auch nicht warum, aber irgendwie wäre mir ein fremder Arzt lieber gewesen, doch leider gibt es nicht gerade viele Vampir-Ärzte und zu einem menschlichen Arzt konnte ich unmöglich gehen. Ich hatte schlichtweg keine andere Wahl, als ihm auch auf diesem Gebiet zu vertrauen, aber auch daran hatte ich mich mit der Zeit gewöhnt.
Seit ich in die Pubertät gekommen war, betrachtete ich mich praktisch täglich selbst ziemlich kritisch vor dem Spiegel. Inzwischen mochte ich mein Spiegelbild aber, denn ich hatte richtig weibliche Rundungen bekommen und war schon 1,68 Meter groß. Ganze fünf Zentimeter mehr als Mom und Carlisle meinte, ich würde sogar noch 1,75 werden, bis ich ausgewachsen bin. Das war richtig cool, als ich Mom vor knapp einem Jahr “eingeholt” hatte. Das war dann aber auch das einzig richtig Coole, das mit meinem Körper vor ein bis zwei Jahren passiert war.
Als ich vor knapp zwei Jahren das erste Mal meine Periode hatte, war das die Hölle auf Erden. Anfangs hatte ich sie jede Woche zwei Tage lang und dabei fast immer heftige Bauchschmerzen und als ob das nicht schon schlimm genug wäre, tat mir dann auch noch die Brust weh, als mein Busen anfing zu wachsen. Dann wurde auch noch meine Hüfte breiter und ich hatte doch tatsächlich Probleme damit, normal zu rennen. Wenigsten hatte sich dann mit der Zeit die Sache mit meiner Periode etwas “normalisiert”. Nach einem dreiviertel Jahr war es nur noch alle zwei Wochen für drei Tage und dann noch ein gutes halbes Jahr später waren es nur noch alle drei Wochen soweit, wenn auch für vier Tage, jedoch nicht mehr so stark. Inzwischen habe ich den normalen menschlichen Rhythmus. Es war fast so, als hätte irgendetwas in mir drin die Bremsraketen gezündet und mein Wachstum spürbar reduziert, sehr zur Erleichterung der ganzen Familie, die sich schon Sorgen gemacht hatte.
Es war aber auch für mich eine große Erleichterung, dass inzwischen alles ein wenig langsamer voranging. Ständig diese Blutungen zu haben war nicht nur unangenehm und schmerzhaft, es war auch äußerst lästig, da ich dadurch zwangsläufig auch sehr häufig nach Blut gerochen hatte, was vor allem für Jasper ein ziemliches Problem war. Aber auch für die Anderen war es störend und ich hasste es, wenn ich dann mit einem Nase-Rümpfen in den Arm genommen wurde. Ich konnte mich da selbst nicht mehr riechen. Inzwischen kam ich allerdings ganz gut damit klar. Überhaupt hatte sich auch mein eigener Körpergeruch irgendwie verändert, aber das nicht wirklich unangenehm.
Nach der Dusche zog ich mir einen BH mit passendem Höschen, einen Jeans-Rock und ein T-Shirt an. Jetzt nur noch meine Sneakers und mein Outfit war perfekt. Ich mochte diese Kombination und trug viel lieber Röcke als Hosen. Irgendwie hatte ich meine Mode-Nische zwischen Mom und meinen Tanten gefunden und in der fühlte ich mich richtig wohl.
Dann verließ ich seufzend das Badezimmer. Viel länger würde ich mich vor meiner unangenehmen Aufgabe nicht mehr drücken können.
»Du siehst heute wieder so hübsch aus, Liebling«, meinte Mom zu mir und schenkte mir ein aufmunterndes Lächeln. Das konnte sie wirklich gut. Wenn sie mich so anlächelte, konnte ich mich einfach nicht mehr richtig in Selbstmitleid suhlen und wie von selbst, als ob sie dafür eine Fernbedienung hätte, zogen sich meine Mundwinkel nach oben und erwiderten ihr Lächeln. Das war dann das Startsignal, auf das sie nur gewartet hatte und schon stand sie vor mir und nahm mich in den Arm.
»Ich hab dich so lieb,
Kleines«, sagte sie zu mir.
»Hey, ich bin größer
als du«, gab ich keck zurück.
»Das liegt bestimmt
daran, dass ich dich so wahnsinnig lieb habe, Sternchen.«
Ob sie wohl jemals damit aufhören wird, mich “Kleines” oder “Sternchen” zu nennen? Ich hoffte wirklich, dass sie nie damit aufhören würde und drückte sie nun auch fester an mich. Ich liebte diese Kosenamen und in diesen Momenten fühlte ich mich wieder wie ein kleines Mädchen und irgendwie mochte ich das.
»Ich geh’ dann mal
frühstücken Momma«, sagte ich und gab ihr einen Kuss
auf die Wange.
»O.K., bis gleich«, erwiderte sie und
küsste mich ebenfalls.
Ich gab dann auch meinem Daddy einen Kuss auf die Wange und ging hinüber zur Cullen-Villa zum Frühstück. Vermutlich heute zum letzten Mal, stellte ich seufzend fest.
Seit wir vor etwa drei Monaten beschlossen hatten, dass wir wegziehen würden und dass ich dann eine Schule besuchen dürfte, hatte ich wieder angefangen, menschliche Nahrung aufzunehmen. Ich tat es eigentlich mehr, um Mom eine Freude zu machen, als dass ich das wirklich üben müsste. Mein Verdauungssystem hatte nicht die geringsten Probleme mit dieser Umstellung und bescherte mir prompt die altbekannten Nebenwirkungen wie Magenknurren und auf-die-Toilette-gehen. Jedenfalls beschränkte ich mich dabei hauptsächlich auf Frühstück und Abendbrot und wählte Lebensmittel, die keinen starken Geruch hatten, um die Anderen nicht so zu belästigen und ich ging auch weiterhin mit ihnen auf die Jagd. Am liebsten mit Rose und Em. Mit den beiden war es immer super witzig und ich hatte mit ihnen zum ersten Mal Bär probiert. Der Geschmack war so ganz anders als Wapiti oder Luchs. Irgendwie kräftiger, aber nicht ganz so süß. Ich fand Bär nicht schlecht, aber Wapiti war einfach meine Lieblingsspeise, auch wenn sie mich jedes Mal an Jacob erinnerte.
Auch die Wapitis würde ich vermissen, denn in unserer neuen Heimat gab es keine. Nur Rehe, soweit ich wusste, also sozusagen “Wapiti-Light”.
Bei dem Gedanken musste ich wieder seufzen und fing dann an, mein gewohntes Müsli in mich hinein zu schaufeln. Etwas Anderes war ohnehin nicht mehr da. Der Kühlschrank war ausgeräumt und sämtliche Lebensmittel aufgebraucht. Alles wirkte leer und schmeckte nach Abschied. Ein weiterer Seufzer kam über meine Lippen.
»Hey Süße,
alles klar bei dir?«
Rosalie kam um die Ecke und blickte
mich leicht besorgt an. Offensichtlich hatte sie mein Seufzen gehört.
Ich stellte meine Müsli-Schüssel
weg und ging zu ihr, um sie zu umarmen.
»Geht schon, Rose.
Es tut nur irgendwie weh, weggehen zu müssen.«
Sie streichelte mir übers Haar und küsste mich auf den Kopf. Sie war immer noch ein gutes Stück größer als ich, aber wenn Carlisle Recht hatte, dann würde ich sie auch noch einholen.
»Glaube mir Schatz«,
sagte sie mit sanfter Stimme zu mir, »man gewöhnt sich mit
der Zeit daran und man lernt auch, sich auf das Neue zu freuen. Fast
so, wie auf eine neue Modekollektion.«
Ich drückte mich
fest an sie.
»Was würde ich nur ohne dich machen,
Lieblingstante.«
Auch sie verstärkte die Umarmung und küsste mir noch mal das Haar. Inzwischen hatte sie nichts mehr dagegen, wenn ich “Tante” zu ihr sagte. Irgendwie schien es ihr sogar zu gefallen.
Es war vor etwa drei Jahren, als ich sie und Alice am PC sitzen sah, wie sie sich über die neuen Modetrends unterhielten und dabei mal empört unterschiedliche Meinungen vertraten und dann wieder zusammen kicherten. Ich fand das so lustig, dass ich zu den beiden hinging und ohne darüber nachzudenken fröhlich “da sind ja meine beiden modeverrückten Tanten” sagte. Ich weiß noch genau, wie Alice mich überrascht anlächelte und Rosalie mir einen richtig finsteren Blick zuwarf. Ich wusste nicht, ob sie mich so ansah, um herauszufinden, ob das wirklich von mir kam oder ob Mom mir das böse T-Wort verraten hatte, jedenfalls war ich richtig erschrocken, dass sie mich so ansah, was sie vorher noch nie getan hatte, ging einen Schritt zurück und schaute sie entsetzt an und dann traurig zu Boden. Dann stammelte ich noch “tut mir leid, Rosalie” und mir lief doch glatt eine Träne über die Wange. Da sprang Rose auf, nahm mich sofort in den Arm und meinte: “Jetzt weine doch nicht, Liebling. Wenn es dich glücklich macht, dann kannst du mich auch Tante nennen.” Ja und es machte mich tatsächlich glücklich und von da an durfte ich das.
Mom grinste jedes Mal unverschämt breit, wenn ich Rosalie so nannte, bis die dann irgendwann halb ausgeflippt war und zu Mom meinte, dass sie damit aufhören sollte. Daraufhin meinte Mom, dass sie das nur könnte, wenn ihr Kopf, die Arme und die Beine jetzt endlich eine “Tante-Amnestie” bekämen und nicht mehr in Gefahr wären, wenn Mom mir gegenüber Rosalie als Tante bezeichnen würde. Dem stimmte Rosalie dann seufzend und zähneknirschend zu und von da an war die Tante-Welt endlich in Ordnung.
Ich löste mich wieder aus ihrer Umarmung, wir lächelten uns gegenseitig noch mal an und dann ging sie wieder zu Emmett und ich kümmerte mich um mein restliches Frühstück. Aus den Zimmern von Alice und Jasper, wie auch von Rose und Emmett, kamen ähnliche Einpack-Geräusche, wie sie auch bei meinen Eltern vorherrschten und in Kürze auch in meinen Zimmer zu hören sein werden. Carlisle war heute noch mal in der Klinik, um letzte Details zu klären und sich von allen zu verabschieden. Esme war bereits vor einem Monat vorausgereist, um alles vorzubereiten, damit wir einen möglichst guten Start haben würden und wenn sie bei Carlisle anrief, dann schwärmte sie immer von der schönen Landschaft und dem tollen alten Herrenhaus, das sie renoviert hatte und das so ideal für uns wäre. Zugegeben, ein wirklich eigenes großes Zimmer zu haben, war absolut verlockend. Nicht nur für mich, sondern auch für Mom und Dad, die ja nie wirklich richtig ungestört waren, mit mir im Nebenzimmer.
Mit einem weiteren Seufzen, das sich heute wohl nicht mehr abstellen lassen würde, spülte ich meine Müslischale aus und ging wieder zurück, um mich meinen Schicksal zu ergeben. Deprimiert schleppte ich mich in mein Zimmer. Mom war gerade dabei ein paar Umzugskartons aufzuklappen und hatte mir auch bereits zwei geöffnete Koffer aufs Bett gelegt.
»Soll ich dir beim
Einpacken helfen, Liebling?«, fragte sie mich in einer
besonders mitfühlenden Stimmlage.
»Nein Mom, ich will
das alleine machen.«
Das Meiste von meinen Sachen war eh schon verpackt und in Schottland angekommen. Schottland! Reichte es denn nicht, dass wir wegziehen mussten? Musste es denn gleich eine Insel an einem anderen Kontinent sein? O.K. die Familie hatte die verschiedenen Möglichkeiten diskutiert und sich dann für Schottland entschieden. Natürlich haben mich auch alle gefragt, wohin ich am liebsten wollte und wenn ich Kanada gesagt hätte, wären wir vermutlich dort irgendwo gelandet, aber das hatte ich nicht gesagt, weil ich nicht dahin wollte. Ich wollte einfach nicht weg von hier und will es eigentlich immer noch nicht. Ich wäre gerne hier zur Schule gegangen. In die gleiche Schule, die auch die Anderen besucht hatten, aber sie könnten das natürlich nicht noch mal machen und so rücksichtslos war ich auch wieder nicht, dass alle wegen mir hier herumsitzen müssten.
»Und dafür sind wir
dir auch alle dankbar Schatz.«
»Dad! Warum hörst
du schon wieder zu? Mom, du wolltest mich doch
abschirmen!«
»Entschuldige Liebling, als du beim
Frühstück warst, habe ich dich verloren und nicht mehr
daran gedacht, als du zurückgekommen bist. Es tut mir leid. Ich
schirme dich sofort wieder ab, O.K.?«
Ich brummte nur ein »Hmm«
zur Bestätigung.
“Ach was soll’s”, dachte
ich mir. “Es wissen ja eh alle, dass ich so denke und fühle.
Da wurde mir ja jetzt nicht gerade das Geheimnis des Jahrhunderts
entlockt.”
Ich machte mich also an die Aufgabe meine Koffer mit den Sachen zu packen, die ich unbedingt gleich dort griffbereit haben wollte und der Rest sollte dann in den Kartons verschwinden. Eine Auswahl meiner Lieblingsklamotten wanderte zuerst in die Koffer. Dies einerseits deshalb, weil ich sie tatsächlich gleich verfügbar haben wollte und andererseits, weil sie eine gute Polsterung waren für die Stücke, die mir am wichtigsten waren. Sieben Holzfiguren, die mir Jacob geschenkt hatte. Die Erste an dem letzten Weihnachtsfest, als unsere Welt noch in Ordnung war. Damals, als er mir das Schnitzen beigebracht hatte, damit ich die Geschenke für meine Familie machen konnte, hatte er mich mit der ersten Skulptur überrascht. Dann bekam ich weitere von ihm zu meinem zweiten, dritten und vierten Geburtstag und jeweils zu dem darauf folgenden Weihnachtsfest. Diese Schnitzereien bedeuteten mir unglaublich viel. Sie gaben mir die Bestätigung, dass meine Erinnerungen an die sorgenfreie Zeit, die ich in meiner frühesten Kindheit mit ihm verbracht hatte, wirklich real waren. Ich hatte ihn seit über drei Jahren nicht mehr gesehen und doch konnte ich ihn nie vergessen. Wie auch, wenn ich mich doch täglich selbst an ihn erinnerte, indem ich mir meine Wolfsskulpturen ansah und sie manchmal gedankenverloren streichelte. Ich vermisse ihn immer noch. Er war der beste Freund, den man sich wünschen konnte und ich wusste, dass er irgendwie nie aufgehört hatte das zu sein, auch wenn er nicht bei mir sein durfte. Andererseits war er natürlich auch mein einziger echter Freund. Außer meiner Familie hatte ich nur ihn. Gut, da gab es natürlich auch noch andere bei den Quileute, aber mein Kontakt zu denen endete mit meiner Trennung von Jacob. Anfangs war Seth noch ein paar Mal bei mir, um mich zu trösten, weil ich Jacob so schrecklich vermisste, aber auch das musste aufhören. Alle waren sich einig, dass es dem Sinne unseres Abkommens mit den Volturi nach entscheidend war, dass es keinen Kontakt zwischen mir und einem der Wölfe gab und so gingen sie alle auf Distanz zu mir. Ab und zu sah ich noch Seth, wenn er mich aus größerer Entfernung beobachtet, aber immer, wenn ich auf ihn zugehen wollte, rannte er blitzschnell weg. Also ließ ich es bleiben und freute mich einfach nur darüber, wenn ich ihn hin und wieder entdeckte und wusste, dass Jacob mich durch seine Augen sehen konnte.
Vorsichtig legte ich die erste Skulptur des rennenden Wolfes mit mir als sechsjährigem Mädchen auf dem Rücken in meinen Koffer und legte noch ein paar Socken und weniger wichtige T-Shirts zur Polsterung um sie herum. Dann nahm ich die zweite Figur, die ich von ihm geschenkt bekommen hatte, um sie in den Koffer zu legen. Sie war das Geschenk zu meinem zweiten Geburtstag. Meine Erinnerungen an diese Geburtstagsfeier waren noch sehr stark und schmerzhaft. Alice hatte sich alle Mühe gegeben, mir ein schönes Fest auszurichten. Auch Benjamin und Tia waren damals noch bei uns, hatten uns aber später dann verlassen, weil sich Tia nicht wirklich an unsere Lebensweise gewöhnen wollte und weil die beiden ihre Heimat so sehr vermissten. Auch die Denalis waren da. Sie kamen jedes Jahr zu meinem Geburtstag zu Besuch und ich freute mich jedes Mal sehr darüber, doch an meinem zweiten Geburtstag hatte ich vor allem gehofft, Jacob sehen zu dürfen. Wenigstens ein Mal im Jahr zum Geburtstag hätte das doch möglich sein sollen, doch er kam nicht und ich hatte an diesem Tag mehr geheult als sonst etwas. Dann, zwei Wochen später kam Opa wieder bei uns vorbei und überbrachte mir ein Päckchen von Jacob. Opa hatte mit ihm gesprochen und ihm erzählt wie sehr ich ihn vermisst hätte und dass er nicht verstehen konnte, warum Jacob mir das antat, aber wieder einmal musste er sich damit abfinden, dass er einfach nicht viel über die Geheimnisse unserer Welt erfahren durfte. Wenigstens hatte er Jacob dazu gebracht, mir ein Geschenk zu machen und von da an brachte Opa mir immer zu Weihnachten und zum Geburtstag ein Geschenk von Jacob mit. An diesem Geburtstag war es ein sitzender Wolf der zum Himmel heulte, mit mir als neunjährigem Mädchen, das die Arme um seinen Hals geschlungen und das Gesicht in seinem Fell vergraben hatte.
Es kamen dann noch weitere Figuren dazu, die ich nun alle vorsichtig in meinem Koffern verstaute. Ein auf dem Boden liegender Wolf mit mir, zwischen seine Pfoten gekuschelt. Dann ein stehender Wolf mit mir als zwölfjährigem Mädchen, die Köpfe aneinander gelegt. Dann ein Wolf, der sich von mir die Brust kraulen ließ. Dann noch einer, der mir das Gesicht ableckte und dann der Letzte, den er mir zum vergangenen Weihnachtsfest geschenkt hatte. Ich sah da schon wie 15 aus und er hatte mich doch tatsächlich in einem Kleid dargestellt und sogar meinen Körperbau ziemlich gut getroffen. Die Skulptur zeigte mich, wie ich neben ihm stand und dem sitzenden Wolf den Kopf streichelte und genau das hätte ich so wahnsinnig gerne gemacht. Ich weiß noch wie es war, als ich diese Figur bekam. Ich war da endlich halbwegs zufrieden damit, wie sich mein Körper entwickelt hatte und sah mich eigentlich zum ersten Mal selbst als junge Frau. Ich war fasziniert davon, dass Jake mich tatsächlich so geschnitzt hatte, wie ich jetzt aussah und ich fragte mich, ob er mich vielleicht selbst heimlich beobachten würde. Dann streichelte ich im Gedanken mit dem Daumen über die Brust meiner Skulptur und hatte dabei ein eigenartiges Gefühl im Busen, sodass ich die Figur erschrocken hinstellte und sie für so eine Art Voodoo-Puppe hielt, was natürlich total albern war. Mein Körpergefühl war eben inzwischen einfach anders. Theoretisch wusste ich ja, was mit mir in der Pubertät passieren würde aber Theorie und Praxis war nun mal ein himmelweiter Unterschied.
Als nächstes fiel mir der riesige Brillant ins Auge, den ich ebenfalls bei den Wolfsfiguren aufgestellt hatte. Er war das Geschenk der Volturi an meine Mom zur ihrer Hochzeit und sie hatte ihn mir damals zum Spielen geschenkt, weil er so schön im Sonnenlicht glitzerte, genau wie ihre Haut. Doch seit der Trennung von Jacob war das kein Spielzeug mehr für mich. Jetzt war es ein Mahnmal dafür, dass die Volturi zwischen mir und meinem Freund standen. Schön und glitzernd, aber eben auch hart und kalt. Deshalb stellte ich diesen Edelstein immer zu meinen Wolfsfiguren und deshalb packte ich ihn auch jetzt zusammen mit den Wolfsfiguren in den Koffer. Dann noch ein paar weitere Kleidungstücke oben drauf, das ganze gut festgeschnallt und fertig. Das Wichtigste wäre dann schon mal verstaut. Als nächstes packte ich meinen übrigen Krimskrams in die Umzugskartons. Meine Staffelei, die eher selten zum Einsatz kam und natürlich meine neue Gitarre, auf der ich immer gerne herumzupfte. Vor allem spielte ich gerne mit Emmett. Wir hatten den Blut-Trainingsraum in einen Musik-Übungsraum umgebaut. Emmett hatte doch tatsächlich für mich angefangen Schlagzeug zu spielen, damit er mich begleiten konnte. Am Anfang hatte er haufenweise Trommeln zerdeppert, weil er mit zu viel Kraft gespielt hatte, aber inzwischen hatte er das super gut drauf und es machte richtig Spaß, zusammen zu spielen.
Das mit dem Blutduft-Training
hatte ich nicht noch mal angefangen. Zum einen, weil ich seit meiner
Pubertät sozusagen einen “Eigenbluttherapie” machte
und zum anderen, weil ich das, was im meinem letzten Training
passiert war, nicht noch mal erleben wollte. Deshalb war es mir sehr
recht, dass dieses Kapitel mit dem Umbau des Raumes abgeschlossen
war.
Nach etwa zwei Stunden war alles sorgfältig in ein paar Kartons und den zwei Koffern verpackt. Sicherlich hätte ich es in unter einer Stunde schaffen können, aber irgendetwas in mir drin wollte nicht, dass ich schneller damit fertig wurde. Ich ließ danach noch mal einen wehmütigen Blick durch den Raum wandern.
“Ich werde mein Zimmer
vermissen”, dachte ich.
Es war zwar klein aber gemütlich.
Ich seufzte noch mal und dann ging ich zu Mom und Dad, die ebenfalls
fertig zu sein schienen, denn ich hatte schon seit zehn Minuten keine
Pack-Geräusche mehr aus ihrem Zimmer gehört.
»Ich bin fertig«, sagte ich mit einer Mischung aus Trauer, weil ich noch immer nicht weg wollte und Erleichterung, weil ich diese Aufgabe nun erledigt hatte. Dabei öffnete ich die Tür.
»Ups! Entschuldigung.«
Die beiden lagen gerade noch eng umschlungen auf dem Bett und sprangen geradezu auseinander, als ich den Raum betrat. Jetzt schauten sie mich überrascht an, zogen nervös ihr Kleidung wieder zurecht und lächelten verlegen wie zwei Teenager, die gerade von ihren Eltern überrascht wurden, nur mit dem Unterschied, dass es hier genau andersherum war.
»Ja, das ist gut Schatz.
Wir sind auch fertig«, meinte Mom, sichtlich um eine ruhige und
feste Stimme bemüht.
»Seid ihr sicher? Ich kann gerne
noch eine Stunde raus gehen«, sagte ich mit einem verschmitzten
Lächeln.
Auch wenn solche Augenblicke, seit ich wusste was die da machten, irgendwie peinlich waren, so waren sie doch auch schön. Welches Kind wünscht sich nicht, dass ihre Eltern sich so sehr liebten? Ich hoffte wirklich sehr, dass ich auch irgendwann mal jemanden finden würde, mit dem ich auch so zusammen sein konnte.
»Nein, nein, Schatz. Das passt schon. Wir wollten doch ohnehin noch zu Opa fahren, um uns zu verabschieden. Das können wir dann ja jetzt machen.«
Oh man. Natürlich. Das musste ja auch noch sein. Die kurze Freude, die ich gerade verspürt hatte, wich augenblicklich wieder der Trauer über das Weggehen. Natürlich wollte ich mich von Opa verabschieden. Ich hatte ihn so gerne und ich könnte niemals ohne ein Wort einfach gehen, aber ich hasste den Abschied. Als ich mich damals von Jacob verabschieden musste, war das das Schlimmste, das ich jemals erlebt hatte und bis heute blieb diese Trauer unübertroffen. Auch der Abschied von Benjamin und Tia war schlimm. Ich hatte die beiden auch sehr gerne und sie waren schon fast ein Teil der Familie, nachdem sie schon ein paar Monate bei uns gelebt hatten. Benjamin war so ein Spaßvogel, wenn er seine Gabe benutzte. Einmal ließ er mich beim Baden im See auf einer Wasserfontäne hüpfen und ein anderes Mal verzwirbelte er mir die Haare mit einem Mini-Tornado. Ja und Tia war immer so lieb und nett und freute sich immer so, wenn ich ihr etwas mit meiner Gabe zeigte.
Ich seufzte wieder bei den Erinnerungen an die Verabschiedung. Irgendwie wusste ich zwar, dass ich auch den Abschied, der mir nun bevor stand, überstehen würde und ein kleiner Teil von mir freute sich auch auf Schottland und die Chance, endlich menschliche Freunde in meinem Alter haben zu können, aber dieser Teil von mir hatte derzeit Redeverbot.
Als ich Mom in die Augen sah, wusste ich sofort, dass sie nicht weniger traurig darüber war, sich von ihrem Dad verabschieden zu müssen. Für sie war es bestimmt noch schlimmer als für mich. Ich mochte mir gar nicht vorstellen, wie es sich wohl anfühlen würde, wenn ich mich von meinem Dad oder von ihr verabschieden müsste. Alleine bei dem Hauch einer Vorstellung davon bekam ich schwitzige und zittrige Hände.
»Wollen wir?«, fragte uns Dad mit seiner mitfühlenden samtigen Stimme.
Wir nickten nur stumm und folgten ihm zum Auto. Es war ein Mietwagen. Die Familie hatte alle Autos inzwischen verkauft. Da in Schottland Linksverkehr herrschte, wollte sich die Familie zu gegebener Zeit dort neue Autos zulegen.
Mom setzte sich überraschender Weise zu mir auf die Rückbank. Die ganze Fahrt über hielten wir uns an der Hand und versuchten uns gegenseitig aufbauend anzulächeln, was uns beiden jedoch nicht gelang. Dann kamen wir vor seinem Haus an und stiegen aus. Zeitgleich öffnete auch Opa die Tür und kam uns entgegen. Auch in seinem Gesicht war die Trauer über den Abschied deutlich zu lesen und obwohl ich mir fest vorgenommen hatte, meine Tränen im Zaum zu halten, kullerte die erste schon über meine Wange. Mein Magen war gerade dabei mit den übrigen Organen eine Runde Karussell zu fahren und mein Herz schien wohl der Anschubser zu sein, weil sein Rhythmus immer schneller wurde. Meine Lunge arbeitete nur noch ruckartig, meine Hände zitterten und meine Beine weigerten sich weiterzugehen.
Für Mom gab es jedoch kein Halten mehr und sie rannte viel zu schnell zu ihm und fiel ihm schluchzend um den Hals. Ich sah, wie er bei ihrer stürmischen Umarmung erst kurz zusammenzuckte, doch dann drückte er sie fest an sich, streichelte ihr tröstend über das Haar und versuchte sich heimlich eine Träne wegzuwischen. Dann traf sein Blick auf mich und ich zwang mich, auf ihn zu zugehen. Mit jedem Schritt wurden meine Knie weicher und meine Augen feuchter. Ich war sehr froh, dass er auch mich fest in den Arm nahm, als ich bei ihm angekommen war, denn meine Beine wollten mich nicht mehr tragen. Ich legte meinen Kopf an seine rechte Schulter und verwarf den Vorsatz, nicht weinen zu wollen.
So standen wir zusammen minutenlang vor der Haustür. Inzwischen war auch Dad zu uns gekommen und streichelte mir und Mom ab und zu über den Kopf und den Rücken.
»Bella, Nessie, kommt
schon«, sagte Opa dann mit zittriger Stimme. »Das ist
doch kein Abschied für immer. Ihr habt mir doch versprochen,
dass ihr mich besuchen kommt, oder ich komme zu euch. Außerdem
gibt es doch auch noch das Telefon. Wir bleiben in Kontakt.
Ja?«
»Natürlich Dad«, schluchzte Mom.
Ich hätte auch gerne etwas gesagt, aber ich konnte nicht. Mein Sprachzentrum war wohl gerade dabei meine Organe zur Ordnung zu rufen, damit wieder alle ordnungsgemäß ihre Aufgaben verrichteten. Dann lösten wir uns allmählich voneinander. Die Trauer einfach heraus fließen zu lassen war vielleicht doch ganz gut gewesen. Ich beruhigte mich allmählich und meine Beine nahmen ihren Dienst wieder auf. Auch Dad und Opa umarmten sich herzlich, während Mom mir den Arm umlegte, teils, um mich zu trösten und teils, um sich selbst Halt zu geben. Ich tat es ihr gleich und spürte dabei, dass es auch mir Kraft und Zuversicht schenkte. Ich küsste meine Mom auf die Wange und dann legten wir die Köpfe aneinander.
»Edward, pass gut auf
meine Mädchen auf«, sagte Opa jetzt mit festerer Stimme zu
meinem Dad und klopfte ihm auf die Schulter.
»Selbstverständlich,
Charlie. Es gibt nichts Wichtigeres für mich.«
Dann trennte sie sich
voneinander und Mom und ich umarmten nacheinander noch mal Opa, um
uns dann endgültig zu verabschieden und uns wieder auf den
Heimweg zu machen.
Zuhause angekommen, bemerkte ich, dass nun ein kleiner LKW vor unserem Haus stand. Emmett war gerade dabei, ihn mit Umzugskartons zu beladen und Rose kam gerade mit weiteren Kartons aus dem Haus. Wir gingen dann auch schnell in unser Haus und holten unsere Sachen. Die Koffer verstauten wir gleich in unserem Mietwagen und die Umzugskartons im LKW. Mom ging mit mir noch mal in unser Häuschen, um uns von ihm zu verabschieden. Die meisten Möbel wollten wir hier lassen, also deckten wir alles mit großen Laken ab. Die Familie hatte auch einen Verkauf der beiden Häuser diskutiert, sich dann aber dagegen entschieden. Auch wenn wir vielleicht erst in 70 Jahren noch mal hierher ziehen würden, so war dies doch auch ein wertvolles Stück Heimat, dass niemand wirklich aufgeben wollte. Diese Häuser war fest mit der Geschichte der Familie Cullen verwoben und das nicht zuletzt deshalb, weil Mom und Dad hier in Forks zueinander gefunden hatten und ich hier geboren wurde und aufgewachsen war. Esme meinte, dass die Familie nie glücklicher war, als hier in Forks und dass sie die Vorstellung, diese Häuser zu verkaufen, einfach nicht ertragen konnte. Damit waren die Diskussionen auch praktisch beendet. Abgesehen davon, hätten wir so auch gleich eine Unterkunft, wenn wir Opa besuchen würden. Die Quileute hatte Carlisle jedenfalls zugesagt, dass sie auf die Häuser aufpassen würden, aber das Angebot, sie zu bewohnen, lehnten sie ab, genauso wie das Angebot, ihnen unsere Autos zu schenken, weshalb wir die dann eben verkauft hatten. Carlisle meinte zu uns, dass die Quileute tiefe Dankbarkeit für den Frieden empfinden würden, der nun bei ihnen herrschte und dass das Bündnis mit uns das einzige Geschenk wäre, dass sie darüber hinaus noch annehmen würden.
Mom ging mit mir auch noch mal in das Haupthaus. Hier waren gerade Alice und Jasper dabei, die Möbel mit großen Tüchern abzudecken. Ich ließ noch mal den Blick über die Räume schweifen, in denen ich so viele glückliche Momente erlebt hatte. Bis auf den Esstisch war inzwischen alles bereits abgedeckt.
»Alice? Hat es einen
Grund, warum der Tisch nicht abgedeckt ist?«
»Ja,
Nessie. Carlisle kommt in fünf Minuten nach Hause und dann
werden wir uns hier noch mal kurz versammeln.«
Ich nickte zur Bestätigung, auch wenn mir nicht klar war, warum wir jetzt kurz vor unserem Aufbruch noch mal eine Familienkonferenz abhalten sollten.
Dad kam ebenfalls zu uns und Emmett und Rosalie folgten ihm. Dann zog Dad das Laken vom Klavier und setzte sich hin, um zum Abschied noch mal etwas zu spielen. Mom setzte sich zu ihm und ich ließ mich auf das zugedeckte Sofa fallen.
Sie spielten zusammen “ihr Lied”. Es war so eine wunderschöne fröhliche und von Liebe und Glück getragene Melodie, dass mir immer ganz warm ums Herz wurde, wenn sie es spielten und dabei beide so verträumt vor sich hin lächelten. Ich seufzte wieder, aber diesmal war es kein trauriges, sondern ein zufriedenes Seufzen. Ich lauschte der Melodie und ließ mich von ihr von meinem Abschiedsschmerz wegtragen.
Ziemlich genau fünf Minuten nachdem Alice dies angekündigt hatte, hörte ich draußen ein Auto vorfahren. Das musste wohl Carlisle sein, der ebenfalls mit einem Mietwagen unterwegs war. Mom und Dad beendeten ihr Klavierspiel und deckten den Flügel wieder ab. Dann nahmen sie sich in den Arm und küssten sich so zärtlich, dass ich schmunzeln musste, aber einfach nicht wegsehen konnte.
Schließlich kam Carlisle ins Haus und die beiden lösten sich wieder voneinander, aber nicht ohne sich noch mal so verliebt in die Augen zu schauen. Carlisle lächelte bei ihrem Anblick und zwinkerte mir kurz zu. Dann ging er zum Esstisch.
»Kommt ihr bitte mal alle
hier zusammen?«, sprach er zu uns und wir setzten uns an unsere
gewohnten Plätze.
»Also«, begann er, »es
wird Zeit, dass ihr euch mit euren neuen Identitäten vertraut
macht. Jasper? Hast du die neuen Papiere?«
»Natürlich
Carlisle. J. hat sehr gute Arbeit geleistet und mir auch eine
Kontaktperson in England genannt.«
Mit diesen Worten übergab Jasper einen Aktenkoffer an Carlisle, der ihn öffnete und die verschiedenen Bündel von Unterlagen herausholte.
»Nun, folgende neue
Geschichte werden wir für unsere Herkunft angeben. Ihr alle seid
Waisenkinder aus einem Waisenhaus in New Orleans. Dieses Waisenhaus
wurde bei dem Hurrikan Katrina praktisch vollständig zerstört.
Ich war damals als junger Arzt dort, um den vielen Verletzten zu
helfen und bin auf euch gestoßen. Dann haben wir euch als
Pflegekinder aufgenommen, damit ihr eine Unterkunft habt, bis das
Waisenhaus wieder aufgebaut ist. Allerdings hat es über ein Jahr
gedauert und in der Zeit haben wir uns so sehr aneinander gewöhnt,
dass Esme und ich euch angeboten haben bei uns zu bleiben.«
»Das
passt wirklich gut zu dir und Esme, Carlisle«, meinte Mom und
lächelte ihn glücklich an.
»Danke Liebes. Also, zu
euren Identitäten. Als Pflegekinder tragt ihr nicht unseren
Nachnamen. Edward, du nimmst wieder deinen Nachnamen Masen an und bis
16. Nessie, du bist deinem Vater ja sehr ähnlich, weshalb wir
dich als seine gut ein Jahr jüngere Schwester ausgeben. Du bist
also knappe 15 und heißt Vanessa Masen.«
»Cool!«,
freute ich mich.
Carlisle hatte mich schon vor Monaten gefragt, wie ich gerne heißen wollte, wenn wir neue Identitäten annehmen würden, weil Renesmee doch nun mal ein sehr merkwürdiger und nicht gerade unauffälliger Name war. Da hatte ich mich daran erinnert, dass Mom mir mal eine Identität als Vanessa Wulf verschaffen wollte und das gefiel mir. Deshalb hatte ich ihn gebeten, Vanessa heißen zu dürfen.
»Bella,« fuhr
Carlisle fort, »für dich haben wir den Namen Isabella
Platt. Du weißt schon, Esmes Mädchenname war Platt und sie
würde sich freuen, wenn du ihn annehmen würdest.«
»Der
Name ist sehr schön«, sagte Mom und war sichtlich gerührt.
»Natürlich nehme ich den gerne an.«
»Das
freut mich, Liebes. Ach ja, du bist ebenfalls 16. … Jasper,
Rosalie? Ihr spielt am besten wieder Geschwister, diesmal aber mit
Jaspers Nachnamen Whitlock. Geht das in Ordnung?«
Die Frage richtete sich natürlich an Rose, aber sie hatte kein Problem damit und nickte zustimmend.
»Gut. Jasper, du bist 17
und Rosalie ist 16. … Emmett, Alice? Ihr nehmt einfach wieder
eure eigenen Nachnamen an. Emmett McCarty, du bist ebenfalls 16 und
Alice Brandon, du bist 17.«
»Juchhu! Endlich wieder
17!«, jubelte Alice und freute sich, auch im gleichen Jahrgang
wie Jasper zu sein. Ich war mir aber sicher, dass das Absicht war.
Alle Pärchen hatten den gleichen Jahrgang.
»Was eure Beziehungen
zueinander betrifft, da dürft ihr eure Liebe gleich von ersten
Tag an offen zeigen. Diesmal brauchen wir keine Kennenlernphase
vorzuspielen, da ihr euch ja schon seit Jahren im Waisenhaus kennt
und schon dort Pärchen ward. Esme und ich haben euch auch
deshalb alle aufgenommen, weil wir euch nicht auseinander reißen
wollten.«
»Auch das passt so gut zu euch«, sagte
Mom mit großer Freude in den Augen und kuschelte sich an die
Schulter von “meinem großen Bruder”.
Danach verteilte Carlisle die Päckchen mit den Unterlagen. Neben dem Ausweis und dem Reisepass war auch ein Dossier dabei, mit allen Informationen über die fiktive Vergangenheit jedes Einzelnen. Carlisle hatte sich wohl mächtig Mühe damit gemacht. Es waren detaillierte Angaben dabei, wann und wie unsere erfundenen Eltern gestorben waren, wer von uns wann in das Waisenhaus kamen, welche Verwandten wir noch hatten, wie das Waisenhaus hieß und wie es aussah und so weiter und so fort. Eine Zusammenfassung eines weniger glücklichen Lebens, als das, das ich führen durfte. Mir war aber klar, warum ich das bekommen hatte. Für unsere Tarnung war es sicherlich sehr wichtig, dass wir alle die gleiche Geschichte erzählten. Also würde ich das alles auswendig lernen.
Daneben war auch noch ein kleines Mäppchen dabei, das ich aufschlug und darin eine Kreditkarte entdeckte.
»Ähm, Carlisle? Da muss was falsch gelaufen sein. Da liegt eine Kreditkarte mit meinem Namen dabei.«
Ich sprach ihn seit längerem nur noch mit Vornamen an. Irgendwie passte “Opa” einfach nicht mehr so richtig. Ich sah das zwar auch noch in ihm, aber er war für mich inzwischen hauptsächlich väterlicher Freund und Arzt. Opa war für mich jetzt nur noch Charlie, den ich wiederum nie mit Vornamen ansprechen würde.
Carlisle lächelte mich gütig an.
»Nein Liebes, das ist kein
Fehler. Das ist Absicht. Damit kannst du bezahlen, wenn du mal
alleine oder dann mit deinen neuen Freunden shoppen gehen willst oder
dir einfach Bargeld besorgen.«
»Echt? Ist ja geil.«
Alle am Tisch schmunzelten wieder, weil ich dieses Wort verwendet hatte. Ich machte das nicht so oft. Es erinnerte mich immer an Seth und damit an Jacob. Ich benutzte es eigentlich nur noch unbewusst, wenn ich mich wirklich sehr über eine Überraschung freute und so war es ja gerade auch.
»Carlisle?«, sprach ihn Rosalie plötzlich mit einer etwas angespannten Stimme an. »Warum liegt da kein Führerschein bei meinen Unterlagen?«
Carlisle blickte hilfesuchend zu Jasper und ich verspürte spontan eine merkwürdige Gelassenheit, obwohl diese Frage von Rosalie doch eher Aufregung versprach.
»Ja nun, Rosalie«,
gab Carlisle zögernd zurück. »Das ist so. In
Großbritannien gibt es den Führerschein frühestens
mit 17.«
»Das ist nicht dein Ernst, Carlisle«,
gab Rosalie mit noch immer angespannter Stimme zurück.
Es wunderte mich eigentlich, dass es kein Wutausbruch war, denn ich wusste, wie sehr sie das Autofahren liebte, aber mir war klar, dass Jasper hier die Finger im Spiel haben musste. Er sah auch sehr angestrengt aus und Rosalie bei weitem nicht so gelassen, wie ich mich fühlte.
»Rosalie, bitte«, fuhr Carlisle fort. »Wenn wir dich jetzt als 17 angeben würden, dann müsste Jasper schon 18 sein. Als 16-jähriger geht der nicht durch, das weißt du. Wir würden dadurch alle ein Jahr in unserer neuen Heimat verlieren.
»Ein Jahr ohne Autofahren!«, knurrte Rosalie zurück und Jasper sah aus, als würde er gleich einen Schweißausbruch bekommen.
Ich lehnte mich jedoch entspannt zurück und beobachtete mit einem Schmunzeln auf den Lippen das Schauspiel.
»Komm schon Rosy«, sprach Emmett sie plötzlich an. »Ich habe auch keinen Führerschein. Wenn du willst, trage ich dich jeden Morgen auf dem Rücken in die Schule. Was hältst du davon?«
Sie warf ihm nur einen halb-finsteren Blick zu. Dann meldete sich Alice zu Wort.
»Hey, Schwesterherz. Ich verspreche dir, ich fahre dich in diesem ersten Jahr wann und wohin auch immer du willst und die restlichen Jahre darfst du immer fahren. O.K.?«
Rosalie schnaubte. Es gefiel ihr ganz und gar nicht, doch sie wirkte allmählich ein wenig ruhiger. Warum regte sie sich darüber nur so auf? Eigentlich war das doch ziemlich cool.
»Sagt mal«, fragte ich in die Runde. »Heißt das, dass ich dann in zwei Jahren auch Auto fahren darf? Wollt ihr echt eine Siebenjährige Auto fahren lassen?«
Alle lachten bei meiner Frage. Selbst Rosalie schenkte mir ein lächeln und ihre Anspannung war fast gelöst, doch immer noch vorhanden.
»Rosalie?«, fragte
ich sie dann ganz direkt und setzte die leicht piepsige und kindliche
Stimme auf, der sie sowieso nicht widerstehen konnte. »Ist es
wirklich so schlimm für dich, ein Jahr lang nicht Auto zu
fahren? Ich meine, dann bist du doch auch zwei Jahre früher aus
der Schule wieder raus als ich. Das fände ich sehr schade, aber
wenn dir das so wichtig ist…«
Ich brauchte gar nicht
weiterzureden. Rosalie gab sich geschlagen und lächelte mich an.
»Nein, Liebling. Natürlich nicht. Es ist nur …
ärgerlich.«
»So, wie eine neue Modekollektion,
die nicht so aussieht, wie du es erwartet hattest?«
»Ja!«,
antwortete sie mir lachend. »So könnte man es ausdrücken.«
Ich stand auf und ging zu ihr, um sie in den Arm zu nehmen und wo ich schon mal da war, setzte ich mich gleich auf ihren Schoß und gab ihr einen Kuss auf die Wange.
»Bringst du mir dann in
zwei Jahren das Autofahren bei?«, fragte ich sie voller
Vorfreude und sie schenkte mir ein echtes Rosalie-Lächeln.
»Natürlich
Süße. Wer sonst, wenn nicht ich.«
Dann drückten wir uns fest aneinander und ich sah kurz über die Runde am Tisch, wie sie mich alle erleichtert und dankbar ansahen und ich freute mich einfach nur. Das erste Mal an diesem Tag, dass ich wirklich fröhlich war.
Danach löste sich die Versammlung auf und Emmett fuhr mit Rose schon mal mit dem LKW zum Flughafen, um die Ladung als Luftfracht aufzugeben. Wir anderen hatten noch gut drei Stunden Zeit, bis auch wir aufbrechen mussten. Ich wollte die Gelegenheit nutzen, um einen letzten Spaziergang durch den Wald zu machen, um mich auch von ihm zu verabschieden. Insgeheim hoffte ich, dass sich vielleicht Jacob blicken lassen würde. Wie gerne hätte ich ihn noch einmal gesehen, bevor wir dann für immer Forks verlassen würden, doch meine Hoffnung war sehr schwach und ich glaubte nicht wirklich daran, dass das geschehen würde. Viel zu schwer lastete die Bedrohung durch die Volturi auf unserer Freundschaft, als dass Jacob ein Wiedersehen riskieren würde.
Mom und Dad begleiteten mich auf meinen Spaziergang. Es war ein schöner Sommertag auf der Olympic-Halbinsel, das heißt, es waren dicke Wolken am Himmel, aber es regnete nicht.
Wir gingen gemütlich durch
den Wald. Ich streifte mit den Fingern über die wild wachsenden
Farne, beobachtete das Gewusel auf einem Ameisenhügel und
lauschte den Vögeln, die zwitschernd zwischen den Zweigen der
Bäume saßen, zumindest so lange sie uns nicht bemerkt
hatten. Spätestens dann verstummte ihr Gesang sofort oder sie
flogen aufgeschreckt davon.
Nach einer guten Stunde Spaziergang, sah ich etwas Unerwartetes. Ich ließ gerade meinen Blick umher streifen, um mir alles genau einzuprägen, damit ich diese Erinnerung sicher mitnehmen konnte, da bemerkte ich plötzlich, vielleicht dreihundert Meter entfernt, wie die Reflexion von zwei karamellfarbenen Augen durch das Unterholz schimmerte. Es waren die Augen eines Wolfes, den ich nur zu gut kannte. Es waren Seths Augen. “Er will sich von mir verabschieden!”, schoss es mir durch die Gedanken und große Freude machte sich in meinem Herzen breit, das gleich anfing, noch schneller zu schlagen. Ohne zu zögern rannte ich auf ihn zu.
Seth bemerkte mich, erhob sich und meine Freude wurde noch größer, dass ich ihn gleich in den Arm nehmen konnte, doch dann drehte er sich plötzlich um und rannte vor mir weg.
Schlagartig war die Freude in meinem Herzen erloschen und macht der Verzweiflung platz. “Nein! Bitte renn’ nicht weg”, konnte ich nur noch denken und rannte ihm hinterher.
»Seth! Bitte warte. Ich will mich doch nur verabschieden!«, schrie ich ihm hinterher doch er lief unverändert schnell weiter.
Ich spürte das Adrenalin in meinem Körper. Die Muskeln meiner Arme und Beine brannten und die Verzweiflung in meinem Herzen ließ mir die Tränen in die Augen schießen.
»Seth! Bitte. Bleib stehen!«, rief ich noch mal mit leicht zittriger Stimme.
Er war einfach zu schnell für mich. Der Abstand wurde immer größer und mit jedem Meter wuchs die Trauer und die Hoffnungslosigkeit.
Meine Augen schienen überzulaufen und das Schluchzen in meiner Brust verhinderte, dass ich normal atmen konnte, um meine Muskeln mit dem benötigten Sauerstoff zu versorgen. Ich spürte, wie die Kraft meiner Beine nachließ und schließlich knickte ich ein und schrie nur noch ein verzweifeltes:
»Jacob, bitte!«
Nun saß ich auf den Waldboden und ließ meinen Tränen freien Lauf. Ich hatte keine Kraft mehr, um ihm noch länger hinterher zu laufen und keine Hoffnung mehr, ihn einholen zu können. Ich legte mich auf den Boden, vergrub mein nasses Gesicht in meiner Armbeuge und krallte meine Hände verzweifelt ins Moos.
Ein, Zwei Minuten lag ich so da und schluchzte vor mich hin, immer darauf wartend, dass Momma und Daddy kommen würden, um mich nach Hause zu tragen. Ein Zuhause, das ich aber nicht mehr hatte. Sie würden mich nicht nach Hause tragen können. Sie würden mich nur wegbringen können. Weg von diesem Ort, der doch trotz all der schönen Erinnerungen eben auch diese eine furchtbar schmerzhafte Trennung verkörperte.
Dann plötzlich spürte ich einen Stupser am Hinterkopf. Obwohl es sanft war, wusste ich, dass weder Momma noch Daddy mich so anstupsen würden. Ich hob den Kopf und wischte mit dem Ärmel über meine Augen und meinen verschwommenen Blick wieder zu schärfen. Dann sah ich, was mich da berührt. Seth saß direkt vor mir, den Kopf leicht zur Seite geneigt und schaute mich mit traurigen Augen an. Er winselte leise und ich setzte mich auf und versuchte dabei, mein Schluchzen abzustellen. Ich hätte ihn so gerne berührt, doch ich hatte noch viel größere Angst, dass er gleich wieder wegrennen würde, wenn ich die Hand nach ihm ausstreckte. Also saß ich nur da, sah ihn an und akzeptierte, dass ich im Moment nicht in der Lage war, den Fluss meiner Tränen zu stoppen.
Dann, ganz langsam, fast wie in einem Traum, kam Seth winselnd auf mich zu und legte seinen Kopf neben meinen auf meine Schulter. Übermannt von dem Gefühl, dass sein erdiger Geruch und die Berührung seines Fells auslöste, konnte ich mich nicht länger zurückhalten und legte meine Arme um seinen Hals und weinte vor mich hin.
»Danke Seth, … dass du … zurückgekommen bist«, flüsterte ich ihm schluchzend ins Ohr. »Sag meinem Jacob, … dass ich ihn … schrecklich vermisse. … Ich vermisse euch beide.«
Dann löste sich Seth aus meiner Umarmung, stupste mit seiner feuchten Nase gegen meine Wange und rannte wieder weg. Sechs Sekunden später hörte ich aus großer Entfernung das durchdringende Heulen eines Wolfes. Ich kannte diese Wolfsstimme nur zu gut. Es war das Heulen meines Jacobs. Es war seine Antwort auf meinen Abschiedsgruß, die meinen Augen eine weitere feuchte Welle entlockte, die meine Wangen hinab floss.
Etwa eine Minute später, ich nahm den leichten süßlichen Geruch meiner Eltern war, schaute ich zurück und sah sie in kurzer Entfernung von mir stehen, darauf warten, ob ich ihnen ein Zeichen geben würde, ob sie kommen oder dort bleiben sollten.
Ich sprang auf, rannte zu ihnen und sprang meiner Momma auf den Arm. Ich schlang meine Arme und Beine um sie und es war mir egal, wie albern das aussehen musste, wo ich doch größer als sie war. Ich vergrub mein Gesicht in ihrem Nacken unter ihren Haaren und schluchzte wieder etwas stärker, obwohl ich das jetzt wirklich nicht mehr wollte.
»Schscht, Sternchen. Alles wird wieder gut.«
Momma streichelte mir über den Kopf und ich spürte auch Daddys Hand, die über meinen Rücken streichelte und seine Lippen, die meinen Kopf küssten.
»Jacob vermisst dich
ebenfalls sehr, Liebling«, flüsterte mir Daddy sanft ins
Ohr. »Ich habe es ganz deutlich in den kollektiven Gedanken des
Rudels gehört. Er möchte, dass du weißt, dass er die
Hoffnung nicht aufgibt, dass es für euch ein Wiedersehen in
spätestens drei Jahren gibt.«
Und dann nach einer
kurzen Pause ergänzte er noch:
»Und er will, dass du
den Mut nicht verlierst. Er will, dass du aus deiner Zeit in
Schottland das Beste machst und dein Leben dort genießt. Tröste
dich mit dem Gedanken, dass die Chance auf ein Wiedersehen besteht,
aber lebe dein Leben, lerne neue Freunde kennen und habe Spaß
mit ihnen. Er wünscht sich nichts anderes für dich,
Schatz.«
Es tat so gut, was er zu mir sagte. Ich gab meiner Momma einen Kuss und löste mich von ihr, um mich auf Daddys Arm zu hangeln und meinen Kopf an seine Schulter zu drücken.
»Danke Daddy. Manchmal ist es doch gut, einen gedankenlesenden Vater zu haben«, sagte ich noch leicht schniefend zu ihm und drückte ihm einen langen Kuss auf die Wange.
Dann ging er mit mir auf dem Arm und meiner Momma an unserer Seite wieder zurück. Zurück zu den beiden Häusern, die ich bisher mein Zuhause nannte und die wir schon bald für lange Zeit verlassen würden.
Kaum angekommen, setzte ich mich gleich auf die Rückbank des Autos und Momma setzte sich zu mir, damit ich mich in ihren Arm kuscheln konnte. Es war immer so selbstverständlich, dass sie für mich da war, wenn ich sie brauchte und ich wusste gar nicht, wie ich ihr dafür jemals angemessen danken könnte. Natürlich war mir klar, dass sie mich einfach liebte und dass sie nie im Leben irgend eine Gegenleistung verlangen würde und es gibt kein schöneres Gefühl auf dieser Welt, als so geliebt zu werden, dennoch hatte ich den Eindruck, dass sie mir viel mehr geben würde, als ich ihr zurückgeben könnte.
Ich hörte noch Daddy, wie er sich mit Carlisle, Alice und Jasper unterhielt, auch wenn ich die Worte nicht richtig verstehen konnte. Da ich jedoch nur wenige Augenblicke später ein schönes Gefühl von Zuversicht verspürte, war mir klar, dass er sie über meinen erneuten Abschied informiert hatte und Jasper mir helfen wollte.
Ja, es war nicht nur für meine Momma selbstverständlich, dass sie immer für mich da war. Es war für die ganze Familie so.
Ich raffte mich auf, gab meiner Momma, die mich überrascht ansah, einen Kuss und stieg aus dem Auto aus und ging zu den andern vier. Ich musste jetzt einfach zu ihnen und sie alle sahen verwirrt zu mir.
»Danke, dass ihr alle immer für mich da sein, auch wenn ich euch so viele Probleme mache«, sagte ich mit nur noch leicht trauriger Stimme, da das Gefühl der Zuversicht, das mir Jasper schenkte, mich mehr und mehr beruhigte.
Natürlich sahen mich alle voller Mitgefühl an, doch ich war froh, dass sie nichts darauf erwiderten. Ich nahm Jasper in den Arm und drückte mich kurz an seine Brust und lächelte ihn dankbar an. Danach umarmte ich Alice, was irgendwie witzig war, denn ich war im Verhältnis zu Alice fast genauso viel größer, wie vorher Jasper größer als ich war. Danach umarmte ich auch noch Carlisle und dann wieder meinen Daddy. Auch Momma war ausgestiegen und hatte sich zu uns gesellt.
Nach höchstens einer Minute des Schweigens und Beisammenstehens meinte Carlisle schließlich, dass es an der Zeit wäre, aufzubrechen. Also ging ich mit meinen Eltern in den einen Mietwagen und die übrigen drei in den anderen. Als wir losfuhren, warf ich noch einen letzten wehmütigen Blick zurück auf das Haus und kuschelte mich dann wieder seufzend in den Arm meiner Momma.
Nach einer etwa zweistündigen Fahrt waren wir am Flughafen angekommen. Ich zog meine Koffer hinter mir her und ging mit meiner Familie zum Check In. Ich war bisher noch nicht sehr oft geflogen, doch ich wusste inzwischen, wie das abläuft. Meine bisherigen Flugreisen gingen letztes Jahr einmal nach New York, als mich Rosalie und Alice mit zur Fashion Week nahmen, dann einmal mit Mom und Dad nach Südamerika, wo wir zwei Wochen im Amazonas Regenwald mit Kachiri, Senna und Zafrina verbrachten. Einen Urlaub, an den ich mich gerne zurückerinnerte. Es war im Sommer, vor meinem dritten Geburtstag. Zafrina hatte sich so wahnsinnig gefreut mich zu sehen und es war einfach so schön zu wissen, dass ich in ihr eine Freundin hatte. Ja und dann noch ein Flug als Geschenk zu meinem zweiten Geburtstag nach Paris, wo wir eine Woche verbrachten und Museen und die zahlreichen Sehenswürdigkeiten besuchten.
Jetzt würde ich eine vierte Flugreise antreten. Diesmal jedoch eine ohne kurzfristigen Rückflug.
Als Emmett und Rosalie zu uns gestoßen waren, sprang ich auch den beiden entgegen, um sie in den Arm zu nehmen und mich auch bei ihnen dafür zu bedanken, dass sie immer für mich da waren. Die beiden verstanden natürlich nicht so genau, warum ich das machte und ich konnte es ihnen einfach nicht erklären. Also fragte ich sie, ob ich es ihnen zeigen dürfte, was sie mir erlaubten und dann nahm ich von jedem eine Hand, setzte meine Gabe ein und zeigte Em und Rose gleichzeitig meinen traurigen Abschied von Seth beziehungsweise Jacob und auch wie dankbar ich für das Mitgefühl und die Liebe meiner Familie war. Beide waren von meiner Übertragung so gerührt, dass auch ihnen gleich die Trauer ins Gesicht geschrieben stand, was vor allem Emmett sehr unangenehm war. Andererseits war Trauer am Flughafen nun ja nicht gerade eine Seltenheit. Jedenfalls nahmen sie mich fest in den Arm, was im Falle von Emmett nicht nur tröstend, sondern auch etwas schmerzhaft war. Das war in gewisser Weise aber auch von Vorteil, denn wenn man sich erst mal die Wirbelsäule wieder richten musste, war man doch irgendwie vom seelischen Schmerz abgelenkt, was, so merkwürdig wie das klingen mag, eine richtige Erleichterung war.
Dann gingen wir alle gemeinsam zum Flugzeug und machen uns auf die Reise in eine neue und mir gänzlich unbekannte Heimat.
Ich liebte das Gefühl, durch den Wald zu rennen, den weichen Boden unter den Pfoten zu spüren und die Gerüche der Natur durch meine Nase einzusaugen. Ich liebte die Geräusche des Windes in den Blättern der Bäume und das Zwitschern der Vögel. Ich liebte es, mich ganz meinen Instinkten hinzugeben, einfach nur “Wolf” zu sein, die unbändige Kraft zu spüren und das gleichmäßige Hämmern meines Herzens in meiner Brust zu fühlen. Doch mehr als alles zusammen, liebte ich das kleine Mädchen, das dabei auf meinem Rücken saß und ihr Hände tief in das Fell an meinem Hals vergraben hatte. Ihren kleinen Körper, der sich an mich anschmiegte. Ihr Lachen, wenn sie vergnügt und fröhlich war. Die Streicheleinheiten, die sie mir gewährte, als Belohnung für die Freude, die ich ihr schenken durfte. Dieser Traum, oder besser gesagt diese Erinnerung besuchte mich immer wieder im Schlaf. Doch mit dem Erwachen, kam auch immer die Erkenntnis, dass das alles jetzt vorbei war.
Vor gut dreieinhalb Jahren, wurde mir das Liebste in meinem Leben weggerissen. Verdammte, alte, ausgetrocknete Blutsauger. Warum nur war in ihren Augen die Welt nicht groß genug, als dass sie uns ein kleines Flecken hätten zugestehen können, auf dem ich mit Nessie glücklich sein dürfte? Warum nur musste der Frieden für mein Volk an diese grausame Bedingung geknüpft sein? Warum nur träumte ich jede Nacht von meinem kleinen Mädchen, das seit ihrer Geburt der Mittelpunkt meiner Welt war?
Nein, ich wollte nicht undankbar sein. Diese Träume waren das einzig wirklich Schöne, das es noch in meinem Leben gab. Wenn ich wach war, wusste ich, dass ich nicht bei ihr sein durfte, doch wenn ich schlief, wenn meine Fantasie die Regie übernahm, dann war ich ihr wieder nah. Dann hörte ich wieder ihr Lachen und spürte wieder ihre Hände. Ich wünschte, ich müsste nie wieder aufwachen, denn bei jedem Aufwachen schlug mir die Realität mit voller Kraft und ohne Gnade ihre Faust in den Magen und ließ mich spüren, dass ich sie so unendlich vermisste.
Es klopfte an meiner
Tür.
»Jacob! Du bist spät dran! Du kommst zu spät
zur Arbeit!«
»Ich habe heute frei!«
»Oh!
Entschuldige. Du hättest ja auch etwas sagen können.«
»Ja,
ja.«
Mein alter Herr tat immer noch so, als wäre alles in bester Ordnung, als wäre nichts passiert und als würde alles seinen gewohnten Gang gehen. Dabei wusste er doch genau, wie es mir wirklich ging. Alle wussten es. Alle die dabei waren, als Bella von ihrer Friedensmission zurückkam und uns informierte. Alle kannten den Preis, den ich bezahlen musste, doch alle versuchten darüber hinweg zu gehen und mich nicht daran zu erinnern. Also ob ich das jemals vergessen könnte.
Ich wusste, warum mein Vater so darauf bedacht war, dass ich nicht zu spät zur Arbeit kam. Es ging nicht darum, dass wir das Geld brauchten, auch wenn dem so war, sondern es ging darum, dass ich mich ablenkte. Den Job in Joeys Werkstadt in Port Angeles vor zwei Jahren zu bekommen, war tatsächlich das Beste, das mir passieren konnte. Ich stürzte mich in die Arbeit und vergaß zeitweilig den Schmerz in meiner Brust. Der strenge Geruch von Motoröl und Reinigungsmitteln überdeckte die Erinnerung an Nessies herrlich süßen Duft. Der Schmutz, die scharfen Kanten und rauen Oberflächen ließen mich hin und wieder die sanfte, weiche und reine Haut meines Engels vergessen. Ich konzentrierte mich auf die Arbeit, damit mich meine Erinnerungen nicht ständig einholten und ich machte Überstunden, so viele ich nur konnte, damit ich dann nur noch übermüdet in mein Bett fallen konnte, um wieder einen schönen Traum zu haben.
Natürlich hatte mein Rudel versucht mir zu helfen. Leah war unermüdlich bei ihren Versuchen, mich auf andere Gedanken zu bringen. Sie ließ keine Gelegenheit ungenutzt, um mich mit Belanglosigkeiten abzulenken. Einmal verstrickte sie mich in ein stundenlanges Streitgespräch über die Farben der Bäume. Die Farben der Bäume? Geht’s noch? Sie hatte herausgefunden, dass unser Volk früher einmal nicht einfach nur rot, grün, blau und so weiter kannte, sondern dass sie Namen für hunderte von verschiedenen Farbtönen hatten. Sie meinte, dass sie mir dieses Wissen unbedingt vermitteln müsste, ob ich das jetzt wollte oder nicht. Es war kaum auszuhalten. Nun ja, wenigsten wusste ich jetzt, dass die meisten Bäume hier einen quakarabraunen Baumstamm hatten.
Außerdem forderte sie mich ständig zu Wettrennen heraus, wohl wissend, dass sie nach wie vor einen Tick schneller war als ich. Dabei musste ich auch feststellen, dass es besser war, mich von ihr besiegen zu lassen, als mir dann die endlosen Reden darüber anzuhören, dass ich Angst vor ihr hätte, womit sie das ganze Rudel infizierte. Natürlich hätte ich dem ganzen einfach ein Ende setzen können und ihr den Blödsinn mit einem Leitwolfbefehl verbieten können, doch das wäre nicht richtig gewesen. So sehr sie mich auch nervte, so sehr half es mir auch, mich abzulenken und sie wusste das.
Abgesehen davon hatte sie auch hin und wieder wirklich gute Ideen. So brachte sie mich dazu, mit dem Rudel ein richtiges Kampftraining durchzuführen, was vor allem die Jüngeren restlos begeisterte. Das führte dann auch dazu, dass sich drei Nachwuchswölfe aus Sams Rudel meinem angeschlossen hatten, da er nichts davon hielt, mit ihnen zu trainieren. Mein Verhältnis zu Sam wurde dadurch etwas frostiger, was wiederum Leah auf die Palme brachte. Sie fluchte und schimpfte über Sams Ignoranz und ließ kein gutes Haar an ihm und nach einigen Wochen hatte ich das Gefühl, dass Sam ihr dadurch inzwischen nahezu egal war. Das führte letztendlich auch dazu, dass sie es schaffte, eine gewisse emotionale Distanz zu ihm herzustellen, so dass sie die Liebe, die sie früher einmal für ihn empfand, nicht mehr länger quälte. Im Endeffekt hatte es ihr sogar noch mehr gebracht als mir.
Auch Quil war mir eine sehr große Hilfe. Seine Prägung auf die kleine Claire war meiner auf Nessie so ähnlich. Keiner verstand mein Leid so gut wie er und manchmal lenkten mich auch seine glücklichen Gedanken an seine Claire von meiner Trauer ab, da sie auch meine schönen Erinnerungen in den Vordergrund schoben.
Seth jedoch litt tatsächlich mit mir, denn er vermisste es auch, mit den Cullens zusammen zu sein. Er mochte meine Nessie und ihre Eltern. Er war wohl außer mir der einzige Wolf, der die Vampire gerne hatte, wobei es bei ihm die freie Entscheidung war und keine Prägung. Anfangs hielt er auch den Kontakt für mich aufrecht, doch das war nicht wirklich gut. Wenn er in Nessies Nähe war, wenn er sie roch, ihre Stimme hörte oder sie gar berührte, dann zerriss es mich förmlich vor Sehnsucht. Nein, wir mussten das beenden. Ich gestattete ihm lediglich noch, sie aus größerer Entfernung zu beobachten. Anfangs stellte er sich dabei sehr ungeschickt an. Nessie hatte ihn häufig entdeckt und rannte auf ihn zu, doch es durfte einfach nicht mehr sein. Ich gab ihm den unbrechbaren Befehl, sich von ihr und den Anderen fern zu halten. Er musste vor ihr weglaufen, obwohl er das nicht wollte. Ich spürte sein Leid deswegen genauso wie mein eigenes, doch ihre Gegenwart durch Seth hindurch zu spüren war für mich unerträglich.
Nach einer Weile bekam er es aber immer besser hin und versteckte sich effektiver vor ihr. Selbst wenn ihr Blick in seine Richtung wanderte und es oft den Anschein hatte, dass sie ihn entdeckt hätte, war dem doch nicht mehr so. Sie ging einfach weiter ihrer Wege, Seth beobachtete sie und ich hatte daran Anteil, wenn ich in Wolfsgestalt war.
Wolfsgestalt! Dieses Wort hatte alle Positive verloren, dass es einmal für mich bedeutete. Nur die negativen Aspekte blieben erhalten und bekamen immer mehr Nahrung. Wäre ich kein Gestaltwandler, könnte ich mit Nessie zusammen sein. Wie sollte ich da diesen Teil von mir noch mögen können? Ich verwandelte mich nun noch selten. Nur noch einmal in der Woche für eine Stunde und nur deshalb, weil ich nicht altern wollte. Nessie würde auch nicht älter werden, wenn sie erst mal sieben war. Dann würde sie auf ewig den Körper einer Siebzehnjährigen haben. Nun ja, jünger konnte ich nicht werden, aber wenigsten zwanzig bleiben. So würden wir gut zusammenpassen, wenn es denn jemals ein wir geben sollte, doch ich war nicht bereit, die Hoffnung aufzugeben. Noch nicht. Außerdem musste ich nicht auf die Altersschwäche warten, wenn es tatsächlich keine Hoffnung mehr geben würde.
Zu Beginn der Trennung, vor dreieinhalb Jahren, war ich noch oft als Wolf unterwegs. Ich suchte die aufbauenden Gedanken meines Rudels, um durch sie etwas Trost zu finden, doch stattdessen belastete ich sie alle mit meiner Trauer. Den Jüngsten meines Rudels wurde es mit der Zeit nahezu unerträglich. Sie waren kaum aus der Pubertät und hatten keine Ahnung von der Liebe und lernten durch mich nur den furchtbarsten Aspekt davon kennen. Abgesehen davon waren wir nicht mehr in Gefahr und es kamen praktisch keine Blutsauger mehr in unser Revier. Da war es nur logisch, dass ich schließlich vor zwei Jahren allen Minderjährigen den Leitwolfbefehl erteilte, sich nicht mehr in Wölfe zu verwandeln, bis sie erwachsen waren. Es galt nur die Ausnahme, dass sie es im Falle eines Angriffes durch einen Vampir dürften, doch das war im Grunde ausgeschlossen. Das gefiel ihnen zwar nicht, doch darauf konnte ich keine Rücksicht nehmen. Sie waren Kinder und sie sollten sich wie solche verhalten und aufwachsen. Das Leben und die Welt würden ihnen aus so noch genug Leid zufügen. Dafür müssten sie nicht selbst sorgen und schon gar nicht meine Hilfe dabei beanspruchen. Sam machte es bei seinem Rudel genauso und dadurch verbesserte sich auch wieder unsere Beziehung zueinander.
Nur Seth flehte mich an, ihm nicht den Leitwolfbefehl zu erteilen. Nicht etwa, weil er nicht erwachsen werden wollte, sondern um die Cullens auch weiterhin beobachten zu können. Ich verstand zunächst wirklich nicht, warum er sich das antun wollte. Er verspürte auch den Schmerz der Trennung und doch beobachtete er sie immer und immer wieder. Aber er schöpfte daraus auch Zuversicht, wie ich später erst bemerkte. Zu sehen, wie mein kleiner Halbvampir älter wurde, gab der Hoffnung auftrieb, dass Carlisle vielleicht recht haben könnte und es eine Möglichkeit für uns gab. So blieb Seth unbemerkt in ihrer Nähe und erzählte mir, wie sie heranwuchs und wie aus meinem kleinen Mädchen inzwischen ein hübsche, wenn auch noch sehr junge Frau wurde. Natürlich konnte ich nicht direkt durch seine Augen sehen, denn ich hörte ja nur seine Gedankenstimme, aber er beschrieb sie mir immer sehr genau. Ab und zu, vielleicht zwei Mal im Jahr, wenn mein Trennungsschmerz unerträglich stark wurde, wagte ich mich dann selbst nahe genug an sie heran, um sie mit eigenen Augen sehen zu können, ohne zu riskieren, dabei entdeckt zu werden. Nur kurz. Nur für einen Augenblick, doch das genügte, um mir ihren veränderten Anblick einzuprägen.
Ich hatte auch ein paar Fotos von ihr, die mir Charlie schenkte. Doch diese Bilder waren kein adäquater Ersatz für ihren tatsächlichen Anblick. Kein Fotoapparat, egal wie gut und hochauflösend er war, könnte die tatsächliche Schönheit meiner Nessie einfangen und auf ein Stück Fotopapier bannen. Nichts konnte wirklich den zarten und unvergleichlichen Schimmer ihrer makellosen Haut abbilden.
Sie sah jetzt schon aus wie mindestens 15 und ihre neu entwickelte Weiblichkeit veränderte auch immer mehr die Sehnsucht, die ich nach ihr verspürte. Seit sie in die Pubertät kam und sich ihr Aussehen so deutlich wandelte, verspürte ich auch den stärker werdenden Wunsch nach körperlicher Nähe, nach Intimität. Als dieses Verlangen zum ersten Mal in mir aufkam, da hasste ich es. Sie war doch noch ein halbes Kind und ich hatte das Gefühl, total gestört zu sein und den Verstand zu verlieren. Erst später wurde mir bewusst, dass ich mich ihr trotz ihrer Anziehungskraft, die sie auf mich ausübte, niemals auf diese Weise nähern würde, so lange sie körperlich und geistig nicht dazu bereit war. Es war mir zwar ohnehin nicht erlaubt, doch die Gewissheit, dass ich ihr niemals schaden könnte und niemals etwas mit ihr gegen ihren Willen tun könnte, beruhigte mich und erlaubte mir, diesen neuen Teil meiner Prägung nach und nach zu akzeptieren.
Doch anfangs war mir das nicht möglich. Ich wollte fliehen. Ich wollte vor mir selbst weglaufen. Ich erinnerte mich an meine Flucht, als ich Bella verloren hatte und ich hoffte, dass mir das auch bei Nessie gelingen könnte. Warum auch nicht? Ich dachte, ich könnte doch einfach fünf-sechs Jahre lang als Wolf leben und mich nur auf meine Instinkte verlassen. Ich könnte mein Bewusstsein ausblenden und nur vor mich hin leben, bis mein Leben wieder einen Sinn erhalten würde. Also verwandelte ich mich und lief einfach drauflos. Ich rannte 100 Meilen ohne Unterbrechung, bis es mir gelang, meinen Verstand vollkommen auszuschalten und dem Wolf in mir die volle Kontrolle zu überlassen.
Was für ein Desaster! Nicht im Traum hatte ich damit gerechnet, dass meine Prägung auf den kleinen Engel so eng mit meinem Wesen verbunden war, dass ich in diesem Wolfsmodus nichts anderes mehr empfinden konnte, als die Sehnsucht nach ihr. Jede Zelle meines Körpers wollte sie. Jedes einzelne Haar vermisste so unendlich schmerzhaft ihre Berührung. Die Wucht, mit der mich diese Erkenntnis traf, riss mich völlig aus dem Gleichgewicht. Ich konnte keine Sekunde länger ein Wolf bleiben und verwandelte mich zurück. Dann brauchte ich zwei Tage, bis ich wieder zu Hause war.
Seit diesem Erlebnis verwandelte
ich mich nur noch widerwillig in einen Wolf und jagte nicht mehr in
Wolfsgestalt. Die Jagd war mir unerträglich geworden. Dazu
musste ich meinen Instinkten die Führung überlassen und das
in Kombination mit unserer Lieblingsbeute war einfach zu viel für
mich. Da wollte ich fortan lieber wie ein Mensch leben und so kam ich
dann auch auf die Idee, mir einen Job zu suchen. Nur am Wochenende
und auch nur für eine Stunde, verwandelte ich mich noch in einen
Wolf und dann auch meistens ohne die Anderen.
Heute würde eine Ausnahme sein. Heute war der Tag, an dem Nessie mit ihrer Familie wegziehen und Seth sie dabei beobachten würde. Ich würde indirekt dabei sein und alles durch seine Gedanken miterleben. Es wird in mehrfacher Hinsicht ein Abschied werden. Für Seth wird es bedeuten, dass er nun ebenfalls in menschlicher Gestalt bleiben muss, da es keinen Grund mehr für ihn gab, die Wolfsgestalt anzunehmen. Ich würde es ihm befehlen, wenn er es nicht freiwillig machte, doch er hatte sich damit schon abgefunden. Das Wissen, dass Nessie weggeht, zerriss mich wieder innerlich. Ein Teil von mir, derjenige, der sich so sehr nach ihrer körperlichen Nähe sehnte, der hasste den Abschied und wollte alles tun, um es zu verhindern. Doch der Teil von mir, der Nessie bedingungslos und aufrichtig liebte, der wünschte sich nur, dass sie ihr Leben genießen konnte und dass sie in ihrer neuen Heimat Freunde fand, neue Erfahrungen machte und glücklich würde. Dieser Teil von mir, war der weitaus stärkere und nur deshalb würde ich es überhaupt ertragen können, ihr beim Weggehen zuzusehen. Den anderen Teil von mir musste ich in mir wegsperren und mich auch von ihm verabschieden, so lange es nur geht.
Bei diesen Gedanken fiel mein Blick auf eine Schnitzerei, die ich vor einiger Zeit angefangen hatte, um sie Nessie zum Geburtstag zu schenken, doch ich werde ihr dieses Geschenk nicht machen können. Ich hatte dem falschen Teil von mir gestattet, das Motiv auszuwählen. Es zeigte mich in menschlicher Gestalt, wie ich meine süße kleine Freundin im Arm halte und wie wir uns küssen. Oh ja, dieser Teil von mir sehnte sich mit aller Kraft nach genau dem, was so undenkbar war. Nur in meinen Träumen erlaube ich mir, das zuzulassen und nur wegen meiner Träume, war das Motiv fest eingebrannt und schnitzte sich wie von selbst in den Holzblock. Ich würde nichts unverfängliches mehr schnitzen können und deshalb würde ich ihr auch nichts Persönliches mehr schenken können. Ich hatte das ohnehin viel zu lange getan. Es war mir noch immer ein Rätsel, wie ich mich von Charlie überhaupt dazu überreden lassen konnte, meiner Nessie jedes Jahr zum Geburtstag und zu Weihnachten solch ein Geschenk zu machen. Waren sie nicht Ausdruck der Beziehung zu ihr, die mir verboten war? Half es ihr denn wirklich, zwei Mal im Jahr so an mich erinnert zu werden?
Gut, die Volturi würden wohl nicht wegen ein paar Holzfiguren kommen und alle umbringen, aber was wusste ich schon von der Denkweise dieser verkommenen alten Blutsauger. Nur in einem Punkt war ich mir sicher. Die Volturi würden uns im Auge behalten. Vor allem jetzt, da die größte Gefahr bestand, dass diese eine Bedingung unseres Abkommens gebrochen werden könnte, doch das würde ich niemals zulassen.
Es war auch kein Bauchgefühl, dass sie uns beobachten würden. Nein, es war Gewissheit. Sie schickten keine Vampirspione, denn dann hätten sie das Abkommen ja gebrochen. Stattdessen schickten sie Menschen. Sie waren hier so fremd und fehl am Platz, dass es überdeutlich war, was sie hier machten. Ich hatte schon gehört, dass die Volturi auch Menschen in ihren Diensten hatten, die auf die “Belohnung” hofften, verwandelt zu werden, doch wollte ich es eigentlich nicht wahrhaben. Dennoch waren sie hier und beobachteten uns und wir konnten nichts dagegen machen. Sie waren Menschen und wir beschützten die Menschen, egal wie bescheuert sie waren. Im Grunde wollten wir auch nicht verhindern, dass sie uns beobachteten. Sie sollten ruhig sehen und berichten, dass wir unseren Teil der Abmachung erfüllten. Es war natürlich unangenehm, so observiert zu werden, doch es war auch zweckdienlich.
So gesehen war es sogar gut,
dass mein kleiner Schatz schon bald auf der anderen Seite des
Atlantiks ein neues Zuhause haben würde. Die Volturi hätten
dann keinen Grund mehr, uns zu überwachen. Außerdem würde
das den problematischen Teil von mir hoffentlich zur Ruhe bringen und
wenn nicht, konnte er wenigstens keinen Schaden mehr anrichten.
Ich seufzte. Eigentlich hatte ich gehofft, heute länger schlafen zu können, doch daran war jetzt nicht mehr zu denken. Also stand ich auf, frühstückte, verabschiedete mich für den Tag von meinem Vater und verließ das Haus. Irgendwann würde ich mir ein eigenes Haus bauen und endlich aus diesem kleinen Käfig ausziehen. Dafür sparte ich mein Geld. Ein eigenes Haus, das groß genug für einen zwei Meter großen Mann und seine große Liebe war. Es sollte ein Blockhaus sein. Etwas abgelegen in mitten der Natur, an einem Ort, wo wir für alle Zeit glücklich miteinander leben könnten, wenn uns dieses Leben überhaupt vergönnt war. Dieses Haus musste also noch zwei bis drei Jahre warten, bis es gebaut werden dürfte, denn wenn die Liebe keine Chance erhalten sollte, dann würde es dieses Haus auch niemals geben.
Ich ging durch das Reservat zu den Clearwaters. Wenn Seth bereits ausgeschlafen war, könnte ich mir wenigsten mit ihm etwas die Zeit vertreiben. Ich klopfte an uns Sue öffnete mir die Tür.
»Oh, guten Morgen Jacob.
Du hier? Musst du nicht arbeiten?«
»Nein, ich habe
heute frei genommen.«
»Natürlich. Wie dumm von
mir. Charlie hat mir erzählt, dass sie heute wegziehen werden
und Carlisle hatte sich auch schon beim Rat verabschiedet. …
Du willst dich wirklich von ihr …?«
»Nein,
keine Sorge. Ich werde nichts tun, was das Abkommen gefährden
könnte. Ich werde ihr nicht begegnen. Seth wird sie
beobachten.«
»Ja, ich verstehe. Dann willst du zu
Seth? Er schläft allerdings noch. Soll ich ihn wecken?«
»Nein,
nein, ist nicht nötig. Wir haben Zeit. … Wie geht es
Leah?«
»Gut. Sie hatte gestern angerufen. Sie hat sich
inzwischen richtig eingelebt in Portland. Es gefällt ihr dort
gut und ich glaube, sie ist sehr glücklich mit ihrem Freund.«
Ich nickte und lächelte sie an. Es freute mich für Leah, dass sie einen Freund gefunden hatte. Einen Basketballspieler bei den Portland Trail Blazers. Sie war jetzt schon seit einem Jahr mit ihm zusammen und ich musste sie regelrecht dazu zwingen, mit ihm zusammenzuziehen. Sie wollte mich nicht alleine lassen und das rechnete ich ihr auch hoch an, aber sie liebte ihn, das hatte ich deutlich im Rudelkollektiv gehört. Wie hätte ich es da zulassen können, dass sie auf ihre Liebe verzichtete, um mich in meinem Kummer zu trösten? Das war undenkbar. Ich sagte ihr, dass sie zu ihm gehen und mit ihm glücklich werden sollte. Dass sie aufhören sollte, die Wolfsgestalt anzunehmen und dass ich es ihr befehlen würde, wenn sie weiterhin so störrisch wäre. Schließlich fügte sie sich endlich und nun lebte sie seit einem halben Jahr bei ihrem Christopher. Es wäre gelogen, würde ich behaupten, dass ich sie nicht vermisste, aber ich gönnte ihr dieses Liebesglück von ganzem Herzen, egal ob mir meines verwehrt blieb oder nicht.
Ich verabschiedete mich von Sue, und ging ein wenig am Stand spazieren. Oft kam ich nicht hierher. Zu viele Erinnerung. Gut, hauptsächlich Erinnerungen, die Bella betrafen und nicht sonderlich schmerzlich waren, aber alles was mich an Bella erinnerte, brachte auch Nessie in mein Bewusstsein. Außerdem war Quil häufig mit seiner Claire hier und nichts ließ mich stärker spüren, was ich verloren hatte, als der Anblick von Claire auf Quils Schultern. Es war zum Haare raufen. Ich liebte meinen kleinen Schatz so sehr und doch versuchte ich alles zu vermeiden, was mich an sie erinnern könnte, doch das war ein hoffnungsloses Unterfangen.
Wenigsten begegnete mir nicht Paul mit meiner Schwester Rachel. Zu sehen, wie er mit der Frau, auf die er geprägt wurde, zusammen leben durfte, war grausam, auch wenn ich meiner Schwester das Glück gönnte. Wenigstens waren sie inzwischen zusammengezogen und sie wohnte nicht mehr bei uns. So blieb mir der Anblick weitestgehend erspart.
Mein Spaziergang, den ich eigentlich gar nicht machen wollte, dauerte dann doch mehrere Stunden. Für heute war es ohnehin sinnlos, nicht an Nessie denken zu wollen. In kürze würde ich sie wohl zum letzten Mal sehen und ich würde sie noch nicht einmal mit eigenen Augen sehen. Seth würde dieses zweifelhafte Vergnügen haben und ich war ihm dankbar dafür, dass er es auf sich nahm. Ich hätte weder Quil noch Embry und schon gar nicht einen anderen aus dem Rudel danach fragen können, wobei die Anderen ohnehin fast alle Kinder waren und sich nicht mehr verwandeln durften.
»Hey Chef, alles
klar?«
»Na? Endlich ausgeschlafen Seth? Manchmal frage
ich mich, ob du wirklich ein Wolf bis oder ein Murmeltier.«
»Ha,
ha. Sehr witzig. Was kann ich denn dafür, dass ich so einen
gesunden Schlaf habe.«
»Ja, das wüsste ich auch
gerne. Im Grunde beneide ich dich darum.«
»Ach komm
schon, Nummer 1. Lass’ dich nicht hängen. Sie wird schon
bald fünf. Der Umzug ändert nichts daran, dass sie auch
weiterhin älter wird. In etwas mehr als zwei Jahren wird sich
vieles klären und dann kannst du sie wieder in deine Arme
schließen.«
Seth konnte manchmal sehr einfühlsam sein, trotz seiner direkten und nervigen Art. Ein Charakterzug, den ich im Laufe der Jahre sehr zu schätzen gelernt hatte. Er war ein guter Freund und weit mehr als nur ein Mitglied meines Rudels. Außerdem war er ja das erste Mitglied meines Rudels. Auch wenn er sich mir damals praktisch aufgezwungen hat, so wüsste ich nicht, was ich inzwischen ohne ihn täte.
»Ich wünschte, ich
hätte deine Zuversicht, Seth.«
»Es reicht wenn du
die Hoffnung hast und an ihr festhältst.«
»In gut
zwei Jahren«, seufzte ich.
»In gut zwei Jahren!«,
bestätigte er voller Überzeugung.
»Na, vielleicht
hast du bis dahin auch einen ordentlichen Bartwuchs«, versuchte
ich die Stimmung wieder etwas aufzulockern und mich selbst
abzulenken.
»Ja, toll. Ich freu’ mir schon ein Loch
ins Knie, dass ich die nächsten zwei Jahre wieder “Kind”
sein darf. Ich kapiere sowieso nicht, was die Cullens nur immer mit
ihrer Schule haben. Warum tun die sich das an? Die müssen das
doch nicht machen. Die haben doch alles im Leben. Durchgeknalltes
Vampirpack.«
Wir lachten herzlich. Es tat gut, mit Seth zu lachen. Mir war nur selten zum Lachen zumute und wenn doch, dann hatte er meistens einen großen Anteil daran.
»Wollen wir uns langsam
auf den Weg machen? Meine Mom hat gerade mit Charlie telefoniert, sie
waren schon bei ihm, um sich zu verabschieden. Kaum zu glauben, dass
unser Chief bei meiner Mom anruft, um sich den Kummer von der Seele
zu reden und sie hat sich prompt auf den Weg zu ihm gemacht.«
»Hey,
gönnst du deiner Mom etwa nicht, dass sie und Charlie
zusammengekommen sind?«
»Ach was, aber wenn das so
weitergeht, dann heiraten die noch. Und ich will kein “Swan”
werden. Ich bin ein Wolf und kein Schwan.«
»Ich weiß
nicht… den Flaum an deinem Kinn könnte man auch für
Federn halten.«
»Man. Seit vier Jahren machst du dich
über meinen Bartwuchs lustig. Wird das nicht langsam
langweilig?«
»Nee, denn seit vier Jahren regst du dich
darüber auf und das ist einfach köstlich.«
Wir lachten wieder zusammen und dann machten wir uns tatsächlich auf den Weg. Aber nicht zusammen. Wir trennten uns. Seth würde in Richtung der Cullens laufen und ich genau entgegengesetzt. Die Entfernung spielte bei der Wolfskommunikation schließlich keine Rolle, aber je weiter ich weg war, desto geringer das Risiko, meiner Nessie doch selbst zu begegnen. Also verabschiedeten wir uns voneinander, verwandelten uns und rannten los.
Schon nach ein paar Minuten hatte wir einige Meilen Abstand zwischen uns gebracht und es dauerte auch nicht mehr lange, da nahm Seth auch schon ihre Nähe war.
“Hey, was machen die den
hier!”
“Verdammt, Seth. Pass’ doch auf. Los
versteck’ dich.”
“Ja Chef. … Wo verstecke
ich mich denn am besten? … Ah, ja. Da ist gut. Ein schöner
dichter Busch. … Verdammt sind die nah. Das sind doch
höchstens 300 Meter.”
“Jetzt verhalte dich
ruhig.”
“He, ich rühr’ mich doch gar nicht.
Ich werde ja wohl denken dürfen, oder?”
“Dann
denk’ wenigstens etwas Konkreteres. Was siehst du?”
“Was
werde ich wohl sehen? Edward, Bella und Nessie natürlich. Edward
hat mich natürlich schon längst entdeckt. Sorry Ed. Es war
nicht geplant, euch so nahe zu kommen. Ich hoffe, dein Mädchen
entdeckt mich nicht. Man sieht die kleine wieder süß aus,
dabei wirkt sie so melancholisch, wenn sie sich im Wald umsieht und
hier und da einen Farn streichelt. Ah! Ich verstehe. Ein
Abschiedsspaziergang. …Verflucht!”
“Was ist
los, Seth?”
“Sie hat mich entdeckt und … oh so
ein Mist. … Sie kommt auf mich zu gerannt.”
“Das
darf doch nicht wahr sein Seth. Los, verschwinde da.”
“Oh
man, Jake. Du hast ja keine Ahnung, wie sie mich gerade angelächelt
hat. So ein verdammter Mist.”
»Seth! Bitte warte. Ich
will mich doch nur verabschieden!«
“Hast du das
gehört, Jake? Oh bitte. Lass’ mich doch kurz stehen
bleiben.”
“Das macht doch alles nur noch schlimmer.
Los lauf schneller.”
»Seth! Bitte. Bleib stehen!«
“Oh
Gott, Jacob. Hörst du das denn nicht? Jetzt komm schon. Nur ein
kurzer Abschiedsgruß.”
“Man Seth, das geht doch
nicht. Wir haben das doch jetzt schon seit fast drei Jahren
hinbekommen. Warum nur musste sie dich ausgerechnet heute
sehen?”
“Ich hab’ das doch nicht mit Absicht
getan.”
»Jacob, bitte!«
“Was? Warum
ruft sie denn mich? Seth, was ist da passiert?”
“Woher
soll ich das wissen. Du hast mir befohlen, vor ihr wegzurennen. Ich
habe keine Augen am Hinterkopf.”
“Verdammt noch mal,
du machst mich wahnsinnig. Bleib stehen und sieh nach ihr”,
sagte ich mit der Doppelstimme eines Leitwolfs und Seth machte kehrt.
“Oh Gott, Jacob. Sie liegt
auf dem Boden und weint. Ich halt’ das nicht aus. Bitte, jetzt
ist es doch eh schon zu spät. Lass’ mich weggehen.”
“Ich
… ich … kann nicht. … Was siehst du
Seth.”
“Warum tust du mir das an? Ich hab’ sie
doch auch gerne. Warum zwingst du mich dazu?”
“Weil ..
ich nicht anders kann … und jetzt sage mir, was du
siehst.”
“Sie liegt auf dem Waldboden, das Gesicht in
ihre Armbeuge gedrückt. Ich höre wie sie schluchzt und
weint. Ihre Hände sind in den Boden gekrallt. Ihr ganzer Körper
bebt von ihrer ruckartigen Atmung. Bitte Jake, lass’ mich
gehen.”
Seths Gedankenstimme hörte sich nicht weniger traurig an, als das, was er mir beschrieb, doch ich konnte ihn einfach nicht gehen lassen.
“Wo sind Bella und
Edward?”, wollte ich wissen.
“Ich weiß es nicht.
Sie halten sich wohl zurück. Vielleicht … wollen sie
zulassen, dass ich mich verabschiede? Ich bin sicher, dass Ed. mich
hören kann.”
“Dann geh’ zu ihr und sag mir,
was passiert, hörst du?”
“Wie sollte ich die
Stimme meines Alphas nicht hören können? Ich gehe zu ihr …
bin schon fast da … oh man, ihr schluchzen zerreißt mir
das Herz. … Ich bin jetzt direkt neben ihr, Jake, doch sie hat
mich noch nicht bemerkt.”
“Dann gib ihr einen kleinen
Stups, aber sanft. Klar?”
“Für was hältst du
mich denn? … so … oh man Süße, sieh mich
doch nicht so traurig an.”
Seths Gedankenstimme wurde von einem echten winseln begleitet und die Trauer, die er zum Ausdruck brachte, war kaum zu ertragen.
“Sie sieht mich einfach
nur an Jacob. Sie hat sich das verweinte Gesicht mit dem Ärmel
abgewischt und versucht sich zu beruhigen, aber es kullern ständig
neue Tränen aus ihren Augen.”
“Dann tu doch
etwas, um sie zu trösten.”
“Das ist nicht dein
Ernst!?”
“Doch das ist es!”, sagte ich mit
meiner Doppelstimme.
“Du bist gemein. … Ich gehe
näher an sie ‘ran. … Sie rührt sich nicht. …
Ich lege jetzt meinen Kopf auf ihre Schulter.”
Seths Gedankenstimme wurde immer noch von einem echten Winseln begleitet, doch ich konnte ihn nicht gehen lassen. Noch nicht.
“Oh man. Bitte
nicht.”
“Was ist los, Seth? Was ist passiert?”
“Sie
hat die Arme um mich gelegt und drückt mich und schluchzt mir
dabei in die Ohren.”
»Danke Seth, … dass du …
zurückgekommen bist. … Sag’ meinem Jacob, …
dass ich ihn … schrecklich vermisse. … Ich vermisse
euch beide.«
“Oh man, Kleines. Du Liebe meines Lebens.
Du mein Ein und Alles. Du hast ja keine Ahnung, wie ich dich erst
vermisse. Du darfst die Hoffnung nicht aufgeben, Nessie. Es wird ein
Wiedersehen in spätestens drei Jahren geben. Sei tapfer. Mache
aus deiner Zeit in Schottland das Beste und genieße dein Leben.
Tröste dich mit der Hoffnung auf ein Wiedersehen, aber lebe dein
Leben. Lerne neue Freunde kennen und habe Spaß mit ihnen. Du
bist viel zu süß, um so traurig zu sein. Ich werde jeden
Tag an dich denken. … Edward mein Bruder. Wenn du das gehört
hast, dann sag es ihr bitte. Ich brauche dich wohl nicht darum zu
bitten, gut auf sie aufzupassen. Ich hoffe ihr habt ein schönes
Leben in eurer neuen Heimat. … Seth, jetzt verabschiede dich
von ihr. Geh’ nach Hause. Es tut mir leid, dass ich dich dazu
gezwungen habe. Wir reden später.”
“Mach’s
gut Nessie. Wir werden uns wieder sehen.”
Ich hörte noch Seths
schnelle Schritte und wusste, dass dies nun der endgültige
Abschied war. Ich konnte meiner Trauer nicht mehr widerstehen und
ließ ein lautes Heulen erklingen. Dann verwandelte ich mich
wieder in einen Menschen, setzte mich auf den Boden und ließ
meinen Tränen freien Lauf.
Ich wusste nicht, wie lange ich dort gesessen war. Die Sonne stand inzwischen im Westen am Horizont und tauchte die Landschaft allmählich in ein abendliches Orange. Meine Tränen waren aufgebraucht, doch die Trauer noch lange nicht verschwunden. Ich war müde und erschöpft. Also raffte ich mich auf, zog mir meine Shorts an und ging nach Hause.
Zwei Stunden später, es war
inzwischen dunkel und die kalte Luft belebte mich etwas, kam ich zu
Hause an. Ich begrüßte kurz meinen Dad, der mir mitfühlend
und verständnisvoll zunickte, aber glücklicher weise nicht
versuchte, mir ein Gespräch aufzuzwingen. Dann ging ich in mein
Zimmer. Natürlich fiel mir sofort die neue Figur in die Augen,
die ich fast fertig geschnitzt hatte. Ich nahm sie in die Hände
und streichelte der kleinen Nessie über den Kopf. Die Skulptur
war fast perfekt. Nur die Gesichter bekam ich einfach nicht richtig
hin. Ich holte mein Schnitzwerkzeug und machte mich wieder an die
Arbeit. Jetzt konnte ich ohnehin nicht schlafen und ich hatte große
Angst vor dem, was ich jetzt träumen würde. Nein, bevor ich
nicht vollkommen übermüdet war, würde ich mich nicht
ins Bett legen. Ich hatte mir vorsorglich ja auch für morgen
freigekommen und dann war Wochenende. Genug Zeit, hoffte ich
zumindest, um mein Leben wieder in die richtige Spur zu lenken.
Drei Stunden später war ich mit meiner Holzfigur weitestgehend zufrieden. Besser würde ich sie nicht hinbekommen. Ich stellte sie wieder auf ihren Platz, betrachtete sie und spürte, wie sich erneut Tränenflüssigkeit in meinen Augen sammelte. Ich konnte sie nicht mehr ansehen. Was hatte ich mir da nur selbst angetan? Warum nur musste ich etwas herstellen, das mich selbst so grausam an genau das erinnerte, das ich nicht haben durfte? Für einen kurzen Moment dachte ich daran, die Figur zu zerschlagen und ins Feuer zu werfen, doch dieser Gedanke war mir noch unerträglicher. Ich konnte sie nicht zerstören und ich wollte sie auch nicht behalten. Sollte ich sie vielleicht doch meiner Nessie schenken? Ich konnte das nicht alleine entscheiden, aber ich hatte eine Idee.
Ich setzte mich an meinen Schreibtisch und begann einen Brief zu schreiben. Einen Brief an Nessie, in dem ich ihr genau beschrieb, wie sehr sich jede Faser meines Körpers nach ihr sehnte. Wie sehr ich sie vermisste, wie sehr ich unter der Trennung litt. Wie groß die Liebe war, die ich für sie empfand und wir sehr ich mir deshalb für sie wünschte, dass sie glücklich wird.
Dieser Brief hörte sich so gar nicht nach mir an. Er zeigte mein innerstes, das ich immer vor der Welt zu verbergen suchte. Nur mein Rudel kannte einen Teil davon, wenn ich meine Gedanken nicht mehr beherrschen konnte und sie an meinen Leid beteiligte, obwohl ich das nicht wollte. Doch jetzt schrieb ich mir alles von der Seele und als ob dieses Dokument ein Echtheitszertifikat benötigt hätte, tropften zwei Tränen auf das Papier.
Ich legte den Brief auf die Seite zu der Schnitzerei, wischte mir das Gesicht ab, holte einen neuen Bogen Papier hervor und begann erneut zu schreiben.
“Liebe Bella. Meine gute Freundin,
ich schicke dir mit diesem Brief ein Geschenk für Nessie. Ich weiß nicht, ob es richtig oder falsch ist, ihr diese Figur zu schenken. Ich weiß nur, dass sie Ausdruck dessen ist, was ich empfinde. Ich habe auch einen Brief für sie dazugelegt, in dem ich versuchte, das Gleiche auch mit Worten auszudrücken, doch ich bin nicht sonderlich gut darin.
Von ganzem Herzen wünsche ich mir, dass sie mit euch in eurer neuen Heimat glücklich wird und dass sie ihr Leben dort in vollen Zügen genießen kann. Doch ich will auch die Hoffnung nicht aufgeben, eines Tages Teil dieses Lebens zu werden. Das, was ich mir wünsche, drücken diese Figur und der Brief aus. Ich kann nicht entscheiden, ob es das Beste ist, wenn sie es weiß oder nicht. Es tut mir leid, dass ich nun dir diese Entscheidung aufzwingen muss. Gib sie ihr, wenn du der Meinung bist, dass es das Richtige ist oder lass es, nur bitte, schick sie mir nicht zurück. Das könnte ich nicht ertragen.
Ihr habt auf ewig einen Platz in meinem Herzen und ich hoffe, dass es euch gut ergeht und dass wir uns eines Tages unter fröhlicheren Voraussetzungen wieder sehen.
Bis dahin, lebe wohl.
Jacob.”
Ich nahm die Figur, wickelte sie vorsichtig in ein Tuch ein und packte sie in eine Schachtel. Ich legte den Brief für Nessie dazu und verschnürte das kleine Päckchen. Den Brief für Bella schob ich oben drauf unter die Schnüre und fixierte ihn. Morgen würde ich zu Charlie gehen und ihn bitten, das Geschenk an Bellas neue Adresse zu schicken. Damit würde ich hoffentlich einen Abschluss finden und mich wieder meinen Leben zuwenden, das nur darin bestand, mich von dem abzulenken, was da in dem Paket lag. Keine rosigen Aussichten, doch auch kein Zustand für die Ewigkeit. In zwei bis drei Jahren würde es ein Ende haben. So oder so.
Nach einem rund 17-stündigen Flug inklusive zweier Zwischenstopps von jeweils etwa einer Stunde, von denen ich aber im Schlaf nicht viel mitbekam, landeten wir schließlich in Glasgow. Interessanter Weise kamen wir mit nur einer Stunde unterschied zur fast gleichen Ortszeit an, zu der wir abgeflogen waren. Meine neue Heimat hatte mir also schon mal acht Stunden meiner Lebenszeit gestohlen, was sie mir nicht gerade sympathischer machte. Aber angesichts einer in meinem Falle wohl nahezu unbegrenzten Lebenserwartung würde ich ihr das wohl verzeihen können. Vermutlich zumindest, doch zunächst war das ein klares Minus.
Der Flug selbst war irgendwie
anstrengend, weil ich kaum die Möglichkeit hatte, meinen
Bewegungsdrang auszuleben. Wir waren gegen zehn Uhr abends abgeflogen
aber der Tag, der wegen der Zeitverschiebung diesmal nur 16 Stunden
hatte, verlief wie in Zeitraffer und ich fühlte mich den ganzen
Flug über irgendwie unruhig und unwohl. Die ersten zwei Stunden
hatte ich mich mit dem Dossier beschäftigt und kannte nun die
Vergangenheit meiner Pflege-Geschwister ziemlich gut. Dann war ich
irgendwann eingeschlafen und ein paar Stunden später wenig
erholt wieder aufgewacht. Ein merkwürdiges Gefühl, wenn man
nicht richtig ausgeschlafen ist, die Sonne einem aber weiß
macht, man hätte viel länger geschlafen. Es war fast so,
als könnte es die Sonne gar nicht abwarten, endlich wieder
untergehen zu dürfen, damit sie es selbst nicht mit ansehen
musste, was hier mit mir passierte. Ein weiterer Minuspunkt für
mein neues Zuhause, der natürlich nicht weniger ungerecht war
als der erste, aber das war mir egal, als ich ihn gedanklich auf
meine imaginäre Pro-und-Kontra-Liste setzte.
Die übrigen neun Stunden des Fluges verbrachte ich hauptsächlich mit Musikhören und dem Lesen des Dossiers, das ich inzwischen praktisch auswendig kannte. Diese Beschäftigung war aber immer noch besser, als meinen Eltern dabei zuzusehen, wie sie fast regungslos auf ihren Liege-Sesseln lagen und sich stundenlang an den Händen haltend in die Augen schauten. Natürlich wusste ich, dass das Ausdruck ihrer Liebe und Verbundenheit war und ich wollte ihnen den Moment auch gönnen und sie nicht stören, obwohl ich mich gerne ein wenig mit Mom unterhalten hätte, aber das eigentlich schlimme daran war, dass es mich an ein schmerzhaftes Erlebnis erinnerte. Damals, als Mom in dieses merkwürdige Koma gefallen war, fühlte ich mich so alleine, wie nie zuvor und nie wieder danach und dieser blöde Umzug erinnerte mich wieder daran. Noch ein Punkt für meine Contra-Liste. Pro gab es da nicht. Eigentlich war es jetzt schon mehr ein Beschwerdebrief, wie ich seufzend feststellen musste.
Dad bemerkte natürlich meine traurige Gemütslage und informierte Mom, die sich sofort zu mir umdrehte und sich um mich kümmern wollte, doch ich winkte ab, was sie sehr zu meinem Leidwesen auch traurig stimmte. Das wollte ich nicht und das war auch nicht richtig. Ich wusste doch, dass sie sich eigentlich auf diesen Neuanfang freute und ich wollte ihr das wirklich nicht verderben.
»Mom, ehrlich, ich komm damit schon klar. Gib mir nur etwas Zeit, ja? Ich möchte im Moment nicht bemuttert werden, egal wie lieb es gemeint ist. Bitte, lass dir von mir nicht deine Vorfreude verderben.«
Dann drehte ich mich von ihr weg
und machte die Musik lauter. Die letzten Flugstunden würden auch
so noch vorüber gehen.
Nachdem wir das Flugzeug verlassen, unsere Koffer abgeholt und uns drei Mietwagen besorgt hatten, machten sich unser kleiner Konvoi auf den Weg. Wir ließen Glasgow hinter uns und fuhren in nördliche Richtung. Unterwegs musste ich feststellen, dass die Landschaft, die sich in dem Dämmerlicht der Nacht erkennen ließ, bei weitem nicht so unangenehm war, wie ich erwartet hatte. Unser Weg war gesäumt von saftig grünen Wiesen, sanften Hügeln und schönen natürlichen Mischwäldern. Noch dazu führte der Weg weite Strecken an der Küste entlang, was den Eindruck der unberührten Natur zusätzlich intensivierte, obwohl wir uns noch im stärker bewohnten Teilen des Landes bewegten und auf der anderen Seite des Gewässers ebenfalls Siedlungen erkennbar waren. Dennoch war der Anblick einfach schön und seufzend musste ich einen ersten Pro-Punkt auf meine Liste setzen. Auch die vielen kleinen Häuser machten einen urtümlichen Eindruck. Besonders faszinierend fand ich aber, dass weite Teile der Straße von einer niedrigen Mauer begleitet wurden, die aus aufgeschichteten Steinen bestand. Insbesondere durch den Moosbewuchs wirkte dieses lang gezogene Mäuerchen so alt, als wäre es aus einer anderen Zeit. So etwas hatte ich noch nie zuvor gesehen. Es war wie Geschichte zum anfassen, ganz anders, als in den Museen und bei den Sehenswürdigkeiten von Paris und mit nichts zu vergleichen, dass es in Forks gab.
Dad, der meine Gedanken gehört hatte, bat Jasper, der unseren Wagen fuhr, kurz anzuhalten, damit ich aussteigen und die “Geschichte auch tatsächlich anfassen” konnte. Ein Lächeln huschte über mein Gesicht, als ich die Finger über die rauen Kanten und das weiche Moos streichen ließ und Mom und Dad nahmen sich glücklich in den Arm und sahen mir dabei zu. Niemand schien dieses unscheinbare Bauwerk vor dem Zahn der Zeit zu schützen und doch war es da. Klein und unscheinbar drückte es der Landschaft seinen sanften Stempel auf. Einen Sympathie-Punkt, den ich meiner Liste nicht verwehren durfte, wenn ich fair sein wollte.
Unser Weg führte uns weiter durch Helensburgh, einer kleinen Stadt mit rund fünfzehntausend Einwohnern. Hier würden wir zur Schule gehen, das wusste ich bereits, doch wollte ich jetzt nicht die Stadt besichtigen. Viel mehr wollte ich nun endlich das Haus sehen, welchen wir in Zukunft bewohnen würden. Das Haus, das mein neues Zuhause werden sollte, doch ich wusste nicht, ob es das wirklich werden könnte und ich erlaubte meinen Gedanken nicht, es so zu bezeichnen. Dazu war ich noch nicht bereit.
Wir fuhren weiter in nord-westlicher Richtung aus Helensburgh heraus, verließen die Hauptverkehrsstraße und folgten einem langen Feldweg, immer weiter auf einen Wald zu, der am Horizont deutlich zu erkennen war. Auf der holprigen Straße musste ich plötzlich grinsen, als ich mir vorstellte, wie sich Rosalie wohl gerade fühlte. Bei ihrer Vorliebe für tiefergelegte Sportwagen musste ihr bei dem Anblick dieser Straße ein eiskalter Schauer über den Rücken laufen. Dad lachte leise.
»Oh ja, Schätzchen. Deine Tante glaubt gerade den Pfad zur Hölle zu beschreiten, aber Emmett freut sich schon riesig darauf, endlich mal eine Heimat zu haben, in der er die Vorzüge eines Geländewagens so richtig ausnutzen kann.«
Auch Jasper musste deshalb schmunzeln und Mom strahlte mich augenblicklich glücklich an und gab mir einen Kuss auf die Wange. Jedes noch so kleine Lächeln auf meinem Gesicht schien bei ihr eine Explosion der Freude auszulösen und die Druckwellen erwärmten mein Herz. Ich konnte nicht anders, als ihr auch ein echtes Lächeln zu schenken.
Der Feldweg schien uns immer weiter weg von der Zivilisation zu führen. Die Landschaft wurde hügeliger und immer bewaldeter. Weit und breit war nichts zu sehen, das auf die Nähe anderer Menschen schließen lassen könnte. Ich fragte mich ernsthaft, was hier am Ende der Welt wohl für ein Haus stehen könnte, das Esme zu dieser freudigen Verzückung verleiten konnte, die sie immer am Telefon ausstrahlte. Viel mehr als ein Blockhaus, wie man es sonst eher in Kanada vermuten würde, konnte ich mir hier nun wirklich nicht vorstellen. Was ich allerdings dann sah, als wir näher kamen, verschlug mir die Sprache.
Aus dem Feldweg war eine ebene Schotterstraße geworden, die auf geradem Wege zu einem Haus führte, das viel mehr als ein Haus war. Es war mehr eine Burg oder ein kleines Schloss, obwohl auch diese Worte dem nicht gerecht wurden, was ich sah. Es war auf jeden Fall sehr alt und offensichtlich aus Granitsteinen errichtet worden und sein Erhaltungszustand erschien auf den ersten Blick geradezu perfekt. Die Ausmaße des Hauses waren riesig, doch es war kein klobiger Kasten. Verspielt traten vier Erhebungen aus der Hauswand hervor und erweckten den Eindruck von zwei großen und zwei sehr kleinen Türmen. Das eigentlich faszinierende war aber das Mauerwerk selbst. Es war uneben und rau und doch irgendwie wunderbar symmetrisch und beeindruckend. Viele Fenster verliehen dem Ganzen ein freundliches Gesicht, so dass auch die dunklen Dachziegel nichts bedrückendes oder bedrohliches an sich hatten. Der Anblick dieses wunderschönen Bauwerks war atemberaubend. Das Gebäude thronte auf einem kleinen Hügel und wurde in geringem Abstand auf weiteren Hügeln von links und rechts von hohen Bäumen eines alten Waldes beschützt. Altes Mauerwerk stützte die wohl künstlich angelegte Erhebung eines Vorgartens. Dichte Sträucher und Büsche, die wie der Rasen sehr gepflegt aussahen, zierten den Anblick zusätzlich.
Fassungslos ergriff ich die Hand meiner Mom und stieg mit ihr die Stufen einer in den Vorgarten eingelassenen steinernen Treppe hinauf. Der Anblick war so schön und dabei war es doch Nacht. Wie musste dieses Haus erst bei Sonnenlicht wirken? Ich erkannte Blumenbeete, die sich der Nachtruhe hingegeben hatten, doch ein leichter Hauch ihres Duftes war noch da und spielte mit den Sinneszellen meiner Nase. Ich ließ meinen Blick umherwandern und zerriss die alberne gedachte Pro-und-Kontra-Liste. Ich liebte unser altes Häuschen, aber da wusste ich auch noch nicht, dass es so etwas gab. Dieses Anwesen hatte mein Herz im Sturm erobert und ich freute mich schon auf den Tag, da ich es wirklich als mein Zuhause ansehen konnte.
»Gefällt es dir?«, fragte mich meine Mom etwas unsicher.
Was für eine Frage. Gut, vermutlich war mein Gesichtsausdruck gerade so fassungslos, dass sie nicht wissen konnte, ob ich erfreut oder entsetzt war, aber sie hätte nur einen Blick auf Daddys Gesicht werfen müssen, der durch meine Gedanken ein geradezu euphorisches Lächeln verstrahlte.
»Das ist der Wahnsinn,
Momma. Ich hatte ja keine Ahnung, dass es so schöne Häuser
gibt. Ich, … ich, … bin sprachlos.«
Glücklich
nahm mich Mom in den Arm und drücke und küsste mich.
»Ich
bin ja so erleichtert, Sternchen. Ich hatte so gehofft, dass du es
magst.«
»Wie soll man das den nicht mögen?«,
antwortete ich kopfschüttelnd.
»Wollen wir hinein
gehen?«, fragte sie mich.
»Einen Moment noch, Momma.
Lass es mich noch etwas ansehen.«
Sie stimmte zu und wir standen noch eine Weile vor dem Haus und sahen uns alles genau an. Auch alle anderen Familienmitglieder kamen zu uns und lächelten zufrieden, wobei ich mir nicht sicher war, ob wegen mir oder dem Haus. Vermutlich wegen beidem.
Dann öffnete sich die schwere Eingangstür, die wohl aus Eichenholz bestand und Esme kam heraus. Sie wollte anscheinend nicht unseren ersten Eindruck stören, doch nun schien sie vor Neugierde zu platzen und wollte wohl endlich wissen, wie es uns gefällt. Sie ging auf uns zu, wobei ihr Blick fest auf mein ungläubiges Gesicht gerichtet war, doch noch bevor sie etwas sagen konnte, sprach ich sie an.
»Also Ehrlich Esme. Ich bin ja so was von enttäuscht von dir.«
Esme blieb augenblicklich stehen und sah mich entsetzt an. Ihr Gesicht wirkte geradezu verzweifelt und sie schien unfähig zu sprechen. Also fuhr ich fort.
»Deine Äußerungen zu dem Haus waren ja so was von realitätsfern. Du hast mich nicht im geringsten darauf vorbereitet, was hier auf mich wartet. … Das Haus ist ein wahr gewordener Traum. So etwas Schönes gibt es doch gar nicht. Ich bin einfach nur überwältigt und das ist deine Schuld.«
Jetzt endlich erkannte sie, dass ich mir nur einen Spaß mit ihr erlaubt hatte und sie sprang sichtlich erleichtert auf mich zu, um mich in den Arm zu nehmen.
»Du kleines Monster«, sagte sie schon halb schluchzend zu mir.
Das war so ziemlich die übelste Beleidigung, die ich jemals aus Esmes Mund gehört hatte. Offensichtlich war sie mir voll auf den Leim gegangen und ich freute mich diebisch darüber.
Alle um uns herum lachten und freuten sich.
»Du verbringst absolut zu
viel Zeit mit Emmett, Kind«, meinte sie dann noch, sichtlich
bemüht, die Fassung wiederzuerlangen.
»Komm, ich zeig
dir dein Zimmer.«
Also nahm ich Esmes Hand und folgte ihr in das traumhafte Haus.
Das Gebäude war von innen nicht weniger beeindruckend als von außen. Kaum waren wir durch die Tür, standen wir auch schon in einer geräumigen Vorhalle mit jeweils zwei Türen an allen Seiten und einem ovalen doppelten Treppenaufgang in das Obergeschoss vor uns. Am Ende der Treppe erkannte ich einen Korridor der wohl nach links und recht zu den diversen Zimmern dieses Hauses führte, doch das konnte ich noch nicht genau erkennen. Hier im Eingangsbereich waren weiche Teppiche auf dem harten Steinboden ausgelegt und ergaben einen wundervollen Kontrast. Von der hohen Decke hing ein verzierter, glitzernder Kronleuchter herunter, der wie die einzelnen Leuchter an den Wänden zu meiner großen Überraschung elektrisch war und ein warmes Licht verströmte. Dennoch war dies nicht störend, denn es waren keine Kabel oder sonstiges zu erkennen. Ich hatte nicht die leiseste Ahnung, wie sie das gemacht hatte.
Vereinzelt waren alte Gemälde an den Wänden und hier und da standen dekorative Vasen und Skulpturen. Alles stand in perfekter Harmonie zueinander und gab ein so wunderbares stimmiges Bild ab, dass man sich direkt in eine andere Zeit versetzt fühlte.
Da ich mit dem Bewundern noch nicht ganz fertig war, ließ ich mich nur widerwillig und zögernd von Esme die Treppe hinauf ziehen. Aus den Augenwinkeln erkannte ich noch, dass hinter dem ovalen Treppenaufgang eine Treppe in Richtung Keller ging. Ich folgte Esme in den linken Korridor im Obergeschoss. Am Ende des Ganges blieb sie vor einer Tür stehen und grinste mich an. Vorsichtig drückte ich die messingfarbene Türklinke herunter und öffnete die Tür, um einen Blick in den Raum dahinter werfen zu können und dann trat ich langsam ein.
Der Eckraum war zur Rückseite des Hauses ausgerichtet und hatte vor und links von mir ein paar Fenster. Er war sehr geräumig und einladend. Vor den mittleren Fenstern der Rückseite stand ein großes Bett aus dunklem Holz das mit ein paar Messingarbeiten verziert war. Es sah einfach wunderbar gemütlich aus. In ähnlichen Holztönen standen dort auch zwei große Kleiderschränke, ein antiker Schreibtisch, Nachttische, ein großes Bücherregal und noch ein paar andere Möbelstücke, die auf den ersten Blick vor allem dekorativ waren. Auch ein großer, messingverzierter Spiegel war an einer Wand angebracht. Ein Laptop stand auf dem Schreibtisch, was fast ein wenig störend wirkte, doch dieser Tribut musste der Gegenwart einfach gezollt werden. Die Schönheit des Raumes war dennoch überwältigend und ich verspürte eine kribbelnde Freude in meinem Bauch, weil das hier künftig mein Zimmer sein würde. Er war wie für mich geschaffen. Nein, ohne “wie”. Es war für mich geschaffen! Alle Farben passten so perfekt zu mir.
»Oh man, Esme«, sagte ich zu ihr und hatte Freudentränen in den Augen. »Ich habe mir ja schon ein großes gemütliches Zimmer gewünscht, aber das hier übertrifft einfach alles, was ich mir hätte vorstellen können.«
Mit einem strahlenden Lächeln schloss sie mich in die Arme und gab mir einen Kuss auf die Wange. Dann seufzte sie zufrieden und erleichtert, dass ihr Werk sein Ziel nicht verfehlt hatte.
»Das ist aber noch nicht alles, Liebes. Da ist noch eine Tür.«
Esme wies mit der Hand auf eine Tür an der rechten Seite des Raumes, die mir zwar schon aufgefallen war, der ich aber keine besondere Bedeutung beigemessen hatte. Also ging ich zu der Tür, öffnete sie uns sah in ein Badezimmer.
»Das ist ganz alleine dein
Badezimmer. Liebes.«
Was? Ein eigenes Badezimmer? Ganz für
mich alleine?
»Echt? Ist ja geil.«
Ich ging hinein um mir auch diesen Raum genauer anzusehen. Das Badezimmer war natürlich funktionaler eingerichtet und farblich sehr zeitlos in Pastelltönen gehalten, doch auch hier wurde vereinzelt mit Messing gearbeitet. Es war sehr geräumig und hatte als Blickfang eine große Badewanne, die wohl auch ein Whirlpool war. Daneben noch ein Dusche in der Ecke und was man sonst so in einem Badezimmer erwartete.
Ich warf einen Blick in den
Spiegel über dem Waschbecken und war selbst erstaunt, was für
ein glückliches Lächeln ich da auf meinen Gesicht sah. Ja,
ich mochte mein neues Zimmer und das würde mir sehr dabei
helfen, mich hier einzuleben.
Inzwischen waren auch Mom und Dad gekommen und hatten meine Koffer nach oben gebracht. Jetzt standen sie bewundernd mitten in meinem Zimmer.
»Wow, Esme«, meinte
meine Mom. »Du hast dich ja selbst übertroffen. Wie hast
du das nur alles in der kurzen Zeit geschafft?«
»Ach,
ich schlafe nicht viel«, sagte sie mit einem verschmitzten
Lächeln.
Wir alle sahen sie verwundert an. Selbst mit 24 Stunden Vampirgeschwindigkeit schien es an ein Wunder zu grenzen, was sie hier vollbracht hatte, doch sie lächelte nur und behielt ihr Geheimnis für sich. Außerdem war ich mir sicher, dass Daddy nichts verraten würde, selbst wenn er etwas in ihren Gedanken aufgeschnappt hätte. Er würde sicherlich nie etwas ausplaudern, das Esme nicht selbst preis geben wollte. Dafür liebte er seine Mom zu sehr und das war seinem Gesicht auch deutlich anzusehen. Vor allem, weil er mir gerade zugezwinkert hatte.
»Dann zeige ich euch mal euer Zimmer«, meinte Esme zu meinen Eltern und nahm sie an die Hand, um sie in das mir gegenüber liegende Zimmer zu führen. Ich schmunzelte kurz bei dem Gedanken, dass unsere Zimmer ja nicht gerade viel weiter auseinander lagen, als das vorher auch der Fall war, aber zwei massive Türen und ein schmaler Korridor dazwischen waren schon ein großes Stück mehr Privatsphäre. Abgesehen davon war für uns die räumliche Entfernung sowieso nur relativ. Jeder von uns könnte innerhalb einer Sekunde von einem Winkel des Hauses zum anderen gelangen, wenn das beabsichtigt würde.
Ich folgte den drei unauffällig, um auch einen kurzen Blick in ihren Raum werfen zu können. Er war in ganz anderen Farben gehalten und anders eingerichtet als mein Zimmer, doch ich erkannte sofort, dass das viel besser zu meinen Eltern passte. Esme musste sich wirklich unglaubliche Mühe damit gemacht haben, jedem einen eigenen Raum zu geben, in denen sich alle pudelwohl fühlen konnten. Ich bewunderte sie aufrichtig für diese Fähigkeit.
Dann kam Esme wieder aus dem Zimmer und ich sah, wie Mom und Dad sich küssend auf das Bett fallen ließen. Grinsend und kopfschüttelnd zog ich die Tür zu und folgte Esme, die das gleiche Raumzuweisungsspiel noch mit den anderen beiden Pärchen spielte. Die Räume von Alice und Jasper, wie auch von Rosalie und Emmett, lagen am anderen Ende des Korridors. Zwischen unseren Zimmern lagen noch drei weitere Räume, wovon der mittlere dann für Esme und Carlisle eingerichtet war und die anderen beiden Gästezimmer darstellten. Ich freute mich bei der Vorstellung, dass eines dieser Gästezimmer vielleicht bald einmal von Opa benutzt werden würde.
Ich ging die Marmor-Treppe hinunter, deren schöner Farbton mir erst jetzt so richtig bewusst wurde. Dann öffnete ich neugierig eine Tür, hinter der ich ein weiteres, zur Rückseite ausgerichtetes Zimmer vermutete. Ich hatte jedoch nicht im Traum damit gerechnet, was für ein Anblick sich mir nun hier bot. Der Raum war riesig und erstrecke sich über die gesamte Breite des Hauses. Im Abstand von mehreren Metern standen starke Säulen, doch der Raum wirkte durch die vielen Fenster und drei Terrassentüren großzügig und einladend. Links und rechts von mir waren jeweils nach einem Drittel der Zimmerbreite zwei offene Kamine in die Wände eingelassen und darum gemütliche Sitzgruppen angebracht, wobei jede groß genug war, um der ganzen Familie ausreichend Platz zu bieten. Der dunkle Parkettfußboden und die verteilten farblich passenden Teppiche verstärkten die gemütliche Ausstrahlung. In den hinteren Ecken waren zwei Fernseher angebracht und im Zentrum des Raumes stand ein großer Esstisch, den ich sofort als unseren zukünftigen Konferenztisch identifizierte. Der eigentliche Blickfang des Wohnzimmers war jedoch ein edler Flügel.
Ich trat zu einem der großen Fenster auf der Rückseite und schaute hinaus. So hügelige wie die Vorderansicht des Hauses war, so überraschend eben war nur der Ausblick nach hinten. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass dies von der Natur so vorgesehen war, doch das tat der Harmonie keinen Abbruch. Nach gut zehn Metern Holzterrasse auf voller Breite des Hauses, erstreckte sich eine noch etwas breitere, gepflegte Grünfläche etwa dreihundert Meter lang in rechteckiger Form hin zum Waldrand. Einige große und wohl recht alte Obstbäume standen dort und rundeten das Bild ab. Wie gerne hätte ich das alles gleich im Sonnenlicht gesehen, doch vielleicht war es auch besser so, denn sonst hätte ich es vermutlich nicht geglaubt.
Schwerfällig löste ich mich von dem Ausblick, um die weiteren Räume zu erforschen. Ich entdeckte im Erdgeschoss dann noch zwei Arbeitszimmer und die großzügige Küche, die auch mit allem bestückt war, was ich so üblicher Weise für Frühstück und Abendbrot benötigte. Da ich schon mal hier war und mein Magenknurren nicht länger bereit war, sich von mir ignorieren zu lassen, machte ich mir schnell zwei belegte Brote und setzte mich zum Essen an den Küchentisch.
Auch die Küche war nicht weniger einladend als der Rest des Hauses. Ein Ort zum Wohlfühlen, zweifellos. Esme hat wirklich alles in ihrer Macht stehende unternommen, um mir mein neues Zuhause so gemütlich wie nur möglich zu machen und das war ihr voll und ganz gelungen.
Ich war so beeindruckt von ihr und auch so dankbar dafür, dass es mir schon unangenehm war, was sie alles ohne die geringste Forderung einer Gegenleistung für mich machte. Noch am Tag zuvor, hatte ich dies im Bezug auf die ganze Familie festgestellt und mich bei allen dafür bedankt. “Außer bei Esme!”, schoss es mir plötzlich durch den Kopf und sofort schlang ich mein Essen herunter, räumte die Sachen weg und rannte wieder nach oben zu ihr. “Ob sie in ihrem Zimmer ist?”, fragte ich mich. Wenn sie gerade mit Carlisle zusammen war, wollte ich auf keinen Fall stören. Die beiden waren über einen Monat getrennt gewesen und genossen vermutlich gerade die Wiedersehensfreude.
Ich seufzte und verwarf die Absicht, bei ihr anzuklopfen. Ich würde ihr auch noch später danken können. Stattdessen ging ich jetzt lieber in mein Zimmer und räumte meine Koffer aus.
Für die Wolfsskulpturen hatte ich schnell einen schönen Platz auf einer Kommode in der Fensterecke gefunden. Ich ließ meinen Blick aus einem Fenster schweifen. Von hier aus hatte ich einen noch besseren Überblick über die Landschaft hinter dem Haus, auch wenn die hohen Bäume des Waldes mir keinen allzu weiten Ausblick gewährten. Allerdings war ich mir sicher, dass Jacob diese Wälder auch mögen würde und streichelte gedankenverloren einige der Figuren. Dann kam mir eine Idee. Ich öffnete eines der Fenster und schaute mir die Wand und das Dach darüber an. Die ungleichmäßige Struktur der Granitblöcke sahen so aus, als würden sie Halt geben können. Ich zog die Schuhe aus, hangelte mich aus dem Fenster und dann an dem Abflussrohr hoch zur Regenrinne und von dort auf Dach. Es ging sogar viel leichter als ich gedacht hatte. Der höchste Punkt des Daches, oder besser die höchsten Punkte, waren die zwei Schornsteine die sicherlich zu den beiden Kaminen im Wohnzimmer gehörten. Ich kletterte auf einen und ließ den Blick über den Wald wandern.
Die Aussicht war atemberaubend. Von hier aus konnte ich tatsächlich den Wald überblicken und im schwachen Mondlicht erkennen, wie sich das Gelände immer weiter erhob, die Hügellandschaft immer zerklüfteter wurde und sich schließlich in größerer Entfernung wohl in eine Berglandschaft verwandelte.
Nach Süden war die Landschaft eher abfallend zur Küste hin. Ich konnte hier deutlich die Lichter von Helensburgh und ein paar andere Ortschaften erkennen, während zuvor in nördlicher Richtung rein gar nichts nach Zivilisation aussah. Eine großes Stück wunderschöner unberührter Natur.
“Fast so wie Zuhause”,
dachte ich mir.
Nach einer Weile legte ich mich aufs Dach und schaute in den Sternenhimmel. Es waren nur wenige Wolken unterwegs, die mir die Sicht versperren könnten. Die Sterne sahen fast so aus, wie ich sie kannte. Die Veränderungen waren minimal und hingen wohl damit zusammen, dass wir hier ein wenig weiter nördlich waren, als in Forks. Der Anblick schenkte mir ein tröstliches Gefühl. Hier den gleichen Himmel zu haben, erweckte den Eindruck, doch nicht so weit von Zuhause entfernt zu sein.
»Liebling?«, hörte
ich plötzlich die Stimme meiner Mom und schreckte hoch.
»Ja,
Mom?«
»Darf ich zu dir kommen?«
Ȁhm,
ja, warum nicht?«
Ich hörte ein paar Klettergeräusche und dann schwang sie sich auch schon elegant an der gleichen Stelle aufs Dach, von der auch ich gekommen war.
»Dein Daddy hat mir verraten, das du hier einen tollen Aussichtspunkt entdeckt hast und da wurde ich neugierig.«
Sie lächelte mich wieder so herzlich an, dass sich sofort ein warmes Gefühl in meiner Brust ausbreitete und ich einfach zurücklächeln musste.
»Da vom Schornstein aus hat man einen wahnsinnig tollen Ausblick«, sagte ich und zeigte auf meinen Aussichtspunkt.
Mom sprang hinauf und schaute sich um. Vermutlich hatte ich noch vor wenigen Augenblicken den gleichen verwunderten und entzückten Gesichtsausdruck, den ich jetzt bei ihr erkennen konnte.
»Das ist wirklich sehr schön, Sternchen.«
Dann sprang sie wieder anmutig wie eine Katze herunter, setzte sich neben mich und legte mir den Arm um die Schulter.
»Ich bin so froh, dass es dir hier gefällt, Renesmee. Ich hatte mir ja solche Sorgen gemacht.«
Ich gab ihr keine Antwort
sondern legte einfach den Kopf an ihre Schulter und dann zog ich sie
langsam zurück, damit wir zusammen auf dem Dach lagen und in den
Himmel schauen konnten. Ich lag in ihrem Arm und hatte das Gefühl,
dass meine Chancen hier glücklich zu werden doch nicht so
schlecht standen.
Nach ein paar Minuten löste ich mich aus ihrer Umarmung, gab ihr einen Kuss und sagte ihr, dass ich wieder hinunter klettern wollte. Sie folgte mir und wir nahmen den gleichen Weg zurück, den wir gekommen waren. Dann machte ich mich daran, meine restlichen Klamotten aus dem Koffer auszupacken und in meine Kleiderschränke zu räumen. Zu meiner Überraschung stellte ich fest, dass all die Dinge, die wir schon vorab hierher geschickt hatten, bereits in meine Schränke eingeräumt waren. Esme war wahrhaftig ein unglaublich fleißiges Bienchen.
»Momma? Weißt du wo
Esme ist?«
Sie hielt kurz inne und ich wusste, dass sie
ihren Schild überprüfte.
»Ja Schatz, sie ist mit
Carlisle, Alice und Jasper direkt unter uns.«
»Danke
Momma.«
»Gern geschehen.«
Direkt unter uns bedeutete, dass sie es sich vermutlich in einer der Sitzgruppen gemütlich gemacht hatten und wenn Alice und Jasper bei ihnen waren, dann könnte ich sicherlich dazu kommen, ohne zu stören. Also rannte ich hinunter und öffnete die Tür zum Wohnzimmer.
Sie saßen tatsächlich
zusammen und unterhielten sich entspannt. Ich ging zu ihnen und
strahlte Esme vor Freude und Dankbarkeit an. Obwohl es eigentlich
nicht meine Absicht war, riss ich sie dadurch aus ihrer Konversation,
da sie den Blick nicht mehr von mir nehmen konnte. Also setzte ich
mich kurz entschlossen auf ihren Schoß, schmiegte mich an ihre
Schulter und flüsterte ihr ins Ohr, wie glücklich und
dankbar ich für alles war, dass sie hier für mich gemacht
hatte. Dann kuschelte ich mich in ihren Arm und ließ mich sanft
von ihr wiegen. Esme war einfach immer in der Lage einem wann und wo
auch immer Geborgenheit zu schenken.
Nach einer halben Stunde in ihrer beruhigenden Nähe wurde ich tatsächlich richtig müde und gähnte herzhaft. Auch Mom und Dad, Rose und Emmett waren inzwischen hier bei uns. Sie unterhielten sich leise, und sahen ab und zu lächelnd zu mir. Dann raffte ich mich schließlich auf, verabschiedete mich von allen und machte mich auf den Weg in mein Bett. Mom sah mir noch kurz wehmütig hinterher. Ich wusste genau, was sie wollte, zwinkerte ihr zu und nickte zur Tür, um ihr zu zeigen, dass sie mir gerne folgen dürfte. Sofort sprang sie lächelnd auf und folgte mir in mein Zimmer. Ich machte mich schnell bettfertig und als ich aus dem Badezimmer zurück kam, sah ich Mom, wie sie gerade meinen Wecker angeschlossen und eingestellt hatte. Er passte zwar nicht wirklich in dieses hammermäßige Zimmer, aber dafür würde sich hoffentlich auch noch eine Lösung finden lassen.
Ich legte mich ins Bett und ließ
mich von Mom zudecken, die dabei grinste wie ein Honigkuchenpferd.
Dann nahm ich ihre Hand und zeigte ihr Ausschnitte meiner heutigen
Erinnerungen, die meine Freude, die ich beim Anblick des Hauses und
meines Zimmers empfand, widerspiegelten. Ich zeigte ihr auch, wie
schön es für mich mit ihr auf dem Dach war und wie wohl ich
mich auf Esmes Schoß gefühlt hatte. Dann küsste sie
mir glücklich lächelnd die Stirn und frage mich, ob wir
vielleicht noch Opa anrufen wollten, um ihm zu sagen, dass wir gut
angekommen waren. Dem stimmte ich zu und so rief Mom bei ihm an. Auch
ich redete kurz mit ihm und erzählte von den ersten Eindrücken
meiner neuen Heimat. Danach wünschte mir Mom noch eine gute
Nacht und verließ das Zimmer. Ich warf noch mal einen Blick auf
meinen Wecker. Es war jetzt halb zwei Ortszeit. In Forks also halb 6
abends. Dennoch war ich merkwürdig müde, zumal sich die
Anspannung des heutigen Tages allmählich endgültig von mir
löste. So dauerte es auch nicht mehr lange und ich fiel in einen
tiefen Schlaf.
Als ich am nächsten Morgen die Augen aufschlug, war es in meinem Zimmer bereits recht hell. Ich musste mich kurz orientieren wo ich war, doch die Erinnerungen kehrten schnell zurück. Ein Blick auf meinen Wecker verriet mir, dass es kurz nach Neun war, doch ich fühlte mich erstaunlich frisch und ausgeschlafen. Was war denn mit dem Jetlag, von dem ich soviel gehört hatte? Waren Halbvampire immun dagegen?
Das Licht im Raum war dem in Forks merkwürdig ähnlich. Ich krabbelte aus meinem riesigen Bett und trat an ein Fenster. Der Himmel war überzogen von Wolken. Klar, deshalb war mir das Licht auch so vertraut und sofort huschte ein Lächeln über mein Gesicht. Einer der Gründe für den Umzug hier her war eine ähnlich hohe Anzahl von sonnenfreien Tagen wie Zuhause.
“Merkwürdig”, dachte ich bei mir. “Wenn ich hier und Zuhause gedanklich so trenne, warum bin ich dann fröhlich, bei einem Blick aus dem Fenster?”
Für den Moment wollte ich
nicht weiter darüber nachdenken, schüttelte den Kopf,
schnappte mir ein paar Klamotten aus dem Kleiderschrank und sprang
innerlich jubelnd in mein eigenes Badezimmer.
Frisch, munter und angezogen machte ich mich auf den Weg in die Küche.
»Guten Morgen,
Sonnenschein«, begrüßte mich Rosalie, die ebenfalls
gerade aus ihrem Zimmer kam.
»Guten Morgen, Rose«,
antwortete ich fröhlich.
»Gut geschlafen?«,
wollte sie wissen.
»Wie ein Stein! Und du?«
Ȁhm.
Nicht gerade wie ein Stein. … Eher wie eine Weide im
Wind.«
»Hä?«
»Na ja, es war …
bewegend…«
»Was? … OH!? …
Rosalie! … Davon will ich nichts hören!«
Schlagartig
spürte ich, wie mein Gesicht heiß wurde.
»Wieso,
was habe ich denn gesagt?«
»Du … du … du
bist unmöglich.«
Ich konnte keine Sekunde länger in ihr Gesicht mit dem breiten Grinsen schauen. Zum Glück war Emmett nicht in ihrer Nähe. Dann wäre ich jetzt verloren gewesen. Schnell machte ich mich wieder auf den Weg in die Küche und holte erst einmal eine kalte Flasche Milch aus dem Kühlschrank und drückte sie gegen eine meiner überhitzten Wangen. Diese Frau schaffte mich echt.
Nachdem ich dann auch meine
andere Wange und die Stirn mit der Milchflasche abgekühlt hatte,
füllte ich mir eine Schüssel mit Müsli, die ich dann
mit etwas inzwischen warmer Milch aufgoss.
Nach dem Frühstück ging ich gesättigt und mit wieder halbwegs normal temperiertem Gesicht ins Wohnzimmer. Rosalie saß auf Emmetts Schoß auf einer Couch und ich ignorierte die beiden gekonnt, stolperte dabei über einen Teppich und fiel meinem Dad in die Arme.
»Na das ist ja mal eine stürmische Begrüßung, Liebling«, sagte er, als er mich lächelnd an sich hoch zog und mir einen Kuss auf meine schon wieder leicht erwärmte Wange gab.
»Hast du gut
geschlafen?«
»Oh, du nicht auch noch Dad!«
»Wieso?
… Was hab ich denn? … Oh!«
Rosalie, die zu uns herüber sah und kicherte, hatte wohl verräterische Gedanken und wurde von meinem neuen großen Bruder mit einem mürrischen Blick bestraft. Gleichzeitig streichelte er mir beruhigend über den Kopf.
»Liebling. Rosalie meint
das nicht böse, das weißt du. Sie ist halt einfach
…«
»Eine sehr bewegte Tante!«, sagte ich
und musste dabei selbst loslachen.
Na ja, wenigsten könnte man jetzt vermuten, dass die überaus gesunde Gesichtsfarbe vom Lachen käme.
Nachdem sich die Gemüter wieder etwas beruhigt hatten und sich die gesamte Familie versammelte, besprachen wir kurz das heutige Tagesprogramm. Heute würden wir uns mit Helensburgh vertraut machen und unsere neue Schule schon mal von außen betrachten. Im Augenblick waren ja noch Ferien, aber in zwei Wochen würde das Herbst-Trimester und damit ein neues Schuljahr anfangen. Da es heute laut Alice den ganzen Tag bewölkt und fast trocken bleiben würde, wäre es der ideale Zeitpunkt, sich mal in der Stadt zu zeigen, zumal es Samstag war und somit ordentliches geschäftiges Treiben zu erwarten wäre. Das hatte den Vorteil, dass die meisten Leute zu beschäftigt sein dürften, um sich mit uns intensiver zu befassen und dennoch würden sie uns wahrnehmen. “Schön unauffällig für Gesprächsstoff sorgen”, meinte Alice dazu. Ich wusste zwar nicht, was ich davon halten sollte, aber ich würde einfach der Erfahrung der Andern in dieser Sache vertrauen.
»Bevor wir aufbrechen,
gibt es da allerdings noch etwas, … das wir …
ansprechen müssen«, meinte Carlisle und seine zögernden
Worte, wie auch der kurze Blick zu Jasper, ließen nichts Gutes
erahnen.
»Nun ja, es ist so. … Hier in den Schulen …
werden Schuluniformen getragen.«
»Und das sagst du uns
erst jetzt!«, kam es praktisch gleichzeitig zischend aus Alice’
und Rosalies Mund und Jasper sah schlagartig wieder furchtbar
gestresst aus, was ich mit meiner entspannten Stimmung gar nicht
nachvollziehen konnte.
»Bitte, ihr beiden. Die
Uniformen an eurer Schule sind sehr schön. Verschiedene
Kombinationen von Schwarz, Weiß und einem Bordeaux-Rot«,
versuchte Esme zu schlichten und zu beruhigen.
»Erst muss
ich die Freiheit des Autofahrens aufgeben und jetzt auch noch die
freie Kleiderwahl? Was kommt als nächstes? Lebenslanger
Hausarrest, oder was?«
Rosalie war mal wieder auf 180, wobei
… dank Jasper wohl eher 150, aber noch immer weit davon
entfernt, wirklich entspannt zu sein. Mir war die ganze Aufregung
irgendwie suspekt.
»Ich verstehe euch beide
nicht«, sprach ich sie an und Mom nickte mir zustimmend
zu.
»Aber Nessie. Du magst doch Mode. Dass deiner Mom das
nichts ausmacht, können wir ja verstehen, aber dir?«
Alice wirkte tatsächlich genau so fassungslos, wir ihre Worte klangen und Mom versuchte den Seitenhieb gegen ihr nicht vorhandenes Modebewusstsein gekonnt wegzustecken, was ihr dank Dads gut gemeintem aufmunterndem Schulterklopfen nicht wirklich gelang.
»Ich verstehe euch
trotzdem nicht. Ihr könnt doch echt tragen, was ihr wollt. Egal
was es ist, ihr seht immer toll aus. Ihr könntet auch nur mit
einem Ziegenfell bekleidet in die Schule gehen und alle würden
sich nach euch umdrehen.«
»Oh ja. Das sieht bestimmt
sexy aus«, meinte Emmett und ich warf ihm einen finsteren Blick
zu, den ich von Rosalie gelernt hatte, die das auch amüsiert zur
Kenntnis nahm. Zumindest halbwegs amüsiert.
»Nein
Ehrlich. Ihr braucht keine Designer-Kleider, um jedes andere Mädchen
an der Schule in einen Minderwertigkeitskomplex zu stürzen. Ich
habe das doch schon oft genug mit euch beim Shoppen gesehen.«
Seufzend fügten sie sich meinen Argumenten und Jaspers unermüdlichem Einsatz für eine gelöste Atmosphäre.
»Also gut«, stimmten die beiden genervt zu und ich hielt Jasper die Hand zum High Five hin, worauf hin er sofort einschlug und mich erleichtert anlächelte.
»Sag mal, Carlisle. Hast du noch mehr Hiobsbotschaften für die Mädels?«, fragte ich mit einem Schmunzeln auf den Lippen, doch sein entspanntes Lächeln in Kombination mit einem Kopfschütteln versicherten mir, dass es damit wohl jetzt ein Ende hatte. Meine Tanten nahmen das noch immer etwas mürrisch zur Kenntnis.
Um das Problem möglichst frühzeitig endgültig hinter uns lassen zu können, vereinbarten wir, dass das erste Ziel unseres Tagesausflugs ein Schneider wegen der Maßanfertigung der Schuluniformen sein sollte. Also verteilte sich die Familie wieder auf die drei Mietwagen und wird fuhren in die Stadt. Carlisle fuhr voraus, da er sich offensichtlich schon mit der Lokalität vertraut gemacht hatte und lotste uns zielsicher zu unserem ersten Bestimmungsort.
Der Besuch in der Schneiderei war in gewisser Weise die reinste Bestätigung dessen, was ich zuvor gesagt hatte. Die junge Frau, die bei uns Mädchen die Maße abnahm, war sichtlich geschockt und vermied jeglichen Augenkontakt. Allerdings auch bei mir, was mich doch eher überraschte. Vermutlich war sie aber einfach nur total überfordert mit der Situation.
Sie hatten dort auch ein paar Schaufensterpuppen mit den verschiedenen Kombinationen der Schuluniform. Sie sah im Grunde wirklich nett aus. Abgesehen von dem schwarzen, mehr als knielangen Rock, den sicherlich keine von uns anziehen würde. Das war irgendwie schade, denn ich trug gerne Röcke, aber das Teil? Niemals! Stattdessen waren auch schwarze Hosen erlaubt und dazu weiße Blusen und entweder einen roten Pullover mit V-Ausschnitt oder ein Blazer. Das ganze wurde dann mit einem Halstuch in den Farben der Schule abgerundet. Die Uniformen der Jungs waren sehr ähnlich. Hier waren es natürlich Hemden, Sakkos und eine Krawatte, aber alles in den gleichen Farben. Dazu gab es auch passende Jacken und Mäntel. Ich war mir sicher, dass ich mich schnell daran gewöhnen würde, auch wenn ich auf meine Sneakers verzichten musste, da hier schwarze Halbschuhe vorgeschrieben waren.
Nachdem unsere Maße aufgenommen waren und wir unsere Bestellungen aufgegeben hatten, unternahmen wir einen Bummel durch die Einkaufsstraßen. Bei den vielen Köpfen, die sich nach uns umdrehten, war es wahrlich ein Wunder, dass es nicht zu schweren Unfällen kam. Letztlich war es aber genau so, wie Alice vorausgesagt hatte. Viele sahen uns verwundert an, konzentrierten sich dann aber recht schnell wieder auf ihr eigentliches Ziel.
Lediglich das eine oder andere Grüppchen, das hier nur zum Zeitvertreib zu sein schien, musterte uns eindringlich und gleich darauf begann das Getuschel. Natürlich versuchten wir uns dabei nichts anmerken zu lassen, denn sie konnten ja nicht wissen, dass wir ihr Geflüster hören konnten. Witzig fand ich vor allem die Vermutung, dass wir eine Gruppe Models auf der Durchreise wären oder dass wir für Schauspieler gehalten wurden und sich alle aufgeregt fragten, ob hier in der Gegend denn ein Film gedreht würde und sie vielleicht eine Statistenrolle ergattern könnten.
Im Grunde waren sie alle aber
nur sehr aufgeregt, wegen unseres Anblicks, den sie nicht verstehen
konnten. Eine Aufregung die ich irgendwie teilte. Das alles war doch
total neu für mich und ich hatte immer ein bisschen Angst, dass
ich etwas falsch machen könnte. Ich fühlte mich ziemlich
verspannt und beneidete meine Familie, die das vollkommen ruhig und
gelassen absolvierte. Lediglich Mom und Dad schienen etwas nervöser
zu sein, was ich auf meine eigene Anspannung zurückführte.
Nachdem wir uns zwei Stunden lang brav und gesittet in den Einkaufsstraßen und diversen Geschäften gezeigt hatten, erforschten wir noch ein wenig den Ort. Wir besuchten das “Hill House”, die Sehenswürdigkeit schlecht hin in Helensburgh. Das Gebäude war gut 100 Jahre alt und stammte von dem Künstler Charles Rennie Mackintosh. Ich wusste zwar nicht, wie wichtig Heimatkunde hier sein würde, aber es konnte sicherlich nicht schaden, darüber Bescheid zu wissen. Also nahm ich alle Informationen darüber auf, die ich bekommen konnte.
Die Wohngegend dort war sehr nobel und es standen dort einige schöne Häuser, wenn auch nichts im Vergleich zu unserem Traumhaus. Dennoch war klar, dass dort viel Geld zuhause war, was sich auch dadurch bestätigte, dass es einen großen Golfplatz am Stadtrand gab.
Natürlich besuchten wir auch diese witzige alte Kirche im Standzentrum, die irgendwie etwas von einem Kartenhaus hatte, so dreieckig und steil wie sie aussah. Dennoch war es ein wirklich schönes Gebäude. Ein weiteres Stück Schottland, das mir gut gefiel.
Danach trennten wir uns
vorübergehend von Carlisle, Esme, Alice und Jasper. Die Vier
wollten nach Glasgow zu einigen größeren Autohäusern
fahren. Natürlich boten sie uns und insbesondere Rosalie an, sie
zu begleiten, als technische Beraterin natürlich, doch das
wollte sie sich beim besten Willen nicht antun. Da ging sie doch
lieber mit uns anderen “Untermotorisierten” zur
Uferpromenade, um ein wenig zu flanieren. Ich hatte zwar den
Eindruck, dass Emmett gerne mitgegangen wäre, aber er wollte
sein Liebesglück wohl lieber doch nicht riskieren.
Nach etwa fünf Stunden kamen unsere Autokäufer mit zufriedenen Minen wieder zu uns zurück. Dad und Emmett waren natürlich begierig darauf zu erfahren, welche Autos sie sich zulegen wollten und auch Rosalie konnte mit ihrem gespielten Desinteresse ihre tatsächliche Neugierde nicht verbergen. Also erzählten sie der Reihe nach, welche Autos sie sich gekauft hatten. Bei Carlisle war es natürlich eine Nobelkarosse. Ein Bentley Continental. Jasper hatte sich für einen Range Rover entschieden, bei dessen Erwähnung Emmett große Augen bekam. Offensichtlich wäre das auch seine Wahl gewesen. Alice begnügte sich mit einem Vauxhall Insignia, und Esme mit einem Vauxhall Antara. Natürlich erzählte Alice auch von den, wie sie meinte, wirklich schönen Autos, die sie gesehen hatten. Sie schwärmte von Aston Martin, Jaguar und McLaren, meinte aber recht kühl, dass unsere Einfahrt wohl erst für diese Autos hergerichtet werden müsste und das würde ja bestimmt noch ein Jahr dauern. Mit anderen Worten ausgedrückt: Sie traute sich nicht, sich solch ein Auto zu kaufen, so lange Rosalie das nicht auch haben konnte. Jedenfalls würden die gekauften Fahrzeuge in ein paar Tagen geliefert werden, so dass die Familie dann ausreichend “bestückt” wäre.
Wir fuhren anschließend noch zusammen zu unserer neuen Schule, um einen ersten Blick darauf zu werfen. Das Gebäude stand teilweise auf Säulen und hatte viele schräge Dachflächen. Es sah ein bisschen wie zusammengeschobene Bauklötze aus. Eine interessante und für mich modern wirkende Architektur. Sie gefiel mir spontan und ich freute mich schon darauf, diese Schule besuchen zu dürfen. Andererseits machte mir die Menge an Menschen auch etwas Sorgen. Etwas, das mir der heutige Tag auch vor Augen geführt hatte.
Im Grunde war es sehr schön, so mit der Familie zusammen zu sein, aber nachdem die erste Aufregung bei mir verflogen war, machte mir der ständige Geruch der Menschen um mich herum doch etwas zu schaffen. Es war anstrengend, mir stundenlang immer wieder vor Augen führen zu müssen, dass das Menschen waren und dass ich ihnen auf keinen Fall etwas tun wollte. Ich fühlte mich ziemlich erschöpft, da es nun ja auch schon später Nachmittag war und ich war besorgt, ob ich mit dem Schulalltag wirklich klarkommen würde.
»Ist alles in Ordnung,
Liebling?«
Meiner Mom war wohl nicht entgangen, dass ich im
Augenblick wohl nicht gerade fröhlich wirkte.
»Momma,
ich will wieder nach Hause.«
Entsetzt blickte sie mich
an.
»Aber Schatz, … bitte … das hier ist doch
jetzt unser zuhause.«
Hä? … wovon redete sie da? … OH! Sie dachte ich will nach Forks zurück. Ich schüttelte den Kopf und lächelte sie an.
»Nein Mom. Ich meinte, ich will nach Hause, in mein neues Zuhause. Ich bin einfach nur müde.«
Wahnsinn, wie erleichtert sie schlagartig aussah, mich wieder anlächelte, in den Arm nahm und mir einen Kuss auf die Wange gab.
»Dann lass uns …
nach Hause gehen.«
Am Abend saßen wir noch
einige Stunden zusammen und Esme machte ein Feuer im Kamin an. Das
Spiel der züngelnden Flammen und das knistern des Holzes hatte
eine ungemein beruhigende und einschläfernde Wirkung auf mich.
Mom und Dad setzten sich an das Klavier und spielten ihr Lied. Die
Melodie tat ein Übriges dazu, um mich noch mehr zu entspannen.
Schon gegen neun Uhr wollte ich nur noch in mein Bett, verabschiedete
mich von der Familie und ging schlafen.
Ich spürte die kalten und nassen Pflastersteine unter meinen nackten Füßen. Ich lief die Straße entlang. Es war eine der Einkaufstraße in Helensburgh. Überall um mich herum blieben die Leute stehen und starrten mich an. Warum nur starrten die so? Ich blickte an mir herunter und stellte fest, dass ich nur mit einem Ziegenfell bekleidet war. “Verdammt”, dachte ich mir. “Wie soll ich denn so unauffällig bleiben?” Ich brauchte meine Schuluniform. Jetzt sofort. Ich rannte zu dem Schneider, mein Herz schlug bis zum Hals und meine Muskeln brannten vor Aufregung. Alle Augen waren auf mich gerichtet und ich wurde schneller und schneller. Panik machte sich in mir breit. “Ich darf nicht so schnell rennen! Das fällt doch auf.” Ich versuchte langsamer zu werden, doch im gleichen Maße spürte ich wieder stärker die durchdringenden Blicke der Leute. Endlich erreichte ich nach einer gefühlten Ewigkeit die Schneiderei und stürmte hinein. Ein gewaltiger Wolf mit rotbraunen Fell stand vor mir und beäugte mich argwöhnisch.
»Was soll der Blödsinn?«, knurrte er mich an. »Du musst dich unauffälliger verhalten.«
Oh ich kannte diese Stimme. Die Erinnerung daran war alt, doch ich würde sie nie vergessen. Es war mein Jacob und er war wütend auf mich und ich schämte mich so deswegen.
»Es tut mir leid.«, stammelte ich. »Ich brauche doch meine Schuluniform.«
Alle Leute in dem Geschäft sahen mich an und fingen an zu lachen und ich wurde wütend.
»Gebt mir sofort etwas
anzuziehen!«, schrie ich, doch keiner reagierte.
»Los
jetzt. Schnell.«
Ich spürte, wie der Zorn in mir wuchs
und wie alles um mich herum in rotem Licht erstrahlte.
»Reiß
dich zusammen Nessie!«, schrie der Wolf mich an.
Ich schrak auf und blickte um mich. Ich saß in meinem Bett und der Raum war hell erleuchtet.
»Nur ein Traum«, stellte ich erleichtert fest, schloss die Augen, und ließ mich zurückfallen.
Es war so hell in meinem Zimmer, dass es rot durch meine geschlossenen Augenlider schimmerte. Der Traum war so real gewesen und ich spürte meinen erhöhten Puls und meine schnellere Atmung. Ich zog mir ein Kissen über das Gesicht, um von dem roten Leuchten befreit zu werden und versuchte gleichzeitig ruhiger zu atmen, um mich selbst zu beruhigen.
Ich hatte schon ewig nicht mehr von Jacob geträumt. Warum gerade jetzt? Jetzt, wo ich doch so weit weg von ihm war? War er wütend auf mich, weil ich mein neues Heim gestern zum ersten Mal als “Zuhause” bezeichnet hatte? Nein, das kann nicht sein. Daddy sagte doch, das er das so wollte. Was sollte dieser blöde Traum? Vermutlich war es nicht mehr und nicht weniger als der klägliche Versuch meines Unterbewusstseins, die gestrigen Erlebnisse zu verarbeiten.
“Na danke auch, Unterbewusstsein. Geht das vielleicht auch ein wenig netter?”
Etwas ungehalten zog ich das Kissen wieder von meinem Gesicht und richtete mich wieder auf. Ein Blick auf meinen Wecker verriet mir, dass es schon halb zehn war.
“Was?”, dachte ich überrascht. “Ich habe 12 Stunden geschlafen?” Offensichtlich waren Halbvampire doch nicht immun gegen Jetlag.
Ich stand auf und sah aus dem Fenster. Die Aussicht ließ mich meine leichte Verärgerung über meinen Traum sofort vergessen. Der Himmel war strahlend blau mit vereinzelten kleinen Schäfchenwolken und die Sonne ließ die Bäume stark konturierte Schatten auf die feuchte, glitzernde Wiese werfen. “Wie wunderschön”, dachte ich bei mir und sofort riss ich das Fenster auf und kletterte wieder aufs Dach. Ich sprang auf den Schornstein und spürte einen leichten warmen Hauch, der in ihm aufstieg und die winzigen Härchen an meinen Waden kitzelte.
Die Landschaft war im Sonnenlicht noch schöner. Die Wiesen und die Bäume hatten so ein saftiges Grün und doch waren es viele verschiedene Facetten dieser Farbe. Am Horizont war jetzt deutlich ein zerklüftetes kleines Gebirge zu erkennen. Meilenweit erstreckte sich der Wald hinter unserem Haus.
Ich kletterte auf die andere Seite des Daches und hangelte mich auf eines der kleinen Türmchen um einen Blick auf den Vorgarten zu werfen. Die Blumenbeete und die Rosenbüsche standen in voller Blüte und strömten einen wundervollen Duft aus, den ich selbst von hier oben deutlich wahrnehmen konnte.
In einiger Entfernung sah ich blinzelnd gegen die aufgehende Sonne das Glitzern der dunklen und sanften Wellen auf dem Firth of Clyde, eines der Gewässer in unserer Umgebung.
Jetzt wollte ich unbedingt das Haus und den Garten im Sonnenlicht betrachten. Also kletterte ich wieder in mein Zimmer, um mich schnellstmöglich fertig zu machen. Ein grummelndes Geräusch in meiner Magengegend erinnerte mich allerdings daran, dass es da noch mehr gab, das ich gefälligst zu tun hatte.
Ich machte mich in Höchstgeschwindigkeit fertig, stürmte in die Küche, schnappte mir eine Karotte, einen Apfel und eine Banane und rannte vor das Haus.
Kaum war ich draußen, war ich auch schon von dem Anblick gefangen und alle Hektik war verschwunden. Verträumt biss ich in meine Karotte und begann wie in Trance zu kauen. Der Vorgeschmack des Duftes, den ich zuvor auf dem Dach aufschnappen konnte, hatte nicht zu viel versprochen. Es war einfach herrlich. Ich schlenderte den Weg zur Treppe entlang und betrachtete das Haus in seiner vollen Pracht. Ich war fast ein wenig enttäuscht, dass es nicht von einem bunten Regenbogen eingerahmt wurde. Den hätte dieses Haus sozusagen als Lorbeerkranz redlich verdient.
Ich wanderte um das Haus herum, knabberte inzwischen an dem Apfel und sah mir alles genau von allen Seiten an. Seitlich hinter dem Haus entdeckte ich, dass hier ein großes, breites Garagentor in den Hügel eingelassen war. Von vorne war davon nichts zu erkennen gewesen. Es war perfekt versteckt. Daneben führte eine Treppe nach oben zur Terrasse und eine Tür in das Innere. Ich öffnete die Tür und automatisch ging das Licht an und erhellte die Garage oder besser gesagt, das Parkhaus. Hier hatten problemlos ein Dutzend Autos platz. Ich entdeckte auch die Treppe, die mir schon zuvor im Erdgeschoss aufgefallen war. Dahinter waren noch ein paar Räume die ich öffnete. Auf der linken Seite waren es ein Heizungskeller und ein Hauswirtschaftsraum. Auf der rechten Seite war es ein großer Raum, in dem bereits Emmetts Schlagzeug stand. Hier würden wir also zusammen Musik spielen können und ich freute mich schon darauf.
Ich ging durch die Tür auf der anderen Seite der Garage wieder hinaus. Auch dort war eine Treppe angebracht, die nach oben zur Terrasse führte. Ich stieg sie empor und blickte über den Rasen und zu den Obstbäumen. Es waren offensichtlich verschiedene. Äpfel, Birnen und Kirschen konnte ich erkennen. Ich bewunderte auch das schöne Holz, aus dem die Terrasse gemacht war und die farblich dazu passenden Gartenmöbel, die ich noch gar nicht richtig wahrgenommen hatte.
Ein Blick durch die Fensterfront verriet mir, dass die Familie wieder im Wohnzimmer versammelt war. Emmett und Jasper saßen vor einem Fernseher und die anderen standen in lockeren Grüppchen zusammen. Dad hatte mich bereits bemerkt und lächelte mich an. Ich trat durch eine Terrassentür ein und machte mich schon mal über die Banane her.
»Na du Langschläfer? Endlich wach?«
Auf Alice’ “freundliche” Begrüßung erwiderte ich nur ein »Hmm« in Kombination mit einem Kopfnicken. Schließlich war ich ein wohlerzogenes Halbvampirmädchen und mit vollem Mund spricht man nicht.
»Wir wollen heute unsere
Jagdmöglichkeiten erkunden. Kommst du mit?«, fragte mich
Dad.
Ich schluckte erst mal.
»Klar, Dad. Ich freu’
mich darauf.«
Unsere Erkundungstour dauerte bis in den späten Nachmittag hinein und es war ein merkwürdiger Kontrast zum gestrigen Tag. Heute war alles so viel entspannter und wir begegneten keiner Menschenseele, was bei dem Glitzern meiner Familie im Sonnenlicht natürlich so auch besser war. Zuerst fuhren wir rund um Loch Lomond in den Queen Elizabeth National Park. Danach entlang dem Loch Long und dem Loch Goil in den Argyll Forest Park. Die Landschaft war atemberaubend schön, wenn auch die Jagdmöglichkeiten doch sehr begrenzt waren. Hier gab es vor allem Rotwild. Kein vollwertiger Ersatz für meine geliebten Wapitis aber trotzdem sehr lecker. Zumindest für mich. Für Mom und Dad gab es hier auch ein Leckerli. Uns waren einige Luchse über den Weg gelaufen, allerdings war mir völlig unbegreiflich, warum die sich darüber so sehr freuten und sich spontan wieder verliebt in die Augen schauten und sich zärtlich küssten. Das Grinsen in Rosalies Gesicht war mir da auch keine große Hilfe.
Emmett wirkte ziemlich
frustriert. Hier gab es keine Bären, was wir aber schon vorher
wussten. Aber irgendwie ist es doch immer etwas Anderes, wenn man
dann vor Ort feststellen muss, dass es tatsächlich so war. Er
vereinbarte jedenfalls mit Rose, Jasper und Alice, dass sie künftig
in den Ferien einen Jagdurlaub machen wollten, um wenigstens ab und
zu ordentliche Beute zu bekommen.
Als wir am frühen Abend wieder zurückkamen, machte ich noch alleine einen Ausflug in die Wälder hinter dem Haus. Auch hier entdeckte ich einige Rehe und ein paar Wildkatzen. Der Wald war so urig und unberührt, dass ich ihn einfach in mein Herz schließen musste. Mir gefiel es hier. Mir gefiel es hier viel besser, als ich jemals erwartet hätte. Meine größte Sorge war jetzt, dass das, worauf ich mich eigentlich am meisten gefreut hatte, vielleicht das werden könnte, was mir am wenigsten gefiel. Die Schule. Die Vorstellung, stundenlang mit meinen Mitschülern auf engstem Raum zusammen zu sein, beunruhigte mich. Auf der anderen Seite freute ich mich natürlich auch darauf, endlich einmal Gleichaltrige kennen zu lernen. Zumindest körperlich gleichaltrige. Ich sehnte mich nach Freundschaften, auch wenn mir klar war, dass keine so sein konnte, wie sie mit Jacob war, doch hoffte ich auf etwas annähernd Ähnliches. Vor allem hoffte ich auf eine Freundin, die deutlich weniger als 100 Jahre Lebenserfahrung hatte.
Meine Gedanken setzten schlagartig aus, als ich in etwa 15 Meilen Entfernung vom Haus plötzlich am Fuße einer zehn Meter hohen steilen Felswand stand. Hier waren im Umkreis von gut 50 Metern keine Bäume, sondern nur eine natürliche Wiese. Am Waldrand lag ein alter umgestürzter Baumstamm, der wie eine Parkbank zum Hinsetzen einlud. Ich nahm das Angebot an und setzt mich. Gott, war das schön hier. Ich hatte doch tatsächlich ein wunderbares Plätzchen gefunden, wo ich deutlich außerhalb von Dads Reichweite meinen Gedanken nachhängen könnte. Insgeheim hatte ich mir so etwas gewünscht, aber nicht wirklich damit gerechnet und nun war ich genau dort.
Jetzt stand es definitiv fest.
Schottland war mein neues Zuhause. Ich liebte diese neue Heimat. Sie
gab mir alles, was mich glücklich machte. Alles was fehlte, war
Jacob, doch den hatte ich auch nicht in Forks. Nein, dieser Ort
schenkte mir auch Abstand davon. Ich empfand die große raue
Felswand als tröstend und beschützend. Ich fühlte mich
einfach wohl.
Nach Sonnenuntergang rannte ich wieder nach Hause. Ich erzählte Mom und Dad von meinem besonderen Platz, der scheinbar nur für mich geschaffen war und der mir ganz alleine gehören sollte und obwohl ich nicht direkt darum gebeten hatte, versprachen mir beide, dass sie das respektieren würden und ich, wann immer ich wollte, mich dorthin zurückziehen könnte.
Ich war sehr glücklich, nein rundum glücklich und das zeigte ich meine Eltern. Obwohl es anfangs so schien, als hätte diese neue Heimat den Anderen mehr zu bieten als mir, so hatte sich nun alles verdreht. Dieses Zuhause gab mir alles, das ich mir wünschte, während die Anderen mit Einschränkungen leben mussten. Sei es die Sache mit der Schuluniform, den Autos oder den Jagdmöglichkeiten. Für mich war dieser Ort perfekt und ich war deshalb so fröhlich, dass sich die ganze Familie einfach mit mir freuen musste.
So ging ich dann, glücklich und zufrieden, in mein Bett, in meinem Zimmer, in meinem Zuhause.
Das durchdringende Piepsen meines Weckers bereitete meiner unruhigen Nacht endlich ein Ende. Ein Blick auf ihn bestätigte, dass es sieben Uhr war. Warum auch nicht, schließlich hatte ich ihn auf diese Uhrzeit eingestellt. Die Schule würde zwar erst um neun anfangen, aber ich wollte kein Risiko eingehen.
Ich mochte meinen neuen Wecker. Er war so ein merkwürdiges Designerstück, das in einen Holzklotz eingearbeitet war und deshalb völlig unauffällig auf meinem Nachttisch stand. Die Digitalanzeige schimmerte dabei schwach durch das dünne Holz auf der Vorderseite.
Ich stand auf und sah aus dem Fenster und nahm erleichtert die Regenwolken zur Kenntnis, die gerade angefangen hatten, etwas von ihrer Last heruntertröpfeln zu lassen. Obwohl es keine besseren Wettervorhersagen als die von Alice geben konnte, war ich doch beunruhigt gewesen, ob wir wirklich gutes Vampir-Wetter hätten. Ich wollte wirklich nicht meinen ersten Schultag versäumen und auch nicht ohne die Anderen gehen. Ich war einfach schrecklich nervös, dabei hatte ich mich doch wirklich so gut es eben ging darauf vorbereitet.
Carlisle hatte uns Übersichten über den Lehrplan und Muster von Klausuren besorgt und es war nichts beängstigendes dabei. Einige der Bücher hatte ich sogar schon vor zwei-drei Jahren gelesen und was so in Mathe, Geschichte, Geographie und den anderen Fächern vorgesehen war, kannte ich größtenteils auch schon. Meine Familie hatte mich jahrelang bestens ausgebildet. Ich hatte mir auch ihre Unterlagen angesehen und da war auch vieles dabei, das ich schon kannte.
Es gab nur eine Sache, die sie mich nicht gelehrt hatten. Nämlich wie man sich wirklich als Fünfzehnjährige unter Gleichaltrigen verhält.
Ich war noch nie viel unter Menschen und vor allem war ich nicht alleine mit so vielen Fremden auf einmal zusammen, mit denen ich dann auch noch irgendwie in Kontakt treten sollte. Wenigstens waren wir die letzten zwei Wochen häufig in Helensburgh, damit ich mich besser an die Nähe gewöhnen würde. Das hatte mir auch wirklich geholfen. Ich saß oft mit Mom und Dad oder zwei Anderen in Straßenkaffees, wo ich mich darin übte, mich ungezwungen in der Umgebung von Menschen zu unterhalten. Wir gingen dazu auch häufig gerade dort hin, wo viele Jugendliche waren, so dass ich auch etwas von deren Unterhaltungen mitbekommen konnte. Das gab mir etwas Zuversicht, doch nicht sehr viel. Wie sollte ich denn in nur zwei Wochen alles nachholen, was für normale Mädchen schon ein ganzes Leben lang Gewohnheit war?
Besonders schlimm war es für mich, wenn mich ein Junge dann plötzlich ganz offen anlächelte und mir sogar ins Gesicht sah. Das machten die Wenigsten und ich wusste nicht, wie ich mich verhalten sollte. Dad meinte dann einmal zu mir, dass mich der Junge einfach nur süß fand und dass ich doch zurücklächeln sollte, wenn er mir auch gefiel, doch das löste bei mir dann sofort eine erhöhte Kopftemperatur aus und ich war nicht wirklich in der Lage zurückzuschauen, geschweige denn, zu lächeln.
Mom tröstete mich damit,
dass sie genauso unsicher war, als sie nach Forks kam und dass ich
einfach nur ich selbst sein sollte, dann würde sich schon alles
fügen. Wenn ich mal zu unsicher werden sollte, dann müsste
ich mir ja einfach nur die Wahrheit vor Augen führen. Nämlich,
dass ich schöner, stärker und klüger wäre als
alle Anderen. Ja, toll, prima. War das denn wirklich so gut? War das
nicht der Beweis dafür, dass ich eine Außenseiterin war?
Nein, der Rat half mir nicht im Geringsten.
Nachdem ich meine Schuluniform angezogen hatte, machte ich mich auf den Weg nach unten in die Küche zum Frühstück.
»Na, Kleine? Schon
aufgeregt?«
Emmett kam auch gerade aus seinem Zimmer und
verstrubbelte mir die Haare mit seiner gewaltigen Pranke.
»Ah!
Em, lass’ das. Ich will doch nicht wie eine Vogelscheuche
aussehen.«
»Ehrlich Süße, du wärst
bestimmt die hübscheste Vogelscheuche, die diese Schule jemals
gesehen hat«, sagte er breit grinsend und stupste mich mit
seinem überdimensionalen Zeigefinger an die Nase.
»Trotzdem.
Bitte, mach’ es mir nicht noch schwerer.«
Jetzt sah er
mich schon etwas mitfühlender an.
»Nessie. Du musst dir
wirklich keine Sorgen machen. Du packst das.«
Ich atmete tief durch, zupfte meine Haare wieder zurecht und schenkte ihm ein gequältes Lächeln. Dann setzte ich meinen Weg in die Küche fort.
Sobald ich mein Frühstück beendet hatte, ging ich ins Wohnzimmer, wo auch schon ein Großteil der Familie versammelt war. Carlisle würde uns heute in die Schule begleiten. Er hatte zwar bereits einen neuen Posten in einem Krankenhaus in Glasgow, jedoch hatte er sich den heutigen Vormittag frei genommen, um sich mit uns vorzustellen und noch erforderliche Unterschriften zu leisten.
»Hallo Leute«, begrüßte uns Alice, die gerade mit Jasper zu uns gestoßen war. »Es sieht alles gut aus. Keine Probleme zu erwarten.«
Eine solche Aussage von Alice sorgte bei allen für Zuversicht. Nur bei einem Familienmitglied nicht. Bei mir. Da Alice mich in ihren Visionen nicht sehen konnte, gab es einfach keine Garantie, dass bei mir auch alles problemfrei wäre.
»Hey, Sternchen. Heute ist
dein großer Tag. Freust du dich schon?«
»Na ja,
Mom. Ein bisschen vielleicht. Ich bin schrecklich aufgeregt.«
Mom blickte spontan zu Jasper. Ich wusste warum, doch das schien mir doch ein wenig übertrieben.
»Nein, Jasper. Nicht meine Gefühle beeinflussen. Ich will damit alleine klarkommen.«
Jasper sah mich kurz kritisch an, lächelte dann aber und nickte mir zu. Hoffentlich war das kein Fehler, denn ich wurde sofort wieder nervöser.
»Na dann wollen wir mal«,
sagte Carlisle und alle setzten sich in Bewegung. Auch Esme kam mit,
um sich vorzustellen. Sie fuhr zusammen mit Carlisle, während
ich mit Mom und Dad, also mit meinem Bruder und seiner Freundin,
zusammen mit Jasper in seinem Range Rover fuhr. Emmett fand das gar
nicht gut, denn er wollte auch bei Jasper mitfahren, aber Alice hatte
darum gebeten, dass ich bei Jasper fahre, weil sie in meiner Nähe
weniger gut “sehen” konnte und manchmal davon
Kopfschmerzen bekam. Für Mom und Dad stand es wiederum außer
Frage, dass sie zumindest in der Anfangszeit mir mit fahren würden.
So musste Emmett mit Rosalie in Alice’ viel zu kleinem Auto
mitfahren.
An der Schule angekommen, gingen wir alle brav mit unseren Pflegeeltern zum Sekretariat, um uns anzumelden. Wir waren fast eine Stunde zu früh und es waren kaum Schüler oder Lehrer im Haus. Das Sekretariat war jedoch schon besetzt und wir erhielten unsere Bücher und Stundenpläne, einen Lageplan des Gebäudes und natürlich unsere Klassenzuweisungen mit einer Auflistung der Lehrer. Netterweise hatte man tatsächlich unsere Wünsche berücksichtigt und die Pärchen immer zusammen in eine Klasse gesteckt, zumindest soweit sie die gleichen Fächer belegt hatten und das war natürlich von allen bedacht worden. Mom war deswegen sehr erleichtert und das konnte ich gut verstehen, denn ich hätte auch gerne jemanden bei mir gehabt. Leider war ich die einzige knapp Fünfzehnjährige in der Familie und würde alleine in die neue Klasse gehen müssen.
Die Wahlfächer hatten wir ja schon im Vorfeld festgelegt. Neben den Pflichtfächern Englisch und Mathe hatte ich mich vorsichtshalber für Fächer entschieden, die mir keine Probleme machen sollten. Als Fremdsprache wählte ich Spanisch, das mir Emmett bereits beigebracht hatte und ansonsten noch Geschichte, Geographie, Musik, Kunst, die Naturwissenschaften und Informationstechnologie. Eben alle Fächer, in denen ich auch zu Hause unterrichtet wurde. Zum Glück war Sport kein Pflichtfach und so wählten wir es alle ab. Das Risiko, dass Mom oder ich vielleicht zu schnell oder zu kraftvoll auftreten könnten, war uns einfach zu groß und so entschied die Familie, dass wir geschlossen den Sportunterricht nicht belegten. Wir gaben einfach an, dass wir Sport in unserer Freizeit machen würden und die Schulzeit damit nicht vergeuden wollten. Da wir ja auch alle topfit aussahen, wurde diese Ausrede auch akzeptiert.
Ich ging in die S5, also in die fünfte Klasse der Secondary School, was im Grunde nichts anderes als die High School war. Die 16-jährigen gingen alle in die S6 und Alice und Jasper in die SF 1, die nächste Stufe, die sie hier Sixth Form nannten, was mit dem College oder der gymnasialen Oberstufe vergleichbar war. Zum Glück war hier alles in dieser Schule zusammen unter einem Dach, so dass wir zumindest die nächsten zwei Jahre zusammenbleiben würden, was mich wirklich erleichterte.
Wir bekamen auch Spinde zugeordnet und eine junge Frau aus dem Sekretariat machte mit uns einen kleinen Rundgang, um uns alles zu zeigen. Ich hatte nicht erwartet, dass man hier so nett zu uns sein würde, aber es half mir sehr, mich etwas wohler zu fühlen.
Dann war es soweit. Die nette Frau aus dem Sekretariat begleitete mich als Erste zu meiner Klasse.
»Mr. Wattson, ich habe hier noch eine neue Schülerin für sie«, sagte sie zu dem Lehrer und lächelte mich auffordern an, ihr zu folgen. Ich trat ein und warf einen flüchtigen Blick in das Klassenzimmer. Die Tische waren in einer U-Form angeordnet. Ich erkannte schnell, dass zwanzig Schüler hier waren und dass es noch zwei freie Plätze gab.
Mr. Wattson schaute auf den Zettel, der ihm gegeben wurde und blickte dann zu mir, während sich meine Begleitung wieder verabschiedete.
»So, Miss Masen, dann möchte ich sie erst einmal herzlich hier bei uns begrüßen. … Möchten sie sich vielleicht kurz der Klasse vorstellen?«
Ich schluckte. Natürlich hatte ich mit so etwas gerechnet und auch vor dem Spiegel eine kurze Begrüßung geübt, aber jetzt war mein Hirn vor Aufregung plötzlich wie leergefegt und ich war nur noch nervös. Meine Herzschlag beschleunigte sich, meine Finger zitterten leicht und mein Magen fühlte sich komisch an. Alle Schüler schauten gebannt auf mich. Einige recht freundlich und einige eher skeptisch. Ein paar kamen mir sogar bekannt vor und ich war mir sicher, dass ich sie schon zuvor in der Stadt gesehen hatte. Ich atmete noch mal tief durch und dann fiel mir glücklicher Weise wieder ein, was ich sagen wollte.
»Hallo ich bin Vanessa
Masen. Meine Familie nennt mich aber Nessie.«
Einige lachten
leise oder schmunzelten. Gut, damit hatte ich gerechnet.
»Ja,
genau wie das Monster von Loch Ness, aber zum Glück habe ich
nicht die gleichen Gewichtsprobleme.«
Jetzt hatten fast alle ein Lächeln auf dem Gesicht und ich fühlte mich schon viel wohler, obwohl mein Scherz bei einigen Mädchen nicht so gut angekommen war. Mist. Aber egal. Ich wollte das jetzt durchziehen.
»Wie ihr an meiner Aussprache wohl schon erkannt habt, bin ich nicht von hier. Meine Familie ist vor zwei Wochen aus den Staaten hierher gezogen. Meine Geschwister gehen auch alle hier zur Schule. Vier von ihnen sind 16 und zwei 17. Ich bin 14, werde aber in ein paar Wochen 15.«
Jetzt begann ein leises Getuschel und man warf sich gegenseitig fragende Blicke zu. Ich war mir sicher, dass sie sich gerade überlegten, wie das mit dem Alter möglich sein könnte. Auch damit hatte ich auch gerechnet, also erklärte ich weiter.
»Also genau genommen, sind es nicht meine Geschwister. Das heißt, bis auf einen. Mein Bruder Edward ist wirklich mein Bruder. Alle anderen sind wie Edward und ich Waisen und wurden von Dr. Carlisle und Esme Cullen aufgenommen. Wir lebten alle in einem Waisenhaus in New Orleans, das damals bei dem Hurrikane Katrina zerstört wurde. Dann haben uns die Cullens aufgenommen und seit dem sind wir eine Familie.«
Ich konnte bei allen Zustimmung zu dieser Erklärung erkennen. Bei einigen verspürte ich sogar so etwas wie Mitleid. Das beruhigte mich ungemein. Ich hatte so gehofft, dass ich die neue Geschichte unserer Familie glaubhaft erzählen könnte. Also fuhr ich fort.
»Jedenfalls ist es so,
dass meine Geschwister, drei Jungs und drei Mädchen, Pärchen
sind. Sie waren schon im Waisenhaus zusammen und wir kennen uns schon
sehr lange. Deshalb haben die Cullens uns auch alle aufgenommen,
damit wir nicht getrennt werden.«
»Und wo ist dein
Freund?«, fragte mich plötzlich ein Junge.
Überrascht sah ich ihn an. Ich hatte nicht damit gerechnet, dass mir hier jetzt jemand eine Frage stellen würden. Der Junge grinste breit. Er sah eigentlich ziemlich gut aus, war groß und muskulös und hatte kurze dunkle lockige Haar. Verlegen lächelte ich zurück und antwortete ihm.
»Ich habe keinen.«
»Das
ist gut zu wissen«, meinte er jetzt noch breiter grinsend.
»Mr.
Roberts.« ergriff plötzlich Mr. Wattson das Wort.
»Vielleicht sollten sie es Miss Masen gestatten, sich erst
einmal hier an das Klima zu gewöhnen, bevor sie über sie
herfallen.«
Leichtes Gelächter war zu hören. Das war doch nicht nötig, dass er mich in Schutz nahm.
»Ähm, Danke Mr. Wattson«, sagte ich. »Ich finde das Klima hier sehr angenehm.«
Jetzt lachten vor allem die meisten Jungs ziemlich laut, während sich der Großteil der Mädchen kichernd die Hand vor den Mund hielt. Ich fragte mich kurz, was wohl diese allgemeine Belustigung ausgelöst haben könnte, doch dann wurde mir schlagartig bewusst, dass ich gerade zu verstehen gegeben hatte, dass ich mich nicht erst eingewöhnen müsste, sondern dass dieser Typ doch gleich über mich herfallen könnte.
“Oh Gott wie peinlich”, dachte ich und spürte sofort die Wärme in meinem Gesicht. “Könnte sich jetzt bitte vielleicht die Erde unter mir auftun und mich verschlucken?”
Nach einigen Sekunden der grenzenlosen Peinlichkeit, hatte Mr. Wattson erbarmen mit mir und wies mir nun einen Platz neben einem grinsenden, aber dabei eher freundlich wirkenden Mädchen zu. Sie war bestimmt zehn Zentimeter kleiner als ich und hatte Sommersprossen, blaugrüne Augen und lange strähnige und leicht gewellte, blonde Haare, die dabei aber nicht ungepflegt aussahen. Das war wohl einfach ihr Look.
»Hi, ich bin Lissie«,
sagte sie und hielt mir die Hand zur Begrüßung hin. Ich
lächelte gequält zurück und schüttelte ihre
Hand.
»Ja hi, ich bin Nessie.«
»Ich weiß,
du hast dich gerade vorgestellt.«
Ich schluckte. Mein Hals
war furchtbar trocken und meine Wangen schienen zu glühen.
»Mach‘
dir keinen Kopf wegen dem Aufreißer da drüben. Kevin macht
sich einen Riesenspaß daraus, Mädchen in Verlegenheit zu
bringen. Das ist sozusagen sein Hobby.«
»Und ich bin
voll darauf reingefallen.«
»Das kannst du laut sagen«,
sagte sie mit ihrem freundlichen Lächeln, das mich doch
tatsächlich etwas beruhigte.
Sie war wirklich sehr nett und ich mochte sie spontan. Unsicher schaute ich mich um. Mr. Wattson hatte bereits mit seinem Matheunterricht begonnen und die Aufmerksamkeit der meisten Schüler wieder auf sich gezogen. Einige sahen trotzdem noch gelegentlich leicht schmunzelnd zu mir rüber. Allerdings war da auch ein Mädchen mit langen, glatten, schwarzen Haaren die mich häufiger wütend anfunkelte.
Links neben mir saß ein schmächtiger Junge mit dunkelblondem Haar und einer Brille. Er schien meine Größe zu haben und wirkte recht nett. Er erwiderte meinen Blick und hielt mir ebenfalls die Hand zur Begrüßung hin.
»Hi, ich bin Martin.«
»Hi,
Nessie, aber das weißt du ja schon.«
Er nickte nur und lächelte
leicht. Dann wandte er seine Aufmerksamkeit wieder dem Unterricht zu
und ich tat es ihm gleich.
Nach der Stunde verglich ich noch mit Lissie meinen Stundenplan. Außer Spanisch und Geographie hatten wir die gleichen Fächer, was mich sehr freute. Was mich jedoch weniger erfreute, war die Feststellung, dass der “Aufreißer” gerade zu uns kam.
»Hallo, ich habe mich noch nicht vorgestellt, ich bin Kevin.«
Der Typ war echt dreist. Eben noch stürzte er mich in die größte Peinlichkeit meines Lebens und jetzt kam er zu mir um Smalltalk zu machen? Es war mir egal, wie gut der Kerl aussah. Ich war einfach nur sauer auf ihn.
»Danke Kevin, aber mein
Bedarf an Peinlichkeiten ist für heute gedeckt.«
»Hey,
tut mir leid. Wir hatten einen schlechten Start. Vielleicht kann ich
es ja wieder gut machen und dich ins Kino einladen. Was hältst
du davon?«
Hä? Was wollte der denn jetzt von mir. Tat es ihm echt leid? Ich sah ihm in die Augen. Sie waren dunkelbraun und hatten einen merkwürdigen Glanz. Er sah wirklich gut aus und ich wurde wieder unsicher, was ich sagen sollte.
»Man Kevin, übertreib'
es doch nicht gleich«, sprach ihn plötzlich ein anderer
Junge von der Seite an.
»Halt dich da raus Gabriel«,
zischte Kevin ihn an.
Kevins Reaktion verwirrte mich. Was sollte das? Warum wurde der gleich so aggressiv? Nein, dieser Junge war mir nicht geheuer und ich wollte ganz sicher nicht mit ihm ins Kino gehen.
»Danke für die Einladung, aber ich muss leider ablehnen«, sagte ich und tat so, also müsste ich mir noch etwas notieren.
Er schnaubte und ich hörte seine energischen Schritte, die aus dem Klassenzimmer heraus führten.
»Hi, ich bin Gabriel«, wurde ich plötzlich angesprochen und sah zu ihm auf.
Wow. Ein breites Lächeln, das sehr viel ehrlicher wirkte als das von Kevin, strahlte mich an. Kleine Grübchen bildeten sich an den Wangen. Seine Augen waren stahlblau und seine blonden Locken hingen ihm bis auf die Schultern. Er sah sportlich aus und war etwas größer als ich.
»Äh, hi«, sagte
ich mit kratziger Stimme. Mein Hals war immer noch so furchtbar
trocken. Morgen würde ich mir auf jedenfalls etwas zu trinken
mitnehmen.
»Das war eine … nette Vorstellung von dir
… vorhin.«
“Na toll. Noch so ein Idiot, der sich über mich lustig machen will”, dachte ich.
Ich senkte meinen Blick und gab nur genervt »hmm« von mir.
»Ähm, das war jetzt nicht böse gemeint. Kevin ist ein Volltrottel. Du scheinst nett zu sein und ich wollte nur hallo sagen.«
Oh? Ich sah noch mal zu ihm auf und sein leichtes Lächeln wirkte immer noch sehr aufrichtig. Hatte er gerade gesagt, dass er mich “nett” fand? Was sollte ich denn jetzt machen?
»Äh, danke, …
ich … hatte wohl einfach nur einen unglücklichen
Einstand.«
Ich stand auf und reichte ihm die Hand zu
Begrüßung und er schüttelte sie.
»Ich bin
Nessie.«
»Gabriel.«
Seine Hand fühlte sich kühl in meiner an und mir wurde sofort bewusst, dass meine höhere Körpertemperatur das verräterischste Merkmal von mir war. Ich entzog ihm gleich wieder meine Hand und er wirkte etwas enttäuscht deswegen.
»Ja, nun … dann
willkommen in Helensburgh … und wenn du mal etwas brauchst,
... ich helfe dir gerne.«
»Danke Gabriel.«
»Stets
zu Diensten.«
Dann machte er eine gespielte Verbeugung, lächelte mich noch mal an und ging zu seinem Platz zurück.
Irritiert, was das jetzt wieder zu bedeuten hatte, sah ich ihm noch einen Augenblick hinterher und setzte mich dann wieder. Aus den Augenwinkeln bemerkte ich, dass Lissie mich angrinste.
»Ist etwas?«, fragte
ich verwirrt.
»Nööö«, sagte sie mit
einem noch stärkerem Grinsen im Gesicht.
»Aha?«
“Also
ehrlich, was haben die hier denn alle? Ich kapiere überhaupt
nichts”, dachte ich bei mir.
»Du stehst auf ihn,
oder?«, sagte Lissie jetzt schmunzelnd.
»Was?!«,
fuhr es mir viel zu laut aus dem Mund, so dass gleich mehrere Köpfe
sich nach uns umdrehten.
»Wie kommst du denn darauf?«,
flüsterte ich hinterher.
»Na, so wie du im hinterher
gestarrt hast. Er ist ja auch echt süß.«
»Ich
habe gar nicht gestarrt«, sagte ich leicht trotzig. »Ich
bin nur … verwirrt.«
»Ach so«, meinte
Lissie jetzt mit einem verständnisvollen Lächeln. »Aber
ich glaube, er steht auf dich.«
»Echt?«
Mist. Warum fand ich das denn jetzt so toll und warum hörte man mir das auch noch an?
»Wusste ich’s doch.
Du stehst auf ihn.«
»Ich kenne ihn doch gar nicht. Und
außerdem, wieso glaubst du, dass er mich mag?«
»Bist
du blind?«
Also jetzt reichte es aber. Ich hatte bestimmt die besten Augen in der ganzen Schule, wenn man mal von meiner Familie absehen würde.
»Nein, meine Augen
funktionieren bestens«, gab ich schmollend zurück.
»Na,
ich weiß nicht…«
»Oh bitte Lissie, du
nicht auch noch.«
»Ist ja schon gut. Aber hast du
nicht bemerkt, wie er dich angesehen hat? Außerdem spricht er
fast nie ein Mädchen an. Er mag dich bestimmt.«
“Kann das sein?”,
fragte ich mich selbst. “Ich habe ja keine Ahnung von Jungs.
Aber Lissie kann doch nicht Gedanken lesen, oder? Ich könnte ja
Dad fragen, ob er bei Gabriel mal nachsieht, ob er mich mag. Halt
Stopp, was denke ich denn da? Daddy!!! Nicht machen! Hörst du?
Niiiiicht!”
Es klingelte zur zweiten Stunde und schon ging es mit dem Unterricht weiter. Obwohl Mr. Bennett einen interessanten Englischunterricht machte, musste ich trotzdem immer wieder zu Gabriel schauen. Allerdings sah er nicht noch mal zu mir und mit dem Verlauf der Stunde wurde ich mir immer sicherer, dass sich Lissie getäuscht haben musste und ich war sehr enttäuscht deswegen. Er war wohl vorhin doch nur höflich. Ganz anders als Kevin, der ständig zu mir sah, dessen Blicke ich aber auf gar keinen Fall erwidern wollte. Da konzentrierte ich mich lieber auf Mr. Bennett, auch wenn er mir nichts Neues zu erzählen hatte.
Merkwürdig war für mich, dass der Unterricht an diesem Vormittag irgendwie weniger aufregend war, als die kurzen Pausen. Es war fast so, als würde mit dem Klingeln gleichzeitig ein großer Pfeil über meinem Kopf erscheinen und alle auffordern, sich jetzt doch bitte mit mir zu beschäftigen. Ob das normal war? Nun ja, unangenehm war es auf jeden Fall, aber so lernte ich meine Klassenkameraden wenigstens ein bisschen kennen. Auf eine Begegnung hätte ich aber gerne verzichtet. Die Schwarzhaarige, die mich schon mehrfach böse angefunkelt hatte, kam an meinen Tisch und baute sich vor mir auf. Zwei andere Mädchen standen hinter ihr. Passend zu ihren schwarzen Haaren hatte sie auch kräftige rote Lippen und ansonsten eine eher blasse Haut. So ungefähr könnte man sich Schneewittchen vorstellen, oder in diesem Fall besser gesagt ihre böse Zwillingsschwester. Allerdings glaube ich nicht, dass Schneewittchen eine so unreine Haut haben könnte. Insbesondere der große Pickel an ihrem Kinn, den sie mit Unmengen von Make-up zu kaschieren versuchte, hatte so gar nichts Märchenhaftes an sich oder würde eher zu einer Hexe passen. So gesehen auch nicht ganz falsch bei ihr.
»Hey, Schlampe! Lass’ die Finger von meinem Kerl, verstanden?«
Ich war total perplex. Was hatte ich denn getan? Wieso beleidigte sie mich? Ich hatte diese kleine Gemeinheit eben doch nur gedacht und nicht laut ausgesprochen, oder? Ich würde so etwas doch niemals sagen.
»Pass’ auf Goldlöckchen. Wenn du dich nicht von Kevin fern hältst, dann kratze ich dir deine Rehaugen aus. Kapiert?«
Wow, den Versuch würde ich gerne sehen. Vermutlich würden aber ihre falschen Fingernägel bei dem Versuch abbrechen. Und wieso nannte sie mich Goldlöckchen? Das war doch eindeutig Bronze, nicht Gold. Ich war verärgert aber gleichzeitig so überrascht, dass ich nicht wusste, was ich sagen sollte.
»Glaub’ ja nicht, dass ich deinen Unschuldsmasche nicht durchschaue. Wenn du ihm zu nahe kommst, mach’ ich dich fertig!«
Dann reckte sie die Nase in die Luft und stolzierte davon, ihre Begleiterinnen wie zwei brave Hündchen im Schlepptau.
»Was war das denn?«,
fragte ich Lissie unsicher.
»Oh, das war Lou. Die steht
total auf Kevin. Die beiden hatten was miteinander, bzw. haben hin
und wieder was miteinander, wenn es Kevin danach ist. Er sieht das
wohl eher als lockere Beziehung, aber Lou sieht das ganz
anders.«
»Das habe ich gemerkt.«
»Lou
ist nicht ganz dicht. Eigentlich passt sie perfekt zu Kevin.«
Da mussten wir dann beide Lachen
und waren auch gleich heilfroh, dass weder Kevin noch Lou im Raum
waren.
Wir hatten dann noch eine Stunde Geschichte bei Mr. Bennett und danach in der Mittagspause nahm mich Lissie einfach mit in die Kantine. Der Raum war sehr groß und es waren zahlreiche schräg angeordnete Tischreihen verteilt, sowie auch viele einzelne Tische im Randbereich, die wohl sehr beliebt zu sein schienen. Es waren auch mehrere größere Pflanzen aufgestellt, die als Raumteiler fungierten. Sie erweckten den Eindruck, dass man doch irgendwie separat saß, auch wenn viele um einen herum waren.
Lissie führte mich zu ihrem Tisch. Dort lernte ich dann auch ihre Freundinnen Paulina, Susi und Connie kennen. Ebenfalls mit am Tisch saßen noch zwei Jungs. Simon und Nathan, die wohl mit Paulina und Connie zusammen waren, ab so richtig blickte ich da noch nicht durch. Zumindest musterten sie mich nicht so auffällig, wie das die meisten anderen Jungs heute gemacht hatten.
Als Mittagessen hatte ich mir einen Salat genommen. Eigentlich würde ich lieber gar nichts essen, aber da alle anderen auch am Essen waren, wollte ich lieber nicht auffallen. Ich stocherte also in meinem Salat herum, als ich plötzlich hinter mir eine Stimme hörte, die ich bereits kannte.
»Darf ich mich zu euch setzen?«
Lissie grinste breit und die Anderen schauten ihn überrascht an. Auch wenn ich die Stimme nicht sofort erkannt hätte, wäre alleine Lissies Gesicht eine klare Botschaft gewesen, dass es Gabriel war, der sich zu uns setzten wollte.
»Klar«, sagte Lissie. »Es ist ja noch ein Platz frei.«
Genau, da war noch ein Platz. Direkt links neben mir und da setzte er sich natürlich auch hin. Ich schaute kurz von meinem Salat auf und lächelte ihn an. Man hatte der schöne Augen. Ich hatte wohl noch nie zuvor jemanden mit so blauen Augen gesehen. Obwohl ich schon längst wieder mein Mittagessen fixierte, konnte ich sie noch deutlich vor mir sehen. Ich war wieder total aufgeregt und nervös und konnte mir das nicht im geringsten erklären.
»Darf ich dich fragen, wo
du wohnst?«, sprach mich Gabriel vorsichtig an.
»Klar«,
sagte ich. Warum auch nicht? Wieso sollte er mich das nicht fragen
dürfen?
Das schien auch alle Anderen zu interessieren, da ihre Gespräche schlagartig verstummt waren und alle zu mir sahen. O.K.? Das musste dann wohl ein wichtiges Thema sein.
Ȁhm, sagst du es mir
auch?«
Oh Gott. Schon wieder so eine Peinlichkeit. Warum
hatte ich es denn nicht gleich gesagt?
»Ja, natürlich.
Ich wohne mit meiner Familie außerhalb von Helensburgh.
Vielleicht eine Meile in Richtung Waldrand, in einem tollen großen
alten Haus.
»Ihr wohnt in Dunbarton Manor?«, fragte
Susi überrascht und sah mich dabei merkwürdig an.
»Oh,
ich wusste nicht, dass das Haus einen Namen hat.«
Aber warum auch nicht? Ein solches Haus hatte definitiv einen Namen verdient und Dunbarton Manor hörte sich richtig edel an, war also wie geschaffen für dieses Haus.
Meine Tischnachbarn sahen sich alle gegenseitig verwundert an und ich fühlte mich schon wieder unwohl. Zum wievielten Male heute eigentlich?
»Stimmt etwas nicht?«,
fragte ich unsicher.
»Nein, nein«, meinte Lissie. »Ihr
müsst wohl ziemlich reich sein, wenn ihr euch das Anwesen
leisten könnt.«
»Na ja, ich weiß nicht.
Mein Dad, also mein Pflegevater ist Arzt und seine Frau ist
Architektin. Sie hat das Haus komplett renoviert.«
»Echt?
Darf ich es mir mal ansehen?«, wollte Lissie wissen und alle
anderen sahen ebenfalls gespannt zu mir.
Oh man. Was sollte ich
denn jetzt machen?
»Ich weiß nicht. Ich muss erst
fragen.«
Damit gaben sich dann alle
glücklicher Weise zufrieden. Für den Moment jedenfalls.
Die ganze Mittagspause über redete Gabriel praktisch kein Wort. Warum hatte er sich überhaupt zu uns gesetzt, wenn er nicht mit uns reden wollte? Außer einem zaghaften Lächeln, wenn sich unsere Blicke flüchtig trafen, kam nichts von ihm. Der Junge verwirrte mich total.
Ich schaute mich auch in der Kantine um und entdeckte meine “Geschwister” an einem abgelegenen Tisch. Mom grinste mir zu und Dad machte ganz beiläufig ein “Daumen hoch” Zeichen. Was meinte er damit und warum grinste er so?
Ich wandte mich wieder meinem Salat zu, der inzwischen durch das Dressing ziemlich matschig geworden war. Ne, also wirklich nicht. Den würde ich nicht mehr essen. Ich lehnte mich in meinem Stuhl zurück und schaute mich weiter um. Es war ziemlich voll. Ein paar hundert Schüler würde diese Schule wohl haben. Jetzt wurde mir auch der Geruch der Menschen wieder bewusster. Mist. Die ganze Zeit hatte ich ihn doch erfolgreich ausblenden können, warum denn jetzt nicht mehr? Ich verspürte einen Anflug von Panik und hörte in mich hinein, ob ich meinen Durst noch unter Kontrolle hatte.
»Alles in Ordnung mit dir?«, sprach mich plötzlich Gabriel an und seine Stimme klang so sanft und besorgt.
Ich sah ihm in die Augen und jetzt nahm ich auch seinen Duft sehr viel deutlicher wahr. Oh man. Er sieht nicht nur süß aus, er riecht auch so. Ich spürte, wie sich mein Herzschlag beschleunigte und ich wieder schlucken musste, weil mein Hals so trocken war und leicht brannte.
»Ich habe Durst«,
sagte ich spontan und war damit viel ehrlicher, als ich sein
wollte.
»Dann hole ich dir etwas. Was magst du denn?«
Am liebste hätte ich “dein Blut” gesagt, aber das wäre ja wohl fatal gewesen. Außerdem wollte ich das nicht. Verdammt, das durfte einfach nicht wahr sein. “Komm schon Nessie. Du kannst das. Reiß dich zusammen.”
»Einfach nur Wasser, bitte«, kam es schon fast krächzend aus meiner Kehle.
Mit einem netten Lächeln auf den Lippen, das wieder diese entzückenden Grübchen zum Vorschein brachte, stand er auf und ging zur Getränkeausgabe. Kurz darauf, war er auch schon wieder mit einer Flasche Wasser und einem Glas zurück. Er drehte die Flasche auf und goss mir ein.
»Danke«, sagte ich und leerte das Glas in einem Zug.
Die Feuchtigkeit spendete mir etwas Linderung, auch wenn es meinem Körper gerade nach einer ganz andern Flüssigkeit dürstete. Er goss mir noch ein zweites Glas ein und auch dieses leerte ich auf ex.
»Man, du hast ja echt einen wahnsinnigen Durst«, meinte er grinsend.
“Wenn du wüsstest”, dachte ich bei mir.
Das dritte Glas, das auch nur noch halb voll war, trank ich jetzt langsamer aus. Diese Flasche Wasser hatte mir tatsächlich etwas geholfen. Der Durst war etwas schwächer geworden und mein Puls beruhigte sich wieder.
»Soll ich dir noch eine
Flasche holen?«
»Nein Danke, Gabriel. Ich glaube, ich
habe genug.«
»Was hast du denn heute Nachmittag für
Unterricht?«, wollte er wissen.
Ȁhm, eine
Doppelstunde Musik bei Mrs. Peebles, und du?«
»Hey,
cool. Ich auch.«
Ja, das war cool. Teilweise
zumindest. Ich freute mich darauf, denn irgendwie mochte ich Gabriel,
aber es beunruhigte mich auch, weil ich meinen Durst jetzt schon
stärker gefühlt hatte. Auf jeden Fall würde ich mir
vorsichtshalber noch eine Flasche Wasser mitnehmen.
Den Rest der Pause verbrachten wir draußen. Jetzt wurde mir auch der praktische Nutzen der Säulen-Bauweise bewusst. So hatten viel Schüler die Möglichkeit, sich in der Pause ein bisschen an der frischen Luft zu bewegen, ohne im Regen stehen zu müssen. Das war echt durchdacht.
Nach der Pause folgte der Musikunterricht. Mrs. Peebles begrüßte mich ebenfalls sehr freundlich und fragte mich natürlich, ob ich denn ein Instrument spielen würde. Davon, dass ich Gitarre spielte, war sie nicht sehr begeistert. Als ich dann aber erwähnte, dass ich auch schon Klavierstunden hatte, sah das schon anders aus. Sie wollte prompt, dass ich vorspielte, was ich auch tat. Ihr gefiel mein Spiel tatsächlich, obwohl ich schon lange nicht mehr am Klavier gesessen war. Sie meinte, dass ich talentiert sei und unbedingt weitere Stunden nehmen sollte. Na ja, vielleicht würde ich mit Dad noch mal darüber reden.
Ich sollte dann auch noch etwas vorsingen, aber das war mit dann doch zu peinlich und ich redete mich damit heraus, dass ich leichte Halsschmerzen hätte. Das war noch nicht einmal richtig gelogen, denn meine Kehle war ständig trocken, kratzig, brannte leicht und ich hatte schon in der ersten Stunde meine mitgenommene Wasserflasche geleert. Das führte dann leider auch dazu, dass ich in der Pause die Toilette aufsuchen musste. Es überraschte mich nicht, dass sie sehr sauber war, denn in dieser Schule schien mir sehr auf Sauberkeit und Ordnung geachtet zu werden, dennoch war der Geruch in meiner Nase äußerst unangenehm, da ich ihn so furchtbar stark wahrnahm. Ich hoffte inständig, dass ich mein Durst-Problem bald in den Griff bekommen würde und nicht mehr so viel trinken müsste.
Das absolute Tages-Highlight
hatte ich aber in der letzten Stunde. Da sangen wir alle Zusammen ein
Lied, das wir in der vorherigen Stunde durchgegangen waren. Gabriel
hatte eine wirklich tolle Stimme, was ich gar nicht vermutet hatte.
Er konnte die Töne halten und hörte sich ein bisschen nach
Robbie Williams an. Ich war davon so fasziniert, dass ich selbst zwei
Mal aus dem Takt kam, was mir sehr unangenehm war.
Nach dem Unterricht verabschiedete ich mich insbesondere von Lissie und Gabriel und ging zum Parkplatz, um mich mit meinen “Geschwistern” zu treffen.
»Na, Sternchen. Wie war
dein erster Schultag?«, fragte mich Mom und nahm mich dabei in
den Arm.
»Hey, Bella. Wir sind hier noch auf dem
Schulgelände«, gab ich schmunzelnd zurück.
»Oh!
Entschuldige … Vanessa.«
Mom lächelte mich unentwegt an und Dad gab mir eine Kuss auf die Stirn. O.K. Für einen großen Bruder, der seine kleine Schwester gerne hat, dürfte das wohl in Ordnung sein.
»Ähm, Brüderchen?
Was sollte das vorhin eigentlich mit dem “Daumen hoch”?«
»Das
war eine Antwort.«
»Eine Antwort?«
»Ja.«
»Und
worauf?«
»Auf deine Frage.«
»Auf welche
Frage?«
Allmählich wurde ich ungehalten und Dad grinste
immer breiter.
»Na auf die gedachte Frage.«
»Welche
gedachte Frage?«, sagte ich jetzt schon fast flehend.
»Die,
die du eigentlich nicht stellen wolltest.«
»Himmel!
Sag es endlich!«
»Na, du wolltest doch wissen, ob er
dich mag.«
»Wer?«
»Gabriel!?«
»Oh!
… dann heißt das … Gabriel … mag
mich?«
»Exakt.«
»Wow. Aber warum hat er
dann kaum mit mir geredet?«
»Er ist
schüchtern.«
»Echt?«
»Mindestens
genau so wie du.«
»Dad! … Ups.«
Erschrocken blickte ich um mich, ob jemand meinen Ausrutscher bemerkt hatte, doch es war zum Glück niemand in der Nähe.
»Ich bin nicht schüchtern.
… Oder doch? … Ich meine, ich hab’ doch keine
Ahnung.«
»Er auch nicht.«
»Hä?«
Dad
seufzte schwer und rollte mit den Augen.
»Er hat auch keine
Ahnung, wie man ein Mädchen anspricht. Es hat ihn schon sehr
viel Überwindung gekostet, euch überhaupt zu fragen, ob er
sich dazu setzen darf.«
»Oh! … Und was mach’
ich jetzt?«
»Na, das musst du schon selbst
herausfinden«, meinte Dad abschließend.
»Ich
könnte dir da helfen…«, sagte plötzlich
Rosalie zu mir.
»Nein! Hör bloß auf. Oder Besser:
Fang erst gar nicht an.«
Alle kicherten vor sich hin und ich hatte schon wieder eine erhöhte Wangentemperatur. Ich bin mir sicher, man hätte heute in meinem Mund ein Brot backen können.
Auf der Heimfahrt kam mir dann noch etwas Anderes in den Sinn.
»Daddy? Hast du das mit
meinem … Durst … auch mitbekommen?«
»Ja,
Schatz und du hast das großartig gemacht.«
»Wirklich?
Das sagst du doch jetzt nur so.«
»Nein, das meine ich
wirklich so. Alle haben das für einen ganz normalen Durst
gehalten. Das mit dem Wassertrinken war eine gute Idee.«
»Und
wie war es bei euch?«
»Nun ja, wir wurden
hauptsächlich kritisch angesehen und abgeschätzt«,
antwortete Mom auf meine Frage. »Es hat sich eigentlich niemand
getraut, auf uns zuzukommen. Wir sind halt nicht so gut getarnt wie
du.«
Ich lächelte. Es hatte sich tatsächlich bewahrheitet, was mir Mom schon vor Jahren prophezeit hatte. Ich konnte mich sehr viel unauffälliger unter Menschen bewegen. Trotzdem war nicht alles angenehm.
»Daddy? Dann hast du doch
bestimmt auch meine Vorstellung mitbekommen, oder?«
»Ja
Schatz«, sagte er lachend und auch Mom und Jasper stimmten mit
ein.
»Du hast es ihnen erzählt?«
»Tut
mir leid, Schatz. Alle wollten von mir wissen, wie es dir ergangen
ist und es war ja auch … sehr witzig.«
Ich
schnaubte.
»Aber nicht für mich!«
»Ach
Liebling«, sprach Mom mich wieder an. »So etwas gehört
einfach dazu. Sieh es doch mal so. Wenn es nicht so passiert wäre,
dann wärst du wahrscheinlich nicht so positiv bei Lissie und
Gabriel angekommen.«
»Du weißt von
Lissie?«
»Natürlich. Sie saß doch beim
Mittagessen neben dir und hat dich ständig angelächelt.
Auch ohne die Bestätigung von Edward wäre ich mir sicher
gewesen, dass sie dich mag.«
»Lissie mag mich
auch?«
Alle nickten und lächelten.
»Und was
will dieser Kevin von mir?«
Kaum hatte ich diese Frage gestellt, da verschwand das Lächeln auf Moms Gesicht und das von Dad hatte plötzlich eine bittere Note.
»Er will dich …
erobern«, sagte Dad schließlich.
»Erobern!?«
»Ich
bin mir sicher, Rosalie könnte dir das …«
»Ja,
Ja, Ja, ich hab’s schon kapiert.«
Wieder lächelten alle und
mein Brotbackautomat im Gesicht lief wieder auf Hochtouren. Für
dem Moment hatte ich wirklich genug gehört.
Zuhause angekommen zog ich mich erst einmal um und hängte meine Schuluniform in den Schrank. Dann machte ich mich an meine Hausaufgaben, aber vermutlich hatten wir am ersten Tag bewusst nicht viel aufbekommen, denn schon nach einer halben Stunde war ich fertig.
Mein Blick fiel auch kurz auf meine Staffelei, die ich am äußersten rechten Fenster aufgestellt hatte. Vor ein paar Tagen hatte ich mit einem neuen Gemälde angefangen. Es war so ein schöner sonniger Tag, dass ich irgendwie das Bedürfnis hatte, ihn in einem Bild festzuhalten. Natürlich hätte ich auch einfach fotografieren können, aber durch das Malen nahm ich die Schönheit irgendwie stärker in mich auf. Es würde aber wohl noch ein paar Sonnentage brauchen, bis das Bild fertig wird.
Kurz bevor es mir fast
langweilig geworden wäre, kam Emmett bei mir vorbei und fragte
mich, ob wir zusammen etwas Musik machen wollten. Da war ich
natürlich sofort dabei. Über den Tag hatte sich doch recht
viel in mir angestaut und das Austoben an der Gitarre tat richtig
gut.
Gegen Abend, als Carlisle wieder zu Hause war und sich die Familie im Wohnzimmer versammelte, kam mir noch ein Frage in den Sinn, die ich noch klären wollte.
»Esme? Wusstest du, dass
unser Haus einen Namen hat?«
»Ja, Liebes. Es heißt
Dunbarton Manor.«
»Das habe ich gehört. In der
Schule haben sie mich gefragt, wo ich wohne und als ich es erzählt
hatte, sagte sie mir den Namen.«
Esme nickte.
»Das
ist hier ziemlich üblich, dass solche alten Herrenhäuser
einen Namen haben.«
Ȁhm Esme? Ein paar haben
mich gefragt, ob sie es sich wohl ansehen dürften. Geht das?«
Esme zögerte. Also wenn sie nicht sofort etwas zusagte, dann hatte sie definitiv ein Problem damit. Sie antwortete nur nicht sofort, um sich eine schonende Erklärung einfallen zu lassen. Ich hatte das schon ein paar Mal mit ihr erlebt.
»Ist ja nicht so wichtig.
Ich sag ihnen einfach, dass es nicht geht.«
»Nein,
Kind. Das wäre auch nicht gut. Ich möchte doch, dass du
einen guten Start hast.«
»Ich hätte da vielleicht
eine Idee«, sagte Alice und hatte dabei ein so verschmitztes
Grinsen auf dem Gesicht, dass Mom dabei augenblicklich so aussah, als
würde sie mit dem Schlimmsten rechnen. »Wir könnten
doch eine Geburtstagsparty für dich machen. Du hast doch schon
in drei Wochen Geburtstag und dann auch noch an einem Samstag. Das
ist perfekt für eine Party. Oh bitte, machen wir das? Ja?«
Ich
blickte fragend Mom an.
»Was meinst du Mom?«
»Also
wenn du das willst, kannst du es von mir aus machen. Ich kann mich
dann ja in meinem Zimmer verkriechen, wenn es mir zu viel wird.«
»Was
Momma? … Du willst meinen Geburtstag nicht mit mir feiern?«
Die Tatsache, dass sie bei meiner Geburtstagsparty vielleicht nicht dabei sein wollte, tat mir furchtbar weh und ich hatte augenblicklich Tränen in den Augen. Sofort schlang ich die Arme um ihren Hals.
»Dann … will …
ich … keine … Party«, gab ich stotternd von
mir.
»Aber Sternchen. So war das doch nicht gemeint. Ich
dachte, du willst vielleicht lieber mit deinen neuen Freunden
…«
»Nein! Nicht wenn du nicht dabei bist. Ihr
müsst alle dabei sein.«
»Aber Eltern wären
schon ein bisschen unüblich für einen Teenager-Party«,
meinte Alice in Anspielung auf Carlisle und Esme.
»Nun ja«,
meinte Carlisle. »Wir könnten uns dann ja frühzeitig
zurückziehen und der Jugend das Feld überlassen.«
Vermutlich hatte Alice damit recht. Wenn es um Wettervorhersagen und Partytipps ging, konnte man sich eigentlich immer blind auf Alice verlassen.
»O.K. aber alle Anderen feiern mit, ja?«
Ich schaute kurz durch die Reihe und alle lächelten und nickten. Mom gab mir einen Kuss auf die Wange.
»Natürlich Renesmee. Für dich doch immer.«
Ich war erleichtert. Sehr
erleichtert. Und plötzlich auch aufgeregt. Ich würde eine
Party geben, auf die viele Menschen eingeladen würden und die
nur wegen mir kommen würden. Na ja, auch wegen dem Haus, aber
doch zu meiner Party. Ich seufzte. Ich hatte keine Ahnung, wie man
sich auf einer solchen Party zu verhalten hatte. Ich würde wohl
einige Nachhilfestunden bei Alice nehmen müssen.
Am nächsten Morgen auf der Fahrt zur Schule war ich schon sehr gespannt, was der heutige Tag so mit sich bringen würde. Ich hoffte jedenfalls, dass es nicht allzu viele Peinlichkeiten sein würden.
»Dad? Könntest du in
der Schule vielleicht versuchen meine Gedanken auszublenden? Es ist
auch so schon schwer genug für mich, nicht zu wissen, wie ich
mich richtig verhalten soll, aber wenn ich dann auch noch darauf
achten muss, was ich denke, dann wird das echt zu viel für
mich.«
»Ich werde es versuchen Schatz, aber du weißt,
dass das nicht einfach für mich ist, wenn mir die Gedankenstimme
so vertraut ist wie deine.«
Hilfesuchend blicke ich zu
Mom.
»Tut mir leid, Sternchen. Ich kann dich nicht
abschirmen. Unsere Klassenzimmer sind zu weit auseinander. Ich kann
das höchstens beim Mittagessen in der Mensa machen.«
Leicht
deprimiert wandte ich mich noch mal an meinen Dad.
»Könntest
du dann wenigstens die peinlichen Dinge, die du von mir mitbekommst,
für dich behalten? … Bitte?«
»Natürlich
Liebling«, sagte er und lächelte mich verständnisvoll
an.
Also wir dann auf dem Parkplatz der Schule ankamen, erhellte sich meine Stimmung schlagartig. Vor der Eingangstür warteten Lissie, ihre Freude und ein Stückchen daneben Gabriel. Ich sprang schon fast aus dem Auto und beeilte mich, zu ihnen zu kommen. Lissie lächelte und winkte mir zu. Überhaupt wirkten alle sehr fröhlich. Das Grinsen wich aber plötzlich aus ihren Gesichtern, als sie meine Familie hinter mir entdeckten. Plötzlich wirkten alle recht fassungslos und starrten halb an mir vorbei.
Was sollte ich denn jetzt nur machen? Sollte ich ihnen vielleicht meine Familie vorstellen? Würden sie das wollen?
Dad kam als Erster bei mir an, streichelte mir über den Kopf und flüsterte mir »mach’ das« ins Ohr.
»Ähm. Darf ich euch vielleicht mit meiner Familie bekannt machen? Also das hier ist mein großer Bruder Edward«, dem ich gleich einen Kuss auf die Wange gab. »Er ist einfach immer für mich da. … Und das Mädchen an seiner Seite ist seine Freundin Bella, die ihm bei dem “Kümmere dich um Nessie Job” bestens unterstützt.«
Auch ihr gab ich einen kleinen Kuss auf die Wange, was sie sehr glücklich machte.
Inzwischen war auch der Rest der Familie bei uns angekommen.
»Der kräftige Teddybär hier ist Emmett und die zeitlose Schönheit daneben ist Rosalie. Der große, mysteriöse Junge ist Rosalies älterer Bruder Jasper und das kleine grinsende Energiebündel an seiner Hand ist seine Freundin Alice.«
Alle lächelten freundlich, als ich sie vorstellte. Nur Alice winkte breit grinsend und sah so aus, als wollte sie gleich vor Freude anfangen herumzuhüpfen. Einen Drang, den sie Gott sein Dank unterdrücken konnte.
»Und zusammen sind sie die beste Familie, die ich mir wünschen könnte.«
Lissie und die Anderen waren sichtlich eingeschüchtert und lächelten verlegen. Ich sah sie unsicher und fragend an und dann besann sie sich, stellte sich selbst und ihre Freude kurz vor. Da sie Gabriel dabei irgendwie vergessen hatte, was wohl daran liegen könnte, dass er ja “nur” ein Klassenkamerad und keiner ihrer Freunde war, ging ich kurz zu ihm und stellte ihn selbst meiner Familie vor.
»Und das hier ist Gabriel. Der erste Junge, der hier wirklich nett zu mir war.«
Gabriel schenkte mir dafür ein dankbares und glückliches Lächeln, das mich kurz vergessen ließ, dass ich als einziges Mitglied der Cullens wirklich atmen musste.
Dann trennten sich meine
Geschwister von uns und lächelten mich noch mal kurz an. Nun ja,
Emmett und Rosalie grinsten eher unverschämt, was meine
Gesichtsdurchblutung sofort wieder anregte. Anschließend gingen
wir in unsere Klasse.
Der Vormittag verlief die ersten Stunden ohne besondere Vorkommnisse. Dann lernte ich unsere Geographielehrerin Mrs. MacLeish kennen, die allerdings von ihrer Art her ganz anders war als Alice. Ich hatte nicht wirklich damit gerechnet, dass dieses Fach so langweilig sein könnte. Leider hatte Lissie dieses Fach nicht belegt. Leider für mich, nicht für sie. Mein anderer Platznachbar Martin schien ähnlich gelangweilt zu sein, machte aber keine Anstalten, sich mit mir zu unterhalten. Ob er vielleicht auch nur schüchtern war? Sollte ich dann ihn ansprechen? Aber wie sollte ich das denn anstellen?
Da die USA Hauptthema dieses Trimesters waren und wir gerade mit der Landkarte begonnen hatten, fragte ich ihn vorsichtig und flüsternd, ob er denn schon mal dort gewesen wäre, doch er schüttelte nur den Kopf und ließ sich nicht auf ein Flüstergespräch ein. Seufzend steckte ich meine Nase wieder in den Atlas.
»Miss Masen?«, wurde ich plötzlich angesprochen. »Sie kommen doch aus den USA. Verraten sie uns doch von wo genau.«
Ihre Stimme wirkte kühl und wenig interessiert. Ich verstand nicht, warum sie mich das fragte, wenn sie es nicht wirklich zu interessieren schien, doch ich wollte ihr die Antwort geben.
Ȁhm, gerne, Mrs.
MacLeish. Ich lebte die meiste Zeit in New Orleans und dann noch eine
Weile in Forks, bevor wir hierher gezogen sind.«
»Wo
liegt denn dieses Forks?«, fragte sie mit einem merkwürdigen
Unterton, den ich nicht genau zuordnen konnte.
»Auf der
Olympic Halbinsel.«
»Aha«, sagte sie, während
sie näher heran kam und sich dann wieder an die Klasse wandte.
»Wer kann mir denn sagen, wo diese Olympic Halbinsel ist?«
Schweigen. … Alle blickten stur vor sich auf ihre Unterlagen.
»Niemand? Wie
enttäuschend«, meinte Mrs. MacLeish mit einem genervten
Tonfall, der mir die gesamte Ablehnung offenbarte, die ich instinktiv
gegen diese Person hegte.
»Sie liegt im Bundesstaat
Washington an der Westküste«, sagte ich.
»Na,
na, na, Miss Masen. Hier bei uns meldet man sich und wartet
bis man aufgerufen wird, bevor man spricht«, wies sie mich
überheblich zurecht.
Ich bekam einen roten Kopf. Diesmal jedoch nicht aus Verlegenheit, sondern vor Zorn.
»Entschuldigung!«, kam es etwas zischend durch meine Zähne, woraufhin Mrs. MacLeish den Kopf schüttelte und abfällig »Amerikaner!« meinte und mir den Rücken zudrehte.
Die Wut stieg immer weiter in mir auf. Ich bemerkte, wie meine Hände leicht zitterten und wie ich mit jedem Blinzeln mehr und mehr den Eindruck bekam, dass wohl gerade eine rote Sonne aufgehen musste und den Raum in ein merkwürdiges Licht tauchte. Ich empfand einen tiefen Hass in mir und ein leisen knurren quoll aus meiner Kehle. Ich wollte aufspringen. Ich wollte aufspringen und ihr ins Gesicht brüllen, dass sie sich ihre beschissene Arroganz sonst wo hinstrecken könnte.
Plötzlich spürte ich einen kühle Hand auf meiner und schaute erschrocken nach links zu Martin. Er sah mich besorgt an und schüttelte zaghaft den Kopf. Auch er war in dieses komische Rot gehüllt. Ich blickte um mich und sah in noch weitere Gesichter, die mich leicht erschrocken oder zumindest verwirrt und überrascht ansahen.
Warum starrten sie mich an? Warum hatte Martin mich angefasst und warum tat er es immer noch? Hier stimmte etwas nicht. Was war nur los mit mir? Ich verspürte meine stärkeren Instinkte, aber das war kein Jagdmodus. Das Rot war anders. Ich ahnte, dass es etwas Unterbewusstes war, was mich sehr verwirrte. Ich hatte mich noch nie so gefühlt. Nicht auf der Jagd und auch nicht Zuhause. Weder hier noch in Forks. Ich war wegen dieser Lehrerin so voller Hass, doch auch sehr verwirrt, wegen Martins Hand.
Ich schloss die Augen und versuchte mich zu beruhigen, konzentrierte mich auf eine ruhige Atmung. In meinen Ohren rauschte es leise, doch allmählich ließ es nach. Ich vernahm wieder die monotone und widerwärtige Stimme von Mrs. MacLeish, doch ich zwang mich dazu, die Ruhe zu bewahren, beziehungsweise sie wiederzuerlangen, was mir unendlich schwer fiel.
Hin und wieder öffnete ich kurz die Augen und schloss sie wieder, nachdem ich feststellen musste, dass der Raum noch immer in ein leichtes Rot getaucht war. Es dauerte ein paar Minuten, bis ich wieder mein Umfeld bewusster wahrnahm. Martins Hand lang immer noch auf meiner und er sah mich noch immer besorgt an. Es tat gut, sie zu spüren, denn sie lenkte mich von meinem Zorn ab, doch sie lag schon so lange auf meiner, dass ich den Temperaturunterschied kaum noch spürte.
Das war nicht gut. Ich atmete noch mal tief durch und dann zog ich meine Hand langsam unter seiner zurück und legte sie auf meinen Schoß. Jetzt war ich vor allem verlegen, doch dadurch fühlte ich mich wieder beherrschter und nicht mehr so wütend. Ich lächelte ihn leicht an und flüsterte »Danke«.
Er erwiderte mein Lächeln,
zog seine Hand, die jetzt nutzlos auf meinem Atlas lag, zurück
und wandte sich dann wieder seinen Notizen zu. Ich schaute noch mal
um mich und auch die Anderen, die mich beobachtet hatten, schienen
das Interesse verloren zu haben.
Am Ende der Stunde blieb ich noch kurz sitzen, während sich meine Klassenkameraden zum Mittagessen aufmachten. Nur Martin war noch da und kramte irgendwie unsinnig in seiner Tasche herum, holte mal das eine oder andere Heft heraus, um es kurz durchzublättern, ohne dass etwas Konkretes seine Aufmerksamkeit erlangte.
Warum machte er das? Ich sah ihn jetzt genauer an und nach einer kurzen Weile erwiderte er meinen Blick.
»Martin? … Ich …
danke dir. … Du hast mir vorhin sehr geholfen.«
»Keine
Ursache Vanessa«, sagte er lächelnd.
»Bitte,
Martin. Nenn mich doch Nessie.«
»Wenn du willst.
O.K.«
»Martin? Warum hast du das gemacht?«
»Na
ja, … ich meine … die MacLeish hat eine Aversion gegen
die USA. Keine Ahnung warum, aber ich befürchtete, dass sie dich
provozieren wollte, um ihre Vorurteile bestätigt zu
bekommen.«
»Oh man. … Das ist ihr auch voll
gelungen. Ich war kurz davor sie anzuschreien.«
»Das
habe ich bemerkt.«
»Und deshalb hast du … mich
versucht zu beruhigen?«
Während ich das sagte, rieb ich mir den Handrücken, auf dem in der letzten Schulstunde sein Hand lag und er lächelte mich wieder an.
»Ja, das hätte dir
bestimmt großen Ärger eingebracht. Sie kann ziemlich fies
sein und bei dir wäre sie das auch bestimmt geworden. Das wollte
ich nicht.«
»Das … war wirklich sehr nett von
dir, Martin.«
Eigentlich hatte er damit ihr mehr geholfen als mir, aber ich wusste, dass er das nicht wissen konnte. Er war einfach sehr hilfsbereit gewesen und ich verspürte große Dankbarkeit.
»Ach, ist doch nicht der Rede wert. Ich habe mir ja nur ein bisschen die Finger verbrannt.«
Den letzten Satz sagte er mit einem frechen Grinsen, doch ich erschrak und hielt mir die Hand vor den aufgerissenen Mund. Hatte er etwa bemerkt, dass ich anders war? Ich hätte niemals zulassen dürfen, dass er so lange die Hand auf meine legte. Das war ja so leichtsinnig von mir. Was er wohl jetzt von mir dachte? Schlagartig fühlte ich mich wieder sehr unsicher.
»Hey, das war nur ein Spaß. Deine Hand war nur ziemlich heiß und dein Kopf so rot. Dein Blutdruck hatte wohl ziemlich verrückt gespielt, was?«
Puh! Er hatte es für eine menschliche Körperreaktion gehalten.
»Ja und du hast mir sehr dabei geholfen, wieder ruhiger zu werden. Danke noch mal.«
Er nickte mir zu und dann gingen
wir zusammen in die Kantine.
Vor der Tür der Mensa warteten Mom, Dad und Jasper und sahen besorgt nach mir. Ich trennte mich von Martin, der meine Geschwister unsicher ansah und schnell an ihnen vorbei ging.
»Stimmt etwas nicht?«,
fragte ich Dad.
»Ist bei dir wieder alles in Ordnung
Schatz?«
»Ja Bruderherz, alles wieder O.K.«
»Du
hast mir einen wahnsinnigen Schrecken eingejagt, Nessie. Ich dachte,
du fällst gleich deine Lehrerin an.«
»Echt? Oh
man. Die Frau hat mich wahnsinnig wütend gemacht.«
»Das
habe ich gemerkt.«
»Aber, dann weißt du doch
auch, dass nichts passiert ist.«
»Ja, du hattest
Glück.«
»Glück?«, fragte ich
verwirrt.
Dad nickte.
»Ich bin mir nicht sicher, ob du
dich beruhigt hättest, wenn dieser Martin nicht bei dir gewesen
wäre. Das war ein großen Glück.«
Ich schluckte. Kaum vorstellbar, was hier hätte passieren können, wenn ich ausgerastet wäre. Noch nie zuvor hatte ich eine solche Wut empfunden. Ich hätte womöglich alles verraten. Was hätte meine Familie dann getan? Oder die Volturi, um das Geheimnis zu wahren? Alle Zeugen umgebracht? Uns umgebracht?
»Vermutlich«, sagte Dad.
Meine Kehle war wieder furchtbar trocken. Die Vorstellung von dem, was meinetwegen beinahe passiert wäre, war einfach nur grauenhaft.
»Wir reden heute Abend darüber, Liebling. Jetzt gehe zu deinen Freunden und komme wieder auf andere Gedanken.«
Mom lächelte mich
mitfühlend an und Jasper, der mich sehr kritisch musterte,
schickte mir noch etwas Zuversicht und Ausgeglichenheit. Ich fühlte
mich auch sofort sehr viel besser und ging dann hinein.
Mit einem Schälchen Reis mit gedünstetem Gemüse, sowie zwei Flaschen Wasser ging ich zu meinem Platz. Gabriel und Lissie warteten wohl schon auf mich.
»Du bist spät. War
irgendetwas?«, wollte Lissie wissen.
»Leider ja«,
antwortete ich und dann erzählte ich davon, wie meine
Geographiestunde abgelaufen war. Nun ja, zumindest den Teil, denn ich
erzählen konnte.
Alle am Tisch schüttelten fassungslos den Kopf, wirkten aber nicht wirklich überrascht. Es war wohl tatsächlich in der Schule bekannt, dass diese Lehrerin etwas gegen alles hatte, das mit den USA in Zusammenhang stand.
»Ehrlich Nessie, du solltest versuchen das Fach zu wechseln. Bei der wirst du nicht glücklich.«
Ich nickte, doch ich wusste nicht, ob ich das tun könnte und ob ich es sollte.
»Ich werde mit meinen
Eltern darüber reden. Mal sehen, was sie sagen.«
»Du
willst mit deinen Eltern darüber reden?«, fragte mich Susi
überrascht.
»Ja, natürlich. Warum denn
nicht?«
»Also meine Eltern hätten dafür wohl
kein Verständnis, wenn ich ein Fach abwählen wollte, nur
weil mich die Lehrerin vielleicht nicht mag. Die würden mir eine
Standpauke halten, wegen Disziplin und Durchhaltevermögen.«
»Also
meine sind eigentlich sehr verständnisvoll. Sonst hätten
sie uns ja auch nicht aufgenommen.«
»Aufgenommen?«
»Ich
hatte doch gestern erzählt, dass sie unsere Pflegeeltern sind,
oder?«, sagte ich zu Lissies Freunden.
»Hast du?«
»Ich
glaube schon. Als wir über das Haus gesprochen haben?«
»Oh,
das habe ich wohl nicht richtig mitbekommen«, meinte Susi etwas
verlegen und die anderen stimmten nickend zu. Allerdings sahen sie
jetzt alle gebannt auf mich.
»Na ja, es ist so. Meine
Geschwister und ich sind alle Waisen. Die Cullens haben uns
aufgenommen. Sie waren immer sehr gut zu uns und wir können
eigentlich über alles reden.«
»Ach, deshalb hast
du so viele Geschwister, die alle fast gleich alt sind«, meinte
Connie.
»Ja genau.«
Dann erzählte ich ihnen die Geschichte von New Orleans und meiner fiktiven Vergangenheit. Als ich damit fertig war, fiel mir noch etwas Anderes ein.
»Ähm, was ich euch fragen wollte. Also wir kennen uns ja noch nicht so gut, aber ich habe doch in knapp drei Wochen Geburtstag, also am Samstag in zwei Wochen und da wollte ich fragen, ob ihr vielleicht zu einer Party zu uns kommen wollt?«
Ich war sehr unsicher und fragte wohl übertrieben vorsichtig, aber alle lächelten mich an.
»Klar kommen wir«, sagte Lissie. »Oder?«
Dabei schaute sie die Anderen
an, die alle zustimmend nickten.
»Wer kommt denn sonst
noch?« wollte Nathan wissen.
»Also ich habe bis jetzt
nur euch gefragt.«
»Wie viele darfst du denn
einladen?«
»Ähm? Ich weiß nicht. Darüber
hatten wir nicht genau gesprochen. Es war die Rede davon, die ganze
Klasse einzuladen, aber das finde ich nicht so gut. Kevin und Lou
will ich bestimmt nicht dabei haben.«
Nach einer kurzen Lacheinlage sprach mich Susi noch mal an.
»Du darfst echt so viele
zu einer Party einladen? Das ist ja unglaublich.«
»Na
ja, bis jetzt seid es ja nur ihr sieben. Ich denke, ich will auch
Martin einladen. Aber sonst? Ich kenne ja niemanden.«
»Wir
könnten dir ja eine Vorschlagsliste machen«, sagte
Paulina, doch dann hatte ich ein bessere Idee.
»Wie wäre
es denn, wenn jeder von euch einfach zwei weitere Freunde mitbringt?«
Die Idee gefiel vor allem den
Mädchen und schon begann das wilde Getuschel. Namen wurden durch
den Raum geworfen und es wurde diskutiert, dass es ja gleichviel
Mädchen wie Jungen sein sollten. Schließlich sagten sie
mir fröhlich zu, dass sie sich darum kümmern würden
und ich lehnte mich erleichtert zurück.
Der Unterricht am Nachmittag war
ein besonderes Highlight im positiven Sinne. Wir hatten eine
Doppelstunde in Spanisch bei Mrs. Molinero. Hier war zwar Lissie auch
nicht mit dabei, dafür aber Gabriel. Da der Unterricht in einem
anderen Klassenzimmer stattfand, fragte mich Gabriel, ob wir
vielleicht zusammen sitzen wollten und ich war deshalb überglücklich.
Gut, zwei Stunden neben ihm zu sitzen bedeutet zwar, dass ich
bestimmt zwei Flaschen Wasser brauchen würde, um meine Kehle
ruhig zu halten, aber das war es mir definitiv wert. Ich mochte den
Klang seiner Stimme. Sein Spanisch war zwar nicht so gut, wie ich
schon bald feststellen musste, aber es war aus seinem Mund trotzdem
irgendwie melodisch. Mrs. Molinero war jedenfalls begeistert von
meiner Aussprache und als ich ihr im Überschwang dann auch noch
einen spanischen Witz erzählte, den ich von Emmett kannte, gab
sie mir prompt ein A als mündliche Note. Dafür sahen mich
dann viele neidisch an, doch da mich Gabriel dafür anlächelte,
war mir der Neid der Anderen vollkommen egal. Genauso egal, wie die
schon wieder viel zu heißen Wangen. In der Pause hätte ich
mich gerne mit ihm Unterhalten, aber das Wassertrinken forderte
seinen Tribut. Abgesehen davon wusste ich auch gar nicht, worüber
ich mit ihm hätte reden sollen. Ich dachte bei meinem
Toilettengang angestrengt darüber nach, was ich sagen könnte
und vergaß dabei die Zeit, so dass die Pause auch schon wieder
vorbei war, ohne dass mir etwas eingefallen wäre. Also beließ
ich es bei ein paar flüchtigen Blickwechseln während der
Stunde.
Nach der Schule machte ich Zuhause erst mal meine Hausaufgaben und hörte dann ein Stündchen Musik, bis Carlisle nach Hause kam. Eine unangenehme Sache musste ja heute noch geklärt werden. Also versammelte sich die Familie wieder im Wohnzimmer um mein “Wut-Problem” zu besprechen.
Wir setzten uns an den Konferenztisch und alle schauten mich an. Ich mochte es nicht, wenn ich so im Mittelpunkt stand. Das bedeutete doch nur, dass ich ein Problem hatte, das ich nicht lösen konnte und dass ich die ganze Familie damit belasten musste.
»So darfst du das aber
nicht sehen, Liebling«, sagte Dad mitfühlend.
»Es
ist doch aber so«, sagte ich halb trotzig, aber vor allem
bedrückt. »Könntest du vielleicht anfangen?«
»Ich
habe aber nicht alles mitbekommen, Schatz. Ich hatte doch versucht
dich auszublenden und erst damit aufgehört, als ich deine Wut so
deutlich gehört hatte.«
»Trotzdem. Bitte Daddy.«
Er seufzte, holte tief Luft und
begann zu erzählen.
»Also wie ihr bereits mitbekommen
habt, geht es um einen Wutanfall von Renesmee. Ich weiß nicht,
was ihn ausgelöst hat, aber sie war unglaublich wütend auf
ihre Lehrerin und stand kurz davor, die Beherrschung zu verlieren.
Ich konnte ihren Jagdmodus sehen.«
»Das war aber nicht
mein Jagdmodus«, korrigierte ich.
»Nessie, ich kann
nur erzählen, was ich wahrgenommen habe. Willst du vielleicht
nicht doch selbst…?«
Alle sahen mich halb neugierig und halb betroffen an. Ich seufzte und fügte mich in mein Schicksal.
»Also gut. … Tut mir leid, dass ich euch schon wieder mit meinen Problemen belästigen muss, aber ich weiß wirklich nicht, was da passiert ist. Ich hatte gerade Geographie bei Mrs. MacLeish. Sie hat wohl etwas gegen die USA und damit auch gegen mich. Sie war so, so, so, arrogant und … ich weiß auch nicht. Jedenfalls hat sie mich total zornig gemacht und ich wäre fast aufgesprungen um sie anzuschreien, … wenn nicht sogar schlimmeres, … aber ich weiß es nicht. Meine Instinkte waren stark und meine Sicht ähnlich wie in meinem Jagdmodus, aber ohne den Durst. Ich war nur unsagbar wütend. Wenn mir mein Banknachbar Martin nicht seine Hand auf meine gelegt hätte, um mich zu beruhigen, wäre ich vermutlich ausgerastet. Ich verstand mich selbst nicht mehr und ich brauchte einige Minuten, um wieder ruhiger zu werden.«
Einige Augenblicke lang war Ruhe im Raum. Dann sprach Carlisle vor sich hin.
»Das ist …
beunruhigend.«
»Also Bitte! Was ist denn an einem
Wutausbruch beunruhigend?«, sagte Rosalie. »Es ist doch
ganz natürlich, Wut zu verspüren.«
»So habe
ich das nicht gemeint«, antwortete Carlisle. »Ich meine,
ich hatte nicht damit gerechnet.«
Dann sah er zu mir.
»Was
du da gerade geschildert hast, das hat mich überrascht. Das habe
ich doch richtig verstanden, dass das auch neu für dich war,
oder?«
»Ja, aber ich weiß nicht, warum ich
ausgerechnet bei ihr so wütend geworden bin. Gestern hatte mich
ein Mädchen ziemlich übel beschimpft und beleidigt, doch
das machte mir nicht so viel aus. Aber bei Mrs. MacLeish? Alleine der
Name löst Hass in mir aus.«
»Na und?«,
meine Rosalie. »Ich bin auch oft wütend. Wieso ist das
denn ein Problem?«
»Na ja, Rose. Ich hätte doch
beinahe die Kontrolle verloren. Wenn ich sie angegriffen hätte,
dann…«
Ich konnte nicht weiterreden, aber das war auch nicht nötig. Alle wussten, was ich meinte.
Nach einer Weile bemerkte ich, dass Dads Mine sich verfinsterte. Diesen Gesichtsausdruck hatte er eigentlich nur dann, wenn ihm Jaspers Gedanken nicht gefielen und als ob ich es geahnt hätte, hörte ich plötzlich dessen Stimme.
»Wir wissen praktisch
nichts über das Wachstum von Halbvampiren. Sie entwickelt sich
weiter zu einer jungen Frau. Ihr Körper hat sich verändert
und ihre emotionale Wahrnehmung offensichtlich auch. Wenn sich das
verstärkt hat, sollten wir herausfinden, wie sehr. Ich würde
gerne mit ihr trainieren.«
»Halt dich zurück,
Jasper«, zischte Dad ihn an.
»Edward. Ich weiß,
dass dir das nicht gefällt, aber du kannst sie nicht in Watte
packen. Wenn sie ihre Emotionen nicht kontrollieren kann, wird sie
unberechenbar. Vielleicht ist sie in diesem Punkt im Augenblick doch
erst fünf und wie ein unsterbliches Kind.«
»Wie
kannst du das nur sagen!«, schrie Mom ihn an. »Sie ist
meine Tochter und du kennst sie schon ihr ganzes Leben.«
»Bella.
Ich meinte doch nur, dass sie sich womöglich zur Zeit nicht
unter Kontrolle hat. Das können wir doch nicht ignorieren.«
»Da
gibt es nichts zu ignorieren! Sie war wütend, aber es ist nicht
passiert.«
»Aber das war vermutlich nur Glück.
Bein nächsten Mal, hält sie vielleicht niemand auf.«
»Es
gibt kein nächstes Mal. Sie weiß es jetzt und Punkt.«
»Du
glaubst, sie würde bei der nächsten starken Emotion nicht
wieder die Selbstkontrolle verlieren?«
»Natürlich
glaube ich das. Sie ist willensstark.«
»Na, das werden
wir ja sehen.«
Plötzlich sprang Jasper auf und augenblicklich verspürte ich eine unbeschreibliche Angst vor ihm. Er schien den ganzen Raum einzunehmen und ich konnte kaum etwas Anderes als seine Furcht einflößende Erscheinung wahrnehmen. Panik und blankes Entsetzen stieg in mir auf. Ich bemerkte wie Mom neben mir aufgesprungen war und ihr Stuhl rückwärts weg flog. Sie schien sich auf einen Kampf mit Jasper vorzubereiten und ich konnte es kaum glauben. Er war so gewaltig und ich wollte mich einfach nur vor ihm verstecken oder weglaufen, doch ich sah keine Möglichkeit und fühlte mich wie das Kaninchen vor der Schlange. Nur Mom war meine einzige Hoffnung. Ich hüpfte hinter sie und kauerte mich an ihren Rücken. Sie nahm eine Hand nach hinten und versuchte mir etwas Halt zu geben, doch es half mir nicht. Ich machte mich so klein wie möglich, damit er mich nicht mehr sehen konnte, doch die Angst wuchs und wuchs und die Panik, die ich verspürte war grauenhaft. Ich war vollkommen verzweifelt.
»Bitte aufhören«,
winselte ich. »Ich tu auch alles was du willst.«
»Jasper
STOP!«, brüllte meine Mom.
Dann ließ die Angst plötzlich nach, doch ich spürte noch deutlich ihre Nachwirkungen. Ich zitterte am ganzen Körper und meine Augen füllten sich mit Tränen. Mom drehte sich zu mir um und umarmte mich schützend.
»Wie konntest du ihr das
nur antun, Jasper!?«, hörte ich Esmes sanfte aber
vorwurfsvolle Stimme.
»Es tut mir leid, aber es musste sein.
Sie hat sich voll und ganz dem Gefühl der Angst ergeben. Da war
kein Widerstand. Sie hat sich nicht unter Kontrolle. Verdammt, ihr
müsst das doch auch gesehen haben. Sie hat sich in der Pubertät
verändert. Wir alle kennen die scheinbar grenzenlose Freude, die
sie ausstrahlt, wenn sie glücklich ist und so schön wie das
auch ist, so deutlich ist dabei auch, dass sie es nicht beeinflussen
kann. Habt ihr denn schon vergessen, wie sie sich bei unserer Abreise
der extremen Trauer wegen Seth und Jacob völlig ergeben hatte?
Also ob unser Wohnort irgendetwas an der Situation ändern würde.
Und dann, kaum waren wir hier, hat sie sich der großen Freude
über das schöne neue Zuhause hingegeben. Natürlich hat
uns das allen gefallen und gut getan, aber das ist nicht normal. Sie
ist nur noch ein Spielball ihrer Emotionen und vollkommen
unbeherrscht. Die Wut in der Schule und jetzt die Angst. Ihr habt
gerade das Gleiche gespürt wie sie, doch ihre Reaktion war sehr
viel stärker. Braucht ihr noch mehr Beweise? Könnt ihr das
denn nicht erkennen? Ihr müsst mir erlauben, mit ihr zu
trainieren.«
»Niemals«, knurrte
Mom ihn an und ich war ihr so unendlich dankbar, dass sie mich
schützte, dass ich mich so fest ich nur konnte in ihre Umarmung
drückte.
»Ich fasse es nicht, das du sie so gequält
hast. Ich bringe sie jetzt weg von hier und falls ihr tatsächlich
darüber abstimmen wollt. ICH BIN DAGEGEN!«
Dann hob mich Mom auf ihren Arm und trug mich hinaus. Ich drückte mich noch immer fest an sie und fühlte mich wie ein kleines Mädchen, doch es machte mir nichts aus. Es war mir sogar sehr recht, dass ich das im Moment sein durfte und dass sie sich einfach um mich kümmerte. Jaspers Worte hallten immer noch in meinen Ohren wider, doch ich verstand sie nicht. Ich wurde regelrecht durchgeschüttelt bei den Erinnerungen, die sie auslösten. Der Abschied, die Freude über das Haus, die Wut und die Angst. Ich konnte einfach nichts anderes machen, als mich an meine Momma zu klammern. Sie trug mich aus dem Wohnzimmer, die Treppe hinauf, den Korridor entlang und dann in mein Zimmer. Sie blieb kurz stehen, doch ich machte keinen Anstalten, von ihrem Arm herunterzuhüpfen. Das war das Letzte, das ich im Augenblick wollte. Sie schenkte mir Geborgenheit und nichts anderes als diese Gefühl war mir jetzt wichtig. Also trug sie mich ins Badezimmer, um mich bettfertig zu machen. Nur widerwillig löste ich meine Umarmung, um sie mich umziehen zu lassen. Danach trug sie mich ins Bett.
»Momma? Bleibst du bitte
bei mir? Nur bis ich eingeschlafen bin? Bitte?«
Sie lächelte
mich so liebevoll und gütig an, dass ich mich gleich ein wenig
besser fühlte.
»Natürlich Sternchen.«
Dann ließ sie sich zu mir ins Bett gleiten und ich kuschelte mich in ihren Arm. Während sie mir sanft über das Haar streichelte und mir gelegentlich kleine Küsschen auf den Kopf gab, wurde ich immer ruhiger und entspannter und schlief schließlich ein.
Als ich wieder die Augen aufschlug, war es noch dunkel. Das Erste, das mir auffiel, war das harte Kissen, auf dem ich lag. Moment, … das war kein Kissen. Das war Moms Arm. War sie etwa die ganze Nacht bei mir geblieben? Freudig überrascht drehte ich mich schnell auf die andere Seite und rummste leicht gegen ihren Körper. Ich schaute zu ihr auf und entdeckte in dem schwachen Licht der Nacht ihr liebevolles Lächeln, das auch mir sofort die Mundwinkel nach oben zog. Ich fühlte mich pudelwohl. Sie schenkte mir einfach immer so viel Geborgenheit und Wärme. Natürlich keine körperliche Wärme, da sie in etwa die gleiche Temperatur hatte, wie mein Bettlaken, sondern eine innere Wärme, die ich nicht genauer definieren konnte. Sie entstand in meiner Brust und füllte mich aus, wenn sie einfach nur da war.
Ich kuschelte ich wieder an ihre Schulter und seufzte wohlig.
»Ich hab’ dich lieb, Momma.«
Sie nahm mich wieder fester in den Arm, küsste mich auf den Kopf, streichelte mein Haar und zupfte die Decke zurecht, um es mir noch gemütlicher zu machen. Dabei musste ich grinsen. Es war schlicht weg unmöglich, dass ich mich im Augenblick noch wohler fühlen könnte.
Nach ein paar Minuten, in denen ich einfach nur die Geborgenheit genoss, schaute ich kurz hoch, um einen Blick auf meinen Wecker zu werfen. Es war kurz vor fünf, also eigentlich viel zu früh, um aufzustehen. Dennoch war ich ausgeschlafen, da ich gestern ja sehr zeitig zu Bett gegangen war.
Im gleichen Moment kamen die Erinnerungen an den gestrigen Abend in mir hoch und ich drückte mich instinktiv wieder fester in ihre Umarmung. Wie würde es denn jetzt weitergehen? Würden sie mich noch in die Schule gehen lassen, nachdem was Jasper gesagt hatte? Würden sie mich zum Training mit ihm zwingen? Wie sollte ich mich nur verhalten?
»Momma? Was soll ich denn
jetzt machen?«, sagte ich unsicher.
»Versuch doch noch
mal einzuschlafen Sternchen. Es ist noch so früh, hm?«
»Nein,
das meine ich doch gar nicht. Ich kann jetzt sowieso nicht mehr
schlafen. Ich meine, was soll ich denn jetzt machen, wegen dem, was
Jasper gesagt hat.«
Mom seufzte und intensivierte dabei ihre
Streicheleinheiten.
»Du musst gar nichts machen, wegen dem,
was Jasper gesagt hat. Du machst einfach so weiter, wie du angefangen
hast.«
»Meinst du das wirklich? Aber wenn er recht
hat, dann…«
»Liebling. Jasper ist zum Teil
einfach ein Soldat, ein Ausbilder. Er hat eine sehr eingeschränkte
Sicht auf die Dinge, wenn er so denkt. Er hat keine Ahnung davon, wie
sich ein Mädchen entwickelt. Du darfst das nicht zu ernst
nehmen.«
»Aber irgendwie … hatte er doch Recht,
oder?«
»Weißt du Renesmee, wenn es um das Thema
Emotionen geht, dann hat Jasper nun mal eine spezielle Sichtweise,
was auch mit seiner Gabe zusammenhängt. Er kann Gefühle
beeinflussen und damit kontrollieren. Das gilt aber nur für ihn.
Wir können das nicht. Wir können sie höchsten
unterdrücken oder versuchen zu ignorieren, aber niemals
kontrollieren. Keiner von uns kann sich selbst einfach so glücklich
machen, wenn er doch traurig ist. Das geht einfach nicht und selbst
Jasper ist manchmal unkontrolliert.«
Ja, das war irgendwie einleuchtend. Ich erinnerte mich auch spontan an ein Erlebnis, als ich noch sehr klein war. Damals hatte mir Jasper schon mal solche Angst eingejagt wie gestern und war dann weggelaufen. Ich wusste zwar nicht mehr genau, wie es damals für mich war, aber die Erinnerung war präsenter und deutlicher als viele andere aus dieser Zeit, vor allem aber, weil ich es damals nicht verstanden hatte und ihn sehr vermisste.
»Dann meinst du, ich darf
weiter zur Schule gehen?«, fragte ich noch immer sehr unsicher,
aber mit einem Hauch von Hoffnung.
»Aber Sternchen, was ist
denn das für eine Frage? Natürlich darfst du weiter zur
Schule gehen. Wie kommst du denn darauf, dass du das nicht mehr
darfst?«
»Na ja, wenn ich doch eine Gefahr bin?«
»Ach
Liebling. Du bist doch keine Gefahr. Ich glaube einfach nicht, dass
Jasper da recht hat. Wenn du so unkontrollierbar wütend gewesen
wärst, wie hätte da die Hand eines Jungen dich davon
abbringen können? So eine kleine Geste? Nein Schatz. Du bist
einfach nur unerfahren und die Schule ist dazu da, Erfahrungen zu
sammeln. Du weißt jetzt, dass du auf deine Gefühle achten
musst. Das heißt nicht, dass du sie nicht zulassen darfst,
sonder nur, dass du dich der Emotionen bewusst werden musst. Alle
Teenager machen das durch. Mir ging es doch auch nicht anders als ich
erwachsen wurde. Du schaffst das schon.«
»Meinst du
wirklich?«
»Jetzt höre aber auf. Du kannst alles
schaffen. Überlege doch mal, was du in deinen noch nicht mal
fünf Jahren schon alles erlebt und gelernt hast. Hab’
vertrauen in deine eigene Stärke.«
»Ich werde es
versuchen Momma.«
»Ach Sternchen, ich hab’ dich
ja sooo lieb«, sagte sie und drückte mich wieder ganz fest
an sich, was ich nur allzu gerne zuließ.
»Ich dich
auch, Momma.«
Und dann legte ich ihr die Hand
an die Wange und zeigte ihr, wie wohl und geliebt ich mich gerade
fühlte. Danach blieben wir noch eine ganze Weile eng umschlungen
liegen und genossen den Augenblick. Es war so unbeschreiblich schön,
dass es mich sogar am ganzen Kopf kribbelte. Ob das auch zu den
Gefühlen zählte, die ich kontrollieren sollte? Nein, so zu
empfinden konnte doch für niemanden eine Gefahr sein, oder? Ich
schüttelte innerlich den Kopf. Diese Emotion würde ich
nicht unterdrücken wollen, selbst wenn ich es könnte.
Gegen sechs Uhr entschloss ich mich dann doch aufzustehen. Obwohl Mom mir wirklich sehr viel Mut zugesprochen hatte, war ich doch unsicher, wie die Anderen wohl jetzt nach dem gestrigen Ereignis auf mich reagieren würden. Ich ging mich erst einmal ausgiebig duschen und brauchte dafür sehr viel mehr Zeit, als nötig gewesen wäre. Auch das Fönen meiner Haare, die eigentlich sowieso immer außergewöhnlich schnell trocken waren, dauerte heute merkwürdig lange. Danach überprüfte ich noch mal, ob auch wirklich alles nötige für die Schule in meiner Tasche war, obwohl ich das schon gestern nach den Hausaufgaben gemachte hatte. Dann zog ich mich für die Schule an und stellte fest, dass ich glatt eine Stunde für alles gebraucht hatte, was sonst in höchsten 20 Minuten erledigt war, selbst wenn ich herumtrödelte. Irgendetwas in mir wollte nicht fertig werden, doch dieses Etwas fand jetzt einfach nichts mehr, mit dem es mich aufhalten könnte. Also bewegte ich mich allmählich aus meinem Zimmer heraus.
Irritiert stellte ich fest, dass es mich erleichterte, dass niemand im Flur war. Schnell rannte ich die Treppe hinunter und in die Küche. Gut, mit dem Frühstück könnte ich mir auch noch ein Weilchen die Zeit vertreiben. Ich machte mir mein Müsli, setzte mich an den Küchentisch und begann sehr gründlich zu kauen.
Nach einer Weile fiel mir etwas auf. Es war sehr ruhig im Haus. Ich hörte außer dem Kratzen des Löffels in der Schüssel und meiner eigenen Kaugeräusche praktisch nichts. Natürlich wusste ich, dass alle in meiner Familie sich so geräuschlos verhalten konnten, dass selbst ein Luchs, der direkt neben ihnen stand, sie nicht hören würde, doch für gewöhnlich machten sie das nicht. Bei uns wurde doch eigentlich immer laut gesprochen und vor allem gelacht. Aber heute? Nichts!
Ich bekam ein sehr mulmiges Gefühl im Magen und musste mein Frühstück beenden. War das die sprichwörtliche Ruhe vor dem Sturm? Hatte Mom sich vielleicht getäuscht und stand mir ihrer Meinung alleine da? Würden sie mich nicht mehr in die Schule lassen und zum Training mit Jasper zwingen?
“Oh bitte nicht”, dachte ich halb verzweifelt.
Ich wollte das nicht noch mal erleben. Was könnte ich denn dagegen tun? Ich wusste es nicht und hatte keine rettende Idee, wie ich das verhindern könnte. Weglaufen? Das könnte ich nicht. Das wollte ich auch nicht. Ich liebte doch meine Familie. Oder so lange jammern, bis sie aus Mitleid ihr Vorhaben mit mir aufgaben? Nein, das würde sie doch nur bestätigen. Außerdem war ich mir sicher, dass ich schon bald nicht mehr nur so tun müsste, als würde ich vor Angst wimmern. Jasper brauchte mich vermutlich nur böse anzugucken und ich würde keinen Mucks mehr von mir geben. Oh ja, alleine die Erinnerung an das kürzlich Erlebte ließ mir eine Gänsehaut über den Rücken laufen. Mist! Ich wollte keine Angst haben. Natürlich, wer nicht, aber jetzt saß ich doch alleine in der Küche und niemand bedrohte mich und trotzdem hatte ich Angst. Das war nicht richtig. Das war doch das, was Jasper meinte, oder? Toll, jetzt war ich auch noch total verunsichert.
Ich seufzte. Mir wurde bewusst, dass ich das, was vor mir lag, ohnehin nicht abwenden konnte. Wenn ich überhaupt eine Chance haben wollte, in die Schule gehen zu dürfen, dann musste ich jetzt zu den Anderen gehen, egal ob ich mich davor fürchtete oder nicht. Ich wollte in die Schule gehen. Ich wollte Gabriel und Lissie wieder sehen und auch Martin. Also raffte ich mich auf, spülte schnell meine Schüssel aus und ging zum Wohnzimmer. Vor der Tür stockte ich kurz, atmete noch mal tief durch und dann trat ich ein.
Was ich dann sah, verstand ich nicht. Links neben dem Esstisch standen Mom, Dad, Rose und Emmett zusammen und unterhielten sich flüsternd. Ihre Minen wirkten leicht angespannt und verärgert. Carlisle und Esme standen etwas abseits von ihnen und sahen besorgt aus. An der andern Seite des Tisches standen Jasper und Alice. Jaspers Gesicht war wie versteinert und Alice war unglaublich traurig. Warum tröstete Jasper seine Alice nicht? Es war doch ein Leichtes für ihn, sie wieder fröhlich zu machen, oder zumindest ihre Trauer zu vertreiben.
Unsicher ging ich auf Mom zu, die auch gleich den Arm um mich legte und mich sozusagen in ihre Gruppe aufnahm. Dad streichelt mir mit einem sanften Lächeln auf den Lippen liebevoll über den Kopf. Rose und Emmett lächelten mich halbherzig an. Ich blickte kurz über die Schulter zu Alice und Jasper, an deren Anblick sich nicht das geringste verändert hatte.
»Mom, was ist hier
los?«
»Es ist alles in Ordnung, Schatz. Du musst dir
keine Sorgen machen.«
»Alles in Ordnung?«, sagte
ich ziemlich laut, ja schrie ich fast. »Was ist hier in
Ordnung? Hier sieht keiner so aus, als wäre alles in
Ordnung.«
»Nessie, das hat sich Jasper selbst
zuzuschreiben«, meinte Rosalie in harten Ton zu mir. »Er
hätte das niemals tun dürfen, was er gestern mit dir
gemacht hat.«
»Und deshalb grenzt ihr ihn jetzt aus?
Ihr habt sie ja wohl nicht mehr alle!«
Eigentlich hätte ich froh sein sollen, dass sich drei Viertel der Familie auf meine Seite gestellt hatten, doch ich war es nicht. Ich war wütend. Wie konnten sie das nur tun? Das war doch meine Familie und die musste doch zusammenhalten, so, wie sie es immer getan hatte. Schnell rannte ich zu Alice und Jasper, die mich wie alle Anderen überrascht ansahen, schob mich zwischen sie, nahm beide bei der Hand und zog sie mit mir zu der anderen Gruppe.
»Das geht nicht, was ihr
da macht. Das ist nicht richtig. … Dad, glaubst du, dass
Jasper das getan hat, weil er es seiner Meinung nach das das Beste
für die Familie und für mich ist?«
Er schaute mich
kurz prüfend an und dann antwortete er mir.
»Ja, schon,
aber…«
Ich ließ ihn nicht ausreden.
»Alice,
hast du jemals in deinen Visionen gesehen, dass sich Jasper gegen die
Familie stellen würde?«
»Natürlich nicht«,
sagte sie fast vorwurfsvoll. »Das würde mein Jasper doch
nie machen.«
»Esme, ist Jasper für dich nicht
eines deiner Kinder?«
»Aber Liebes, das weißt du
doch. Wie kannst du das nur fragen?«
»Dann verstehe
ich nicht, warum ihr so gemein zu ihm seid.«
Ich war so aufgewühlt. Es fühlte sich vollkommen falsch an, dass die Familie sich auf unterschiedliche Seiten gestellt hatte und dann auch noch wegen mir. Das durfte einfach nicht sein. Ich drehte mich zu Jasper um und nahm ihn in den Arm.
»Jasper bitte, ich will wirklich nicht mit dir trainieren. Ich will keine Angst vor dir haben. Ich hab’ dich doch lieb.«
Wieder brachen die Gefühle aus mir heraus und ich schämte mich deswegen. Ich wusste ja, das er recht hatte. Jede meiner Tränen, die sich gerade aus meinen Augen heraus stahlen, waren kleine feuchte Beweise meiner Unfähigkeit, mich zu beherrschen. Aber was war denn so falsch daran, ihm zu zeigen, wie ich fühlte? Unsicher schaute ich zu ihm auf und wischte mir dabei ein paar Tränen unabsichtlich an seinem Hemd ab.
Langsam legte er die Arme um mich und drückte mich sanft. Dann küsste er mich auf die Stirn.
»Ich habe dich auch sehr lieb, Nessie. Es tut mir leid. Ich werde es nicht noch mal machen.«
Erleichtert lächelte ich ihn an und es ging mir auch sofort wieder besser. Dann blickte ich in die Runde meiner Familie.
»Bitte, verzeiht ihm, ja? Wir sind doch eine Familie. Ich ertrage es nicht, wenn ihr euch meinetwegen streitet.«
Esme kam als Erste zu mir und lächelte aufrichtig glücklich. Sie küsste mir die Wange und streichelte Jasper über den Arm. Allerdings sagte sie kein Wort. Es war auch nicht nötig. Hinter mir spürte ich Alice’ Berührung und das leise geflüsterte »Danke«, das sie mir ins Ohr hauchte.
Carlisle lächelte gütig, blieb aber auf seinem Platz stehen. Die Anderen zögerten noch und sahen verwundert aus. In ihren Gesichtern spiegelte sich der innere Konflikt zwischen der Verärgerung, die sich gegen Jasper richtete und dem Wunsch nach der Harmonie, die auch ich ersehnte. Da ich keine Anstalten machte, mich zu ihnen zu bewegen, kam schließlich Mom als Nächste, wenn auch seufzend und mit einem auf Jasper gerichteten mürrischen Blick. Flehend schaute ich sie an, mit der Bitte, sie möge sich doch einen Ruck geben und es schien zu funktionieren. Sie streichelte mir über den Kopf und dann lächelte sie liebevoll.
»Du machst es mir nicht leicht, Jasper, aber ich weiß, dass Renesmee Recht hat. Ich weiß auch, dass ich dir viel zu verdanken habe. Tut mir leid, dass ich überreagiert habe.«
Ich schaute noch einmal zu Jasper auf und sah, wie dankbar er Mom anlächelte. Es schien, als sei ihm eine schwere Last von den Schultern genommen worden, doch wusste er wohl nicht, was er sagen sollte. Also blieben seine Lippen stumm. Auch Dad kam dazu mit einem merkwürdigen Blick, den ich schon öfters bei Jungs gesehen hatte, wenn sie praktisch ohne Worte und ohne das Zeigen von Gefühlen einen Streit beendeten, um wieder zum Alltag überzugehen. Auch von Opa kannte ich das und ich glaubte mich auch daran erinnern zu können, das hin und wieder zwischen Jacob und seinen Freunden gesehen zu haben. Ob das etwas Genetisches war? Irgendwie beneidete ich sie darum. Wenn ich das auch könnte, wäre das Ganze vermutlich nie soweit gekommen. Ich seufzte, aber nicht aus Enttäuschung, sondern aus Erleichterung, dass es überstanden war.
Emmett machte es meinem Dad gleich und auch Rosalie, die bis zuletzt zögerte und als Einzige wohl noch nicht ganz bereit war, Jasper zu vergeben, kam zu uns.
Ich löste mich aus Jaspers Umarmung und ging zu meiner Adoptivschwestertante, schlang die Arme um sie und küsste ihre Wange. Das zauberte ihr dann auch ein Lächeln auf das Gesicht und ließ die Wut verrauchen.
Dann kam auch Carlisle auf uns zu und lächelte. Es schien ihm wohl sehr zu gefallen, dass die Familie die kleine Krise schnell überwunden hatte.
»Carlisle?«, sprach ich ihn an. »Wegen dem Geographieunterricht bei Mrs. MacLeish. Was soll ich denn da jetzt machen?«
Alleine der Gedanke an diese Person verursachte schon wieder einen Anflug von Aggression, doch ich bemühte mich um eine ruhig Stimme, wobei ich nicht wirklich sagen konnte, ob es mir gelang.
»Was möchtest du denn machen?«
Ja, so genau hatte ich darüber nicht nachgedacht. Irgendwie war ich davon ausgegangen, dass Carlisle das einfach entscheiden würde. Wie sollte ich das denn selbst entscheiden?
»Ich … weiß
nicht. … Das Fach zu wechseln, wäre irgendwie …
wie Weglaufen. Weiterzumachen wäre irgendwie fahrlässig.
Ich weiß es echt nicht.«
»Glaubst du, dass du es
schaffen kannst, deine Wut zu unterdrücken?«
»Ich
weiß es nicht, Carlisle«, sagte ich mit trauriger Stimme,
denn diese Unsicherheit und Unwissenheit machte mich traurig.
»Das
ist mir klar, deshalb habe ich ja auch gefragt, was du glaubst.«
»Nun
ja, ich würde wohl nicht ganz so unvorbereitet sein und wenn
Martin mir wieder hilft … aber wenn die MacLeish noch gemeiner
wird, dann reicht das vielleicht nicht.«
»Dann renne
aus dem Zimmer raus!«, sagte plötzlich Jasper und alles
sahen auf ihn. »Nessie, ich bin überzeugt davon, dass du
die Beherrschung deiner Gefühle trainieren musst. Wenn du das
nicht mit mir machen willst, dann eben in der Schule, auch wenn es
dort sehr viel gefährlicher ist als hier. Wenn du befürchten
musst, die Kontrolle zu verlieren, dann kannst du nur eines machen,
um die Andern zu schützen. Du musst dich schnell von ihnen
entfernen, bis du wieder ruhiger bist. Edward wird auf dich aufpassen
und zu dir kommen, wenn du wegläufst. Du bist nie wirklich
alleine.«
Das beruhigte mich und ich nickte zustimmend. Ich würde auch Martin bitten, ein Auge auf mich zu haben. Das war mir zwar jetzt schon peinlich, aber es wäre zu riskant, diesen Rettungsanker zu ignorieren.
Schließlich verabschiedete
sich Carlisle von uns und machte sich auf den Weg zur Arbeit. Bei uns
löste sich die Stimmung zusehends und es entwickelte sich ein
lockerer Smalltalk. Als es dann aber Zeit war, zur Schule zu fahren,
drohte die Stimmung noch mal zu kippen. Zuerst verstand ich es nicht,
doch dann hatte ich den Eindruck, dass es wohl darum ging, wer jetzt
mit wem fahren würde. Ohne zu zögern ergriff ich Jaspers
Hand und meinte nur »fahren wir?« zu ihm. Er lächelt
mich an, nickte und damit war die Sache dann auch geklärt.
Während der Fahrt wurde praktisch kein Wort gesprochen. Ich saß vorne neben Jasper und bemerkte, wie er mir mehrmals kurze Blicke zuwarf. Hatte ich wieder etwas falsch gemacht? Ich fühlte mich doch eigentlich ganz entspannt, wobei ich jetzt wieder unsicher wurde.
»Jazz. Du machst sie
nervös. Hör auf damit«, sagte Dad.
»Entschuldige,
das wollte ich nicht.«
»Stimmt etwas nicht, Jasper?«,
fragte ich unsicher.
»Nein, nein. Alles in Ordnung.«
Dad
seufzte.
»Daddy?«
»Er macht sich Sorgen um
dich, Schatz. Am liebsten würde er den Unterricht schwänzen
und die ganze Zeit vor deinem Klassenzimmer Wache schieben.«
Jasper knurrte ihn an, weil er mir das verraten hatte, doch ich fand es süß von ihm und lächelte ihn an.
»Ich schaff’ das schon, Jasper. Außerdem habe ich heute keine Geographie. Aber ich werde deinen Rat nicht vergessen.«
Auch Jasper lächelte, wenn
auch schwach und beließ es dabei.
Kaum in der Schule angekommen, sah ich auch schon wieder meine Freunde, die vor dem Eingang auf mich warteten. Es war einfach so cool, dass die tatsächlich schon wieder da standen und sich anscheinend auf mich freuten. Ich sprang gleich aus dem Auto, winkte ihnen und rannte auf sie zu. Na ja, es war nicht wirklich rennen, aber für einen Menschen sah es sicherlich so aus.
»Hallo Nessie«,
begrüßte mich Lissie und wedelte grinsend mit einem Blatt
Papier.
»Hallo zusammen. … Was hast du da?«
»Deine
Gästeliste. Wir saßen gestern noch bis zum Abend zusammen
und hier sind jetzt 21 Personen, uns mitgerechnet, die du einladen
könntest.«
Sie übergab mir die Liste und ich überflog sie schnell. Neben den Namen hatten sie sogar die Anschriften und Telefonnummern notiert. Die Hälfte der Namen kannte ich allerdings nicht. Natürlich überprüfte ich, ob auch Gabriel auf der Liste stand, obwohl ich mir nicht vorstellen konnte, dass Lissie ihn nicht auf die Liste gesetzt hätte und da stand auch sein Name. Gabriel MacKenzie. Hm. Kurz spürte ich ein leichtes Unbehagen, weil sein Nachname auch mit Mac anfing, wie MacLeish, doch das war jetzt wirklich zu albern und ich wollte auf gar keinen Fall eine Verbindung zwischen den beiden herstellen. Auf gar keinen Fall!!! Ich las weiter und entdeckte direkt danach Martin Dwyler.
»Ist das Martin, der neben
mir sitzt?«
»Ja sicher«, sagte Lissie
überrascht. »Du wolltest ihn doch einladen, oder
nicht?«
»Natürlich. Ich wusste nur nicht, wie er
mit Nachnamen heißt.«
»Dwyler.«
»Das
weiß ich jetzt auch«, sagte ich schmunzelnd und wir
kicherten herum, während die Jungs mit den Augen rollten. Ich
bemerkte auch, dass Simon und Nathan sich heute mehr mit Gabriel
unterhielten. Das gefiel mir. Ich wünschte mir sehr, dass
Gabriel mit mir zusammen in diesen Freundeskreis aufgenommen würde.
Ich verstaute die Liste in meiner Tasche und dann gingen wir gut gelaunt zum Unterricht. Der Vormittag hatte auch nichts überraschendes zu bieten. Englisch und Geschichte und dann hatte ich noch eine Freistunde vor der Mittagspause, die ich dazu nutzte, gleich die Hausaufgaben der ersten Stunden zu erledigen. Ich machte dies an unserem Tisch in der Mensa und da war ich auch nicht die Einzige. Als ich fertig war und meinen Blick durch den Raum schweifen ließ, entdeckte ich Martin, der auch eine Freistunde hatte. Kurz entschlossen ging ich zu ihm.
»Hallo Martin.«
»Oh,
hallo Van.. ‘Tschuldigung … Nessie.«
»Macht
nichts«, sagte ich grinsen. »Wenn du mich unbedingt
Vanessa nennen willst, dann ist das auch O.K.«
»Nein,
nein, es ist nur ungewohnt für mich.«
»Ungewohnt?«
»Na
ja, ich habe hier nicht gerade viele Freunde. Ich spreche eigentlich
niemanden mit Spitznamen an.«
»Oh, das wusste ich
nicht.«
»Woher auch, du bist ja noch neu hier.«
»Ja,
schon. … Aber wir könnten doch … also irgendwie …
befreundet sein, oder?«
Mein Gott, stellte ich mich mal wieder ungeschickt an. Was war denn so schwer daran, jemanden Freundschaft anzubieten?
»Wenn du das magst«,
sagte er zögern.
»Ähm. … Wenn dir das nicht
Recht ist, dann …«
»Nein, nein. Ich bin nur
überrascht.«
»Warum?«
»Du bist
doch … ein Mädchen.«
Hä? Was war denn das
für eine Begründung?
»Ja, davon habe ich auch
schon gehört.«
Er sah mich mit großen Augen an,
als würde ich in einer Fremdsprache reden.
»Magst du
nicht mit einem Mädchen befreundet sein?«
»Was?
Ich? … Äh, doch … aber … Mädchen
normalerweise nicht mit mir. Schon gar nicht so hübsche.«
Ich musste kichern und hielt mir die Hand vor den Mund. Martin war vollkommen verlegen und bekam total rote Ohren. Nein, es war gar nicht nett von mir zu kichern, aber es fiel mir verdammt schwer, es nicht zu tun.
»Danke Martin, für das Kompliment.«
Er lächelte nur. Offensichtlich war er im Augenblick voll und ganz darauf konzentriert die Fassung zu behalten und nicht in der Lage mit mir Smalltalk zu machen. Ich fand das richtig süß. Er war genauso verlegen wie ich bei Gabriel.
“Oh, oh”, schoss es mir durch den Kopf. Ging es ihm bei mir, wie mir bei Gabriel?
Der Gedanke war mir irgendwie unangenehm, obwohl ich nicht sagen konnte warum. Ich mochte Martin. Er hatte mir in der Geographiestunde so wahnsinnig geholfen. Dafür sah ich ihn jetzt einfach als Freund. Aber es war trotzdem anders als bei Gabriel, eher wie bei Lissie, falls man das überhaupt vergleichen konnte.
»Weißt du, Martin. Du bist sehr nett. Du und Lissie, ihr habt mich beide sehr freundlich hier aufgenommen und dafür bin ich euch wirklich dankbar und empfinde Freundschaft für euch. Dann hast du mir auch noch so geholfen, als die MacLeish mich provoziert hatte. Das werde ich dir nie vergessen. Ich würde dich gerne so wie Lissie als Freund sehen.«
Er zögerte. Ich hatte das Gefühl, als ob kleine Rädchen in seinem Kopf ratterten, um die Informationen zu verarbeiten. Ich hatte mich doch geschickt ausgedrückt, oder? Er würde das doch jetzt hoffentlich richtig verstehen? Oh man, fühlte sich das merkwürdig an. Gebannt schaute ich ihn an und wartete auf eine Reaktion, doch er wich meinem Blick aus. Dann endlich sagte er wieder etwas.
»Ja, ich wäre auch gerne mit dir befreundet.«
Puh, war ich erleichtert. Es schien so, als hätte er verstanden, was ich meinte und wäre damit einverstanden. Sein leichtes verlegenes Lächeln zeigte mir zwar, dass es ihn dabei nicht so ganz wohl war, aber er wollte mit mir befreundet sein. Das war mehr als genug.
»Dann darf ich dich
vielleicht am Samstag in zwei Wochen zu meiner Geburtstagsparty
einladen? Lissie und ihre Freunde kommen auch und noch ein Dutzend
Andere, die ich noch nicht kenne. Aber es sind wohl Freunde und
Bekannte von Lissie. Kommst du auch? Ich würde mich
freuen.«
»Oh?! … Ich? … Party? …
Bei dir? … Ich weiß nicht.«
»Gehst du
nicht gerne auf Partys?«
»Ähm, weiß ich
nicht.«
»Hä?«
»Na ja, ich war noch
nie auf einer. Wie gesagt ich habe nicht viele Freunde. Ich werde
normalerweise nicht eingeladen. Höchstens zu eine
LAN-Party.«
»Was ist denn eine LAN-Party?«
»Nun,
da macht man ein Computer-Netzwerk und spielt zusammen
Computerspiele.«
»Ah ja.«
O.K. mehr musste ich dazu nicht wissen. Für mich waren Computer für die Informationsbeschaffung da, aber darauf spielen? Ich hatte das zwar auch schon gemacht, aber nie wirklich Spaß dabei, was vielleicht auch daran lag, dass mein Denken und meine Reflexe so schnell waren. Jedenfalls wurde mir das schon bald zu langweilig.
»Also … du kannst es dir ja noch überlegen. Ich würde mich freuen, wenn du kommst.«
Ich lächelte und winkte ihm kurz zum Abschied und ging wieder an meinen Platz zurück. Die Mittagspause würde gleich anfangen und meine Freunde kommen. Meine Freunde. Das hörte sich wirklich gut an. Kaum zu glauben, aber ich war erst den dritten Tag an dieser Schule und hatte schon eine Gruppe von Freunden. Na ja, zumindest eine Gruppe von Freunden, zu denen ich mich dazu setzen durfte, aber es fühlte sich trotzdem gut an.
Vorsorglich holte ich mir noch zwei Flaschen Wasser, denn ich hoffte sehr, dass Gabriel sich neben mich setzen würde.
Es dauerte auch nicht mehr lange und sie kamen nach nun nach, holten ihr Essen und setzten sich zu mir. Jeder fragte mich natürlich, ob ich denn nichts essen wollte, doch ich schwindelte einfach und sagte, dass ich schon gegessen hätte, da ich ja eine Freistunde hatte und mir gleich nach der Öffnung des Buffets etwas geholt hätte. Damit gaben sie sich dann auch zufrieden.
»Hast du dein
MacLeish-Problem schon mit deinen Eltern besprochen?«, wollte
Susi wissen.
»Ja, hab’ ich. Ich werde es noch eine
Weile versuchen.«
»Und … hattest du deshalb
großen Ärger?«
Ich erschrak. Susi konnte doch unmöglich wissen, was sich bei uns abgespielt hatte. Mein Hals war wieder ziemlich trocken und ich musste erst mal etwas trinken.
»Ja, ja, brauchst nichts sagen. Meine Eltern wären auch ausgeflippt.«
Eltern? Ach so. Sie dachte ich hätte Ärger von meinen Eltern bekommen. Das war natürlich etwas Anderes.
»Nein, meine Eltern, du
weißt schon, meine Pflegeeltern, die waren nicht sauer. Sie
haben mir die Wahl überlassen und ich will sehen, ob ich damit
klarkommen kann.«
»Aha?!«
Susi sah mich sehr kritisch an. Anscheinen glaubte sie mir nicht so ganz. Vermutlich passte meine erschrockene Reaktion nicht zu meiner Antwort. Sollte ich vielleicht mehr erzählen? Sie sollte nicht denken, dass ich etwas verheimlichte, auch wenn dem so war. Ich wollte nicht, dass das kleine aufkeimende Pflänzchen, das sich Freundschaft nennt, plötzlich wegen falscher Vermutungen vertrocknete.
»Na ja, es gab schon ein
bisschen Aufregung zu Hause, aber nicht wegen meinen Eltern. Meine
Geschwister hatten sich deswegen gestritten.«
»Deine
Geschwister?«, sagte sie ungläubig.
»Ja nun, wir
diskutieren solche wichtigen Dinge eigentlich immer in der Familie
aus.«
»Und weswegen haben deine Geschwister
gestritten?«
Oh Mist, was sollte ich denn jetzt sagen?
»Das
ist … schwer zu sagen … also eigentlich ging es darum,
ob ich mir das antun sollte oder lieber nicht. Du weißt schon.
Eigene Erfahrungen machen, auch wenn es … unangenehm wird. Ich
bin halt die kleine Schwester und manchmal denken alle, dass sie mich
beschützen müssten oder dass sie alleine wüssten, was
das Beste für mich ist.«
»Boah, das klingt ja
voll nervig.«
Ich musste lachen.
»Ja, manchmal
schon, aber sie sind echt toll. Es sind eigentlich immer alle für
mich da.«
»Also mein großer Bruder ist höchsten
für mich da, um mir meinen Nachtisch wegzuessen«, meint
plötzlich Paulina und alle fingen an zu lachen.
Am Nachmittag hatte wir eine Doppelstunde Naturwissenschaften. Schwerpunkt war in diesem Trimester Chemie, weshalb wir ein anderes Klassenzimmer nutzten, in dem sich immer mehrere Schüler als Arbeitsgruppe zusammenschlossen. Zu meinem entsetzen musste ich feststellen, dass es bereits sechs Dreiergruppen gab und dass die letzte Zweiergruppe aus Kevin und einem anderen Junge bestand. Ich war wie geschockt und jammerte innerlich, dass ich alles wollte, nur nicht mit den beiden zusammenarbeiten. Zum Glück war unser Klassenlehrer, Mr. Wattson, bei dem ich mein Vorstellungs-Desaster erlebte, auch in diesem Fach für uns zuständig und er ahnte meine Befürchtung oder las sie schlichtweg von meinen Augen ab.
»Nun Miss Masen, wir haben dort hinten noch einen freien Tisch für eine weitere Arbeitsgruppe. … Wer möchte denn gerne mit ihr zusammenarbeiten?«
Ich war erleichtert, dass er mir diese Option bot und die Klasse fragte. Leider hatte Kevin da wohl etwas dagegen.
»Mr. Wattson, Sir. Sie könnte doch bei uns mitarbeiten. Wir sind doch nur zu zweit«, meinte er grinsend und rammte seinen Ellenbogen seinem Tischnachbar in die Seite, der davon überrascht zusammenzuckte, aber trotzdem versuchte, das Ganze mit Humor zu nehmen und schließlich zustimmend nickte.
»Sicher, Mr. Roberts. Wenn wir vielleicht nicht gerade mit gefährlichen Chemikalien arbeiten würden und ich mir nicht so sicher wäre, dass ihre Konzentrationsfähigkeit darunter leiden würde, könnte man das in Erwägung ziehen. Aber leider, leider…«
Mindestens die halbe Klasse kicherte und schließlich meldeten sich Lissie, Gabriel und Martin.
»Nun Miss Masen. Sie haben die Wahl.«
Oh Verdammt. Was sollte ich den jetzt machen? Ich hatte Lissie so gerne, aber wenn ich sie wählte, würde Gabriel bestimmt enttäuscht sein. Wenn ich aber Gabriel wählte, würde ich mich dann überhaupt auf den Unterricht konzentrieren können? Und was würde Martin davon halten? Und wenn ich ihn wählte? Wäre das für Gabriel nicht noch schlimmer?
»Allmählich sollten
sie sich entscheiden, Miss Masen. Ich würde gerne anfangen. Oder
wollen Sie vielleicht doch lieber mit Mr. Roberts…?«
»Auf
gar keinen Fall«, schoss es aus meinem Mund, was natürlich
heftiges Gelächter verursachte, außer bei Kevin und seinem
Banknachbarn. Lissie, die sich kurz umgesehen hatte und bemerkte,
dass sich Gabriel ebenfalls meldete, zwinkerte mir zu und nahm den
Arm herunter. Martin tat dies jedoch nicht.
Oh man. Immer diese Entscheidungen. Einer von beiden wird sauer auf mich werden, wenn ich den Anderen wähle. Das war so was von dämlich. Gabriel mochte ich so sehr und Martin war mir so ein große Hilfe gewesen. Ich wollte keinen von beiden verletzen.
»Mr. Wattson? Da sich hier
zwei Jungs anbieten, wäre es möglich, mit beiden zusammen
eine neue Arbeitsgruppe zu bilden?«
»Nun wenn die
Herren dies wünschen?«, sagte er ihnen zugewandt und
grinste leicht.
Gabriel und Martin sahen sich gegenseitig kritisch an. Plötzlich hielt ich meine Idee für gar nicht mehr so gut. Was hatte ich da nur wieder angerichtet. Die beiden sahen nicht gerade so aus, als ob sie gut zusammenarbeiten könnten bzw. das überhaupt wollten. Dennoch nickten sie beide Mr. Wattson zu.
»Nun dann begeben sie sich bitte zu dem freien Arbeitsplatz hinten links.«
Na das konnte ja heiter werden. Ich stellte mich vorsichtshalber zwischen die Jungs, was erneut einige Mädchen der Klasse dazu veranlasste, sich grinsend und kichernd die Hand vor den Mund zu halten und angeregt miteinander zu tuscheln.
“Sollen Sie doch”, dachte ich mir trotzig. Ich hatte keine Lust, mich über die aufzuregen. Schlimm genug, dass ich jetzt selbst die Suppe auslöffeln musste, die ich mir da eingebrockt hatte.
Den ganzen Unterricht über war Gabriel ziemlich schweigsam und schien zu schmollen. Martin auf der anderen Seite glänzte hingegen mit seinem Arbeitseinsatz. Er hatte Ahnung von Chemie, das war deutlich zu sehen. Allerdings machten wir hier nichts, was ich nicht auch schon mit Carlisle gemacht hätte. Nur Gabriels Desinteresse war sehr verstörend und frustrierend. Er reagierte überhaupt nicht auf mich.
Als ich in der Pause nach einem kurze Toilettengang wieder zurückkam, bemerkte ich, dass die beiden miteinander redeten. Allerdings war es ihren Minen nach zu urteilen kein freundschaftliches Gespräch. Da sie es auch sofort beendeten, als sie mich bemerkten, war mir klar, dass es dabei wohl um mich ging.
»Jungs, bitte, was habt
ihr denn?«
»Nichts«, brummte Gabriel und Martin
grinste leicht.
Ich schaute sie abwechselnd an, doch keiner war bereit, mit mir zu reden. Das war zum Haare raufen und ich wurde immer deprimierter.
Als der Unterricht dann beendet war, packte Gabriel seine Sachen und ging wortlos an mir vorbei zur Tür.
»Gabriel?«, rief ich
ihm leise und unsicher hinterher, doch er drehte sich noch nicht mal
um.
»Lass’ ihn doch«, meinte Martin und schien
sehr zufrieden zu sein.
Das passte mir gar nicht. Ich mochte Gabriel doch. Warum ging er denn weg von mir? Warum sagte er mir denn nichts? Was hatte ich nur falsch gemacht? Nein. Ich wollte nicht, dass der Tag so endete, packte schnell meine Sachen und lief ihm hinterher. Vor der Schulbushaltestelle holte ich ihn ein.
»Gabriel, bitte warte doch«, rief ich ihm zu und er hielt tatsächlich an und drehte sich zu mir um. Ich blieb vielleicht zwei Meter vor ihm stehen und sah ihn unsicher an.
»Was gibt’s?«,
fragte er mit einer unfreundlichen Tonlage, die mich noch mehr
verunsicherte.
»Gabriel? Habe ich etwas falsch gemacht?
Warum bist du so abweisend?«
»Das fragst du mich? …
Im Ernst?«
Er klang richtig sauer und ich wurde immer
kleinlauter.
»Aber, ich verstehe nicht…«
»Ich
verstehe dich auch nicht. Ich dachte, du magst mich.«
»D-Das
tue ich doch«, sagte ich und machte einen Schritt auf ihn zu
und blickte ihm unsicher in die Augen.
»Ach ja? Aber wohl
nicht so sehr wie Martin, oder was?«
»Wie kommst du
denn darauf?«
»Als ob du das nicht wüsstest.«
Er
klang so wütend und ich kapierte gar nichts mehr. Meine Stimme
wurde immer zittriger.
»Ich weiß wirklich nicht was du
meinst.«
»Ach nein? … Lou hatte mir erzählt,
dass du gestern in Geschichte mit Martin Händchen gehalten hast.
Ich glaubte es ihr nicht, weil sie so eine verlogene Zicke ist, aber
dann wählst du ihn auch aus, für die Arbeitsgruppe.«
»Aber
Gabriel…«
»Ich kapier es nicht, Nessie«,
schrie er mich schon fast an. »Ich dachte, … zwischen
uns … da ist was … und dann fragst du Martin, ob er
dein Freund sein will?«
»Was? … Ja. …
Ich meine nein. … Verdammt. Das war doch ganz anders.«
»Ich
glaube dir kein Wort«, sagte er, drehte sich um und stieg in
den Bus ein.
Ich war am Boden zerstört. Gabriel war wütend auf mich und wollte wohl nichts mehr mit mir zu tun haben. Tränen quollen aus meinen Augen und ich schluchzte leise. Das durfte einfach nicht wahr sein. Der einzige Junge, den ich wirklich, wirklich mochte, konnte mich nicht mehr leiden.
»Na, Schlampe? Pech in der Liebe?«
“Lou!”, schoss es mir durch den Kopf, als ich die Stimme hörte und sofort erkannte. Dieses Miststück hatte Gabriel erzählt, ich hätte was mit Martin. Das war doch Absicht, da war ich mir sicher. Ich sah sie an und sie grinste mir unverhohlen ins Gesicht. Wut stieg in mir auf. Grenzenloser Zorn führte dazu, dass ich sprichwörtlich rot sah und dass es in meinen Ohren rauschte. Ich machte einen Satz auf sie zu und gab ihr eine schallende Ohrfeige, so dass ihr der Kopf zur Seite flog und sie zu Boden riss. Die zwei Mädchen, die sie immer begleiteten, machten einen entsetzen Schritt zurück und sahen mich ängstlich an. Ich knurrte und sah auf das am Boden liegende Mädchen. Sie rührte sich nicht mehr.
»Steh’ auf, Miststück.«, zischte ich durch die Zähne, doch sie bewegte sich nicht.
Allmählich wurde ich unsicher, was dazu führte, dass die Wut nachließ und sich das Rot in meinem Blick abschwächte.
“Was hab’ ich getan?”, dachte ich. “Um Himmels willen, ich habe sie doch nicht…?”
Sekunden später waren Mom und Dad bei mir. Er beugte sich zu Lou hinunter und untersuchte sie. Mom, die seitlich zu mir stand, griff mit beiden Händen nach meinen Kopf und drehte mein Gesicht zu ihr.
»Liebling? Schatz? Was ist passiert?«
Ich war wie geschockt und konnte nichts sagen. Aus den Augenwinkeln beobachtete ich Dad, wie er sich um den am Boden liegenden leblosen Körper kümmerte. Allmählich löste sich meine zornige Anspannung und die Röte verschwand vollständig aus meinem Blick und auch das Rauschen in meine Ohren war weg. Die Wut war nicht mehr da. Dafür jetzt blankes Entsetzen. Ich sah mich um und bemerkte, dass praktisch alle Schüler in der Nähe stehen geblieben waren und das Schauspiel beobachteten. Auch an den Fenstern der Busse wurden viele Nasen platt gedrückt. Ein Lehrer, dem der Tumult wohl aufgefallen war, kam auf uns zu.
»Was ist hier passiert?
Was ist mit ihr?«
»Sie ist bewusstlos, Sir. Sie ist
wohl hart mit dem Kopf aufgeschlagen«, sagte Dad.
»Wie
ist das passiert?«, wollte er mit energischer Stimme wissen und
Lous Schoßhündchen hoben ihre Hände, als ob sie
Marionetten wären und zeigten auf mich.
»Sie waren
das?«, fragte er ungläubig, als er mich von oben nach
unten musterte.
Die Mädchen nickten ängstlich.
»Ich
wollte das nicht«, sagte ich halb verzweifelt.
Ein stöhnen drang von Lou zu mir. Oh Gott, ich war so erleichtert. Es war ihr wohl nichts schlimmeres passiert. Zumindest war sie am Leben.
»Ich bringe sie ins Krankenzimmer, Sir«, sagte Dad, hob sie vorsichtig auf und trug sie zügig zurück ins Schuldgebäude. Der überraschte Lehrer nickte ihm nur hinterher. Dann bemerkte ich, wie Mom plötzlich scharf die Luft einzog und wusste im gleichen Augenblick auch warum. Lou hatte sich eine Platzwunde zugezogen und Blut klebte am Boden.
“Oh nein, nicht das auch noch”, dachte ich und geriet in Panik. Instinktiv ging ich ein paar Schritte zurück und Mom blieb an meiner Seite und hielt mir fest die Hand. Der Blutduft war zum Glück nicht sehr stark, doch ich fühlte mich in mein Training zurückversetzt, das ich vor Jahren mit meiner Mom gemacht hatte. Die Erinnerungen daran waren sofort präsent und sie halfen mir, die Selbstbeherrschung zu behalten.
»Einen Moment. Sie gehen nirgendwo hin«, meinte der Lehrer zu mir. »Sie folgen mir zum Rektor und sie beide kommen ebenfalls mit.«
Ich folgte dem Lehrer und hielt die Luft an, bis wir weit genug von dem Blut entfernt waren. Egal, was jetzt kommen würde. Ich war einfach nur froh, dass ich von dem Duft weg kam. Allerdings verschwand der Duft nicht wirklich. Wir nahmen den gleichen Weg wie Dad und der Blutduft zog eine Fährte zum Gebäude. Hier und da waren auch kleine Tropfen auf dem Boden. Ich konzentrierte mich sehr stark darauf, den Durst zu unterdrücken. Lous Gefolge blieb nah beim Lehrer und blickten gelegentlich ängstlich zu mir. Ich beachtete sie kaum. Sie waren wie zwei Schafe, die einfach nur willenlos jemandem hinterherlaufen wollten und ich war voll und ganz damit beschäftigt, die Selbstkontrolle zu behalten. Mom wich nicht von meiner Seite und hielt weiterhin meine Hand. Als der Lehrer dies bemerkte, sprach er sie an.
»Miss Platt, was machen
sie hier?«
»Das ist meine … kleine Schwester,
Mr. Wilkins. Ich begleite sie.«
Obwohl sie kurz stockte, sagte sie das mit großer Überzeugung und Selbstsicherheit, so dass Mr. Wilkins das widerspruchslos hinnahm. Offensichtlich war er einer ihrer Lehrer und kannte sie.
»Was ist denn passiert, Kleines?«, flüsterte sie zu mir und drückte meine Hand fester.
Ich verstand, was sie wollte und
konzentrierte mich kurz und zeigte ihr dann das Gespräch mit
Gabriel und die anschießende kurze Auseinandersetzung mit Lou.
Ich setzte dabei meine Fähigkeit voll ein und zeigte ihr auch
meine Gefühle, die ich dabei hatte. Sie hielt kurz inne, um das
Gezeigte zu erfassen und lächelte mich dann mitfühlend an.
Ich war ihr sehr dankbar dafür, doch es ihr zu zeigen, bedeutete
für mich, es auch noch mal zu erleben und das versetzte mir
einen kleinen Stich ins Herz.
Wir wurden vor das Büro des Rektors geführt und zum Hinsetzen aufgefordert. Hier war zum Glück kein Blutduft und ich entspannte wieder etwas. Dann ging Mr. Wilkins hinein und ließ uns zurück. Lous Schoßhündchen gefiel es ganz und gar nicht, mit mir zusammen hier zu sitzen. Die beiden schienen wahrhaftig sehr ängstlich zu sein. Kein Wunder, dass sie Lou überall hin folgten. Vermutlich würden sie sich noch nicht mal trauen, sich ohne Lous Erlaubnis die Nase zu putzen. Wie sollten sie nur den restlichen Tag überleben? Ich schmunzelte, doch war ich im nächsten Moment von mir selbst enttäuscht, dass ich so gehässig war. Die Mädchen konnten doch nun wirklich nichts dafür, was da gerade passiert war und dass sie dem Lehrer die Wahrheit sagten, war ja auch nicht falsch.
»Tut mir leid, dass ich euch Angst gemacht habe«, sprach ich die beiden an, die mich überrascht ansahen. »Ihr könnt ja nichts dafür. Das wollte ich nicht.«
Sie lächelten zaghaft und unsicher, lösten aber schnell wieder den Blick von mir.
Kurz darauf ging die Tür auf und die beiden Mädchen wurden hinein gebeten. In der Zwischenzeit kam Dad zu uns und informierte darüber, dass Lou eine Platzwunde am Kopf und eine leichte Gehirnerschütterung hätte. Außerdem hätte ich ihr wohl den Kiefer ausgerenkt, was Dad aber gleich noch am Unfallort korrigiert hatte. Zum Glück war aber nichts gebrochen. Ich ergriff seine Hand und zeigte auch ihm, was genau passiert war und auch er schenkte mir ein mitfühlendes Lächeln. Dann konzentrierte er sich auf das Büro und tätschelte mir beruhigend die Hand.
Nach wenigen Minuten öffnete sich wieder die Tür und die Mädchen kamen heraus und liefen ohne einen Blick zu riskieren an uns vorbei in Richtung Ausgang. Dann wurde ich aufgefordert hineinzugehen. Mom und Dad sprangen mit auf, um mich zu begleiten.
»Nur die junge Dame«,
meinte Mr. Wilkins.
»Sir, wenn sie erlauben«, sprach
Dad ihn an. »Das hier ist meine Schwester und ich fühle
mich für sie verantwortlich. Ich bitte darum, sie begleiten zu
dürfen.«
Dad sagte das mit einer sehr
einfühlsamen und doch eindringlichen Stimme. Von drinnen hörten
wir den Rektor rufen, dass es in Ordnung sei und dass er mit hinein
kommen dürfte. Mom musste aber draußen bleiben, was ihr
sichtlich gar nicht gefiel.
Das Gespräch mit dem Rektor
war nicht so unangenehm, wie ich es befürchtet hatte. Dad
berichtete ihm von den Vorfällen, so, als hätte er selbst
dabei zugesehen, was in gewisser Weise ja auch stimmte, da ich es ihm
gezeigt hatte. Außerdem wusste er ja auch, was die Mädchen
vor uns erzählt hatten. Er war dabei sehr ruhig und sachlich und
beschwichtigend. Ich war sehr froh, dass er bei mir war und ich
bewunderte sein Souveränität. Als ich dann gefragt wurde,
warum ich das getan hatte, bekam ich augenblicklich wieder feuchte
Augen. Dad ermunterte mich, es zu sagen und ich erzählte, dass
sich Lou darüber lustig gemacht hatte, dass ich wegen eines
Jungen weinte und dass sie mich beleidigt hatte. Ich beteuerte ihm
auch unter Tränen, die ich einfach nicht zurückhalten
konnte, dass es mir schrecklich leid tat. Nachdem alles geklärt
war, meinte der Rektor, dass es wohl ein eher unglücklicher
Unfall war, dass ich aber die Hausordnung bezüglich dem Verbot
von körperlicher Gewalt missachtet hätte und deshalb nicht
ohne Sanktionen davon kommen könnte. Er rief daraufhin bei uns
Zuhause an. Wir hörten sein Gespräch mit Esme, die
natürlich sofort vorbeikommen wollte. In der Zwischenzeit gingen
wir wieder zu den Sitzplätzen vor dem Büro und warteten.
Auch Jasper war hier, da er sich gewundert hatte, dass niemand von
uns am Parkplatz war und uns deshalb gesucht hatte. Natürlich
zeigte ich auch ihm meine Tat. Ich wusste genau, dass das der Grund
war, weshalb er mit mir trainieren wollte. Ich schämte mich
furchtbar deswegen. Erst gestern hatten wir die Auseinandersetzung
und schon heute hatte ich bestätigt, wovor Jasper gewarnt hatte.
Dennoch war er weder vorwurfsvoll noch selbstgefällig, sondern
schenkte mir das Gefühl von Ruhe und Ausgeglichenheit.
Eine viertel Stunde später war Esme hier und erkundigte sich zunächst nach meinem Befinden. Auch ihr zeigte ich, was passiert war und auch sie reagierte mit Mitgefühl auf das, was ich getan hatte. Es war irgendwie sehr verwirrend. Alle hatten Verständnis für mich und doch wusste ich genau, dass ich versagt hatte und das Ganze ein schlimmer Fehler war. Vielleicht ohne große Konsequenzen, aber definitiv ein Fehler. Ich war vollkommen Ratlos, wie ich damit umgehen sollte.
Nachdem Esme beim Rektor war, kam sie wieder zu uns und informierte darüber, dass ich die nächsten zwei Tage suspendiert wäre. Na toll. Ein Schulverweis gleich in der ersten Woche.
Wir fuhren dann zusammen nach Hause. Alice, Rose und Emmett warteten bereits auf uns. Ohne lang zu zögern zeigte ich ihnen, was passiert war. Alice schenkte mir das gleiche Mitgefühl wie die Anderen. Rose und Emmett jedoch nicht. Sie gaben mir überraschend das Gefühl, sogar stolz auf mich zu sein. Rosalie sagte, dass sie es richtig gut fand, dass ich diesem “Schneeflittchen”, wie sie es ausdrückte, eine gerechte Abreibung verpasst hatte und dass ich mir deshalb nichts vorzuwerfen hätte. Jasper sah das natürlich ganz anders und Esme auch, doch bevor es erneut einen Streit wegen mir geben konnte, sagte ich zu allen, dass ich sehr wohl wusste, dass es ein Riesenfehler war. Egal, ob gerecht oder nicht, ich hätte das nicht tun dürfen, denn ich hatte die Familie in Gefahr gebracht und das tat mir schrecklich leid.
Am Abend beichtete ich dann auch noch Carlisle, der erwartungsgemäß sehr verständnisvoll reagierte. Er war einfach eine unerschütterliche Konstante, an der man sich immer festhalten und neu aufrichten konnte. Was mich allerdings überraschte war, dass den ganzen Abend über kein Wort darüber verloren wurde, ob ich vielleicht doch mit Jasper trainieren sollte. Ob sich Jasper nur nicht mehr traute, es anzusprechen?
»Jasper? Was denkst du
jetzt?«, fragte ich ihn in einer Ecke des Wohnzimmers unter
vier Augen, auch wenn mir klar war, dass uns vierzehn Ohren
sicherlich zuhörten.
»Was ich denke? … Nun ja,
dass es mir leid tut, was dir passiert ist.«
»Das
meine ich nicht. … Du weißt schon … wegen der
Sache mit der Gefühlskontrolle.«
Er sah mich prüfend an und blickte auch kurz um sich. Ich musste es nicht tun, um zu wissen, dass alle Aufmerksamkeit auf uns gerichtet war, denn es war mucksmäuschenstill. Schließlich sprach er zu mir.
»Liebes, du weißt,
dass ich mit dir trainieren möchte, aber das ist deine
Entscheidung. Das, was heute passiert ist, ändert nichts daran.
Ich war im Grunde sogar überrascht, dass nichts schlimmeres
passiert ist.«
»Wirklich?«
»Ja, Nessie.
Ich hatte befürchtet, dass du in einer solchen Situation töten
würdest. Ob durch einen Schlag oder einen Biss, spielt keine
Rolle. Du hast dich trotz deines Wutausbruchs zurückgehalten. Du
hast sie zwar hart geschlagen aber nur ein Mal und nicht nachgesetzt.
Es kam dir auch nicht in den Sinn, sie zu beißen, das habe ich
auch erkannt, als du mir das Erlebnis gezeigt hast. Dann warst du
auch noch sehr beherrscht, als du das Blut gerochen hattest. Alles in
allem, wenn man bedenkt, was der Auslöser war, eine recht gute
Leistung.«
»Dann bist du nicht sauer auf
mich?«
»Natürlich nicht. Du willst auf diese
Weise lernen. Das ist dein gutes Recht. Hauptsache du arbeitet an dir
selbst. Mit mir, und davon bin ich überzeugt, würdest du
Andere nicht so in Gefahr bringen, aber vielleicht hilft dir das
auch, schneller Fortschritte zu machen. Die Konsequenzen musst du auf
der anderen Seite dann aber auch tragen, so wie jetzt den
Schulverweis. Du bist übrigens die Erste der Familie, die einen
bekommen hat.«
Den letzten Satz sagte er mit
einem leichten Lächeln, so dass mir vollkommen klar war, dass er
das Ganze wirklich nicht als so schlimm ansah. Dennoch war mir auch
bewusst, dass ich Glück hatte, was das Ausmaß der Folgen
betraf.
Obwohl ich am nächsten Tag nicht zur Schule gehen durfte, machte ich mich doch zur gewohnten Zeit auf ins Bett. Dort dachte ich noch ein wenig über den Tag nach.
Wenn man dem Vorfall überhaupt etwas Positives abgewinnen wollte, dann, dass diese Lou bekommen hatte was sie verdiente, auch wenn es nicht richtig war. Dann noch, dass ich den Geographieunterricht am Freitag verpassen würde und vielleicht auch, dass mein Fehlverhalten nicht ganz so schlimm war, wie befürchtet. Das war es dann aber auch schon. Auf der Negativseite standen Gabriel, der mich nicht mehr leiden konnte und Martin, der sich wohl unsinnige Hoffnungen machte und vermutlich auch einen Anteil an Gabriels Verärgerung hatte. Sein merkwürdiges Lächeln im Chemieunterricht ging mir nicht mehr aus dem Kopf. Dann war da natürlich noch Lissie und ihre Freunde, die mich jetzt wie der Rest der Schule für eine Schlägerin und vermutlich schwer erziehbare Jugendliche halten mussten und womöglich nicht mehr mit mir befreundet sein wollten. Tolle Aussichten. Alles worauf ich mich gefreut hatte und was so gut angefangen hatte, ging mit einer Ohrfeige kaputt.
Als ich am nächsten Morgen erwachte, warf ich einen kurzen Blick auf meinen Wecker. Es war ziemlich genau sieben Uhr. Ja Prima! Genau die gleiche Uhrzeit, zu der ich aufstand, wenn ich in die Schule ging. Meine innere Uhr hatte sich wohl schon darauf geeicht. Warum hatte ich denn überhaupt einen Wecker? Ich lebte schließlich mit acht Vampiren zusammen, die keinen Schlaf brauchten. Sechs davon gingen sogar mit mir zusammen auf die Schule. Die könnten mich doch notfalls auch wecken. Das blöde Teil auf meinem Nachttisch, dass mich mit seiner 7:02-Anzeige verhöhnte, könnten wir uns dann ja sparen. Oh man. Würde ich mir heute wohl den ganzen Tag solch unsinnige Gedanken machen? Verdammt, ich wollte zur Schule gehen. Ich wollte mit Gabriel reden.
Wollte ich das wirklich? … Ja, wollte ich, auch wenn ich nicht wusste wie. Ich würde ihm einfach alles erklären. Ich würde ihm sagen, dass Martin nur meine Hand gehalten hatte, weil… Verflucht, wie sollte ich das denn erklären? Sollte ich ihm sagen, dass ich kurz davor war, meine Lehrerin umzubringen und dass mich Martins Hand davon abgehalten hatte? Wow, das musste ja eine tolle Hand sein. Nein, so ging das nicht. Mist, es war doch nicht mehr als eine nette Geste. Für mich jedenfalls. Aber für Martin? Da war ich mir nicht mehr so sicher.
Ich würde auch mit ihm reden müssen. Das musste richtig gestellt werden. Ich wollte ihn als Freund und nicht als … ja was eigentlich? Wie nennt man denn das? Das einzige Wort, das mir dazu einfiel war “Gabriel”.
Ich seufzte. Mit geschlossenen Augen konnte ich Gabriel ganz deutlich vor mir sehen. Sein symmetrisches Gesicht. Die kleinen Grübchen, wenn er lächelte. Seine atemberaubenden stahlblauen Augen. Ja und leider auch seinen zornigen Blick, den er mir zugeworfen hatte, bevor er in den Bus eingestiegen war.
Ob er mitbekommen hatte, was zwischen Lou und mir vorgefallen war? Ob er es selbst gesehen hatte? Wie wird er es beurteilen? Als meine Rache für das, was sie erzählt hatte? Würde er mich jetzt auch noch verachten oder mich sogar fürchten? Hatte ich überhaupt noch eine Chance, das wieder geradezubiegen?
Meine Träume in der vergangenen Nacht hatten mich mit genau diesen Fragen gequält. Hauptsächlich zwar mit anderen Varianten der Auseinandersetzung mit Lou, die sie in meinen Träumen allerdings nie überlebte, aber auch immer mit seinem Gesicht, das mich danach anstarrte. Keiner dieser Träume versprach mir Hoffnung.
Seufzend stand ich auf und ging auf die Toilette und anschließend duschen. Ich müsste es eigentlich nicht. Man sah es mir nicht wirklich an, ob ich frisch geduscht war oder nicht. Man roch es eigentlich auch nicht. Ich könnte problemlos eine Woche darauf verzichten, ohne dass es auffallen würde. Eigentlich duschte ich, weil ich es mochte. Das heiße Wasser über den Körper fließen zu lassen, war sehr angenehm und prickelnd. Komisch eigentlich, dass mir das früher nie bewusst war. Da duschte ich nur, wenn ich nach der Jagd Blut und Schmutz am Körper und in den Haaren kleben hatte. Es war nur nützlich, sonst nichts. Erst vor ein-zwei Jahren merkte ich, dass es eigentlich auch ein schönes Gefühl war, zu duschen.
Nachdem ich aus der Dusche heraus stieg, fiel mein Blick auf die Badewanne, die diese kleinen Düsen im Boden und an den Seiten hatte. Warum hatte ich das eigentlich noch nie ausprobiert? Ich nahm mir vor, in den nächsten Tagen einmal ein Bad zu nehmen.
Ich trocknete mich ab, fönte schnell die Haare und ging wieder in mein Zimmer, um mich anzuziehen. Seufzend ließ ich die Schuluniform hängen wo sie war und griff mir ein ziviles Outfit. Dann ging ich zu meiner Schultasche und sah mir meinen Stundenplan an. Warum ich das machte, wusste ich auch nicht so recht. Es war unnötig, da mir auch so klar war, dass ich heute noch mal Chemie und dann Englisch und Mathe gehabt hätte. Am Nachmittag dann verpasste ich den Kunstunterricht, was mich wirklich ärgerte. Dieses Fach hatte ich noch nicht und kannte auch die Lehrerin nicht. Das war eines der Fächer, auf die ich mich wirklich gefreut hatte. Ich wurde zwar von Rosalie in Kunstgeschichte unterrichtet, aber das war ja etwas ganz Anderes. Das war Allgemeinbildung. Kunst zu machen, war viel aufregender. Natürlich malte ich und konnte schnitzen, doch es gab sicherlich noch vieles, das ich noch nicht ausprobiert hatte. Damit würde ich wohl auch noch eine Woche länger warten müssen.
Ich kramte meine Bücher heraus und schaute nach, was heute so dran gewesen wäre. O.K., wenn es genau da weiterging, wo wir zuletzt aufgehört hatten, verpasste ich weder heute noch morgen etwas. Meine Idee, mich über den Vormittag mit Schulaufgaben zu beschäftigen war sinnlos. Frustriert packte ich wieder alles ein und ging frühstücken.
Auf dem Weg nach unten liefen mir Rosalie und Emmett über den Weg.
»Na Süße,
freust du dich auf den schulfreien Tag?«
»Nein Em. Ich
würde viel lieber mit euch kommen«, sagte ich traurig.
»Ja
ich verstehe schon, hier gibt’s niemanden zum verkloppen,
was?«
»Emmett! Das ist nicht lustig«, fauchte
ich ihn an.
Man, dass der aus allem immer eine Witznummer machen
musste.
»Jetzt kann mich doch bestimmt keiner mehr leiden«,
ergänzte ich noch.
»Also das glaube ich jetzt weniger,
Süße. Die haben doch höchstens ein bisschen Angst«,
sagte er schmunzelnd.
Ja toll. Das war ja genau das, was ich
befürchtet hatte.
»Und wer will mit jemandem befreundet
sein, vor dem er Angst hat?«
Ich sagte dies mit der vollen
Ernsthaftigkeit, die ich diesbezüglich auch empfand und Emmett
merkte, dass mir bei dem Thema wahrlich nicht zum Scherzen zumute
war.
»Nessie. Du musst nicht alles so schwarz sehen. In ein
paar Wochen redet da keiner mehr darüber. Du wirst schon
sehen.«
»Dann ist ja alles prima. Was sind schon ein
paar Wochen als Außenseiter? Ich bin das doch eh mein ganzes
Leben. Kann ich mich ja gleich so richtig daran gewöhnen. Das
ist doch… ach lass’ mich in Ruhe.«
Verdammt. Schon wieder hatte ich Tränen in den Augen. Ich ging schnell in die Küche und schlug die Tür hinter mir zu. Dann setzte ich mich an den Küchentisch und drückte die Hände auf die Augen. Man! Ich wollte jetzt nicht heulen. Das war so bescheuert. Warum nur musste ich in letzter Zeit ständig weinen? Das konnte doch nicht normal sein.
Ich bemerkte, dass jemand die Tür öffnete und blickte auf. Es war Rosalie, die mich mitfühlend ansah.
»Darf ich reinkommen,
Schatz?«
»Mir doch egal«, sagte ich schluchzend.
Sie kam herein, schloss die Tür hinter sich, kam zu mir und zog sich einen zweiten Stuhl heran, um sich neben mich zu setzen. Dann legte sie den Arm um mich und lehnte ihren Kopf an meinen.
Wir saßen so ein paar Minuten, bis ich mich wieder beruhigt hatte.
»Nessie. Du weißt,
dass Emmett das nicht böse gemeint hat. Er wollte dich wirklich
nur aufheitern.«
»Hat nicht geklappt.«
»Das
habe ich gemerkt«, erwiderte sie kichernd und auch ich musste
kurz kichern, wobei es sich merkwürdig verschluchzt
anhörte.
»Hey Kleines. Du musst dir nicht solche Sorgen
machen. Das war nicht so schlimm, wie du glaubst. Für deine
Mitschüler war das nicht mehr und nicht weniger als ein Streit
zwischen zwei Mädchen. So was kommt doch ständig vor.«
»Ach
ja? Wie oft wird denn ein Mädchen durch eine Ohrfeige bewusstlos
geschlagen?«
»Nessie. Das weiß doch außer
dir keiner. Für die war es doch nur ein …
Glückstreffer.«
»Glückstreffer!«,
knurrte ich erbost zurück.
»Jetzt lege doch nicht jedes
Wort auf die Goldwaage. Du weißt, was ich meine. Niemand hält
dich für …«
»Ein Monster?«
»Oh
man, Schätzchen. Jetzt höre doch auf damit. Das bringt doch
nichts, wenn du dich selbst fertig machst.«
»Du hast
leicht reden.«
»Wieso? Weil ich mir darum keinen Kopf
mache?«
»Ja … und weil du Emmett hast.«
»Oh.«
Einen Moment lang war es totenstill. Ich stützte meine Stirn auf meinen Händen ab und starrte vor mir auf den Tisch. Ja verdammt, ich wollte auch so jemanden haben, wie Rosalie ihren Emmett, doch ich hatte niemanden. Das war einfach zum heulen und das tat ich auch schon wieder.
»Schatz? Der Junge, wie
heißt er?«
»Wen meinst du?«
»Jetzt
stell dich nicht dumm. Du weißt schon. … Der Junge an
der Bushaltestelle? … Wegen dem du geweint hast?«
»Ja,
ich hab’s kapiert.«
»Dann sag es mir doch.«
Ich
schüttelte den Kopf.
»Warum nicht?«
»Ich
will nicht darüber reden.«
»Aber ich kann dir
vielleicht helfen.«
Ich warf ihr einen vorwurfsvollen Blick zu. Rosalie und mir helfen? Bei dem Thema? Sie hatte doch sonst nichts besseres zu tun, als mich aufzuziehen und in Verlegenheit zu bringen.
»Nessie. Du glaubst doch nicht wirklich, dass ich mich jetzt über dich lustig machen würde, oder?«
Doch, das glaubte ich und deshalb sagte ich nichts dazu.
»Liebling, bitte. Das ist doch nicht dein Ernst. Ich sehe doch, dass dich das bedrückt. Ich würde dir doch niemals so wehtun. Vertrau mir doch bitte.«
Konnte ich das? Konnte ich ihr wirklich bei so einem heiklen Thema vertrauen? Na ja, sie hatte gesagt, dass sie wusste, wie wichtig mir das war und normalerweise war sie dann auch immer ernsthaft. Aber sollte ich wirklich mir ihr darüber reden? Oder vielleicht lieber mit Mom? Am liebste würde ich mit Lissie reden, aber ich wusste ja noch nicht mal, ob die überhaupt noch mit mir reden würde, geschweige denn, über so etwas. Außerdem kannten wir uns ja auch noch nicht so gut, aber ich mochte sie und würde ihr vertrauen. O.K. Ich mochte auch Rosalie und vertraute ihr, wenn es nicht gerade um ein Beziehungs-Thema ging. Das wäre dann heute eine Premiere.
Ich seufzte. Um herauszufinden, ob ich darüber mit Rosalie reden könnte, musste ich wohl ins kalte Wasser springen.
»Gabriel!«,
beantwortete ich schließlich die Frage, die sie mir vor einer
gefühlten Ewigkeit gestellt hatte.
»Und du magst
ihn?«
Ich nickte.
»Du magst ihn sehr?«
Noch
ein nicken.
»Und er glaubt, dass du einen Anderen mehr
magst?«
Ein weiteres Nicken.
»Also, nach dem was du
mir gestern gezeigt hast, glaubt er, dass du diesen … wie hieß
er doch gleich?«
»Martin.«
»…dass
du diesen Martin zum Freund haben willst?«
»Ja.«
»Das
stimmt aber nicht, oder?«
»Nicht ganz.«
»Nicht
ganz?«
Ich stöhnte leicht auf.
»Ich will
Martin zum Freund haben, aber nicht so wie Gabriel. Gabriel will
ich…«
Man. Ich wusste einfach nicht, wie ich das
sagen sollte.
»Küssen?«, fragte sie mich
unverblümt.
»Rosalie! Du hast versprochen, dass du dich
nicht lustig über mich machst.«
»Tu ich nicht.
Ich meine das vollkommen ernst. … Würdest du ihn gerne
küssen?«
Oh man, was war denn das jetzt für eine Frage? Die Vorstellung Gabriel zu küssen war … faszinierend. Ich spürte, wie sich mein Herzschlag beschleunigte und wie mein Gesicht heiß wurde. Ein merkwürdiges Kribbeln rauschte über meinen Körper und ich hatte das Gefühl, eine Gänsehaut zu bekommen. Ein schönes Gefühl. Ja, ich würde ihn gerne küssen, aber ich konnte ihr das nicht sagen. Ich nickte einfach nur.
»Und Martin? Würdest
du ihn auch gerne küssen?«
Also diese Vorstellung hatte
gar nichts prickelndes und ich schüttelte ohne zu zögern
den Kopf.
»Dann solltest du es ihm sagen.«
»Was?
Warum soll ich Martin sagen, dass ich ihn nicht küssen
will?«
»Ach du Dummchen. Du sollst Gabriel erklären,
dass du ihn küssen willst und nicht Martin.«
Oh Gott! Die Vorstellung ihm das zu offenbaren, brachte meine Gesichtstemperatur auf volle Leistung. Mein Hals wurde trocken und ich wurde nervös.
»Da-Da-Das kann ich
nicht«, sagte ich atemlos.
»Warum nicht?«
»Ich
kann das doch nicht so einfach sagen.«
»Na, ich habe
nicht behauptet, dass das einfach ist, aber wenn du wirklich in ihn
verliebt bist?«
»Verliebt?«
»Nun ja. Es
sieht so aus.«
Während sie das von sich gab, hatte sie so ein Rosalie-Lächeln aufgesetzt. Es sah aber nicht so aus, als würde sie sich lustig über mich machen. Sie meinte das wirklich ernst. War ich denn verliebt? War das das Wort für das, was ich empfand? Ich hatte das schon oft in Filmen gesehen, aber es zu fühlen, war etwas ganz Anderes. Ich wollte in seiner Nähe sein und ihn berühren. Ich wollte, dass er mich anlächelte und mich … küsste. Ich wollte das, was die Mädchen in den Filmen auch wollen, nur das “Warum” hatte ich nie richtig verstanden. Jetzt wollte ich das auch, doch das “Warum”, war mir immer noch nicht klar. Doch ich wollte es. Ganz sicher. Ich war … verliebt.
»Aber woher weiß ich
denn, ob er auch in mich verliebt ist?«
»Nun ja, du
könntest Edward fragen.«
»Rosalie! Das ist jetzt
nicht dein Ernst.«
»Schon gut. Es ist aber eine
Option. Du könntest auch Jasper fragen. Er würde es
vielleicht spüren.«
»Nein, ich will niemanden aus
der Familie fragen.«
»Dann musst du ihn selbst
fragen.«
»Was? … Da-Da-Das geht ja noch
weniger.«
»Schatz, erinnert du dich an das Gespräch
an der Bushaltestelle?«
Absturz! All die schönen Gefühle, welche die Vorstellung von einem Kuss in mir ausgelöst hatte, wurden gerade in ein großes Loch gekickt und durch Trauer ersetzt. Ja, er war wütend auf mich. Er wollte nichts mehr mit mir zu tun haben. Er hielt mich für eine Lügnerin und vermutlich inzwischen auch für gewalttätig. Er war ganz sicher nicht in mich verliebt. Wollte sie mir das damit sagen? Dass es sowieso hoffnungslos war?
“Man. Das hätte sie mir auch netter vermitteln können”, dachte ich und fing schon wieder an zu schluchzen.
»Nessie. Ich kann zwar nicht deine Gedanken lesen, aber deinem Gesicht nach zu urteilen, denkst du gerade das Falsche.«
Sie sagte es sehr mitfühlend, doch ich schüttelte den Kopf.
»Aber Rose. Er hat gesagt,
dass er mir nicht glaubt und er war wütend auf mich und ist
einfach weggegangen. Wieso sollte er mich jemals küssen
wollen?«
Verdammt, meine Augen füllten sich schon
wieder mit Tränen und ich konnte sie einfach nicht
aufhalten.
»Weil er noch etwas Anderes gesagt hatte.«
»Was
anderes? … Was meinst du?«
»Weißt du das
denn nicht? Du hast es mir doch gezeigt? Kommst du nicht darauf?«
Ich versuchte mich zu erinnern, doch ich sah immer nur sein wütendes Gesicht mit den tollen Augen und hörte den harten Klang seiner schönen Stimme. Ich schüttelte den Kopf.
Rosalie seufzte.
»Er
hatte gesagt, ich zitiere: “Ich dachte, … zwischen uns …
da ist was”. Erinnerst du dich?«
Ja, ich erinnerte
mich und nickte.
»Siehst du? Er empfindet auch etwas für
dich und kann es genauso wenig in Worte fassen wie du. Als er
glaubte, dass du einen Anderen lieber hast als ihn, hat ihn das
wütend gemacht und verletzt. Deshalb ist er weggegangen.«
»Aber
warum hat er mir denn nicht geglaubt?«
»Weil er so wie
du nicht klar denken kann, Schatz. Liebe ist eine Sache des Herzens,
nicht des Verstandes. Du musst sein Herz ansprechen.«
»Und
wie macht man das?«
»In dem man sagt und zeigt, was
man fühlt.«
»Das ist alles?«
»Ja
und nein.«
»Rosalie! Sprich bitte nicht in Rätseln
mit mir.«
Sie seufzte noch mal.
»Schatz. Gefühle
zu zeigen und darüber zu sprechen ist leichter gesagt als getan.
Man offenbart sich dem Anderen, ohne zu wissen, wie er reagiert. Das
Ergebnis kann das Schönste der Welt sein, oder das Schlimmste.
Ich … kenne beide Seiten.«
Ich wusste, was sie meinte. Ich kannte ihre Geschichte. Sie hatte sie mir einmal erzählt. Damals verstand ich aber nicht wirklich, warum es ihr so schwer fiel, darüber zu sprechen und wieso das für sie noch immer so schmerzhaft war, obwohl es schon so lange her war. Jetzt, da ich selbst … verliebt … war, konnte ich es ein bisschen besser nachfühlen, aber noch immer nicht richtig begreifen.
»Und du rätst mir
wirklich, dass ich den ersten Schritt machen soll?«
Ein
weitere Seufzer von Rosalie.
»Nessie, wenn du es tust, wirst
du vielleicht mit einer wunderschönen Zeit mit ihm dafür
belohnt, oder sehr viel unglücklicher, als du es gestern warst
oder im Moment bist. Das ist ein Risiko, das du nicht kalkulieren
kannst. Wenn du dich aber nicht traust und darauf hoffst, dass er es
macht, wartest du vielleicht vergeblich. Dann wirst du nie erfahren,
was gewesen wäre. Das tut zwar nicht so weh, wie wenn es schief
geht, aber es ist auch sehr quälend.«
»Das ist
nicht sehr beruhigen, Rosalie.«
»Ich weiß,
Liebling und es tut mir leid, doch so sehe ich es nun mal. Emmett
sagt gerne “no risk, no fun” und er hat damit wirklich
recht. Jetzt musst du selbst entscheiden, ob du es riskieren willst,
oder nicht. Mehr kann ich dir nicht sagen.«
Dann gab mir Rosalie noch einen Kuss auf die Wange und verabschiedete sich von mir. Es war inzwischen höchste Zeit, dass sie zur Schule fuhren. Wie ich sehen konnte, als sie durch die Tür ging, warteten die Anderen schon draußen in der Vorhalle. Wie viel sie wohl von unserem Gespräch mitbekommen hatten? Im Grunde war es mir egal. Dad würde sowieso alles wissen, denn Mom dürfte wohl keinen Grund gehabt haben, mich abzuschirmen. Irgendwann würde er es ohnehin erfahren. Das spielte keine große Rolle. Vermutlich wusste er auch längst, dass ich in Gabriel verliebt war. Sicherlich war das allen schon klar gewesen, nur mir eben nicht.
Ich verließ auch die Küche, denn ich wollte mich von ihnen verabschieden. Die Art, mit der sie mich anlächelten, verriet mir, dass ich mit meiner Vermutung wohl richtig lag. Mom ließ es sich natürlich nicht nehmen, mich noch mal zu umarmen und fest zu drücken. Ich hoffte sehr, dass sie nicht enttäuscht oder mir böse war, dass ich das Gespräch mit Rosalie und nicht mit ihr geführt hatte. Ihre Umarmung fühlte sich jedenfalls nicht danach an, was mich doch sehr beruhigte. Dann machten sich alle auf den Weg und ich war mit Esme alleine zu Hause.
Das Knurren meines Magens führte
mich zurück in die Küche. Heute hatte ich irgendwie Lust
auf Rührei, doch es waren keine Eier im Kühlschrank. Warum
auch. Ich hatte schon lange keine mehr gegessen und normalerweise
verzichtete ich im Interesse meiner Familie auf geruchsintensive
Speisen. Also doch nur Müsli, wie immer. Doch diesmal wenigsten
mit etwas frischem Obst. Davon war eigentlich immer etwas für
mich da und dieses hier war von unseren Obstbäumen.
Nach dem Frühstück ging ich zu Esme ins Wohnzimmer. Sie flitzte in einer wahnsinnigen Geschwindigkeit durch das Haus und sorge für Ordnung. Sie sah dabei wie ein tanzender Derwisch aus und schien doch tatsächlich Freude daran zu haben. Ich fragte sie, ob ich ihr vielleicht helfen könnte, doch sie lehnte ab. Sie meinte, dass sie da so ihre Routine hätte und dass es für sie eine angenehme Beschäftigung wäre. Irgendwie war das zwar merkwürdig, aber ich konnte es auch verstehen. Im Augenblick wusste ich nämlich wirklich nicht, wie ich mich beschäftigen sollte. Das war irritierend. Ich war eigentlich nie alleine. Gut, ich war auch jetzt nicht wirklich alleine, aber ich hatte nichts zu tun. Sonst war eigentlich immer jemand mit mir beschäftigt. Sei es, um mich zu unterrichten, oder mit mir zu spielen, oder auf die Jagd zu gehen. Nun ja, ich könnte ein Buch lesen oder Musik hören. Das hatte ich auch früher schon alleine gemacht, wenn ich meine Ruhe haben wollte, aber jetzt wollte ich im Grunde nicht meine Ruhe haben. Ich wollte, dass jemand bei mir war. Jemand, mit dem ich reden könnte. Jemand dem ich nahe sein könnte. … Jemand, den ich küssen könnte.
Oh man. Das war wohl doch keine so gute Idee gewesen, mit Rosalie darüber zu reden. Jetzt, da mir klar war, was ich mir wünschte, ging es mir nicht mehr aus dem Kopf. Das war doch total bescheuert. Ich wusste ja noch nicht mal, ob er das wirklich auch wollte. Ich hoffte es natürlich. Sehr sogar. Wahnsinnig sehr sogar. Das wäre so schön. Aber wie sollte ich das denn herausfinden, wenn er in der Schule und ich hier war? Das war extrem frustrierend.
Genervt ging ich in mein Zimmer und ließ mich auf mein Bett fallen. Ich fragte mich selbst, wie sich eigentlich die Anderen beschäftigten, wenn ihnen langweilig war. Dad spielte dann ja meistens Klavier und Mom hörte ihm gerne zu oder spielte einfach mit, was wiederum Dad am besten gefiel. Zumindest glaubte ich das, weil er sie dann immer so verträumt schief anlächelte. Jasper und Emmett spielten häufig ihr Schachspiel und Alice und Rosalie konnten endlose Stunden damit verbringen, sich am PC über die neuesten Modetrends zu informieren. Natürlich machten sie auch andere Sachen miteinander. Kampftraining zum Beispiel. Manchmal saßen sie auch vor dem Fernseher, aber das nicht sehr häufig. Es diente ja nur der Informationsbeschaffung, weshalb fast nur Nachrichten gesehen wurden und ansonsten auch gerne mal Sport. Spielfilme und dergleichen im Fernsehen begeisterten uns kaum. Da gingen wir lieber ins Kino. Das Fernsehbild mit den vielen kleinen Lichtpunkten, war immer so unscharf. Gut, bei den neuen HD-Fernsehern war es nicht mehr ganz so schlimm, aber Kino war viel besser. Abgesehen von den 3D-Filmen. Das mit der Brille war so was von dämlich. Meine Augen ließen sich davon nicht täuschen und das Bild sah einfach nur traurig aus. Echt blöd, dass immer mehr von diesen Filmen gedreht wurden.
Natürlich beschäftigten sie sich auch viel mit mir. Jeder hatte mich in den letzten Jahren in irgend einem Fach unterrichtet und daneben auch so gerne Zeit mit mir verbracht. So richtig alleine beschäftigte sich ja keiner. Doch, Rosalie! Sie bastelte gerne alleine an Autos herum, aber die Übrigen? Meistens suchten sie immer die Nähe von Anderen und am liebsten natürlich die von ihren Partnern. Mom und Dad waren besonders unzertrennlich. Es war zwar immer irgendwie schön, es zu sehen, auch wenn es manchmal lästig war, weil sie mich dann nicht mehr beachteten, aber so richtig verstanden hatte ich es trotzdem nicht, warum es ihnen nie langweilig wurde. Sie waren doch schließlich praktisch jeden Nacht für sich. Warum küssten und streichelten sie sich dann auch noch am Tag? Ich hatte es Mom mal gefragt und sie sagte, dass sie Daddy einfach so sehr liebte, dass es völlig egal war, ob es Tag oder Nacht war. Sie wollte immer in seiner Nähe sein. Sie meinte auch, dass ich das irgendwann verstehen würde. War jetzt irgendwann? Ich meine, warum wünschte ich mir schon den ganzen Morgen, seit meinem Gespräch mit Rosalie, dass Gabriel bei mir wäre? Wenn ich jetzt bei ihm sein könnte, würde ich dann noch hier alleine auf meinen Bett liegen? Vermutlich nicht. Nein, sicher nicht.
Ich seufzte, schloss die Augen und stellte mir vor, dass Gabriel neben mir im Bett liegen würde. Was wäre, wenn er ganz nah an mich heran rutschen würde, um mich in den Arm zu nehmen? Wenn er mir dann vielleicht über das Haar streicheln würde? Wenn er sich über mich beugte und mir einen Kuss gäbe?
Bei der Vorstellung rauschte ein Kribbeln durch meinen Körper und ich fuhr mir mit der Zunge über die Lippen, um sie mit etwas Feuchtigkeit zu benetzen. Ich stellte mir vor, wie ich seinen Kuss erwiderte. Ich würde ihm tief in die tollen Augen schauen, ihm mit der Hand durch die Haare fahren und dann, wenn sich unsere Lippen treffen würden…
Ich schrak auf. Mein Herz raste und ich hatte eine Gänsehaut. Was war nur los mit mir? Warum fühlte ich mich immer so komisch, wenn ich an ihn dachte und warum konnte ich nicht aufhören, an ihn zu denken? Ich war total unruhig und aufgewühlt. Am liebsten hätte ich laut geschrien und wäre wild darauf los gerannt.
Warum eigentlich nicht? Ich hüpfte aus dem Bett, öffnete das Fenster und sprang hinaus, landete sicher auf die Terrasse und rannte so schnell ich nur konnte in den Wald hinein. Es regnete leicht und die Wassertropfen peitschten mir ins Gesicht. Es war so ein befreiendes Gefühl. Als würde die Natur mir ihren feuchten Kuss aufdrücken.
Oh man, schon wieder ein Kuss-Gedanke. Kopfschüttelnd, aber innerlich und wohl auch äußerlich breit grinsend rannte ich immer weiter.
Als ich an meinem besonderen Platz ankam, verweilte ich kurz. Bei diesem trüben Wetter war er nicht sehr verlockend, hatte aber trotzdem etwas Beruhigendes. Dennoch war ein nasser Baumstamm nicht sehr einladend, um sich darauf zu setzen. Ich tätschelte ihn trotzdem und versprach ihm, dass ich bei schönem Wetter wieder vorbeikommen würde. Dann rannte ich weiter und lachte über mich selbst, weil ich gerade mit einem Baumstamm gesprochen hatte. Gabriel raubte mir wohl allmählich den Verstand.
Nach einer Weile lief mir ein junges Reh über den weg. Ich fing es spontan ein, drehte mich mit ihm ein paar Mal schnell im Kreis und ließ es dann wieder laufen. Schließlich hatte ich keinen Durst, sondern war einfach nur gut gelaunt. Außerdem war es noch so jung. Das hätte ich sowieso nicht getötet. Ich lief weiter und schaute zurück und sah, wie das torkelnde Reh hinfiel und sich wieder aufrappelte. Ich musste bei dem Anblick laut lachen und schreckte dadurch einige Vögel auf.
“Ja, fliegt nur”,
dachte ich, denn im Augenblick hatte ich selbst das Gefühl zu
fliegen und setzte zu einigen großen Sprüngen an und
breitete dabei die Arme aus.
Nachdem ich wohl zwei Stunden lang durch den Wald gerannt war und mein Verstand anscheinend wieder klarer wurde, kehrte ich nach Hause zurück. Ich sprang hoch zu meinem immer noch geöffneten Fenster im ersten Stock und kletterte wieder hinein. Allerdings musste ich feststellen, dass ich vollkommen durchnässt war. Also ging ich schnell ins Badezimmer um die nassen Kleider abzulegen, trocknete mich ab und zog mir etwas Frisches an.
Inzwischen war es zwölf Uhr und die Realität holte mich bei einem Blick auf den Wecker wieder ein. Jetzt würden meine Freunde sich an ihrem Tisch in der Mensa versammeln und vermutlich über mich reden. Ich hatte Angst davor. Angst, dass sie schlecht von mir dachten und mich nicht mehr bei sich haben wollten. Auch Angst, dass sich Gabriel nie wieder zu mir an diesen Tisch setzen würde, falls ich dort überhaupt noch willkommen war.
Nein, ich wollte so nicht denken. Ich wollte hoffen, dass alles wieder gut wird und beschloss, es einfach zu tun.
“Alles wird gut, alles wird gut, alles wird gut.”
Mit der Gewissheit, dass ich
ohnehin nichts daran ändern könnte, was auch immer gerade
dort passierte, schnappte ich mir mein iPod, lenkte mich mit Musik ab
und tanzte dazu durch mein Zimmer.
Die Zeit verging quälend langsam. Nachdem ich genug von meiner Musik hatte und ich mich im Moment auch nicht für ein Buch entscheiden konnte, setzte ich mich noch eine Weile im Wohnzimmer vor den Fernseher. Ich zappte gedankenverloren durch die Kanäle, als sich plötzlich Esme zu mir setzte.
»Wie geht es dir,
Liebes?«
Ich zuckte mit den Schultern
»Geht
so.«
»Ich glaube, ich muss mich bei dir
entschuldigen.«
Erstaunt sah ich sie an. Sie sah tatsächlich schuldbewusst aus, doch ich hatte nicht den leisesten Verdacht, weswegen.
»Was? … Du? …
Warum?«
Sie seufzte kurz.
»Als du mich heute Morgen
gefragt hast, ob du mir helfen könntest, da war ich so in meine
Arbeit vertieft, dass es mir nicht in den Sinn gekommen war, dass du
mich eigentlich um etwas Beschäftigung, etwas Ablenkung gebeten
hattest. Das tut mir leid.«
Ich musste sie einfach anlächeln. Diese Frau war einfach die Güte in Person und so mitfühlend, dass sie Gewissensbisse hatte, weil sie ein unnötiges Hilfsangebot abgelehnt hatte.
»Also ehrlich Esme. Du
musst dich doch nun wirklich für gar nichts bei mir
entschuldigen und erst recht nicht dafür, dass ich dir auf die
Nerven gehe.«
»Siehst du? Genau das will ich nicht. Du
sollst nicht denken, dass du mich nervst. Das tust du doch gar nicht.
Ich freu’ mich doch, wenn du zu mir kommst. Egal aus welchem
Grund.«
Da ich nicht wusste, was ich darauf antworten sollte, ließ ich es bleiben und legte mich seitlich auf die Couch, um meinen Kopf auf ihren Schoß zu betten. Sie fing sofort an, mir zärtlich über den Kopf zu streicheln und gab einen irgendwie zufrieden klingenden Seufzer von sich, der mir ein breiteres Lächeln auf das Gesicht zauberte.
»Du weißt doch, dass du immer zu mir kommen kannst, wenn dich etwas bedrückt, oder?«
Ich nickte nur. Natürlich war mir klar, dass sie mir gerade auf die nachdrücklichste Art, die sie kannte, angeboten hatte, mit ihr über meine Probleme zu sprechen. Aber könnte ich mit Esme darüber reden? Über meine Angst, von den anderen Schülern ausgegrenzt zu werden? Über das, was ich für Gabriel empfand? Sie hätte sicherlich eine ganz andere Sichtweise auf die Dinge als Rosalie, oder? Vielleicht sollte ich mal etwas andeuten und sehen, wie sie reagierte.
»Esme? Was glaubst du, wie
die anderen Schüler jetzt über mich denken?«
»Nun,
Liebes. Du wirst sicherlich in den nächsten Tagen das
Gesprächsthema Nummer 1 sein. Das ist auch mit ein Grund, dass
du suspendiert wurdest. Es dient auch zu deinem Schutz.«
»Zu
meinem Schutz?«
Das war doch absurd. Warum sollte ich geschützt werden? Ich war doch diejenige, die zugeschlagen hatte. Außerdem brauchten im Ernstfall ja wohl alle Anderen Schutz vor mir.
»Natürlich zu deinem
Schutz. Für den Rektor bist du ein junges Mädchen, das sich
dazu hinreißen ließ, ein anderes Mädchen zu
schlagen. Heute werden alle in der Schule darüber reden und wenn
du dort wärst, würden dich vermutlich alle anstarren und
über dich tuscheln. Das kann ein extremer psychischer Stress
sein. Davor wirst du geschützt. Wenn sich die Aufregung nach
ein-zwei Tagen beruhigt hat und dann auch noch ein Wochenende
dazwischen liegt, wird es nicht mehr ganz so schlimm.«
»Dann
denkst du, das ist bis nächste Woche vergessen?«
»Nein,
das nun auch wieder nicht. Deine Klassenkameraden und deine Freunde
werden sicherlich noch darüber reden und der Eine oder Andere
dich vermutlich auch darauf ansprechen.«
»Und was soll
ich dann sagen?«
»Die Wahrheit, Kind. Was sonst? Sie
hat dich mit ihrer Rücksichtslosigkeit so sehr gekränkt,
dass du sie ohne nachzudenken aus Wut geschlagen hast. Natürlich
tut dir das leid, denn du wolltest das nicht und noch weniger
wolltest du sie so verletzten, aber du kannst das nicht ungeschehen
machen.«
»Werden sie mir das denn glauben?«
»Die
meisten bestimmt. Die Menschen glauben gerne das, was ihrer
Vorstellung nach am wahrscheinlichsten ist. Demnach müsstest du
sehr wütend gewesen sein, damit du dich überhaupt traust,
eine anderes Mädchen anzugreifen, das doch kräftiger
aussieht als du. Noch dazu, wenn es von zwei Anderen begleitet wird
und du alleine bist. Dass sie K.O. ging, wird für sie ein Zufall
sein. Sie war eben unvorbereitet und ist unglücklich
gestürzt.«
»Dann denkst du, dass sie jetzt keine
Angst vor mir haben?«
»Außer für die beiden
Mädchen, die deine Wut aus nächster Nähe gesehen
haben, dürftest du für allen Anderen wenig bedrohlich
wirken. Du bist doch perfekt getarnt. Ich glaube nicht, dass sie
Angst vor dir haben.«
Ich seufzte erleichtert. Esme
war sehr sachlich und überzeugend und hat mir große
Hoffnung gemacht, dass wirklich alles wieder gut wird.
»Danke
Esme. Das hat mir sehr geholfen.«
»Das freut mich,
Liebes.«
Ich blieb noch eine ganze Weile so mit dem Kopf auf ihrem Schoß auf der Couch liegen und schaltete nebenbei auf einen Musiksender. Witzig war, das Esme anfing, mich im Takt der Musik zu streicheln, obwohl das sicherlich nicht ihr Geschmack sein konnte. In ihrer Nähe fühlte ich mich sehr wohl. Wie eine Katze, die liebevoll gekrault wurde, genoss ich die Streicheleinheiten und mein wohliges Seufzen glich mehr einem Schnurren.
Wie lange ich so schon bei ihr lag, wusste ich nicht, doch als ich plötzlich Autos hörte, war mir sofort klar, dass es schon Nachmittag sein musste und die Anderen aus der Schule zurückkamen. Voller Vorfreude, dass sie endlich wieder da waren, richtete ich mich auf, gab Esme einen langen und liebevollen Kuss auf die Wange, bedankte mich noch mal bei ihr und ging in den Vorraum, wo ich auf die Heimkehrer wartete. Glücklicher Weise ließen sie mich auch nicht länger zappeln. Mom schien es selbst kaum erwarten zu können und sprang die Treppe herauf, um mich in die Arme zu nehmen.
»Hey, Sternchen. Ich habe
dich ja sooo vermisst. … Es war so komisch, dich nicht in der
Kantine zu sehen. Ich musste ständig an dich denken.«
»Ich
habe dich auch total vermisst, Mom.«
»War es sehr
langweilig? Was hast du denn gemacht?«
»Na ja, ich bin
eine Weile durch den Wald gerannt und ansonsten stand noch Musikhören
auf der Tagesordnung. Ja und kuscheln mit Esme.«
Mom lächelte mich glücklich an, da mein Bericht sich nicht so leidend angehört hatte, wie es teilweise war, doch letztlich hatte Esme dem Tag einen dicken positiven Stempel aufgedrückt.
»Wie war denn euer
Schultag?«, fragte ich nach, während auch die Anderen
inzwischen bei uns angekommen waren.
»Überraschend«,
sagte Dad.
»Wieso?«
»Normalerweise werden wir
ja eher gemieden, doch heute wurden wir alle ein paar mal darauf
angesprochen, was da gestern passiert war.«
Mir stockte der Atem und ich wurde nervös. Wenn die anderen Schüler sogar ihre Zurückhaltung meiner Familie gegenüber aufgeben würden, um mehr darüber zu erfahren, was ich verbrochen hatte, dann war es ja noch schlimmer, als ich befürchtet hatte.
»Na, na, na. Schatz«, fuhr Dad fort. »So war das jetzt auch wieder nicht. Sie konnten es halt nicht glauben, was da so erzählt wurde und fragten deshalb nach. Ganz normale menschliche Neugier. Eigentlich sogar erfrischend. Ich könnte mich nicht daran erinnern, dass wir schon mal in unserer Geschichte so viel Kontakt zu den Mitschülern bereits in der ersten Woche gehabt hätten.«
Alle außer Mom nickten zustimmend und er sprach weiter.
»Die meisten wollten
einfach nur wissen, ob es wahr ist, dass du Lou umgehauen hast und
wir erzählten eben, dass sie gemein zu dir war und du sie mit
deinem Treffer wohl vollkommen überrascht hattest, weshalb sie
zu Boden stürzte und mit dem Kopf hart aufschlug.«
»Habt
ihr euch da abgestimmt?«, wollte ich wissen.
»Natürlich,
was denkst du denn. Wir mussten doch sichergehen, dass es nur eine
Version gab.«
»Und wie haben sie die aufgenommen? Was
haben sie denn gesagt.«
»Gesagt haben sie nicht viel,
aber gedacht.«
»Was denn gedacht?«, fragte ich
unsicher. Wollte ich das wirklich wissen? Ich war mir da nicht
sicher, denn ich hatte Angst, dass es mir nicht gefiel.
»Keine
Angst, Schatz. Viele fanden es einfach nur cool, dass Lou endlich mal
eine Abreibung bekommen hat, aber sie machen sich auch Sorgen, dass
sich Lou an dir vielleicht rächen will.«
»An mir
rächen? Wie soll sie das denn anstellen?«
»Liebling«,
sagte Dad schmunzelnd. »Für die bist du ein Mensch. Ein
hübsches eher zierliches Mädchen, dass allerdings mutig ist
und sich zur Wehr setzt. Viele waren beeindruckt von dir, aber jetzt
sind sie auch besorgt. Vor allem deine neuen Freunde.«
»Meine
Freunde?«, sagte ich voller Hoffnung. »Sie wollen noch
meine Freunde sein?«
»Natürlich wollen sie das.
Lissie und die Anderen sind vollkommen überrascht von dir, aber
in einem positiven Sinn. Wegen denen musst du dir keine Sorgen
machen. Die können alle Lou nicht leiden und stehen voll hinter
dir. In der Mittagspause haben sie darüber gesprochen, wie sie
dich vor ihrer Rache schützen können.
»Oh wie
lieb!«, freute ich mich.
Auch wenn es total unnötig
war. War es so toll, dass sie so dachten.
»Danke Daddy, dass
du mir das erzählt hast«, sagte ich und sprang ihm um den
Hals.
»Wusste ich doch, dass es dir gefällt«,
erwiderte er grinsend und küsste mich, während er mich fest
an sich drückte.
Ich war sehr erleichtert. Esme hatte mich ja schon ungemein beruhigt, aber jetzt die Bestätigung zu hören, war einfach wundervoll. Ich hatte also doch nicht alle Freunde verloren. Ob ich das mit Gabriel auch irgendwie hinbekommen könnte?
»Du musst ihm Zeit lassen,
Schatz.«
»Daddy! Ich hab’ dich doch gar nichts
gefragt.«
»Entschuldige Liebling. Ich weiß doch,
dass er dir viel bedeutet. Ich habe ihn auch gesehen und er denkt
über euch nach und ist sehr verwirrt.«
»Verwirrt?«,
fragte ich unsicher.
»Ja, er hat mitbekommen, dass du
geweint hast, als er wütend von dir weggegangen ist. Er hat auch
mitbekommen, dass du Lou niedergeschlagen hast. Er versteht die
Zusammenhänge nicht und ist verunsichert.«
»Aber
was kann ich denn jetzt machen?«
»Jetzt kannst du gar
nichts machen«, sagte plötzlich Alice. »Ich kann
zwar nicht in deine Zukunft blicken und weiß deshalb auch
nicht, ob du mit Gabriel zusammenkommst oder nicht, aber ich verstehe
etwas von Entscheidungen. Jetzt im Moment kannst du nichts erzwingen.
Du musst Geduld haben. Er muss das alles erst verarbeiten. Lass’
ihm wenigstens Zeit bis nächste Woche. Du wirst schon merken, ob
er bereit ist, mit dir zu reden oder nicht.«
»Und was
das mit Martin betrifft«, meinte Rosalie noch dazu, »das
solltest du als erstes klären. Ich bin mir sicher, er macht sich
Hoffnungen. Solange das so ist, wird das ein Problem sein, das auch
zwischen dir und Gabriel steht.«
Ich nickte. Ja, ich hatte es
verstanden, obwohl ich keine Ahnung hatte, wie ich das klären
sollte. Wie sollte ich das Martin klar machen, ohne die Freundschaft
zu zerstören? War das überhaupt möglich? Könnte
ich denn mit Gabriel einfach nur befreundet sein, wenn er mir sagen
würde, dass es nichts mehr zwischen uns geben könnte? Was
für eine grausame Vorstellung. Das wollte ich Martin nicht
antun, aber hatte ich eine andere Wahl?
Den Rest des Tages versuchte ich
keine Gedanken mehr daran zu verschwenden. Ich konnte sowieso nicht
in Ruhe nachdenken, wenn Dad in der Nähe war und bei dem Wetter
wollte ich nicht wirklich zu meinem geheimen Platz gehen. Außerdem
hatte ich ja morgen wieder viele, viele, viele Stunden Zeit, um
alleine darüber zu grübeln. Den restlichen Nachmittag und
den Abend wollte ich mir jedenfalls nicht davon verderben lassen.
Jetzt, da alle hier waren und jeder gerne bereit war, sich mit mir zu
beschäftigen, war ich plötzlich in einer grotesk verdrehten
Realität. Auf einmal musste ich entscheiden, mit wem ich mich
wann und wie befassen wollte. Das war sogar noch unangenehmer, als
nicht zu wissen, was man tun sollte. Dabei konnte man wenigstens
niemanden durch Zurückweisung enttäuschen. Ich versuchte es
daher so gerecht wie möglich zu gestalten beziehungsweise mich
nach Möglichkeit mit mehreren gleichzeitig zu befassen. Mit
Emmett machte ich wieder Musik, was ihn sehr froh machte. Mehr als
sonst, wie mir schien. Offensichtlich hatte er befürchtet, ich
könnte wegen heute Morgen nachtragend sein. So ein Blödsinn,
als ob ich nachtragend wäre. Außerdem mochte ich ihn viel
zu sehr und könnte ihn sowieso nicht absichtlich ignorieren.
Jedenfalls war ich danach mit allen schwer beschäftigt, was die
Zeit geradezu beängstigend schnell verstreichen ließ. An
diesem Abend ging ich erst sehr spät ins Bett.
Am nächsten Morgen wachte ich erst kurz vor neun auf und meine Familie war schon weg. Zunächst war ich deshalb ein wenig verärgert, weil sie mich nicht geweckt hatten, um sich von mir zu verabschieden, wo ich sie doch den ganzen Tag vermissen würde, doch dann dachte ich mir, dass sie mich bestimmt bewusst schlafen gelassen hatten, um es mir etwas einfach zu machen.
Der Tag verlief diesmal ein wenig angenehmer, als es gestern der Fall war. Die Nervosität wegen Lissie und ihren Freunden war weg. Sie würden mich bestimmt wieder an ihrem Tisch willkommen heißen. Ob allerdings Gabriel auch wieder dazukommen würde, das war das große Mysterium. Meine Gedanken kreisten ständig um ihn und darum, wie ich die Sache mit Martin klären könnte. Bei beiden Problemen war ich meilenweit von einer Lösung entfernt. Ich kam mir vor wie ein Verdurstender, der einen Weg aus der Wüste suchte und doch immer im Kreis lief.
Ich verbrachte auch einen Großteil des Mittags mit Esme, die ich bat, mir doch etwas mehr über das Haus zu erzählen. Insbesondere über seine Geschichte und die Architektur. Das machte sie sehr gerne und wir hatten eine sehr kurzweilige Zeit.
Schließlich war auch mein
zweiter Schulverbotstag zu Ende und der Nachmittag und Abend war
genauso schön wie am Vortag.
Am Samstag unternahmen wir zusammen einen Jagdausflug und dehnten den über den ganzen Tag aus, um das Gebiet gründlich kennen zu lernen. Wir hatten das auch schon an den letzten Wochenenden in anderen Bereichen so gemacht, aber die Nationalparks waren sehr groß und es gab viel zu entdecken. Mir fielen auch ein paar Pflanzen auf, die mir gänzlich unbekannt waren und ich nahm mir vor, mich darüber genauer zu informieren. Das Beste war allerdings der Hirsch, den ich gejagt hatte. Er war groß und stark und super lecker. Die erste Beute hier, die sich nicht hinter einem Wapiti verstecken musste. Ich fühlte mich vollkommen satt. Zwischendurch waren Mom und Dad auch mal für zwei Stunden komplett verschwunden und merkwürdiger Weise, hatten sie nach ihrer Rückkehr andere Klamotten an. Bei Mom ging da ja öfters mal etwas kaputt, das war nichts Neues, aber bei Dad war das doch eher ungewöhnlich. Jedenfalls lächelten sie nur verlegen, als ihnen auffiel, dass ich es bemerkt hatte. Weiß der Kuckuck, warum bei denen immer etwas bei der Jagd zerrissen wurde. Mir passierte das nie. Für meine Eltern schien das jedenfalls nicht wirklich ärgerlich zu sein. Zumindest hatte ich nicht den Eindruck, als sie dann wieder Händchen haltend durch den Wald schlenderten und sich häufig kleine zärtliche Küsse aufhauchten. An ihrer Zuneigung würde sich wohl nie etwas ändern. Ich hoffte es jedenfalls sehr für sie.
Was sich allerdings für mich geändert hatte war, dass ich mir jetzt mehr denn je wünschte, auch jemanden zu haben, mit dem ich so durch den Wald spazieren gehen könnte. Ich beneidete sie und wollte daran teilhaben. Am liebsten hätte ich mich zwischen sie gedrängt. Nicht um sie zu stören oder gar auseinanderzudrängen, sondern um es irgendwie indirekt mitzuerleben. Natürlich war das albern. Das ging schließlich nicht und ich wollte das ja auch nicht wirklich mit ihnen oder einem Anderen der Familie erleben. Ich wollte jemanden für mich und ich wusste auch genau, wer dieser Jemand sein sollte. Seufzend stellte ich fest, dass meine Gedanken schon wieder nur noch bei Gabriel waren. Es war schön und schrecklich zugleich. Ein bittersüßer Genuss. Der Wunsch ihm nahe zu sein, fühlte sich so richtig an und doch war da die gnadenlose Ungewissheit, ob das nicht alles nur ein Traum war und blieb.
Obwohl es mir sehr unangenehm war, diese Gedanken immer wieder mit Dad teilen zu müssen, konnte ich mich nicht wirklich dagegen wehren. Ich wollte darüber nachdenken. Ich wollte wenigstens in meinem Kopf bei ihm sein, auch wenn ich das in Wirklichkeit nicht sein durfte. Erst als wir gegen Abend wieder zu Hause waren, kam es mir in den Sinn, dass ich Mom hätte fragen können, ob sie mich denn abschirmen würde. Ich schüttelte über mich selbst den Kopf. Da quälte ich mich den ganzen Tag damit, dass ich meine Gedanken nicht mit Dad teilen wollte aber gleichzeitig auch Gabriel nicht aus meinen Bewusstsein verdrängen wollte und übersah völlig die einfache Lösung, die so naheliegend war und hier direkt vor mir stand.
»Mom? Würdest es dir
etwas ausmachen, mich unter deinen Schild zu nehmen?«
Sie
lächelte mich gütig an.
»Nein Schatz, aber das
mache ich doch schon den ganzen Tag.«
»Was? Warum
denn?«
»Na, weil dein Daddy mich darum gebeten hatte.
Er möchte dir deine Privatsphäre gönnen und deshalb
schütze ich dich immer vor seiner Fähigkeit, wenn du in
meiner Nähe bist.«
»Danke … aber warum
habt ihr denn nichts gesagt?«
Plötzlich wirkte sie
etwas bedrückt und seufzte leicht.
»Sternchen. Wir
wollen uns dir nicht aufdrängen. Du hast dich Rosalie anvertraut
und das ist auch gut so. Alles was dir hilft, ist uns recht. …
Du sollst nur wissen, dass wir auch für dich da sind, wenn du …
mit uns reden willst.«
»Ach Mom«, rief ich aus
und schlang die Arme um sie. Ich wusste nicht, was ich darauf sagen
sollte. Einerseits war ich froh, dass meine Eltern so unglaublich
rücksichtsvoll waren und andererseits fühlte ich mich etwas
schuldig, dass nicht wirklich mit ihnen darüber reden konnte. Es
war mir einfach irgendwie peinlich, auch wenn das total dämlich
war. Ich wusste doch, dass ich ihnen vertrauen konnte und doch war
ich froh, dass ich dieses besondere Gespräch mit Rosalie geführt
hatte. Um so dankbarer war ich für ihr Verständnis.
»Ihr seid echt die besten Eltern, die man sich wünschen kann. Ich liebe euch.«
Ich sagte dies extra laut, damit
es auch Dad hören konnte, der sich gerade wieder an das Klavier
gesetzt hatte und mir ein liebevolles Lächeln schenkte. Mom
streichelte mir noch über den Kopf, küsste mich auf die
Wange und ging dann zu ihm. Sie spielten wieder ihr Lied und ich
machte es mir auf der Couch gemütlich und lauschte der Melodie.
Sie war so romantisch und ich ging zu der Musik im Gedanken mit
Gabriel durch den Wald spazieren.
Am nächsten Morgen wachte ich gut gelaunt auf. Ich hatte von Gabriel geträumt und es war ein sehr schöner Traum, obwohl er mich darin nicht geküsst hatte. Trotzdem war er so wunderbar, weil wir zusammen waren und es keinen Streit gab. Nur liebevolle Blicke, sanfte Worte und zärtliche Berührungen. Ich wollte diesen Traum nicht los lassen und hielt an ihm fest, stand auf und ging ins Bad. Mit den Erinnerungen an diesen Traum stieg ich unter die Dusche, ließ das heiße Wasser über meinen Rücken laufen und seifte mich ein. Trotz des heißen Wassers bekam ich plötzlich eine Gänsehaut, als ich mich selbst dabei erwischte, wie ich mir vorstellte, dass es gerade Gabriels Hände wären, die mich da einseiften. Es war merkwürdig, irritierend und faszinierend zugleich. Mich überkam ein intensives Kribbeln im Bauch, das aber von dem starken Gefühl begleitet wurde, gerade etwas Verbotenes zu machen oder zu denken. Es war so verwirrend und ich fühlte mich so komisch dabei. Meine Haut schien empfindsamer als sonst zu sein und es gefiel mir. So etwas hatte ich noch nie beim einseifen unter der Dusche erlebt und ich war verunsichert. Der Hauch der Vorstellung, dass es seine Hände sein könnten, ließ mir einen Schauer über den Körper laufen. Als ich mir aber konkreter vorzustellen versuchte, dass er tatsächlich hier mit mir nackt unter der Dusche stand, verspürte ich ein großes Schamgefühl. Das war zu viel für mich. Mein Herz raste und ich war total aufgewühlt.
Ich wusch mir die Seife ab, stieg heraus und trocknete mich ab. Bei einem Blick in den Spiegel war ich von meinem eigenen Anblick irritiert. Mein Busen war so merkwürdig straff, was überhaupt nicht zu der heißen Dusche passte und meine Lippen irgendwie voller und roter als sonst. Meine Augen waren leicht glasig und meine Wangen gerötet. Gut, letzteres könnte auch an der Wassertemperatur gelegen haben, doch ich hatte den Verdacht, dass das nicht die Ursache war. Jedenfalls würde ich so nicht hinunter zu den Anderen gehen können. Also zog ich mich an, öffnete ein paar Fenster in meinem Zimmer und ließ die frische kühle Luft über mein erhitztes Gesicht streicheln. Ich atmete ein paar mal tief ein und legte mich dann noch mal aufs Bett und bemühte mich um innere Ruhe.
Es dauerte ziemlich lange, bis ich den Eindruck hatte, dass mein Herzschlag und meine Atmung wieder völlig normal waren. Die Erinnerung an den Traum hatte sich fest mit dem Duscherlebnis verwoben und ließ immer wieder eine Gänsehaut entstehen. Jedoch war da inzwischen auch ein immer wieder auftretendes Magenknurren, das mich an das überfällige Frühstück erinnerte, was letztlich den Ausschlag gab, dass es mir doch gelang, ruhiger zu werden. Vorsorglich warf ich noch mal einen Blick in den Spiegel. Gut, es waren keine verdächtigen Anzeichen zu erkennen und ich ging in die Küche.
Während des Frühstücks schaute ich aus dem Fenster in den Vorgarten. Er wurde in Sonnenlicht getaucht, da die Wolkendecke der letzten Woche endlich mal wieder aufgerissen war. Ich hatte den blauen Himmel schon richtig vermisst und freute mich auf das schöne Wetter. Danach ging ich kurz ins Wohnzimmer, doch da war niemand. Die Sonntage hatten so einen ganz anderen Rhythmus. Obwohl meine Familie ja nicht gerade ausschlafen musste, bleiben sie doch alle sehr lange in ihren Zimmern. Meine Nervosität wegen meines Aussehens nach der Dusche war ja wohl vollkommen unnötig gewesen.
Kurz entschlossen schnappte ich
mir ein Buch und rannte hinaus in den Wald. Schließlich hatte
ich meinem Baumstamm ja versprochen, dass ich bei schönem Wetter
wieder vorbeikommen würde und meine Versprechen hielt ich
eigentlich immer ein. Der Stamm war zwar noch feucht, aber dafür
konnte er ja nichts. Ich setzte mich trotzdem darauf und tätschelte
ihn liebevoll. Dann schlug ich mein Buch auf und begann zu lesen. Es
war eine spanische Ausgabe von Don Quijote, die ich lesen wollte, um
meine Sprachkenntnisse zu verbessern. Ein schönes, teilweise
recht witziges, doch im Grunde eher trauriges Buch, zumal er seine
Herzensdame Dulcinea nicht erobern konnte, sie ja noch nicht einmal
zu Gesicht bekam. Ein Buch, in dem man zwischen Traum und
Wirklichkeit hin und her gerissen wurde und die Grenzen manchmal
verschwammen. Ein Buch, das mich sehr berührte und nachdenklich
stimmte.
Die Sonne stand schon hoch am Himmel, als ich mich auf den Heimweg machte. Kurz vor dem Waldrand vor der Wiese hinter unserem Haus blieb ich stehen. Mom und Jasper machten gerade ihr Kampftraining. Ich sah ihnen gerne dabei zu, vor allem wenn es so schönes Wetter war und sie in der Sonne glitzerten. Dann schien es bei den schnellen Bewegungen manchmal so, als ob sie eine Leuchtspur hinter sich her zogen.
Mom war unermüdlich dabei. Keine Woche verging, ohne dass sie nicht wenigsten ein Mal mit Jasper trainierte und ich fand, dass sie immer besser wurde. Jasper musste sich schon ziemlich anstrengen, um sie zu überlisten und hin und wieder gelang ihr sogar ein Treffer, was Jasper immer besonders lobte.
Ich trat auf die Wiese und winkte Mom kurz zu. Ups, das hätte ich wohl nicht tun sollen. Jasper nutzte die Millisekunden ihrer Unaufmerksamkeit gnadenlos aus und schleuderte sie in den Wald. Ein dumpfes Krachen war zu hören und wenig später trat sie wieder mit zerzausten Haaren hervor.
»‘Tschuldigung Mom«,
rief ich ihr zu.
»Schon gut, Kleines. Ich bin ja selbst
schuld«, erwiderte sie seufzend.
»Man Bella! Wie oft
habe ich dir schon gesagt, dass du konzentriert bleiben musst.«
»Ich
weiß, Jasper. Tut mir leid.«
»Das nützt dir
nicht, wenn dir einer den Kopf abgerissen hat.«
»Sir,
Ja, Sir«, sagte sie und salutierte vor ihm.
Er seufzte und schüttelte den Kopf. Ich musste kichern. Jasper nahm das immer extrem ernst und Mom tat das eigentlich auch, doch in solchen Situationen prallten einfach zwei Welten aufeinander. Dann zog sie ihn damit auf und verhielt sich wie ein Rekrut der Marines.
»Jetzt ist aber genug herumgealbert. Los, weiter geht’s«, sagte er und führte einen erneuten Angriff aus, dem sie wieder geschickt auswich.
Ich lief schnell ins Haus und räumte das Buch auf. Dann ging ich aber wieder nach draußen um selbst ein wenig zu trainieren. Kein Kampftraining. Dazu hatte ich nicht wirklich einen Drang, obwohl es mich schon reizen würde, das auch mal zu machen. Ich glaubte sogar, dass Jasper mich gerne trainieren würde, aber bislang beschränkte ich mich darauf, eher akrobatische Übungen zu machen und sie menschlich aussehen zu lassen. Ich lief auf den Händen über die Terrasse, kletterte so Stühle und Tische hinauf und wieder hinunter. Machte Flickflacks und Salti und was mir sonst so in den Sinn kam. Gerade die Gleichgewichtsübungen machten mir großen Spaß. Ich kletterte gerne auf den Händen stehend auf einen Tisch und balancierte dann auf einer Hand. Ich machte das auch auf drei Fingern, wobei das sicherlich nicht sehr menschlich war. Für ein paar Sekunden konnte ich mich so sogar auf einem Finger halten und das fand ich richtig cool.
Jasper motivierte mich auch dazu, mein volles Potenzial hin und wieder auszuschöpfen und mit maximaler Geschwindigkeit zu rennen oder so hoch zu springen, wie ich nur konnte. Er wollte, dass ich meine Muskeln trainierte, da er davon überzeugt war, dass meine halb menschliche Natur auch für eine Muskelwachstum sorgen würde. Allerdings sah man mir nicht viel davon an. Ich wirkte eher zierlich, höchstens sportlich aber sicherlich nicht muskulös. Trotzdem hatte ich den Eindruck, mit der Zeit schneller zu werden und mehr Kraft zu haben, wenn ich auch nicht so stark war, wie die Anderen meiner Familie. Emmett trainierte manchmal auch mit mir, oder besser gesagt, er stelle sich mir als Trainingspartner zur Verfügung. Ich machte dann auch Armdrücken mit ihm und andere Kraftübungen. Natürlich hatte ich nicht den Hauch einer Chance, aber es war toll, manchmal mit voller Kraft zudrücken zu dürfen, egal ob er dem problemlos standhielt oder nicht. Ich musste sonst immer aufpassen, meine Kraft zu kontrollieren. Da war es richtig befreiend, gelegentlich einfach alles aus sich heraus zu holen. Vor einiger Zeit hatte ich dabei auch mal etwas Neues ausprobiert. Ich hatte Emmett während des Armdrückens eine Übertragung durch die Hand geschickt und ihm gezeigt, welche Empfindungen ich das letzte Mal hatte, als er mich mühelos besiegte und sich mein Arm so schwach anfühlte. Das hatte doch tatsächlich dazu geführt, dass ich ihn etwas runter drücken konnte, wenn auch nicht ganz. Ich brauchte meine volle Kraft dazu und das hatte meinen Konzentration durchbrochen. Danach sah er mich überrascht an und ich war einen Moment lang besorgt, dass er sauer auf mich sein könnte. Doch das war er nicht. Ganz im Gegenteil. Er lobte mich sogar für meine Idee und wollte, dass ich verschiedene Übertragungen ausprobierte. Am liebsten hätte ich ihm gezeigt, wie sich ein gebrochener Arm anfühlte, doch das kannte ich ja selbst nicht und für das Training wollte ich mir schließlich nicht absichtlich den Arm brechen. Jedenfalls reichten meine Übertragungen immer aus, um ihn abzulenken oder zu irritieren, aber leider nie, um ihn zu besiegen. Dazu hatte ich noch nicht den richtigen Weg gefunden.
Den Rest des Tages verbrachten wir dann im Kreise der Familie, spielten Spiele oder unterhielten uns einfach. Es war ein schöner Tag gewesen. Nicht nur wegen des Wetters, sondern weil er auch so harmonisch war. Ich fühlte mich wieder richtig wohl und freute mich darauf, morgen wieder in die Schule gehen zu dürfen. Nur die Ungewissheit wegen Gabriel bedrückte mich noch etwas und ich wusste auch noch immer nicht, wie ich es Martin schonend beibringen könnte, dass er von mir nicht mehr als Freundschaft bekommen konnte. Diese Frage beschäftige mich auch im Bett noch eine ganze Weile, bis mich schließlich die Müdigkeit übermannte.
Nach einer unruhigen Nacht wurde ich von meinem Wecker aus den unangenehmen Träumen befreit, wofür ich ihm sogar ein wenig dankbar war, obwohl ich mich noch ziemlich müde fühlte. Ich quälte mich aus dem Bett, doch nahm ich die Erinnerungen an die Träume gegen meinen Willen mit mir. Sie waren noch so frisch und präsent. Es war einfach schrecklich gewesen. Martin war da und wollte sich nicht überzeugen lassen, dass ich ihm nicht mehr als Freundschaft geben konnte. Gabriel war da und war es doch nicht. Ich sah ihn immer wieder, doch ich konnte nicht zu ihm gelangen. Er zog sich immer vor mir zurück und Martin hielt mich auf. Lou war natürlich auch da mit ihrer Clique, lachte mich aus und beschimpfte mich. Natürlich war aus Mrs. MacLeish dabei und erzählte vor der ganzen Klasse, dass die Amerikanerinnen einfach nicht in der Lage wären zu lieben und dass sie es ganz bestimmt auch nicht wert wären, geliebt zu werden. Ich war dazwischen, von einem Schreckensszenario zum andern taumelnd und war vollkommen hilflos und verzweifelt.
“Das war nur ein Traum, Renesmee”, sagte ich zu mir selbst. Mein beknacktes Unterbewusstsein war so gefühlvoll wie ein Amboss, wenn es sich mit meinen Problemen beschäftigte. So schlimm könnte es in der Realität doch niemals werden, oder? Oder doch? Nein, nicht wirklich. Hoffentlich. Ach Mist.
Ich ging unter die Dusche, doch die hatte so gar nichts angenehmes heute, weshalb ich sie recht schnell beendete. Danach zog ich mich an, schnappte meine Schulsachen und verließ das Zimmer. Mom und Dad betraten auch gerade den Korridor.
»Guten Morgen, Sternchen. … Was ist denn los?«
»Morgen Mom. Schlecht
geträumt.«
»Das tut mir leid. … Willst du
es mir zeigen?«
Ich schüttelte den Kopf.
»Lieber
nicht, Mom. Ich weiß auch so, was der Traum zu bedeuten hatte.
Es war so ziemlich alles darin, was mir Angst macht.«
»Willst
du vielleicht darüber reden?«, fragte sie vorsichtig
nach.
Ich zuckte mit den Schultern.
»Meinetwegen. In der
Küche?«
»Gerne«, sagte sie und nahm mich an
der Hand.
»Magst du auch mitkommen, Dad?«
»Wenn
ich darf?«
»Ach Daddy«, sage ich, ließ
Moms Hand los und umarmte ihn. »Ich weiß, dass ich meine
Problemchen meistens mit Mom und Rosalie bespreche, das heißt
aber nicht, dass ich nicht froh bin, dass du auch für mich da
bist. Ich hab’ dich doch auch lieb.«
Er drückte
mich und küsste mich aufs Haar.
»Ich weiß,
Liebling. Es tut trotzdem gut, es manchmal zu hören.«
Ich lächelte ihn an, streckte mich, um ihn auf die Wange zu küssen und dann flüsterte ich noch »Ich hab’ dich ganz arg doll lieb.« ins Ohr. Danach ging ich mit beiden in die Küche.
Sie setzten sich an den Küchentisch und warteten darauf, dass ich zu erzählen anfing. Zunächst holte ich aber erst mal meine Müsli-Utensilien aus dem Schrank, besann mich dann aber, dass sie den Geruch nicht mochten und stellte sie wieder weg. Stattdessen schnappte ich mir die Obstschale, da sich niemand in der Familie am Obstgeruch störte.
»Schatz, du kannst ruhig
dein Müsli essen. Wir sind doch freiwillig hier und so schlimm
riecht das auch wieder nicht.«
»Nein, nein, Mom. Ist
schon O.K. Ab und zu ein Obsttag ist auch nicht verkehrt und der
Geruch macht euch ja gar nichts aus.
Während ich anfing zu
futtern, erzählte ich nebenbei von meinem Traum. Eigentlich tat
es mir sogar gut, darüber zu sprechen. Je mehr ich erzählte,
desto unsinniger erschien er mir und desto entspannter wurde ich. Bei
der Stelle mit Mrs. MacLeish und der zur Liebe unfähigen
Amerikanerinnen, sahen sich meine Eltern grinsend in die Augen und
küssten sich liebevoll, als müssten sie direkt den
Gegenbeweis erbringen. Es war wie immer schön, das zu sehen,
obwohl ich es von Tag zu Tag mehr bedauerte, dass mir das verwehrt
bleib.
Nachdem wir uns noch eine Weile in der Küche unterhalten und teilweise auch richtig miteinander gelacht hatten, weil mein Traum vor allem in Bezug auf die MacLeish im Nachhinein doch wirklich zu absurd war, machten wir uns auf zur Schule. Die Vorfreude, Lissie und die Anderen wieder sehen zu dürfen, war im Augenblick das vorherrschende Gefühl bei mir. Dem Rest würde ich mich dann schon nach und nach stellen, aber ich wollte unbedingt positiv an die Sache heran gehen.
Kaum an der Schule angekommen, bekam meine optimistische Grundstimmung sofort einen gewaltigen Schub. Meine Freunde standen vor der Tür und warteten auf mich.
Ich konnte es kaum abwarten, zu ihnen zu gehen und sprang schon aus dem Auto aus, noch bevor Jasper es richtig geparkt hatte. Gabriel stand leider nicht bei ihnen, aber das hatte ich auch nicht wirklich erwartet. Dafür freuten sich die Anderen, dass ich wieder da war.
»Mensch, Nessie. Wie geht
es dir denn?«, begrüßte mich Lissie.
»Jetzt
wo ich wieder bei euch sein darf … besser. … Ich weiß,
wir kennen uns kaum, aber ich habe euch wirklich vermisst.«
»Wir
dich auch Nessie. Ich hätte dich ja gerne mal angerufen, aber
ich habe deine Telefonnummer nicht und besuchen dürfen wir dich
ja leider auch nicht.«
»Was? Warum denn nicht?«
Alle
sahen mich überrascht an.
»Aber Nessie, du hast doch
gesagt, dass du nicht weißt, ob du jemandem das Haus zeigen
darfst und dann erzählt, dass du uns aber zum Geburtstag
einladen darfst. Da sind wir davon ausgegangen, dass wir nicht
einfach so vorbeikommen dürfen.«
»Oh!? Das stimmt
natürlich, … irgendwie. … Ich werde das
klären.«
»Ja tu das und gib mir doch deine
Telefonnummer.«
Na, dass ließ sich ja gleich erledigen. Ich holte mein Handy heraus und dann tauschten wir schnell unsere Nummern aus. Ich hätte sie mir zwar auch so merken können, aber es wirkte sicherlich normaler, wenn ich sie gleich abspeicherte. Auch die Anderen beteiligten sich daran. Cool. Sechs Telefonnummern von Schulfreunden. Eigentlich hätte ich ja selbst darauf kommen können und Lissie anrufen. Ich hatte ja ihre Nummer auf der Vorschlagsliste für die Geburtstagsparty, wenn auch nicht die Handynummer. Aber trotzdem. Das war ja so was von ärgerlich, dass ich nicht daran gedacht hatte.
»Apropos Geburtstag. Hast
du denn wenigstens die Zeit genutzt, um die Einladungen zu schreiben
und zu verschicken?«
Ȁh, nein. Ich wusste ja
nicht, ob ihr überhaupt noch kommen wollt, nachdem was ich getan
habe.«
»Spinnst du? Wieso sollten wir denn nicht mehr
kommen wollen? Glaubst du, wir gehören zum Lou-Fanclub oder was?
Glaub’ mir Nessie. Alle auf der Liste werden beistimmt gerne
kommen.«
Alle nickten zustimmend und ich
freute mich sehr darüber. Dann gingen wir ins Gebäude und
unterhielten uns weiter.
Sag mal, Nessie. Was ist da eigentlich genau passiert?«
Ja, mir war klar, dass sie das alle aus erster Hand erfahren wollten und ich wollte es ihnen auch erzählen. Schließlich waren sie ja meine Freunde. Also erzählte ich ihnen zunächst die Kurzversion, da ja bald die Schule beginnen würde und versprach ihnen, in der Mittagspause die ganze Geschichte zu erzählen. Nun bekamen sie im Grunde erst einmal nur das bestätigt, was sie ohnehin schon wussten, mit der Ergänzung, dass es dabei um Gabriel ging.
Lissie und ich gingen in unsere Klassenzimmer. Ich sah, dass Gabriel schon auf seinem Platz saß, kurz zu uns aufblickte, aber dann sofort wieder weg sah, als sich unsere Blicke trafen. Es tat weh. Ich war doch in ihn verliebt, doch er wollte nichts mehr mit mir zu tun haben. Aber ich war noch nicht bereit, die Hoffnung aufgeben. Dad sagte ja, dass er verwirrt wäre und Alice meinte, ich müsste ihm Zeit lassen. Also ging ich seufzend zu meinem Platz.
»Was ist denn zwischen dir
und Gabriel passiert?«, fragte mich Lissie flüsternd.
Ich
sah ihr traurig in die Augen.
»Er denkt, ich mag Martin mehr
als ihn, doch das stimmt gar nicht, aber er will nicht mit mir reden.
Das ist total bescheuert.«
»Ach deshalb ist er nach
Chemie so schnell abgehauen?«
Ich nickte nur. Es war zu schmerzlich darüber zu reden und ich wollte und konnte das jetzt nicht. Lissie sah mich mitfühlend an und streichelte mir kurz übers Haar. Das war wirklich nett von ihr und ich fühlte mich sogar ein bisschen besser. Dankbar lächelte ich sie an. Dann richtete ich meine Augen wieder auf Gabriel und bemerkte, dass er mit mürrischem Gesicht zur Tür sah. Dann wanderte sein Blick langsam von der Tür in meine Richtung und mein Herz begann schneller zu schlagen. Ich wurde total nervös. Sein Blick ging jedoch an mir vorbei und blieb auf eine Stelle links neben mir gerichtet. Plötzlich spürte ich eine kühle Hand auf meiner, sah erschrocken auf und zog meine Hand weg. Martin stand neben mir und das merkwürdige Lächeln, das er gerade noch auf seinem Gesicht getragen hatte, verschwand. Jetzt wirkte er überrascht.
»Hallo Nessie, ich wollte
dich nur begrüßen. Ich habe dich vermisst.«
»Martin!
Hallo. Setz’ dich«, sagte ich recht kühl und kurz
angebunden, denn ich war etwas wütend auf ihn.
Er hatte meine Hand berührt, weil er genau wusste, dass Gabriel das sehen würde. Sein Grinsen hatte bestimmt auch etwas damit zu tun.
»Was hast du?«, fragte er, als ob er sich keiner Schuld bewusst wäre.
War er das vielleicht wirklich nicht? Oder war das Taktik? Egal, ich musste das jetzt klären. Sofort.
»Martin, du weißt, dass ich dich gerne habe und ich möchte dich als Freund sehen. Ich glaube aber, du möchtest mehr, doch das kann ich dir nicht geben. Ich möchte dein Freund sein, nicht deine Freundin, wenn du verstehst was ich meine. Es tut mir leid, wenn dir das nicht genug ist.«
Sein Gesichtsausdruck veränderte sich. Es sah betrübt, fast niedergeschlagen aus. Offensichtlich hatte er sich tatsächlich mehr erhofft und das musste ich kaputt machen. Ich hätte ihn gerne glücklich gesehen, doch ich konnte ihm nicht geben, was er sich wünschte.
»Es tut mir echt sehr leid, Martin. Ich mag dich wirklich, aber nicht auf diese Weise. Wenn du damit nicht klar kommst, dann kann ich mich auch von dir wegsetzen, wenn du möchtest.«
Wegsetzen. Das wäre wahrlich ein harter Schlag für mich, wenn er das von mir verlangen würde. Der einzige noch freie Platz hier war mir gegenüber zwei Stühle neben Lou, die allerdings noch nicht da war. Direkt neben mir würde eine aus ihrer Clique sitzen und auf der anderen Seite einer von Kevins Freunden. Ein Albtraum von einem Sitzplatz. Und als ob das noch nicht genug wäre, würde ich von dort noch nicht mal mehr Gabriel sehen können. Auch wenn er mich nicht mehr leiden konnte, sah ich ihn doch trotzdem gerne an. Wenigstens ab und zu.
Martin hatte sich wieder etwas gefasst, sah kurz hinüber zu den freien Sitzplatz und dann wieder zu mir.
»Du würdest dich
freiwillig dorthin setzen?«
»Martin. Ich will dir
nicht noch mehr wehtun, als ich gerade tun musste. Glaub’ mir
bitte. Wenn es dir dann besser geht, setzte ich mich dort
hinüber.«
Er dachte kurz nach, doch dann schüttelte
er den Kopf.
»Nein Nessie, das will ich nicht. Ich werde
mich wohl damit abfinden müssen, dass ich bei Mädchen kein
Glück habe.«
Oh je. Ich wollte doch nicht, dass er so unglücklich war und so etwas dachte.
»Red’ doch keinen
Unsinn, Martin. Du bist ein toller Junge. Ich bin mir sicher, dass du
irgendwann die Richtige für dich finden wirst. Vielleicht ja auf
meiner Geburtstagsparty.«
»Du … willst mich
trotzdem noch einladen?«, fragte er überrascht.
»Machen
Freunde so etwas nicht?«
Sein Blick wanderte nach unten zum Schreibtisch und ich folgte ihm. Erschrocken musste ich feststellen, dass ich ihm tröstend die Hand auf seine gelegt hatte und zog sie ruckartig zurück. Dann schaute ich sofort zu Gabriel, ob er etwas davon mitbekommen hatte und erkannte zu meinem Entsetzen, dass er im gleichen Moment wieder wegsah und wütend einen Bleistift in der Hand zerbrach.
Oh nein. Bitte, das durfte jetzt nicht wahr sein. Ich wollte gleich aufspringen und zu ihm gehen, um es zu erklären, doch ausgerechnet jetzt kam Lou herein und direkt nach ihr Mr. Wattson.
Lou warf mir einen boshaften Blick zu. Ich bemerkte, dass sie heute sehr dick geschminkt war. Eine massive Make-up-Schicht klebte auf ihrer linken Seite. Ich erkannte auch, dass sie darunter einen ziemlich großen blauen Fleck hatte. Ganz offensichtlich hatte meine Ohrfeige erhebliche Spuren hinterlassen. Spuren, die sie nicht zeigen wollte. Steckte Eitelkeit dahinter oder etwas Anderes?
»Keine Angst, Nessie«, sagte plötzlich Lissie zu mir und tätschelte meinen Arm. »Wir lassen nicht zu, dass sie sich an dir rächt.«
Dankbar für ihre
Hilfsbereitschaft lächelte ich sie gequält an. Mir war
nicht wirklich nach Lächeln zumute, da Gabriel gerade wieder
einen Beweis für sein Misstrauen von mir bekommen hatte. Lissie
sah mich aber so mitfühlend an, dass ich davon ausgehen musste,
dass sie meinen leidenden Gesichtsausdruck sicherlich für Angst
vor Lou hielt.
Die Mathestunde verging quälend langsam. Ich konnte kaum die Pause abwarten, um zu Gabriel zu gehen, doch als es dann endlich so weit war, verließ er schnell das Klassenzimmer und ich hatte keine Chance mit ihm zu reden. Ich hätte ihm vielleicht nachrennen können, doch das hatte schon letztes Mal nicht geklappt. Deprimiert blieb ich sitzen. Dann kam mir wieder Lou in den Sinn. Vielleicht könnte ich ja mir ihr ein klärendes Gespräch führen. Also ging ich um meine Tischreihe herum und dann auf direktem Weg zu ihr. Als sie bemerkte, dass ich zu ihr gehen würde, stand sie schnell auf und funkelte mich an. Direkt vor ihrem Schreibtisch blieb ich stehen und ich spürte, dass alle Augen auf uns gerichtet waren. Alle Gespräche im Raum verstummten und nur das Gemurmel und Getrampel vom Flur war noch zu hören.
»Lou. Es tut mir leid,
dass ich dich verletzt habe. Das wollte ich nicht. Dafür möchte
ich mich bei dir entschuldigen.«
»Ha! Glaubst du
ernsthaft, dass du so billig davonkommst, Schlampe?«
»Wenn
du mich beleidigen willst, bitte. Wenn du mich schlagen willst,
bitte. Ich bin hier. Hau mir auch eine runter. Wenn wir dann quitt
sind, soll es mir recht sein.«
Innerlich bereitete ich mich darauf vor, dass sie mir gleich eine Ohrfeige geben würde und ich wollte unbedingt so echt es nur ging dabei zu Boden gehen, damit sie ihre gefühlte Rache erhalten würde und ich endlich meine Ruhe. Doch sie sah mich nur prüfend an. Dann redete sie wieder.
»Ich durchschaue dich, Goldlöckchen. Du willst mich dazu provozieren, dir hier vor allen Leuten eine zu verpassen, damit du dann gleich heulend zum Rektor rennen kannst, damit ich von der Schule fliege. Oh nein, darauf falle ich nicht herein.«
Verdammt, warum war die blöde Kuh nur so misstrauisch.
»Man Lou. Ich will keinen
Streit mit dir. Ich will nichts von deinem Kevin. Ich will nur meine
Ruhe. Das ist alles. Jetzt schlag schon zu und wir sind quitt.«
»Das
kannst du vergessen. Ich finde schon einen anderen Weg. Und glaub’
ja nicht, dass ich dich aus den Augen lasse.«
Dann setzte sie sich wieder hin
und beachtete mich nicht weiter.
So ein Mist. Würde denn heute alles schief gehen? Frustriert ging ich wieder zu meinem Platz und setzte mich. Lissie sah mich mit großen Augen an.
»Wow. Du hast Mumm«,
sagte sie voller Hochachtung.
»Ach was. Ich will das doch
nur aus der Welt schaffen, aber die lässt mich ja nicht, die
dumme Pute.«
»Oh man«, kicherte Lissie. »Ich
kenne Keine, die so über Lou reden würde, wenn die in der
Nähe ist. Du bist echt taff.«
Ich zuckte nur mit den
Schultern. Was sollte ich auch dazu sagen. Lissie wusste ja nicht,
dass mir diese Lou nichts anhaben konnte. Zumindest nicht mit
körperlicher Gewalt. Ich hoffte nur, dass sie so etwas versuchen
würde und dass ich dann mitspielen könnte, um es endlich zu
beenden.
Die Englischstunde bei Mr. Bennett verlief ähnlich zäh wie Mathe. Immer wieder sah ich zu Gabriel, doch er würdigte mich keines Blickes. Kaum war die Stunde beendet, war er auch schon wieder weg. Er wollte definitiv nicht mit mir reden und mir keine Gelegenheit geben, etwas zu erklären. Seufzend musste ich einsehen, dass ich vollkommen machtlos war. Es folgte noch Geschichte und dann ging es in die Mittagspause.
Lissie nahm mich natürlich wieder mit zu ihrem Tisch, doch der Platz neben mir blieb frei. Ich blickte um mich und entdeckte Gabriel bei ein paar anderen Jungs sitzen. Das war so bescheuert. Ich war deswegen todunglücklich und spürte, wie meine Augen feucht wurden. Schließlich kullerte eine Träne über meine Wange und ich begann zu schluchzen.
Lissie legte tröstend den Arm um mich und fragte mich sehr sanft, was denn mit mir los sei und ich schüttete ihr mein Herz aus. Ich erzählte ihr und allen Anderen am Tisch, dass ich mich in Gabriel verliebt hatte. Es war mir peinlich, das vor allen zu erzählen, doch ich musste das jetzt einfach raus lassen. Dann berichtete ich ganz genau von dem, was letzte Woche passiert war. Dass Gabriel dachte, ich hätte etwas mit Martin, obwohl das nicht stimmte. Auch, dass Lou ihm von der Händchenhalten-Sache erzählt hatte, die leider schon stimmte, wenn auch nicht so, wie Gabriel das verstanden hatte. Dann erzählte ich noch, wie wütend er auf mich war und wie Lou sich dann über mich lustig gemacht hatte, weshalb ich ihr die Ohrfeige gab. Ja und schließlich noch heute die dämliche zweite Händchenhalten-Sache mit Martin, die er schon wieder falsch verstanden haben musste.
Ich offenbarte meinen Freunden
meine Gefühlslage vollkommen und erntete viel Mitleid.
Allerdings war ich auch verunsichert, was sie jetzt von mir dachten
und hoffte, dass das gerade nicht mein nächster großer
Fehler heute war.
Am Nachmittag hatten wir Musik, was eine ganz ungewöhnliche Grausamkeit war. Singen zu müssen, wenn einem nicht danach zumute war, konnte wahrlich furchtbar sein. Ich war traurig und sollte ein fröhliches Lied singen. Das war die reinste Folter, auch wenn ich versuchte, es so gut wie möglich zu machen, oder vielleicht gerade deswegen. Dazu kam noch, dass ich Gabriels Stimme hören musste. Oder durfte? Ich mochte den Klang seiner Robbie-Williams-Stimme so sehr, auch wenn sie sich bei dem Lied alles andere als fröhlich anhörte. Aber wie sollte sie auch anders klingen, wenn er doch wütend auf mich war? Ich hätte nie gedacht, dass Musikunterricht so schrecklich sein könnte.
Nach der Schule klopfte mir Lissie aufmunternd auf die Schulter und meinte noch, dass schon alles gut werden würde und ich nicht verzweifeln sollte. Ich lächelte sie dafür an, wenn das überhaupt ein Lächeln war, wozu ich meine Lippen verzogen hatte. Dann ging ich deprimiert zu meinen Eltern und wir fuhren nach Hause.
Als nächstes musste ich
Emmett enttäuschen, weil ich heute keine Lust zum Gitarrespielen
hatte. Ich wollte wenn überhaupt etwas Trauriges spielen, das zu
meiner Gefühlslage passte, doch mit einer E-Gitarre etwas
Trauriges? Das passte nicht. Da setzte ich mich lieber an das
Klavier. Das passte doppelt gut. Ich spielte das Instrument nicht
sonderlich gerne und es hörte sich bei der richtigen Melodie
auch sehr traurig an. Also spielte ich, wie ich mich fühlte und
sah danach in den Gesichtern meiner Familie, die mir dabei zugehört
hatte, dass es wohl besser geklappt hatte, als ich wollte. Alle kamen
zu mir, um mir Trost zu spenden, doch ich lehnte ab. Es gab im Grunde
nichts, was sie jetzt wirklich für mich tun konnten. Nur Jasper
hätte da wirklich die Macht dazu gehabt, aber das wollte ich auf
gar keinen Fall. Ich wollte selbst damit klar kommen. Ich musste mir
der Situation einfach vollkommen bewusst werden und dazu brauchte ich
meine Trauer, auch wenn das bedeutete, dass ich mich in dieser Nacht
in den Schlaf weinen musste.
Am nächsten Morgen fühlte ich mich nur ein wenig besser, da meine Trauer nicht wirklich verflogen war. Wenigstens hatte ich keine schlechten Träume oder erinnerte mich einfach nur nicht mehr daran. Außerdem freute ich mich auch auf meine Freunde, obwohl die heutigen Tagesaussichten alles andere als rosig waren. Zunächst stand wie jeden Dienstag eine Stunde Naturwissenschaften, also heute Chemie, auf dem Plan und ich hatte keine Ahnung, ob Martin und Gabriel bei mir sitzen würden, oder ob sie wieder zu ihren früheren Arbeitsgruppen gewechselt wären oder was auch immer ich für oder gegen das Eine oder Andere machen konnte. Dann hätte ich auch noch eine Stunde Geographie bei meinem speziellen Fan Mrs. MacLeish und zum Abschluss die Doppelstunde Spanisch, die ich entweder an der Seite eines wütenden und mich nicht beachtenden Gabriel verbrachte oder alleine. Entsprechend “gut” gelaunt kam ich in der Schule an.
Selbst meine Freunde warteten heute nicht vor der Tür auf mich, was mir einen herben Schlag versetzte. Hatte ich sie gestern mit meinem Geheule so verschreckt, dass sie lieber nicht mehr auf mich warten wollten? Oh verdammt, das durfte einfach nicht wahr sein. Konnte dieser Tag überhaupt noch schlimmer werden?
Mom gab mir zum Abschied einen
aufmunternden Kuss auf die Wange und Dad meinte noch, dass ich nicht
den Kopf hängen lassen sollte und dass sich bestimmt alles
aufklären würde und es nicht so schlimm wäre, wie ich
befürchtete. Ich nickte ihm zu und wollte es versuchen,
erwartete aber nicht wirklich, dass ich damit Erfolg hätte.
In Chemie erlebte ich eine zumindest halbwegs positive Überraschung. Martin war bereits an meinem Arbeitsplatz und begrüßte mich freundlich, aber nicht zu herzlich. Er hatte es offensichtlich wirklich verstanden und ich war sehr erleichtert deswegen.
Gabriel und Lissie kamen etwas später kurz nacheinander herein. Lissie lächelte und winkte mir zu, was ich erwiderte und Gabriel stellte sich tatsächlich zu uns und gab sogar ein mürrisches »Morgen« von sich, das ich natürlich auch erwiderte, wenn auch deutlich freundlicher als er. Trotzdem sprach er kaum ein Wort mit mir, jedoch bemerkte ich, dass er häufiger zu mir schaute. Bestimmt wollte er beobachten, wie ich mich Martin gegenüber verhielt und ich war sehr bedacht darauf, ja nichts Falsches zu machen. Ich vermied es auch, ihn direkt anzublicken, um ihn nicht vielleicht unabsichtlich zu verärgern. Er sollte ja sehen, dass es zwischen Martin und mir nichts romantisches gab und das gelang mir auch. Hoffte ich zumindest.
Auch im Matheunterricht sah er
häufiger in meine Richtung und wich meinen Blick nicht sofort
aus, wenn sie sich kurz trafen. Er sah auch nicht mehr ganz so
wütend, sondern eher prüfend aus. Ich flehte innerlich,
dass das ein gutes Zeichen wäre und er mir vielleicht doch noch
eine Chance geben würde, doch schon kurz vor der Pause räumte
er seine Sachen ein und verschwand gleich zum Ende der Stunde.
Seufzend musste ich feststellen, dass es wohl noch lange dauern
würde, bis er endlich wieder mit mir sprechen würde. Aber
das war ja womöglich auch gut so. Wenn er jetzt zu mir käme,
dann vermutlich nicht aus positivem Antrieb.
In der nächsten Stunde stand nun endlich mein “Lieblingsfach” Geographie bei Mrs. MacLeish auf dem Plan. Super! Ach, was freute ich mich schon auf die Anti-Amerikanische Grundstimmung die gleich den Raum durchfluten und mich glücklich machen würde. Gott, selbst meine Gedanken sprühten förmlich vor Sarkasmus und Ironie. Hatte diese Frau nicht einen wunderbaren Einfluss auf mich?
Kaum hatte sie den Raum betreten und durch ihre angenehme Anwesenheit alle Gespräche verstummen lassen, da trat sie auch schon an mich heran.
»Ach wie schön. Miss
Masen ist auch wieder bei uns. Sie haben sich doch hoffentlich nicht
die Hand verletzt bei ihrer keinen Auseinandersetzung?«
»Danke
der Nachfrage, Mrs. MacLeish. Ich habe keine Blessuren davon
getragen, bedaure aber trotzdem, was ich getan habe. Es war
falsch.«
»Ja, ja, ja. So ist das eben. Ganz die
amerikanische Außenpolitik. Erst zuschlagen und dann um
Entschuldigung bitten. Und das nennt sich dann “Anführer
der zivilisierten westlichen Welt”.«
Boah, hatte die Frau einen Schaden und natürlich drehte sie mir sofort wieder den Rücken zu, um mich zu provozieren, was ihr auch gelang. Ich holte tief Luft um etwas zu erwidern, doch prompt legte Martin wieder seine Hand auf meine. Diesmal hob ich seine aber einfach weg und sprach Mrs. MacLeish mit sachlichem aber bestimmten Ton an. Die Frau war offensichtlich nicht so sattelfest in Geschichte und sicherlich auch nicht sehr belesen.
»Verzeihen sie bitte. Übersehen sie dabei nicht vielleicht, dass Großbritannien die USA seit ihrem beherzten Eingreifen im zweiten Weltkrieg als engste Verbündete betrachten und ihnen stets zur Seite stehen? Selbst im Irakkrieg oder in Afghanistan? Sind wir nicht im Grund Bruderstaaten?«
Sie stockte und drehte sich zu mir um. Ihr Gesicht war zu einem bitteren Grinsen verzogen, doch ich lächelte sie freundlich an.
»Meine Liebe, ihr Patriotismus ist ja geradezu herzerfrischend. Da fragt man sich, warum sie nicht gleich auf den Tisch springen und ihre Nationalhymne singen.«
Sie sagte das mit einem so spöttischen Unterton, dass ich sie einfach nicht mehr ernst nehmen konnte. Und dann hatte ich eine, wie ich fand, geniale Idee.
»Ihr Wunsch ist mir Befehl, Mrs. MacLeish.«
Ohne zu zögern stand ich auf, stieg über den Stuhl auf den Tisch, legte die Hand auf das Herz und begann voll Inbrunst mit meiner schönsten Gesangsstimme die Star-Spangled Banner zu singen.
»O say, can you see, By the dawn's early light. What so proudly we hail'd, At the twilight's last gleaming?…«
Der ganzen Klasse stand der Mund weit offen und Martin konnte sich das Grinsen kaum verkneifen. Mrs. MacLeish schien fassungslos und unfähig, meinen Gesang zu unterbrechen. Sie versuchte es noch nicht einmal. Ich war gut. Ich war voll in fahrt. Ich hatte das einmal bei einem Baseballspiel gesehen, zu dem mich Emmett mitgenommen hatte. Der Gesang zur Eröffnung war für mich das eigentliche Highlight damals und da wollte ich das unbedingt auch können. Jetzt hatte ich doch tatsächlich mal Gelegenheit, das zu zeigen.
Nach der ersten Strophe stieg ich wieder vom Tisch herunter.
»Möchten Sie die
anderen Strophen auch hören, Mrs. MacLeish?«
»Nein
danke. Mein Bedarf ist gedeckt. Bitte setzen sie sich wieder
hin.«
»Gerne, Mrs. MacLeish«
Danach versuchte sie den
Unterricht wieder normal zu führen, was ihr sichtlich schwer
fiel. Zumindest aber hatte ich für heute meine Ruhe. Ich war
sehr gespannt, wie lange es so bleiben würde.
In der Mittagspause freute ich mich schon darauf, meine Freunde zu sehen und ihnen von meiner Gesangseinlage zu berichten. Ich machte mich fröhlich auf den Weg in die Mensa, holte mir meinen obligatorischen Salat und ging zu unserem Platz.
STOP! Ich traute meinen Augen nicht. An der Mitte des Tisches saß Gabriel. Ganz alleine. Er saß auf Susis Platz. Das war nicht gut, denn Susis legte sehr großen Wert darauf, in der Mitte der Gruppe zu sitzen. Unsicher schaute ich mich um, doch von ihr war nichts zu sehen. Auch keiner der Anderen war hier. Was sollte ich denn jetzt machen? Warum saß Gabriel dort? Wartete er auf mich? Wollte er mit mir reden? Was wollte er denn mit mir reden? Ich hatte Angst. Große Angst sogar. Was, wenn er nur deshalb dort saß, auf dem Platz, auf dem er sowieso nicht lange sitzen dürfte, weil er das auch gar nicht vorhatte? Weil er mir etwas zu sagen hatte, das nicht viel Zeit in Anspruch nehmen würde? Die grausamen Worte “Lass’ mich in Ruhe” oder “Ich will nichts von dir, kapier’ das endlich.”?
Ich bekam Panik und wolle weglaufen. Raus aus der Schule, raus aus Helensburgh, raus aus Schottland, immer weiter weg, egal wohin, nur weg. Doch ich konnte nicht und in dem Moment, als mir das bewusst wurde, traf mich sein Blick. Er hatte mich entdeckt und ich stand da wie angewurzelt. Ich war wie zu Stein erstarrt.
Er schaute mich an. Abwartend. Prüfend. Fordernd. Schließlich stand er auf und ich zuckte leicht zusammen, doch er kam nicht auf mich zu. Er blieb stehen und zeigte mit der Hand auf den ihm gegenüberliegenden freien Platz. Meinen Platz. Ich wusste nicht, ob ich das wollte, doch mein freier Wille schien gerade abgeschafft worden zu sein. Meine Beine bewegten sich ohne Anweisung von mir genau dorthin, wo seine Hand hinzeigte. Wie ferngesteuert setzte ich mich und sah ihn unsicher an. Auch er setzte sich und sein stahlblauer, durchdringender Blick bohrte sich in meine Augen.
Mir stockte der Atem, mein Herz hörte auf zu schlagen und mein Gehirn schien gerade anderweitig beschäftigt zu sein.
»Ist es wahr?«, fragte er mich mit sanfter und doch nachdrücklicher Stimme.
Was um Himmels Willen wollte er denn wissen? Es gab Millionen von Wahrheiten auf diesem Planeten und ebenso viele Lügen.
»W-W-Was meinst du?«, sagte ich stotternd und mit kratziger Stimme, denn mein Hals war wie ausgetrocknet.
Sein Blick kannte keine Gnade. Er sprengte jegliche Abwehrmöglichkeit einfach weg. Ich fühlte mich total hilflos und schwach, so wie der junge Trieb eines dünnen Zweiges eines kleinen Bäumchens. Ungeschützt und verletzlich der Umwelt ausgeliefert.
»Ist es wahr, was Lissie
gesagt hat?«
»Lissie? … Sie hat mit dir
gesprochen? … Was hat sie denn gesagt?«
Er atmete tief durch und sah mich immer noch prüfend an, als ob er herausfinden wollte, ob ich ihm hier etwas vormachte, oder ob ich wirklich keine Ahnung hatte, wovon er sprach. Doch genau so war es doch. Bittend und flehend schaute ich ihn an, dass er mir doch endlich sagen möge, was er von mir wissen wollte und schließlich erbarmte er sich.
»Sie hat gesagt, dass du in mich und nicht in Martin verliebt bis. … Ist es wahr?«
Oh Gott. Das hatte Lissie zu ihm gesagt? Natürlich war das die Wahrheit. Es war wahr, wahr, wahr. Wahrer ging gar nicht. Die unumstößlichste Wahrheit der Welt. Sie war in Stein gemeißelt und mit Gold umrahmt. Sie stand in zehn Meter großen Buchstaben an der Felswand an meinem geheimen Platz.
Doch konnte ich ihm das jetzt so einfach sagen? War das der Moment, von dem Rosalie gesprochen hatte? Entweder ich machte jetzt den entscheidenden Schritt und sagte es, oder ich war feige und antwortete mit einer Gegenfrage. Nein, ich wollte nicht feige sein. Ich wollte ihm die Wahrheit sagen. Ich war es so leid, immer zu warten, zu hoffen, zu bangen. Ich wollte, dass er es endlich weiß und flehte innerlich zum Himmel, dass er meine Gefühle erwiderte.
»Es ist wahr, Gabriel. Ich mag Martin, doch ich bin in dich verliebt, nicht in ihn.«
Gebannt sah ich ihn an, während ich das sagte und mein Herz fing wieder heftig an zu schlagen, als sich ein Lächeln auf seinem Gesicht ausbreitete. Oh wie ich dieses Lächeln liebte. Wie sehr ich es doch vermisst hatte. Er strahlte mich an und ich schmolz wie Butter in der Sonne dahin. Dann streckte er die Hand aus, legte sie vor mir nach oben geöffnet auf den Tisch und schaute mich abwartend an.
Meine Lunge, die gerade eben ihren Dienst wieder aufgenommen hatte, nahm sich schon wieder einen unbefristeten Kurzurlaub und nahm alle anderen Organe einfach mit. Hilflos und alleine ließen sie mich hier mit dieser Hand zurück. Ich wusste, was es bedeutete. Er wollte meine Hand halten. Ich platze fast vor Freude darüber und hatte doch schreckliche Angst, was er wohl denken wird, wenn er erst die Wärme meiner Haut fühlen konnte. Nein, jetzt gab es kein Zurück mehr. Langsam streckte ich die Hand nach ihm aus und bettete sie vorsichtig wie ein kleines flauschiges Küken in ein weiches Nest, damit sie sich wohl fühlte, in seine Hand. Wie kleine Blitze zuckten wohlige Schauer von der Berührung ausgehend durch meinen Körper. Kein Küken auf der Welt könnte sich in einem weichen Nest wohler fühlen als meine Hand in seiner.
Dann, er sah mir immer noch mit seinen strahlenden Augen tief in meine, hob er langsam die Hand an und beugte sich nach vorne.
“Er wird doch nicht … er wird doch nicht … er wird doch nicht … doch er wird!”
Wie in Zeitlupe führte er meine Hand zu seinem Mund und dann berührte er mit seinen Lippen die Rückseite meines Ring- und Mittelfingers, während seine Nase über meinen Zeigefinger strich.
Die Intensität, mir der ich diese Zärtlichkeit spürte, rauschte durch mein Gehirn und mir wurde schwindlig. Meine Organe hatten ihre Auszeit beendet und sich wieder an die Arbeit gemacht und versuchten wohl gerade alles aufzuholen, was sie versäumt hatten. Mein Herz raste, das Blut rauschte durch meine Ohren, mein Magen hüpfte herum und meine Lunge hatte wohl eine Freude am Hyperventilieren entdeckt.
Mit seiner anderen Hand strich er zärtlich über meinen Handrücken und hauchte mir noch einen Kuss auf. Verdammt, warum waren meine Lippen denn in meinem Gesicht angebracht? Wäre es nicht viel praktischer, wenn sie an meiner Hand wären? Ich fuhr mit der Zuge über meine Lippen und sie prickelten und zuckten als wollten sie ihm zurufen “hier sind wir, hallo, hier oben”. Mein Gesicht wurde immer heißer doch das war mir so was von egal. Ich war so unbeschreiblich glücklich, dass ich ihn beseelt anlächelte und er lächelte zurück.
»Dann heißt das
jetzt, dass du mit mir gehen willst?«, fragte er mich lächelnd,
wenn auch ein wenig unsicher.
»Wohin du willst, Gabriel«,
antwortete ich ohne zu zögern.
Er lachte leise und sein Atem kitzelte über die kleinen Härchen auf meinem Handrücken und jagte mir einen weiteren Schauer über den Körper. Allerdings war mir der Grund seiner Belustigung schleierhaft.
»Warum lachst du?«
»Ach
nichts«, sagte er schmunzelnd.
»Bitte sag’ es
mir.«
»Ich habe dich gefragt, ob du “mit mir
gehen willst”. Kennt ihr diese Redewendung denn nicht in
Amerika?«
Oh!? Doch natürlich. Man, schon wieder so eine Peinlichkeit, aber eine, die sich verdammt gut anfühlte.
»Doch, Gabriel«, sagte ich jetzt auch schmunzelnd. »Allerdings macht mein Hirn gerade ein Pause. Ich hoffe, es kommt bald zurück.«
Er lächelte mich an und gab mir noch einen Kuss auf die Hand. Oh man, zum Glück saß ich. Ich hätte jetzt nicht stehen können.
»G-Gabriel?«, sprach ich ihn schon wieder halb atemlos an. »Willst du denn auch mit mir gehen? … Bist du auch … in mich … verliebt?«
Meine Stimme wurde mit jedem Wort immer leiser und unsicherer, doch sein liebevoller Blick und das schöne Lächeln mit den süßen Grübchen auf seinem Gesicht gaben mir wieder Mut und Hoffnung.
»Spürst du das denn nicht?«, frage er und küsste dabei noch mal meine Hand, so dass mein ganzer Körper alles mögliche spürte, ohne dass ich sagen könnte, was genau ich wo gerade fühlte.
»B-B-Bitte … kannst du es nicht sagen?«
Er löste sein Gesicht von meiner Hand, die augenblicklich seine Nähe vermisste und ich mich selbst dafür hasste, dass ich ihn davon abgebracht hatte, sie zu streicheln und zu küssen. Dann legte er sie auch noch zurück auf den Tisch und die Kälte der Oberfläche kroch in meinen Arm. Doch dann sah er mir noch mal tief in die Augen und drückte meine Hand.
»Ich liebe dich, Nessie. …
Ich glaube, dass ich mich gleich, als ich dich das erste Mal sah, in
dich verliebt hatte. Ich konnte es auch nicht ertragen, dass Kevin
sich an dich heran machen wollte und ich war heilfroh, dass du ihm
einen Korb gegeben hast. Bei der Sache mit Martin war ich aber total
verzweifelt … und wütend.«
»Oh Gabriel.
Zwischen mir und Martin ist nur Freundschaft. Da wird nie mehr sein.
Ich will nur mit dir gehen.«
»Dann lass’ uns
gehen«, sagte er lächelnd und stand auf.
War das jetzt ein Scherz? Spielte er mit mir? Egal! Ich stand auf und freute mich einfach nur, dass er mich anlächelte und endlich alles geklärt war. Er liebte mich. Das war alles, was jetzt wichtig war.
Hand in Hand gingen wir aus der Kantine und entdeckten an der Tür unsere Freunde, die zusammenstanden und bei unserem Anblick breit grinsten. Lissie hüpfte leicht vor Freude und ich löste kurz meine Hand von Gabriel, um sie in den Arm zu nehmen.
»Lissie! Du verrücktes
Huhn. Ich hab’ dich ja sooo lieb. Danke. Tausend Dank.«
»Ah!
Nicht so fest. Ich krieg’ ja keine Luft mehr.«
Ich erschrak, löste meinen Griff und schaute sie unsicher an, doch sie grinste noch immer breit.
»‘Tschuldigung.«
»Macht
nichts. Ich hatte nur nicht erwartet, dass du so kräftig bist.
Kein Wunder, dass du Lou überrascht hast.«
»Ich
hab’ dir doch nicht weh getan, oder?«, fragte ich
unsicher.
»Ach was, außerdem freue ich mich viel zu
sehr für dich. Endlich habt ihr’s kapiert.«
Gabriel trat neben mich und legte seinen Arm um meine Schulter. Oh man. So nah hatte ich ihn noch nie gefühlt und mein Herz schlug wie wild. Ganz sachte legte ich meinen Arm um seine Hüfte, lächelte ihn glücklich an und genoss den Moment.
»Danke, dass du mir die
Augen geöffnet hast, Lissie«, sprach Gabriel sie an. »Ich
war ja so ein Idiot.«
»Ja, Ja, die Liebe«, sagte
sie altklug und zwinkerte uns zu. Dann wandte sie sich den Andern
zu.
»Kommt. Lassen wir das junge Glück alleine.«
Dann gingen sie alle hinein, um sich etwas zu Essen zu holen und ich sah ihnen noch kurz hinterher. Alle drehten sich auch noch mal zu uns um und grinsten oder kicherten.
»Du hast doch noch gar
nichts gegessen, Nessie. Bestimmt hast du Hunger. Willst du
vielleicht lieber wieder hinein gehen?«
Ich schüttelte
energisch den Kopf.
»Nein Gabriel, ich kann jetzt sowieso
nichts essen. Aber wenn du Hunger hast…«
Auch er
schüttelte den Kopf, drehte sich ganz zu mir und nahm mich
vollständig in seine Arme.
»Ich habe hier alles was ich
brauche«, flüsterte er mir ins Ohr und drückte mich
an seinen Brust.«
Wow, war das schön. Ich sog seinen Duft durch die Nase, spürte seinen Herzschlag in der Brust und seine Hände, die mir sanft über den Rücken streichelten. Ich fühlte mich unglaublich wohl und wurde von seiner Nähe geradezu berauscht. Es kribbelte am ganzen Körper und ich hielt mich an ihm fest, da ich das Gefühl hatte, gleich mit den Knien einzuknicken. Nur das Kratzen und leichte Brennen in meiner Kehle störte mich etwas, doch ich versuchte es zu ignorieren.
»Wollen wir nach draußen gehen?«, fragte er mich nach einer Weile.
Ich sah zu ihm auf. Seine Augen waren vielleicht gut fünf Zentimeter über meinen und ich hatte das Gefühl, in dem stahlblauen Meer seiner Iris wie auf einem Floß hinweg zu treiben. Mein Atem stockte und ich fühlte den Seinen auf meinem Gesicht. Was hatte er mich gefragt? Was wollte ich gerade sagen? Ich hatte keine Ahnung mehr. Seine Lippen waren direkt vor mir auf Augenhöhe. Sie sahen warm und weich aus und glänzten leicht. Sein Mund war minimal geöffnet und sein Atem strömte sachte hindurch. Wie gerne wäre ich jetzt eines der Luftmoleküle gewesen, die diesen Weg nahmen und ihn zärtlich streicheln durften. Ich fuhr mir wieder leicht mit der Zunge über meine prickelnden Lippen. Ich hätte ihn so wahnsinnig gerne geküsst, doch ich traute mich nicht. Vielleicht mochte er das ja gar nicht. Vielleicht war es ja auch noch zu früh. Vielleicht war dies auch einfach nicht der richtige Ort, für einen ersten Kuss, obwohl mir das völlig egal wäre, solange es nur seine Lippen wären, die meine berührten. Aber ich wollte nicht zu viel verlangen. Nichts tun, was das gefährden könnte, was wir jetzt hatten. Die Entscheidung über den ersten Kuss würde ich ihm überlassen.
Dann endlich setzte mein Verstand wieder ein und erinnerte mich an seine Frage, die ich noch immer nicht beantwortet hatte. Geduldig schaute er mir weiterhin in die Augen und wartete.
»Ich sagte doch, ich gehe mit dir, wohin du willst«, sagte ich schließlich schmunzelnd.
Er lachte leise, und sein Atem, der mein Gesicht traf, verwirrte aufs Neue meine Sinne.
»Dann komm«, sagte
er, löste die Umarmung, nahm meine heiße Hand in seine
warme und führte mich nach draußen.
Wir schlenderten scheinbar ziellos etwas umher. Es war aber auch unwichtig. Er hielt noch immer meine Hand und alles Andere war mir egal. Dann lehnte er sich mit dem Rücken an eine der vielen Säulen, zog mich wieder näher an sich heran und schlang erneut die Arme um mich, was ich nur allzu gerne zuließ.
Wow. Immer wieder Wow. Himmel, fühlte sich das gut an. Ich kuschelte mich ganz nah an ihn heran, wobei ich allerdings sehr darauf bedacht war, keinen zu starken Druck auszuüben. Ich war mir vollkommen sicher, dass ich den Rest meines Lebens so bei ihm stehen könnte, ohne dass es mir jemals langweilig würde. Leider war uns das aber nicht vergönnt. Ich hatte zwar nicht wirklich wahrgenommen, wie lange wir hier draußen waren, aber das erste Klingelzeichen der Schulglocke erinnerte uns daran, dass wir noch Unterricht hatten. Das war zwar ärgerlich, doch ich freute mich auch darauf. Eine Doppelstunde Spanisch, in der ich neben ihm sitzen würde.
Wir gingen wieder zurück in das Schulgebäude und ich erschrak kurz, als plötzlich Mom und Dad vor uns standen. Sie lächelten mich aber an und ich gleich zurück.
»Hallo Schwesterchen«, sagte mein großer Bruder zu mir. »Wenn du schon das Mittagessen ausfallen lässt, solltest du wenigstens viel trinken.«
Den letzten Satz sprach er mit einem recht ernsthaften Unterton und mir war sofort klar, worum es ging. Ihm war das Kratzen und leichte Brennen in meiner Kehle nicht entgangen und wollte mich zur Vorsicht mahnen.
»Ja, mach’ ich
Edward«, sagte ich freundlich. Er hatte mich zwar gestört,
aber das nur aus guten Grund. Ich war ihm dankbar für seine
Fürsorge.
»Dann hole ich dir schnell etwas«,
sagte Gabriel, ließ meine Hand los und ging zügig in die
Kantine.
Kaum war er um die Ecke gebogen, schloss mich Mom in ihre Arme.
»Ich freue mich ja so für
dich, Liebling. Du siehst so glücklich aus.«
»Bin
ich auch Mo… Bella. Bin ich wirklich. Voll und ganz.«
»Er
ist gleich wieder da, Liebste.«
Mom seufzte kurz, gab mir einen schnellen Kuss auf die Wange und löste die Umarmung.
»Dann noch viel Spaß in Spanisch«, meinte sie zum Abschied, zwinkerte mir kurz grinsend zu und ging dann mit Dad wieder weg, als Gabriel gerade zu uns stieß.
Gabriel sah ihn unsicher an,
doch Dad nickte ihm kurz freundlich zu. Dann gab mir Gabriel eine der
beiden Flaschen und ich schraubte sie sofort auf, um einen kräftigen
Schluck zu nehmen. Danach gingen wir in unser
Spanisch-Klassenzimmer.
Die Doppelstunde war faszinierend und verging wie im Fluge, obwohl ich nicht viel vom Unterricht mitbekam. Es war auch nicht nötig. Mein Spanisch war viel besser, als das der Anderen. Ich konzentrierte mich voll und ganz auf Gabriel und war unbesorgt, dass ich irgendetwas verpassen könnte. Ab und zu wurde ich zwar von Mrs. Molinero angesprochen, doch ich hatte immer genug aufgeschnappt, um die Fragen beantworten zu können. Gabriel musste sich da schon bedeutend stärker konzentrieren, was ihm aber wohl ziemlich schwer fiel, da er mich häufig anlächelte und dann auch heimlich unter dem Tisch meine Hand hielt, wenn Mrs. Molinero etwas an die Tafel schrieb.
Leider ging der Unterricht dann doch zu Ende und es klingelte zum Schulschluss. Wir packten unsere Sachen zusammen und gingen sehr langsam zum Ausgang. Anscheinend wollte er genauso wenig wie ich, dass der schöne Nachmittag jetzt enden sollte. Dennoch schien dies unvermeidlich und die Gewissheit steigerte sich mit jedem Schritt in Richtung Ausgangstür.
»Ich muss jetzt los, Nessie. Mein Bus fährt gleich.«
Ein trauriges seufzend quoll aus meiner Brust und ich sah ihm noch mal tief in die Augen.
»Ja, schade. Dann bis
morgen«, sagte ich fast flüsternd.
»Bis morgen,
Nessie«, flüsterte er zurück und dann beugte er sich
leicht zu mir und ich spürte die sanfte Berührung seiner
Lippen auf meiner linken Wange.
Mein Herz setzte kurz aus, denn
ich war vollkommen überrascht. Innerhalb einer Sekunde kochte
mein Gesicht, prickelten meine Lippen und stand mein ganzer Körper
unter Strom. Ich konnte ihn nur anlächeln, doch das schien ihm
zu genügen. Er strahlte mich förmlich an, doch dann drehte
er sich um und rannte in Richtung Bushaltestelle. Fasziniert,
überrumpelt und verdattert ging ich zum Parkplatz. Er hatte mir
einen Kuss gegeben und die Stelle, die er mit seinen Lippen berührt
hatte, brannte geradezu. Ich wollte dem Drang widerstehen, meine Hand
auf diese Stelle zu drücken, doch ich schaffte es nicht. Ganz
leicht fuhr ich mit den Fingerspitzen über meine Wange und
realisierte erst dann so richtig, was da gerade passiert war. Er
hatte mich geküsst. Gut, nicht auf die Lippen, aber wer wird
denn jetzt kleinlich sein. Es war ein Kuss und ich war
überglücklich.
Meine ganze Familie lächelte mich an, als ich bei ihnen ankam. Ich setzte mich mit Mom auf die Rückbank und sie nahm mich freudestrahlend in die Arme. Wir sagten nichts. Das war nicht nötig. Ich wusste sowieso nicht, wie ich das Glücksgefühl, das ich im Moment verspürte, in Worte fassen sollte. Ich hätte es ihr natürlich zeigen können, doch ich war mir sicher, dass sie es auch so wusste. Ansonsten genügte auch einfach nur ein Blick in Jaspers Gesicht, der meinen Emotionen ungefiltert mitbekam und selbst überwältigt davon zu sein schien.
Anscheinend schien es nicht nur so zu sein, denn kaum waren wir zu Hause angekommen, da nahm er Alice an die Hand und küsste sie vor uns allen voller Liebe, wie ich es bei ihnen noch nie zuvor gesehen hatte. Alice sah nicht weniger glücklich aus, als ich mich fühlte und dann rannten die beiden geradezu in ihr Zimmer.
Darum beneidete ich sie jetzt wirklich. Auch ich hätte das gerne mit Gabriel gemacht. Also mit ihm ins Zimmer zu rennen, nicht das, was die beiden da jetzt gleich machen würden. Oder doch? Oh Gott, wohin führten mich meine Gedanken denn jetzt? “Langsam, Renesmee. Langsam”, sagte ich im Gedanken zu mir selbst. “Ein Schritt nach dem Anderen. Erst mal küssen und dann … wer weiß.”
Heute machte ich mich jedenfalls noch daran, endlich die Einladungskarten für meine Geburtstagsfeier zu schreiben. Ich holte mir Rosalie und Mom dazu und wir hatten viel Spaß dabei. Danach fuhr uns Esme auch direkt zu den Adressen und ich warf höchstpersönlich jede einzelne Einladungskarte ein. Das hatte auch gleich den schönen Nebeneffekt, dass ich so auch mal sehen konnte, wie die Anderen so wohnten. Sie wohnten eigentlich alle in recht normalen und schönen Häusern. So richtig heraus stach nur das Haus von Susi. Deren Familie mussten wohl ziemlich reich sein.
Am Abend ging ich dann zeitig zu Bett. Ich war zwar noch nicht sehr müde, doch ich wollte mit meinen Gedanken alleine sein und meine Gedanken kreisten nur um Gabriel.
Der neue Tag begann wie der letzte geendet hatte. Ich war glücklich. Einen kurzen Moment lang war ich mir nicht wirklich sicher, ob ich das alles nur geträumt hatte oder ob es Wirklichkeit war, doch die grenzenlose Freude, die ich verspürte und das Kribbeln im Bauch, wenn ich an seine liebevolle Umarmung dachte, ließen keinen Zweifel zu. Wir waren beide ineinander verliebt und hatten es uns gegenseitig gesagt.
Fröhlich hüpfte ich aus dem Bett und machte mich für die Schule fertig. Viel zu schnell eigentlich, denn die Tatsache, dass ich schon nach fünf Minuten abmarschbereit war, ließ die Schule ja auch nicht eher beginnen. Also ging ich erst mal frühstücken und nahm mir vor, mir dafür etwas mehr Zeit zu lassen, aber das Müsli hatte es auch unheimlich eilig, in meinen Magen zu kommen. Kein Wunder, denn irgendwo dort in der Nähe musste mein Glückszentrum liegen, das mir immer wieder kleine prickelnde Schauer durch den Körper jagte, wenn ich an Gabriel dachte und das tat ich ständig. Wer würde es meinem Frühstück da verdenken, das es so schnell wie möglich genau dorthin wollte?
»Guten Morgen, Süße«,
begrüßte mich Rosalie mit einem breiten Lächeln, als
ich aus der Küche kam. »Na? Gut geschlafen?«
»Oh
ja«, antwortete ich nicht weniger breit grinsend.
Dann nahm
sie mich in den Arm und küsste mich auf die Stirn.
»Ich
freu' mich ja so für dich, Schatz.«
»Danke
Rosalie. Das habe ich alles nur dir zu verdanken.«
»Ach
Quatsch. Ich habe nichts damit zu tun.«
»Doch das hast
du«, widersprach ich energisch. »Wenn du nicht so
deutlich mit mir gesprochen hättest, wäre es bestimmt nicht
so gekommen.«
»Also das erscheint mir jetzt doch ein
wenig übertrieben. Ihr hättet bestimmt auch ohne mich
zueinander gefunden. Die Liebe findet immer einen Weg.«
»Ach
so?«, meinte ich schmunzelnd. »Und was sollte dann das
Gerede von wegen "no risk, no fun"?«
»Na ja,
ein bisschen nachhelfen kann ja nicht schaden.«
Dann lagen wir uns lachend in den Armen und auch die Anderen kamen nach und nach aus ihren Zimmern und gesellten sich zu uns.
»Hey, habt ihr gerade über
mich gesprochen?«, hörte ich Emmett sagen.
»In
gewisser Weise«, antwortete Rose, lächelte ihn dabei
verführerisch an und küsste ihn dann intensiv und doch
zärtlich.
Ja, das fehlte mir noch, zu meinem vollkommenen Glück. Aber vielleicht würde ich ja heute meinen ersten richtigen Kuss von Gabriel bekommen. Ich war jedenfalls schon wieder voller Vorfreude.
»Mensch Nessie. Du siehst
ja aus, als könntest du gleich anfangen, vor lauter Glück
zu tanzen und zu singen«, trällerte Alice mit ihrer
glockenklaren Stimme, die sowieso jeden Satz fast wie Gesang
erklingen ließ.
»Singen? ... Hey, das habe ich euch ja
noch gar nicht erzählt. Ich habe gestern im Unterricht
gesungen.«
»Moment mal«, meinte Mom. »Du
hattest doch gestern gar keine Musik.
»Stimmt. Aber
Geographie.«
Jetzt sahen mich alle außer Dad fragend und verwirrt an. Offensichtlich hatte er davon gestern schon etwas mitbekommen, aber nicht weitererzählt. Ob er es für eine Peinlichkeit gehalten hatte? Nein, das war mir nicht peinlich gewesen.
»Du hast gesungen? ... In
Geographie?«, wieder holte Mom, als würde sie kein Wort
verstehen, was vermutlich auch so war.
»Ja genau.«
»Und
warum?«
»Mrs. MacLeish hat mich darum gebeten. ... Na
ja, nicht direkt, aber ich habe es so verstanden.«
»Sie
hat dich gebeten? … Und du hast gesungen? … In
Geographie?«
Ihr Gesichtsausdruck war einfach zu komisch und
ich musste lachen.
»Komm Mom. Ich zeig es dir.«
Dann nahm ich ihre Hand und auch die von Dad, der mich schon erwartungsfroh anlächelte und zeigte beiden, was im Geographieunterricht passiert war. Mom hielt sich vor Überraschung die Hand von den Mund, doch ich konnte deutlich ein Grinsen erkennen. Dad schüttelte ebenfalls grinsend den Kopf.
»Das hast du nicht
wirklich gemacht, oder Schatz? Das war doch nur ein Traum oder
so.«
»Nein Momma. Das habe ich wirklich gemacht.«
»Ich
will auch, ich will auch«, rief Alice fröhlich auf der
Stelle hüpfend, also nahm ich auch ihre Hand und die von Jasper
und zeigte auch ihnen meine Gesangseinlage.
»Wahnsinn,
Nessie. Das war ja unglaublich.«
Alice sah mich mit großen Augen an und auch Jasper schien beeindruckt.
»Das hast du toll gemacht. Du hast deine Emotionen zwar nicht kontrollieren können, aber du hast sie in eine Richtung gelenkt, die niemandem schaden konnte. Ganz im Gegenteil. Das war ein hervorragender Einfall.«
Das Lob von Jasper tat mir wahnsinnig gut und ich umarmte ihn dankbar dafür und er tätschelte meinen Kopf. Dann zeigte ich es auch noch Rosalie und Emmett.
»Man Kleine, das war ja
cool. Du könntest locker vor jedem sportlichen Großereignis
zur Eröffnung singen.«
»Ja Em, genau so etwas
hatte ich mir dabei vorgestellt. Wie damals, als du mit mir bei dem
Baseballspiel warst.«
Carlisle und Esme waren ebenfalls beeindruckt von dem, was ich ihnen zeigte, obwohl die beiden mich auch leicht tadelten, da man sich so nicht gerade unauffällig verhalten würde. Außerdem meinten sie, dass es nicht unbedingt ein ganz angemessenes Verhalten gegenüber einer Lehrerin gewesen wäre. Alles in Allem fanden sie es aber nicht so schlimm beziehungsweise auf der anderen Seite auch ziemlich witzig.
Natürlich musste ich einsehen, dass es schon riskant war, auch wenn es gut gegangen war. Folglich würde ich künftig stärker darauf achten müssen, mich nicht so auffällig zu verhalten.
Ich war immer noch sehr gut gelaunt, wenn auch nicht mehr ganz so euphorisch, aber vielleicht kam mir auch gerade deshalb noch eine Frage in den Sinn, die ich fast vergessen hätte.
»Carlisle, Esme? Ich wollte euch noch etwas fragen. Meine Freunde meinten zu mir, dass sie mich gerne besucht hätten, als ich den Schulverweis hatte, doch sie glaubten, dass sie nicht hierher kommen dürften. Irgendwie stimmt das ja auch, aber muss das denn immer so sein? Dürfen meine Freunde nicht ab und zu einfach so mal zu mir kommen? ... Darf mich Gabriel denn auch nicht besuchen kommen?«
Sie sahen sich einen Augenblick lang schweigend tief in die Augen. Dann sprach mich Esme lächelnd an.
»Wir verstehen deinen Wunsch, Kind. Er ist nur natürlich. Wir müssen uns überlegen, wie wir das ... gefahrlos gestalten können. Wenn sie einfach so vorbeikommen, ist das sicherlich nicht so ganz unproblematisch. Ich denke aber schon, dass du Besuch bekommen dürfen sollst. Es müsste aber zumindest vorher abgesprochen sein, damit es zu keinen ... Überraschungen kommt. Aber lass' uns vielleicht erst mal deine Geburtstagsparty abwarten und sehen wie es läuft.«
Ich nickte zur Bestätigung.
Das war in Ordnung. Es war ja kein Nein. Es war vielmehr ein
deutliches Ja, wenn auch mit kleinen Einschränkungen, aber die
waren nachvollziehbar und damit würde ich schon klar kommen.
Schließlich sollte niemand gefährdet werden.
Endlich machten wir uns auf den Weg in die Schule und zu meiner großen Freude durfte ich feststellen, dass Gabriel mit den Andern zusammen auf mich wartete. Kaum, dass ich ausgestiegen war, kam er mir auch sofort entgegen, was meine Freude noch mehr steigerte. Zur Begrüßung nahm er mich liebevoll in den Arm und küsste mich wieder auf die Wange und ich tat es ihm gleich.
Wow. Das war das erste Mal, dass meine Lippen seine Haut berührten und es war einfach wundervoll. So nah an seinem Gesicht konnte ich seinen Duft unglaublich intensiv wahrnehmen. Sein Geruch war umwerfend und versetzte mich in einen rauschähnlichen Zustand. Ich fuhr mit der Zunge über meine Lippen, um seinen Geschmack besser aufnehmen zu können. Was für ein köstlicher Genuss. Es war ein unbeschreiblicher Moment. Es schien fast so, als würde alles um mich herum in Zeitlupe ablaufen. Mein Herz pumpte kräftiger und meine Lunge atmete stärker. Alle meine Sinne waren dermaßen angeregt, dass ich mich fast wie in meinem Jagdmodus fühlte.
"Mein Jagdmodus!?", schoss es mir durch die Gedanken und ließ mich fast erstarren. Ich warf einen kurzen Blick auf Dad, doch er sah unbesorgt aus. Gab es keinen Grund zur Besorgnis oder schirmte mich Mom gerade ab? Ich versuchte mich zu konzentrieren, doch ich war vollkommen verwirrt. Wieso fühlte es sich so an, als würde ich jagen, wenn doch mein Blick klar war, ohne eine Spur von rot? Und seit wann spürte ich ein merkwürdiges Kribbeln am ganzen Körper, wenn ich im Jagdmodus war?
»Alles in Ordnung,
Nessie?«, hörte ich plötzlich die wohl schönste
Stimme des Universums in meinen Ohren.
»Wie? ... Was? ...
Oh! Ja natürlich, ich bin nur ... keine Ahnung.«
Gabriel lächelte mich an und streichelte mir sanft über das Gesicht. Seine Finger berührten die gleiche Stelle, die zuvor von seinen Lippen geküsst wurde. Oh man. Von der zärtlichen Berührung seiner Hand auf meiner erhitzten Wange bekam ich wieder weiche Knie. Wo auch immer ich ihn spürte, wurde das Kribbeln noch intensiver und wie ein Echo spürte ich es noch, wenn die Berührung auch schon längst wieder vorbei war. Ich verstand es einfach nicht, aber es fühlte sich so unendlich gut an, dass es mir vollkommen egal war, warum ich es als so schön und faszinierend empfand. Ich wollte gar nichts anderes mehr, als nur noch seine Berührungen spüren.
Gabriel nahm meine Hand und führte mich zum Eingang, vor dem auch meine anderen Freunde noch standen. Paulina und Simon küssten sich gerade, was mich doch überraschte. Bisher habe ich bei den beiden nicht mehr als Händchenhalten in der Kantine gesehen, aber das? Einerseits hatte ich das Gefühl, dass meine Liebe zu Gabriel alle irgendwie anstecken würde. In meiner ganzen Familie schien es so, als würde plötzlich deutlich mehr geküsst werden, zumindest kam es mir so vor, oder ich nahm es jetzt einfach bewusster wahr. Andererseits hatte ich das Gefühl, dass die zwei uns mal zeigen wollten, wie es richtig ging, als ob ich das nicht wüsste. Na ja, wissen konnte ich es natürlich nicht so ganz, aber das Prinzip war ja klar. Jedenfalls missfiel es mir, dass Paulina und Simon so taten, als müssten sie uns den Weg weisen. Vielleicht sollte ich Rosalie und Emmett bitten, den beiden mal ihr Show zu zeigen. Dann wüssten sie wenigstens selbst, dass sie auch noch Anfänger waren.
Connie und Nathan standen ebenfalls Arm in Arm vor der Tür. Susi sah daneben etwas frustriert aus. Ich vermutete, dass es daran lag, dass sie keinen Freund hatte, aber so genau wusste ich das natürlich nicht. Lissie hingegen, die ja auch keinen Freund hatte, kam fröhlich auf mich zu gehüpft, umarmte mich und gab mir einen Kuss auf die Wange. Ihre liebevolle und herzliche Art lenkte mich augenblicklich von meiner Verärgerung wegen Paulina und Simon ab. Lissie hatte definitiv bereits einen Platz in meinem Herzen. Ich mochte sie so sehr und wünschte mir nichts mehr, als dass wir richtig gute Freundinnen würden.
»Hey Nessie. Wie geht's?«,
sagte sie mit einem verschmitzten Lächeln und
Augenzwinkern.
»Danke gut«, antwortete ich und lehnte
dabei den Kopf an Gabriels Schulter und grinste sie breit an.
»Sag
mal, stimmt das eigentlich, dass du gestern bei Mrs. MacLeish im
Unterricht gesungen hast? Als ich das heute Morgen gehört hatte,
konnte ich es einfach nicht glauben.«
»Oh doch. Das
kannst du glauben. Ist wirklich passiert.«
»Du hast
was?«, fragte mich Gabriel überrascht und auch alle
anderen sahen mich verwirrt an.
»Na, die amerikanische
Nationalhymne gesungen. Mrs. MacLeish hatte mich schließlich
darum gebeten.«
»Also da habe ich aber etwas Anderes
gehört«, meinte Lissie grinsend.
Ich zuckte mit den Schultern und
tat so, als hätte ich keine Ahnung wovon sie redete, doch dann
erzählte ich allen die ganze Geschichte und anschließend
gingen wir auch gleich zu unseren Klassenzimmer. Kurz bevor wir den
Raum betraten, gab ich Gabriel noch einen schnellen Kuss auf die
Wange. Überrascht aber offensichtlich sehr erfreut darüber,
lächelte er mich an und streichelte mein Gesicht. Dann gingen
wir zu unseren Plätzen, die aber leider sehr weit voneinander
entfernt waren.
Im Geschichtsunterricht sprach mich dann doch tatsächlich Mr. Bennett auf das Ereignis mit Mrs. MacLeish an. Allerdings interessierte er sich weniger für meinen Gesang, obwohl er deutlich schmunzeln musste, als das kurz zur Sprache kam, sondern er sprach mit mir über die britisch-amerikanische Beziehungen im Laufe der Jahrhunderte. Mir kam es eigentlich mehr wie ein Verhör oder eine Prüfung vor, doch auf dem Gebiet kannte ich mich gut aus und deshalb hatte ich auch nichts dagegen, obwohl unser Thema eigentlich die französische Revolution gewesen wäre. Jedenfalls bekamen die Anderen dadurch praktisch eine Freistunde und ich zu meiner großen Überraschung am Ende der Stunde ein A als mündliche Note. Cool. Das war jetzt schon das zweite Mal, dass mir das passierte. Als Hausaufgabe sollten wir dann ein Referat über die möglichen Zusammenhänge zwischen der französischen Revolution und der britisch-amerikanischen Beziehungen machen. Eine einfache Aufgabe, weshalb ich auch nicht verstehen konnte, warum so viele aus der Klasse aufstöhnten und mir missmutige Blicke zuwarfen. Was konnte ich denn bitte schön für die Hausaufgaben?
Im Anschluss hatte ich dann wieder meine Mittwochs-Freistunde, in der ich schnell das Referat verfasste und danach sehnsüchtig auf Gabriel wartete. Er war auch der Erste in der Kantine und kam gleich zu mir, um mich mit einem Küsschen auf die Wange zu begrüßen. Danach gingen wir zur Essensausgabe und er lud sich einen Teller Spaghetti mit Tomatensoße auf das Tablett. Ich nahm mir lediglich einen Apfel.
Es war richtig witzig, ihm beim Essen zuzusehen, da er sich ziemlich voll kleckerte. Die Anderen am Tisch stellten sich da bedeutend geschickter an. Allerdings sahen die auch nicht ständig zu mir, um mich dabei zu beobachten, wie ich an meinem Apfel knabberte. Nur Lissie hatte mich kurz gefragt, ob ich keine Spaghetti mochte, was ich der Einfachheit halber bestätigte.
Bei Gabriels soßenverschmierten Anblick musste ich einen kurzen Moment lang daran denken, wie ich manchmal nach einer meiner bevorzugten Mahlzeiten aussah. Mein Gesicht war dann oft nicht weniger verschmiert, wenn auch mit einer ganz anderen und spezielleren Art roter Soße. Würde er mir beim Essen zusehen, wäre er sicherlich nicht so amüsiert wie ich bei seinem Anblick. Ob er es überhaupt verstehen könnte? Würde er es akzeptieren? Würde er mich akzeptieren, wenn er genau über mich Bescheid wüsste? Könnte er mich dann überhaupt noch lieben? Nein, ich wollte jetzt nicht darüber nachdenken. Es war noch zu früh dafür. Der Tag wird noch kommen und dann werde ich ihm die Wahrheit erzählen, doch bis dahin wollte ich unsere Liebe so genießen, wie sie war. Ich hoffte sehr, dass er irgendwann dafür bereit sein würde, alles über mich zu erfahren und dass er mich dann immer noch liebte. Vielleicht würden wir ja das gleiche Glück haben wie Mom und Dad.
»Hey Nessie«, sprach
mich plötzlich Lissie an und riss mich damit aus meinen
Gedanken. »Was glaubst du, wie lange du für dein Referat
brauchst? Du scheinst dich ja mit dem Thema ziemlich gut
auszukennen.«
»Wie lange ich brauche? ... Ich hatte 40
Minuten gebraucht. ... Es ist schon fertig.«
Sie sah mich
mit großen Augen an.
»Wie, du bist schon fertig? ...
Mit dem ganzen Referat?«
Ich nickte.
»Aber die
ganzen Daten und Namen und so weiter. Hast du die weggelassen? Du
weißt schon, dass man die in einem Referat braucht, oder?«
»Ja
klar. Hab' ich doch alles schon mal gelernt.«
»Und du
weißt das noch alles?«, fragte sie ungläubig nach
und ich nickte nur. »Echt? Ist ja unglaublich. Ich werde
bestimmt das ganze Wochenende damit verbringen.«
»Oh?!
... kann ich dir vielleicht helfen?«
Ich war mir nicht sicher, ob sie meine Hilfe wirklich haben wollte, weshalb ich sehr vorsichtig frage, aber ich wollte ihr wirklich gerne helfen. Das gehörte sich doch so unter Freundinnen, oder?
»Du willst mir helfen? ...
Ich weiß nicht. ... Das fällt doch bestimmt auf, wenn
unsere Arbeiten sich so ähnlich sind.«
»Hm ...
gut möglich. Aber ich könnte dir ja einfach die wichtigsten
Daten aufschreiben, dann hast du es vielleicht etwas einfacher und
musst nicht soviel herumsuchen.«
»Echt? Würdest
du das machen?«
»Klar Lissie. Du bist doch meine
Freundin.«
Ich holte meinen Block aus meiner Tasche und fing an alle wichtigen Daten, Namen und eine kurze Beschreibung der jeweiligen Ereignisse und deren Bedeutung zu notieren. Nach knapp fünf Minuten war ich fertig und gab ihr den Zettel. Lissie überflog den Text und bekam erneut große Augen.
»Wahnsinn. ... Das hast du alles einfach so im Kopf? ... Und dann erst diese Handschrift. ... Wie kann man nur so schnell und so sauber schreiben?«
Verdammt, ich hatte mich doch jetzt nicht verraten, oder? Unsicher blickte ich zu Dad, der auch etwas kritisch herüber schaute, aber keine Anzeichen von ernsthafter Besorgnis zeigte. Ich war etwas erleichtert, doch ich musste definitiv besser darauf aufpassen, nichts unnatürliches zu machen.
»Ich weiß auch
nicht. Das konnte ich eigentlich schon immer«, antwortete ich
mit einem Schulterzucken, mit dem sie sich glücklicher Weise
zufrieden gab.
»Ist ja auch egal. Danke jedenfalls, das
hilft mir sehr.«
»Gern geschehen«, sagte ich
erleichtert.
»Darf ich vielleicht eine Kopie davon haben?«,
fragte Gabriel vorsichtig und sah zwischen Lissie und mir hin und
her.
Ȁhm, wenn du magst, schreibe ich dir auch so eine
Notiz«, sagte ich und fing gleich damit an, die Liste erneut zu
erstellen.
»Aber eine Kopie reicht doch. Du musste es doch
nicht noch mal schreiben.«
»Ach, das macht mir nichts
aus. Bis du fertig gegessen hast, habe ich das auch
erledigt.«
»Fertig gegessen und gewaschen!«,
ergänzte Lissie noch schmunzelnd, doch Gabriel ließ sich
nicht davon ärgern und mampfte genüsslich weiter.
Den Rest der Mittagspause verbrachte ich wieder mit Gabriel draußen in dem überdachten Bereich. Auch wenn an seinem Hemd ein paar Soßenflecken waren, störte mich das nicht im Geringsten. Es war einfach wunderbar, wenn er sich an eine der Säulen lehnte ich mich an ihn kuscheln dufte und seinen Duft einatmete, während im Hof das prasseln des Regens zu hören war. Wenn er dann wieder die Arme um mich legte, mich sanft streichelte und ich dem Rhythmus seines Herzens und dem strömenden Atem in seiner Lunge lauschte, war das gleichermaßen beruhigend wie berauschend. Schade nur, dass die Pausen immer so kurz waren und wir dann immer von der Schulglocke aus unserem Traum herausgerissen und in die Realität zurückgeschleudert wurden. Noch bedauerlicher war, dass er leider auch diese Gelegenheit für einen ersten Kuss ungenutzt verstreichen ließ.
Der Nachmittag mit der Doppelstunde Chemie verlief recht harmonisch. Da es nun keine Unklarheiten mehr zwischen Gabriel und Martin gab, vertrugen sich beide wieder und unterhielten sich auch relativ normal. Zumindest waren sie nicht mehr feindselig, worüber ich mich sehr freute.
Zum Ende der Schule hieß
es dann wieder Abschied nehmen. Wir umarmten uns noch mal, gaben uns
gegenseitig einen Kuss auf die Wange und trösteten uns damit,
dass wir uns morgen wieder sehen würden. Kaum, dass er weg war,
vermisste ich ihn schon und daran änderte sich auch für den
Rest des Tages nichts mehr.
Am Donnerstag dann hatte ich zum ersten Mal Kunstunterricht. Mrs. Stuard machte gleich einen sehr netten Eindruck auf mich. Sie tat meinen Schulverweis wegen Lou als “dumme Sache” ab und begrüßte mich herzlich in ihrem Unterricht. Etwas enttäuscht musst ich dann allerdings feststellen, dass für dieses Trimester das Malen mit Ölfarben vorgesehen war. Das kannte ich ja schon, aber ich wollte nicht meckern. Ich malte ja eigentlich ganz gerne und vielleicht könnte ich ja auch noch etwas dazulernen. Bedauerlich war auch, dass Gabriel nicht dabei war, da er Kunst nicht belegt hatte, aber dafür war Lissie bei mir und das war auch schön.
Gleich zum Ende der Schule rannte ich zum Ausgang, in der Hoffnung, Gabriel auf Wiedersehen sagen zu können, doch er war nicht dort. Unsicher wartete ich noch ein paar Minuten und schließlich kam er angerannt. Er entschuldigte sich gleich bei mir, aber sein Lehrer hatte leider etwas überzogen und jetzt musste er gleich weiter zur Haltestelle, da er sonst seinen Bus verpassen würde. Also nahm er mich noch mal fest in den Arm und küsste mich zum Abschied wieder auf die Wange.
Ich sehnte mich so sehr danach,
seine Lippen endlich auf meinen zu spüren, doch das blieb mir
noch immer verwehrt. Trotzdem genoss ich auch die kleinen Küsse
auf meiner Wange, die ich auch immer noch ein paar Minuten lang
spüren konnte. Dennoch blieb mir nichts anderes übrig als
seufzend festzustellen, dass ich den Kuss, nach dem ich mich
verzehrte, noch immer nur in meinen Träumen erhalten würde.
Am Freitag dann hatte ich wieder Geographie, wobei ich zu meiner großen Überraschung feststellen musste, dass mich Mrs. MacLeish in Ruhe lies und mich praktisch nicht beachtete. Mein Auftritt am Mittwoch hatte wohl großen Eindruck bei ihr hinterlassen. Mir war das aber sehr recht. Ob sie mich nun einfach ignorierte, weil sie keine Lust mehr hatte mich zu piesacken, oder ob ihr nur noch keine bessere Methode eingefallen war, war mir im Grunde ziemlich egal. Für den Augenblick musste ich mir jedenfalls keine Sorgen machen. Dann lernte ich auch meinen letzten Lehrer, Mr. Rutherford kennen, der IT unterrichtete. Der Mann war mir nicht direkt unsympathisch, aber er wirkte immer etwas abwesend. Leider saß ich in diesem Fach auch alleine. Wir hatten zwar ohnehin alle einen eigenen PC für den Unterricht, aber es gab auch keine freien Plätze neben Gabriel, Lissie oder Martin. Stattdessen musste ich mich in die gleiche Reihe setzen, in der auch Kevin seinen Platz hatte. Wenigstens saß ich nicht neben ihm. Das wäre ja wohl die Hölle gewesen, aber alleine die Tatsache, dass ich in seiner Nähe saß, brachte mir einige wütende Blicke von Lou ein.
Wie konnte dieses verkorkste
Weibsbild nur immer noch denken, dass ich an dem Blödmann
interessiert sein könnte? Wusste sie denn nicht, dass mein Herz
schon Gabriel und nur Gabriel gehörte? Was sollte diese nervende
und vollkommen unsinnige Eifersucht? Ich versuchte ihr keine
Beachtung zu schenken und mich stattdessen auf den Unterricht zu
konzentrieren, der aber dermaßen langweilig gestaltet war, dass
es mir außerordentlich schwer fiel. Abgesehen davon schien ich
auch in diesem Fach den meisten meiner Klassenkameraden voraus zu
sein. Jasper hatte mir schon sehr viel über das Arbeiten mit
Computern beigebracht. Für ihn war das Internet so eine Art
Waffe, die man im Informationszeitalter einfach beherrschen musste,
oder man war dem Untergang geweiht. Nun ja, seine Ansichten sind
manchmal einfach ziemlich extrem, doch er war wirklich gut im Umgang
mit dem PC und ich hatte viel von ihm gelernt.
Zum Ende der Schule lag ich dann noch ein paar Minuten in Gabriels Armen. Ich hasste diese Abschiede, doch um nichts in der Welt wollte ich diese wenigen Minuten, die mir noch am Ende des Schultages mit ihm blieben, verpassen.
»Nessie?«, sprach er
plötzlich fragend meinen Namen aus und ich schaute zu ihm
auf.
»Ja Gabriel?«
»Magst du vielleicht …
ich meine wenn du Zeit hast … morgen mit mir nach Glasgow ins
Kino gehen?«
Ich und Gabriel … zusammen … in einem dunklen Raum … etwa zwei Stunden lang? Wow. Was für eine verlockende Vorstellung. Vielleicht die Chance auf meinen ersten richtigen Kuss? Oh wie gerne würde ich das machen. Hoffentlich hatten die Anderen nichts dagegen. Meine größte Sorge war, dass sie es mir vielleicht aus Angst um meine Selbstbeherrschung verbieten würden, doch ich wollte es so sehr.
»Das würde mir sehr gefallen. Liebend gerne, aber ich muss erst fragen ob ich darf. Ich rufe dich dann nachher an, O.K.?«
Lächelnd nahm er mich erneut in den Arm und gab mir wieder einen Kuss, wobei er diesmal eine Stelle weiter hinten, knapp unterhalb meines Ohrläppchens traf.
Uah! Ein unglaublicher Schauer jagte von dieser Stelle aus über meinen Körper und verursachte überall eine Gänsehaut. Mein ganzer Kopf kribbelte wie verrückt und ich musste mich unglaublich zurückhalten, damit ich mich nicht zu fest an ihn drückte. Am liebsten hätte ich seinen Kopf gepackt und mir jetzt einfach selbst den Kuss geholt, den ich doch unbedingt haben wollte. Wieso merkte er das nur nicht, beziehungsweise warum traute er sich nicht?
Ich spürte seinen Atem an meinem Ohr, der das Prickeln auf meiner Haut noch zusätzlich verstärkte und außerdem ein warmes Gefühl tief unten in meinem Bauch auslöste. Wieder einmal bekam ich weiche Knie und verstand meinen Körper nicht.
»Hoffentlich erlauben es dir deine Eltern. … Dann vielleicht bis morgen Nessie.«
Ich nickte nur. Meine Kehle war
furchtbar trocken und ich fühlte mich außer Stande zu
sprechen. Abschließend noch ein Kuss von ihm auf mein
brennendes Gesicht und dann eilte er auch schon wieder davon.
Im Auto sprach ich mit Mom, Dad und Jasper über die Möglichkeit eines Kinobesuchs mit Gabriel. Wie ich befürchtet hatte, waren sie alle gleichermaßen besorgt, ob ich dem gewachsen wäre. Mom stand dabei noch am ehesten auf meiner Seite und ich war ihr sehr dankbar dafür. Jasper war sehr verschwiegen und dachte wohl über mein Kontroll-Problem nach, was unschwer an Dads Gesicht abzulesen war.
»Liebling. Das ist ein ziemliches Risiko«, meinte Dad schließlich zu mir. »Es wäre mir lieber, wenn ich dabei in deiner Nähe sein würde.«
Was? Mein Dad wollte mich auf mein erstes Date begleiten, bei dem ich vielleicht meinen ersten Kuss bekommen würde? Das konnte ja wohl nicht sein Ernst sein.
»Ja, Schatz, ich verstehe
dich ja. Mir ist das nicht weniger unangenehm als dir, aber das
Risiko…«
»Nein Dad. Auf keinen Fall. Entweder
ihr vertraut mir oder ihr sperrt mich für den Rest meines Lebens
zu Hause ein.«
Man, war ich wütend. Wie konnte er das auch nur in Erwägung ziehen? Das ging ja gar nicht. Auf keinen Fall. Schlimm genug, dass er jede Minute zwischen mir und Gabriel in der Schule mitbekam, aber das? Das konnte er mir nicht antun. Das würde ich ihm nie verzeihen.
»Ach komm schon, Nessie.
Das ist nicht fair. Ich will dich doch nur beschützen.«
»ABER
NICHT SO!«, fuhr ich ihn an. »Mom, bitte schirm' mich vor
ihm ab.«
»Ja sicher Schatz.«
Natürlich war meine Reaktion etwas übertrieben und ich wusste auch sofort, dass ich mich beruhigen musste oder ich würde die Situation nur noch schlimmer für mich machen. Meine Wutausbrüche waren ja ohnehin ihre größte Sorge. Also versuchte ich ruhig zu atmen, aber es fiel mir unendlich schwer, gegen meine Verärgerung anzukämpfen.
Kaum zu Hause angekommen, rannte ich auch schon in mein Zimmer, schlug die Tür hinter mir zu und warf mich aufs Bett. Das war so ungerecht. Wie konnte er mir das nur antun wollen? Das machte einfach alles kaputt. Mein erstes Date und meine vielleicht einzige Chance auf meinen ersten richtigen Kuss von ihm. Womöglich würde er das Interesse an mir verlieren, wenn ich nie etwas mit ihm alleine unternehmen dürfte. Was hatte man schon von einer Freundin, mit der man nur in den Schulpausen zusammen sein konnte.
“Bestimmt macht er mit mir Schluss”, dachte ich und noch bevor ich den Gedanken zu Ende geführt hatte, liefen mir auch schon die Tränen aus den Augen und all meine Wut hatte sich in Trauer und Verzweiflung verwandelt. Mit schluchzenden Lauten ließ ich sie aus mir heraus. Dann hörte ich ein Klopfen an der Tür.
»Sternchen? Darf ich bitte
zu dir ‘rein kommen?«
»Von … mir …
aus«, gab ich schniefend und um Atem ringend von mir.
Mom kam zu mir, setzte sich neben mich aufs Bett und streichelte mir sanft über das Haar. Es dauerte zwei-drei Minuten, bis ich mich wieder einigermaßen beruhigt hatte. Dann sprach sie zu mir.
»Liebling? Dein Daddy will
dir doch nichts verderben. Er hat dich doch so lieb und ist einfach
nur besorgt um dich. Du kennst ihn doch und du bist das Wichtigste
für ihn.«
»Bin ich nicht«, sagte ich mit
einer Mischung aus Enttäuschung und Verärgerung.
»Jetzt
sein nicht ungerecht. Du weißt, dass er dich liebt.«
»Ja,
aber ich bin nicht das Wichtigste für ihn. … Das bist du
und dann kommt lange nichts und dann irgendwann ich.«
»Schatz.
… Du bist unfair. … Wir sind ihm bestimmt gleich
wichtig.«
Ich hob meinen Kopf und sah ihr in die Augen. Sie war voller Mitgefühl und Liebe und ich wusste, dass ich bei ihr den gleichen Stellenwert wie Dad hatte. Das was sie sagte, galt für sie, nicht für ihn. Also musste ich einfach den Kopf schütteln.
»Du weißt, dass das nicht stimmt, Momma. Wenn du sterben würdest, würde er es nicht ertragen können und dir folgen und mich alleine lassen. Wenn ich aber sterben würde, dann würde er trotzdem bei dir bleiben. Also erzähl mir nichts von gleich wichtig.«
Mom sah geschockt aus und ich konnte ihren Anblick nicht ertragen. Ich vergrub mein Gesicht wieder in meiner Armbeuge und schniefte leise weiter. Warum nur hatte ich das gerade gesagt? Das war nicht richtig. Ich war mir sicher, dass es wahr war, aber trotzdem war es nicht richtig, das zu sagen. Die Worte taten mir schon leid, noch bevor sie richtig über meine Lippen gekommen waren. Wenn Daddy das gehört hätte, wäre er bestimmt tief verletzt. Man, ich machte doch selbst alles kaputt.
»Sternchen? … Was
redest du denn da? … Wir lieben dich doch über alles und
wir könnten es beide nicht ertragen, wenn du sterben würdest.
Bitte Liebling, sag so etwas nicht. Du weißt ja gar nicht, wie
weh das tut.«
»Ach Momma«, rief ich laut
schluchzend, sprang auf und schlang die Arme um sie. »Es tut
mir leid. … Ich will euch doch nicht weh tun. … Ich bin
nur so … verzweifelt.«
Wieder einmal wiegte sie mich sanft in ihrem Arm, als wäre ich ein kleines Mädchen. Im Grunde war ich das ja auch. Manchmal jedenfalls. Jetzt im Moment jedenfalls, da war ich nur fast fünf und wollte in ihrem Arm liegen und getröstet werden und wie immer war es eine Selbstverständlichkeit für sie, mir einfach zu geben, was ich brauchte. Dadurch fühlte ich mich noch schuldiger, für das, was ich gerade gesagt hatte, aber ich wollte nicht ihre tröstende Nähe verlassen, auch wenn ich sie eigentlich nicht verdient hatte.
»Schscht, Sternchen. Ist
ja gut. Nur Mut. Du bist nicht alleine. Das bist du nie.«
»Ich
weiß Momma, aber ich liebe Gabriel doch. Ich will bei ihm sein.
Nicht nur in der Schule. Das ist das erste Mal, dass er mich auch
außerhalb treffen will und wenn ich nicht darf, dann …
dann … dann … sucht er sich vielleicht ein
Andere.«
»Liebling. … Also erstens glaube ich
das nicht, denn dafür ist er viel zu nett und zu verliebt in
dich und zweitens wäre er es definitiv nicht wert von dir
geliebt zu werden, wenn er es täte.«
Ach ja?! Gabriel sollte es nicht wert sein, geliebt zu werden? Er war doch nicht das Monster. Das war ich. Wenn hier jemand keine Liebe verdiente, dann ist das ja wohl eindeutig der Halbvampir in dieser Beziehung. Ein amerikanischer Halbvampir, wie Mrs. MacLeish jetzt sicherlich treffend bemerken würde. Außerdem würde sich Gabriels Familie wohl kaum Sorgen darum machen, dass er die Selbstkontrolle verlieren könnte und mich umbringt.
»Mom, bitte. Einen Jungen
wie Gabriel werde ich bestimmt nicht wieder finden. Bitte, bitte,
bitte, ich will mit ihm ins Kino gehen. Bitte Momma. Erlaub’ es
mir, ja? Bitte?«
Mom seufzte, sah mich dabei aber gütig
und liebevoll an.
»Schatz. Bist du dir des Risikos auch
wirklich bewusst?«
»Warst du es, als du dich in Daddy
verliebt hattest? Warst du nicht bereit, jedes Risiko einzugehen, um
bei ihm sein zu dürfen? Gut, es war dein Leben, das du riskiert
hattest, nicht seines, aber war Daddy nicht in der fast gleichen
Situation wie ich es jetzt bin? War er nicht auch bereit, alles zu
riskieren und zu gefährden, nur um bei dir sein zu dürfen?
Was hättest du wohl gedacht und gefühlt, wenn dein Dad zu
dir gesagt hätte, dass er bei deinem ersten Date zusehen will?
Dass er dabei sein will, wenn du vielleicht deinen ersten richtigen
Kuss bekommst?«
Meine Worte hatten ihre Wirkung nicht verfehlt. Mom war sichtlich beeindruckt von meinen Argumenten und hatte nichts entgegenzusetzen.
»Du hast vollkommen recht,
Liebling. Lass’ uns nach unten gehen und mit den Anderen
darüber reden.«
»Was? … Nein, das mache
ich nicht. Ich geh’ da nicht runter und bettele bei allen um
die Erlaubnis für ein Date. Das kannst du nicht von mir
verlangen. Entweder du erlaubst es mir, oder nicht.«
»Ich
kann das nicht alleine entscheiden, Schatz. Das muss ich zumindest
mit Edward besprechen.«
Dann stand sie auf und verließ
mein Zimmer.
Ich wusste nicht wirklich, wie lange sie weg war. Die ganze Zeit über lag ich auf meinem Bett. Auf keinen Fall wollte ich aufstehen und mein Zimmer verlassen. Nie wieder, wenn sie mir mein erstes Date verbieten würden. Gut, das war nicht sehr realistisch und mein Entschluss wankte gleich ein wenig, dennoch versuchte ich Entschlossenheit zu demonstrieren. Da ich ansonsten nichts zu tun hatte und mich jetzt auch nicht mit meinen Hausaufgaben beschäftigen wollte - wozu auch, wenn ich sowieso nie wieder mein Zimmer verlassen würde - hing ich meinen Gedanken nach. Sie sprangen immer von einem Extrem zum anderen. Auf der einen Seite war die Vorstellung von dem Kinobesuch und der Hoffnung auf einen Gabriel, der mich küsste und auf der anderen Seite das Verbot und die Furcht vor einem Gabriel der mich verlassen würde.
Dann wurde ich plötzlich von einem Klopfen an der Tür aufgeschreckt.
»Ja?«
»Darf
ich herein kommen, Schatz?«
Oh nein. Das war Dads Stimme. Es war nicht Mom, die zu mir kam, um mir die Erlaubnis für mein Date zu geben. Es war Dad, der mir sicherlich gleich das Gegenteil beibringen wollte. Mom hatte sich wohl nicht durchsetzen können und brachte es nicht übers Herz, es mir ins Gesicht zu sagen. Also musste Dad das machen.
Wie versteinert lag ich auf meinem Bett. Das Unglück traf mich mit solcher Wucht, dass ich noch nicht mal weinen konnte. Hatte ich gerade aufgehört zu existieren? War mein Leben jetzt vorbei? Hoffentlich hatte er einen Holzpflock dabei, um meinem gebrochenen Herzen gleich den Rest zu geben, aber das würde ja ohnehin nicht funktionieren. Mit Holz war da nichts zu machen.
Ein weiteres Klopfen holte mich zurück in die Realität.
»Liebling, bitte. Darf ich herein kommen?«
Ich schluckte. Mein Hals war trockener als eine Wüste und jegliche Hoffnung in einem Sandsturm aus meinem Herzen geweht worden. Wie mechanisch öffnete sich mein Mund und ließ ein »Ja« erklingen. Meine Stimme hörte sich auf einmal so fremd an. Dann öffnete sich langsam die Tür.
Dad kam herein und setzte sich auf mein Bett. Ich rutschte ganz ans Kopfende und lehnte mich dort mit dem Rücken an die Wand, die Arme vor der Brust verschränkt und die Beine angezogen. Ich konnte nicht genau sagen, was ich gerade fühlte. Es war keine Wut und keine Trauer. Im Grunde war es eine Leere in mir, die ich spürte.
»Renesmee, es tut mir leid. Ich hatte vorhin überreagiert. Es war unverzeihlich von mir, so etwas von dir zu verlangen. Bitte Liebes, sei nicht mehr böse auf mich. Ich will doch nur dein Bestes.«
Was hatte das zu bedeuten? Wovon redete er? Warum sagte er nicht endlich die entscheidenden Worte? Es musste ihm doch klar sein, dass es keinen Weg gab, mir das schonend beizubringen. Fragend blickte ich ihn an und wartete darauf, dass er weiterreden würde, doch er schaute mich genauso fragend an und erwartete wohl seinerseits eine Reaktion von mir. Ich konnte aber nicht reden und schon gar nicht ihm das sagen, was er hören wollte. Also blieb ich hart und sprach kein Wort, sondern sah ihn nur weiter regungslos an.
»Liebling. Wenn dir das so viel bedeutet, dann versprich mir bitte, dass du vorsichtig bist. Du musst mir versprechen, dass du genau auf deine Gefühle achtest und dass du dich von ihm sofort entfernst, wenn du spürst, dass dir die Kontrolle entgleitet. Bitte Schatz. Ich weiß wie schwer das ist. Ich war in der gleichen Situation, als ich damals mit Bella alleine war. Als ich sie zum ersten Mal küsste, hätte ich sie fast gebissen und ich lebte da schon so viele Jahrzehnte als Vegetarier und beherrschte eigentlich meinen Durst. Du darfst das nicht unterschätzen. Es ist zu gefährlich.«
Wie? … Was? … Er wollte mein Versprechen, dass ich vorsichtig war?
»Heißt das, dass ich darf?«, fragte ich unsicher.
Er nickte und mit einem Mal war die Freude in mir wieder zum Leben erwacht und füllte die Leere aus. Ich sprang ihm um den Hals uns riss ihn dabei vom Bett und wir plumpsten auf den Boden.
»Wirklich Daddy? Ich darf
mit Gabriel ausgehen. … Alleine?«
»Ja Schatz«,
sagte er sichtlich erleichtert und leicht lachend. Dabei streichelte
er mich mit seinen großen kühlen Händen über den
Kopf.
»Oh Danke Daddy. Danke … danke … danke ...«
Bei jedem Danke gab ich im einen Kuss auf die Wange und er ließ es sich gefallen. Danach kletterte ich wieder von ihm herunter und er wies mit der Hand zum Bett, damit wir uns noch mal setzten.
»Nessie. Es ist sehr
wichtig, dass du mir versprichst, um was ich dich gebeten habe.«
»Ja
Daddy. Ich will doch Gabriel auch nicht in Gefahr bringen. Ich
verspreche dir, dass ich auf mich achten werde und dass ich auf
Distanz gehe, wenn ich unsicher werde. O.K.?«
Dad seufzte
tief, doch er nickte.
»Jazz und ich werden dich hinbringen.
Wir bleiben in der Nähe, aber keine Angst, wir bleiben außerhalb
meiner Reichweite. Ich will nur schnell da sein können, wenn du
uns brauchst. Ruf uns einfach mit dem Handy an.«
»Das
mache ich, aber es wird nichts passieren. Ich werde aufpassen.
Versprochen.«
»Gut Schatz. Dann machen wir das so.«
Während er das sagte, stand er auf und lächelte mich mit diesem halben schiefen Lächeln an, das Mom so sehr an ihm liebte. Auch ich stand auf und nahm ihn noch mal in den Arm.
»Ich habe dich sehr lieb,
mein kleiner Engel. Bitte zweifle nicht daran.«
»Ja
Daddy, ich weiß. Ich hab’ dich auch lieb. Es tut mir
leid, dass ich so wütend war. Ich hatte einfach Panik.«
Er streichelte mir noch ein paar
mal über das Haar und den Rücken und dann verabschiedete er
sich mit einem Kuss auf die Stirn von mir und ich war wieder alleine
in meinem Zimmer.
Es war geschafft. Ich hatte tatsächlich die Erlaubnis bekommen und war glücklich. Jetzt würde ich mein erstes Date mit Gabriel haben und vielleicht meinen so heiß ersehnten ersten Kuss bekommen. Ich musste ihm nur noch Bescheid geben, dass ich durfte.
Ich holte mein Handy heraus und sah es an. Zu dem Glücksgefühl in meiner Brust gesellte sich plötzlich Nervosität. War das denn die Möglichkeit? Wieso zögerte ich denn ihn anzurufen? Es war doch alles geklärt und wir würden uns morgen sehen. Das war doch einfach nur toll und ich hatte trotzdem Probleme damit, ihn anzurufen. Nach ein paar Minuten hatte ich es dann doch endlich geschafft meinen Daumen auf den unendlich langen Weg über die Kurzwahltaste eins zu führen. Ein kurzer Druck und im Display erschien sein Name und die Anzeige, dass die Verbindung aufgebaut wurde.
Nicht nur eine Verbindung wurde gerade aufgebaut. Mein Herzfrequenz hatte sich schon wieder extrem erhöht, meine Beine hüpften unruhig schnell auf und ab und meine linke Hand spielte an einem Knopf meiner Bluse.
»Hallo? Nessie?«,
hörte sich seine Stimme, mein Herz setzte aus und meine Finger
rissen den Knopf ab. Wow. Auch am Telefon hörte er sich einfach
nur geil an.
»Hallo Gabriel«, krächzte ich, denn
mein Hals war furchtbar trocken und ich musste erst einmal
schlucken.
»Alles in Ordnung?«, fragte er besorgt. Das
Versagen meiner Stimme ließ ihn wohl vom Schlimmsten
ausgehen.
»Ja, Gabriel. Alles in Ordnung. Entschuldige, aber
mein Hals war gerade so trocken.«
»Ach so. …
Hast du schon gefragt?«
Ich nickte und kam mir im nächsten
Moment ziemlich dämlich vor, weil ich am Telefon genickt
hatte.
»Ja, hab’ ich und ich darf.«
»Klasse!
… Ähm, soll ich dich abholen?«
»Oh, das
geht nicht. Mein Dad besteht darauf, mich hinzufahren und
abzuholen.«
»Ja, ich verstehe, dann treffen wir uns
dort.«
Merkwürdig. Er hörte sich dabei so
erleichtert an.
»Dann müssen wir uns nur noch
überlegen, in welchen Film wir gehen wollen«, ergänzte
er noch.
Oh!? Darüber hatte ich mir noch gar keine Gedanken gemacht. Hoffentlich wollte er nicht in so einen 3D-Film. Andererseits war mir das auch ziemlich egal. Irgendwie hatte ich das Gefühl, dass ich mich ohnehin nicht so sehr auf den Film konzentrieren würde.
»Auf was hast du den Lust,
Gabriel?«
»Ich weiß nicht, das wollte ich dich
auch gerade fragen.«
Oh man, was sollte ich denn aussuchen? Einen Actionfilm vielleicht? Ob ihm das am Besten gefallen würde? Warum sagte er es denn nicht einfach? Oder wollte er eher eine Romanze anschauen, wegen der Stimmung? Aber Jungs sehen so was doch nicht gerne, oder? Vielleicht eine Komödie?
Ich drückte mir das Handy ans Ohr und hörte deutlich, wie er atmete, doch er sagte nichts. Er wollte es wohl mir überlassen.
»Magst du eine Komödie
sehen? Kommt eine, die dich interessiert?«
»Hm, …
ja, warum nicht.«
Also Begeisterung hörte sich anders
an.
»Wir können auch was anderes sehen, wenn du
magst.«
»Nein, nein. Was Lustiges ist O.K.«
O.K.?!
Aha… War es ihm vielleicht genau so egal wie mir?
»Ja,
gut. Dann machen wir das so, Gabriel.«
»Alles klar.
Dann bis morgen.«
»Äh ja, bis morgen.«
Was war das denn? Warum wollte er denn nicht mit mir noch ein bisschen am Telefon plaudern? Ich hätte doch gerne ein wenig mit ihm geredet und einfach nur seiner Stimme gelauscht. Mochte er meine Stimme denn nicht auch so, wie ich seine? Na ja, er redete auch so nicht wirklich viel. Smalltalk gehörte nicht gerade zu seinen Stärken, aber das machte mir ja eigentlich auch nichts aus, wenn ich bei ihm war aber am Telefon war das schon sehr merkwürdig. Er schien ja fast erleichtert gewesen zu sein, als das Gespräch beendet war.
Nein, ich wurde aus ihm nicht schlau und schüttelte den Kopf. Dann entschloss ich mich, Lissie anzurufen. Sie kannte ihn ja schon länger und außerdem würde es sie bestimmt brennend interessieren, wenn ich ihr von meinem bevorstehenden Date erzählen würde.
Ich hatte mich nicht getäuscht. Kaum, dass sie drangegangen war, plapperte sie auch schon unbeschwert vor sich hin. Mit ihr zu telefonieren war ein geradezu extremer Kontrast zu dem vorherigen Gespräch. Sie gab mir auch spontan ein paar Tipps bezüglich guter Kinofilme, die zur Zeit liefen und erzählte von denen, die sie schon gesehen hatte und was sie von den anderen gehört hatte. Ich hatte das Gefühl, kaum selbst zu Wort zu kommen, was natürlich übertrieben war, aber sie redete in zehn Sekunden mehr als Gabriel im ganzen Telefonat.
Das Gespräch mit ihr war
wirklich sehr viel angenehmer, jedenfalls bis zu der Stelle, an der
sie die wohl brutalsten fünf Wörter sagte, die man zu einem
Mädchen vor ihrem ersten Date überhaupt sagen konnte. »Und,
was ziehst du an?«
Ich war geschockt. Darüber hatte ich mir noch gar keine Gedanken gemacht. Ah! Hilfe. Was sollte ich denn jetzt machen? Schuluniform ging ja wohl nicht. Mit dem Telefon am Ohr ging ich wie ein Zombie zum Kleiderschrank und sah überhaupt nichts, das ich anziehen konnte. Ich war der Verzweiflung nahe und beendete mein Telefonat mit Lissie. Dann brüllte ich »Alice! Rosalie! Hilfe!« und innerhalb einer Sekunde standen die beiden in meinem Zimmer.
»Was ist passiert, Süße?«,
fragte Rosalie besorgt.
»Ich habe morgen ein Date mit
Gabriel.«
»Ja, das haben wir schon gehört«,
sagte Alice und sah Rose dabei unschlüssig an.
»Ich
weiß nicht, was ich anziehen soll«, kam es geradezu
jämmerlich aus meinem Mund und die zwei lachten laut los.
»Das
ist nicht witzig«, grummelte ich.
»Doch, ist es, aber
wir sind ja jetzt da und retten dich. Hast du schon an etwas
gedacht?«, frage Rosalie, doch ich schüttelte den
Kopf.
»Also etwas in dem du dich wohl fühlst, ist nie
so ganz verkehrt. Was wäre das denn?«
Hmm. Am liebste hatte ich ja Röcke und T-Shirts an, also nahm ich einfach mal zwei Teile aus dem Schrank, die ich gerne anzog und wurde dafür mit einem kritischen Blick von beiden bestraft.
»Was denn? Du hast doch
gesagt, etwas worin ich mich wohl fühle.«
»Das
T-Shirt ist schon O.K. aber willst du wirklich einen Rock zu deinem
ersten Rendezvous anziehen? Im Kino? Du weißt schon dass man da
nebeneinander sitzt und da kann es schon mal passieren, dass eine
Hand auf ein Knie…«
»Ah! Rosalie. Hörst du
wohl sofort auf damit!«
Alice und Rose sahen sich kichernd an und ich bekam bei der Vorstellung, dass Gabriels Hand auf meinem nackten Knie liegen könnte, gerade die Gesichtsfarbe einer radioaktiv verseuchten Tomate. Außerdem fingen meinen Oberschenkel an zu kribbeln und das zog von dort nach oben in meinen Bauch und verursachte auf dem Weg dorthin eine Gänsehaut. Ich musste mich erst mal setzen.
Meine Modeexperten übernahmen derweilen das Kommando. Sie wühlten in Windeseile meinen Schrank durch und Rosalie huschte zwischendurch in ihr Zimmer, um etwas von ihrem Kleidungsbestand beizusteuern. Sie war zwar etwas größer als ich, doch einige Ihrer Sachen passten mir auch. Alice ging währenddessen auch bei meiner Mom an den Kleiderschrank und borgte sich auch dort etwas für mich aus. Das war schon ein großes Opfer für sie, aber sie musste sich selbst eingestehen, dass Moms Klamotten besser zu einem schüchternen Teenager passten, als sie zugeben wollte.
Nach einem dreistündigen Anprobiermarathon stand mir der Schweiß auf der Stirn aber auch mein Outfit endlich fest. Ein toppmodisches, recht buntes Oberteil von Rosalie, das an den Schultern mit Bändchen zusammengehalten wurde und nicht zu tief ausgeschnitten war. Dazu eine eng anliegende Jeans, die Mom bei ihrem letzten Einkaufsbummel mit Rosalie und Alice gekauft hatte. Dann noch meine Sneakers und von Alice ein paar Accessoires wie Kette, Armreif und Handtasche. Rosalie steuerte noch eine Kurzjacke bei, für oben drüber und drei ihrer Stringtangas für unten drunter. Einen zum gleich anziehen, damit ich mich schon mal daran gewöhnen würde, einen dann für morgen und einen als Reserve, obwohl ich nicht wusste, wozu eine Reserve nötig sein sollte. Jedenfalls meinte sie, dass ich meine “normalen Höschen” nicht unter eine solche Jeans anziehen könnte, weil man das sehen würde.
Gott, ich hatte noch nie so etwas an und wurde schon beim Gedanken daran wieder rot. Andererseits fand ich das kleine Stoffteil auch sehr faszinierend und wollte es unbedingt mal ausprobieren. Also ging ich ins Badezimmer, um einen anzuziehen. Das Gefühl war sehr merkwürdig und ich hatte mich, nun ja, noch nie so sexy gefühlt, als ich mich damit vor dem Spiegel betrachtete. “Was würde wohl Gabriel sagen, wenn er mich so sehen könnte, nur mit BH und String?”, dachte ich und hatte im nächsten Moment schon wieder eine knallrot Gesichtsfarbe. Lag es an dem Höschen, dass es mich so kribbelte oder an den Gedanken an Gabriel?
Ich löste mich wieder von meinem Spiegelbild, kühlte mein überhitztes Gesicht mit etwas frischem Wasser ab und zog mich dann komplett an. Dann ging ich wieder zu meinen Tanten, Schwestern, Freundinnen, was auch immer. Das ungewohnte Gefühl des Strings spürte ich bei jedem Schritt, was das prickelnde Gefühl in meinem Bauch zusätzlich verstärkte. “Man, wenn sich das morgen den ganzen Tag so anfühlt, dann werde ich von dem Kinofilm gar nicht mitbekommen”, dachte ich bei mir.
Rosalie, die meine Gedanken wohl erraten hatte und süffisant grinste, meinte nur zu mir, dass ich mich daran schon gewöhnen würde. Das Wichtigste wäre schließlich, dass ich einfach umwerfend und doch natürlich aussehen würde und da stimmte Alice voll und ganz zu. Auch ich musste zugeben, dass mir sehr gut gefiel, was ich in meinem großen Schlafzimmerspiegel sah. Hoffentlich wird das auch Gabriel gefallen.
Ich wollte es auch gleich anbehalten, weil es mir so gut gefiel, doch Alice meinte, ich solle kein Risiko eingehen und es erst morgen kurz von dem Weggehen anziehen. Kurz vor dem Weggehen? Wann ging ich denn? Hatte ich überhaupt eine Uhrzeit mit Gabriel ausgemacht? Verdammt, das hatte ich ja total vergessen. Oh man, jetzt musste ich ihn noch mal anrufen. Das wird bestimmt noch peinlicher als beim ersten Mal, wo er doch offensichtlich nicht gerne telefonierte und diesmal dann auch noch völlig unerwartet.
Also bat ich Alice und Rosalie aus meinem Zimmer hinaus, die auch brav Folge leisteten und ihre und Moms Sachen gleich mitnahmen, griff mir dann mein Handy und setzte mich auf das Bett. Selbst im Sitzen fühlte sich der String merkwürdig an.
Ich drückte die Kurzwahltaste diesmal sehr viel schneller als beim ersten Anruf. Es dauerte nur noch eine Minute, bis ich es geschafft hatte. Es klingelte allerdings ziemlich oft und dann ging auch noch die Mailbox ran. “Mist”, dachte ich und legte auf. Ich hatte mir gar nichts überlegt, was ich auf die Mailbox sprechen könnte und wollte auf keinen Fall etwas vorstottern.
Um mich besser darauf vorzubereiten, griff ich mir einen Block und schrieb mir auf, was ich sagen wollte. Schnell waren fünf Sätze aufgeschrieben, mit denen ich recht zufrieden war, doch bevor ich noch mal anrufen konnte, klingelte plötzlich mein Handy. Es war Gabriel und schon wieder setzte mein Herz kurz aus.
»Ganz ruhig, Nessie«,
sagte ich zu mir selbst und dann ging ich ran.
»Hallo?«
»Ja,
hallo Nessie. Ich bin’s Gabriel. Du hast noch mal bei mir
angerufen?«
Seine Stimme klang etwas nervös und er wirkte so, als wäre er außer Atem. Ob es ihm so ging wie mir?
Ȁh, ja. Entschuldige
bitte, aber ich habe ganz vergessen dich zu fragen, wann und wo wir
uns morgen treffen.«
»Oh!? … Ja, daran hatte
ich auch nicht gedacht. Wann willst du denn?«
Mensch, konnte
er nicht einfach mal eine klare Ansage machen?
»Ich weiß
nicht, wann fängt der Film denn an?«
»Kein
Ahnung, aber meistens geht’s so gegen acht, halb neun los.
Vielleicht dann so um halb acht?«
»Ja O.K. Dann um
halb acht.«
»Prima. Ich freue mich schon.«
»Ich
mich auch«, sagte ich und hatte schon Angst, dass er gleich
wieder auflegen würde. Ich wollte doch wenigstens ein bisschen
mit ihm reden. Also ergänzte ich noch schnell etwas.
»Was machst du denn gerade?«
Mist. Eine dämlichere Frage konnte mir wohl nicht einfallen. Jetzt war ich auch noch neugierig. Was wenn er das nicht leiden konnte?
»Ach … ähm … nichts Besonderes. … Ich … ähm … hab’ gerade meine … ähm … Hausaufgaben erledigt und … ähm … ferngesehen.«
Aha? Und warum druckst er dabei so herum und warum konnte er dann nicht gleich ans Telefon? “Halt dich zurück Nessie. Das fragst du jetzt nicht.”
»Ja, … Hausaufgaben
… die muss ich auch noch machen.«
»Dann will
ich dich mal nicht länger davon abhalten. Nicht dass du morgen
noch Hausarrest bekommst, weil du die Schule vernachlässigst.«
»Oh,
das passiert bestimmt nicht. Ich darf mit dir ins Kino.«
»Super,
dann bis morgen.«
»Ja, tschüss
Gabriel.«
»Tschüss, Nessie.«
Schon wieder so ein merkwürdiges Telefonat. Was hatte er nur? Er wirkte erneut irgendwie erleichtert, dass das Gespräch beendet wurde. Wollte er vielleicht gar nicht wirklich mit mir ins Kino? Aber er hatte mich doch gefragt, oder? Das konnte doch nicht der Grund für sein Verhalten sein. Bestimmt telefonierte er einfach nur nicht gerne. Diese komischen Telefongespräche mit ihm machten mich richtig nervös. Ich war schon wieder total unruhig. Kurz entschlossen ging ich noch mal zu Rosalie, die noch bei Alice saß und plauderte.
»Entschuldigt bitte, aber ich muss das jetzt einfach los werden. Gabriel ist immer so komisch, wenn er mit mir telefoniert, als ob er gar nicht mit mir reden will und froh ist, wenn das Gespräch vorbei ist. Was kann denn der Grund sein?«
Alice und Rosalie schauten sich fragen an und dann sah ich, wie Alice sich auf eine Vision konzentrierte, sie dann aber sofort abbrach und den Kopf schüttelte, mit einem peinlichen, wenn auch amüsierten Grinsen im Gesicht.
»Oh! … ja …
ähm, das willst du nicht wissen, Nessie.«
»Was?
Was ist denn? Was ist los Alice? Bitte, ich verzweifle hier.«
Auch Rosalie blickte sie fragend an und dann hielt Alice die Hand an Rosalies Ohr und flüsterte ihr etwas zu, das ich nicht verstehen konnte. Noch weniger verstand ich das breite Grinsen von Rosalie.
»Glaub’ ihr, Süße.
Das willst du nicht wissen«, sagte sie lachend.
»Aber
Rose, wenn er mich nicht mehr mag, dann musst du mir…«
»Quatsch
Nessie. Er mag dich. Sehr sogar. Du weißt ja gar nicht wie
sehr«, sagte sie und wieder schaute sie Alice an und die beiden
kicherten von neuem.
»Ihr macht mich wahnsinnig.«
»Tut
uns leid«, entschuldigte sich Alice. »Aber es wäre
ihm gegenüber nicht fair, dir das zu sagen und du willst es
nicht wissen und du musst dir ganz bestimmt keine Sorgen machen, dass
er dich nicht mögen könnte. Auch wenn die Vision undeutlich
war, was ein klarer Hinweis darauf ist, dass sie einfach mit dir zu
tun haben muss, ich schwöre dir, das Gegenteil ist der Fall. In
den nächsten 15 Minuten jedenfalls denkt er äußerst
intensiv an dich. Ich weiß zwar nicht, was er denkt, aber ich
bin davon überzeugt, dass es um dich geht.«
»Ich
auch«, ergänzte Rosalie mit einem verschmitzten
Lächeln.
»Also gut«, gab ich mich zufrieden.
Ich hatte zwar keine Ahnung, was das gerade zu bedeuten hatte, aber sie hatten mich doch ein wenig beruhigt. Ich ging wieder in mein Zimmer und zog mich um. Die Kleider sollten ja geschont werden. Ich betrachtete mich selbst noch mal in dieser heißen Unterwäsche vor dem Spiegel und fühlte mich richtig gut dabei, auch wenn sie unbequem war. Irgendwann würde ich mich vielleicht auch Gabriel so zeigen, doch jetzt verließ mich schon beim Gedanken daran der Mut. Ob ich das überhaupt jemals könnte? Na ja, wenn man sich gut kennt, vertraut und liebt? Bestimmt, oder? Ob Mom so etwas auch für Dad anzog? Ah! Nein, darüber wollte ich nicht nachdenken.
Schnell griff ich mir ein paar normale Klamotten von dem Stapel auf meinem Bett und stellte dabei fest, dass sich ein Rock bei solcher Unterwäsche auch ganz anders anfühlte und wieder war das Kribbeln in meinem Bauch und meine Gedanken bei Gabriel.
Obwohl ich nur halb bei der Sache war, schaffte ich es trotzdem meine Kleider wieder ordentlich in den Schrank zurück zu räumen. Danach setzte ich mich an den Schreibtisch, um meine Hausaufgaben zu machen. Oh man, diese Unterwäsche machte mich wahnsinnig. Das ungewohnte Gefühl übte einen ständigen Reiz aus und ich musste immer wieder daran denken, was ich da an hatte und wie es vor dem Spiegel aussah. Ich konnte mich kaum auf die Hausaufgaben konzentrieren und war mehrmals kurz davor, mich ganz umzuziehen, doch wenn ich morgen mit so einem Teil unter der Jeans ausgehen wollte, dann musste ich da jetzt durch oder ich könnte das total vergessen.
Also kämpfte ich mich durch die Hausaufgaben und versuchte das Kribbeln in meinem Körper auszublenden, was mir nicht wirklich gelang, da es mit jeder keinen Bewegung von mir auf meinem Stuhl neu angefacht wurde.
Ich schaffte es trotzdem fertig zu werden und packte die Sachen wieder ein. Bei einem Blick auf den Wecker stellte ich fest, dass es schon nach zehn Uhr war. Also ging ich schnell nach unten, um meiner Familie Gute Nacht zu sagen. Ich hatte allerdings nicht damit gerechnet, wie sich mein momentanes Outfit anfühlen würde, wenn ich schnell eine Treppe herunter rannte. Gott, ich war außer Atem, als ob ich Stundenlang gerannt wäre und spürte schon wieder die Hitze in meinem Gesicht. Langsam ging ich in die Küche, aß noch schnell eine Banane und holte mir eine Milchflasche aus dem Kühlschrank, um sie mir an das heiße Gesicht zu drücken. Am liebsten hätte ich sie noch auf eine ganz andere heiße Stelle gedrückt, aber das traute ich mich nicht.
Nachdem ich mich etwas abgekühlt
hatte, ging ich kurz ins Wohnzimmer, wünschte allen eine gute
Nacht und eilte wieder in mein Zimmer. Ich fragte mich, ob ich die
Unterwäsche vielleicht auch beim Schlafen anbehalten sollte, um
mich noch besser und schneller daran gewöhnen zu können und
entschied mich dafür, es zu versuchen. Morgen würde ich auf
die Jagd gehen und dann zu meinem Rendezvous mit Gabriel. Mit diesen
Gedanken und einem merkwürdigen Gefühl unter meinem
Schlafanzug schlief ich schließlich ein.
Ich war auf der Jagd und rannte alleine durch den Wald, auf der Suche nach meiner Beute. Die Sonne war gerade erst aufgegangen und tauchte die Landschaft in ein leichtes rot, fast rosa. Das Sonnenlicht verursachte einen leichten Schimmer auf meiner Haut. Ein unmerkliches Glitzern, das an feine Härchen oder eine frisch aufgetragene Bodylotion erinnerte, umhüllte mich.
Der Wind kitzelte auf meiner Haut. Ich spürte ihn überall und genoss das sanfte Kribbeln, das von ihm verursacht wurde. Es spornte mich an, immer schneller zu rennen, um das schöne Gefühl zu verstärken, was auch funktionierte. Ich vergaß die Jagd und die Beute und den Durst. Eine andere Art von Durst war in mir entflammt. Ein Durst, der nicht in meiner Kehle brannte, sondern tiefer in meinem Bauch. Sehr viel tiefer.
Plötzlich entdeckte ich die Umrisse einer Person im Schatten der Bäume. Ich blieb stehen, um sie mir näher anzusehen. Langsam ging ich darauf zu und die Konturen nahmen Gestalt an. Schnell fielen mir die blonden Locken und die wunderschönen stahlblauen Augen auf. Auch das Lächeln auf seinem Gesicht, mit den geliebten Grübchen, erkannte ich sofort. Es war Gabriel. Mein Gabriel. Dort stand er und wartete auf mich. Doch seine Augen waren anders als sonst. Er sah mich so fordernd und verlangend an, wie er es noch nie getan hatte. Ich spürte seinen Blick über meinen Körper wandern und sah selbst an mir herunter. Oh mein Gott! Ich hatte nur den BH und den Stringtanga an. Hatte ich etwa vergessen mich anzuziehen? Es war mir schrecklich peinlich und ich wollte weglaufen doch seine magische Stimme rief mich zu sich. Ich konnte nicht weg. Ich wollte eigentlich auch gar nicht weg. Obwohl ich mich wegen meiner Aufmachung genierte, so wollte ich doch zu ihm. Um jeden Preis wollte ich das. Schritt für Schritt ging ich auf ihn zu und mit jedem Schritt wuchs ein intensives kribbelndes Gefühl in meinem Schoß. Sein Blick wanderte immer noch forschend über meinen Körper und eine Gänsehaut jagte immer wieder an mir hoch und runter. Mein Busen war so angespannt und fühlte sich wahnsinnig empfindsam an.
Dann kam ich bei ihm an und blieb direkt vor ihm stehen. Ich war unsicher, ob ihm gefiel, was er sah, doch er sagte nichts. Sein Blick bohrte sich nun in meine Augen und ich konnte nicht mehr atmen. Er zog mich in seinen Bann und meine Knie wurden weich. Gerade in dem Moment, da sie nachgeben wollten, schlang er plötzlich seine Arme um mich und hielt mich fest. Ich spürte seine weichen Hände an meinem nackten Rücken und die kleinen elektrischen Stöße, die ihre sanfte Berührung auf meiner Haut auslösten. Ich genoss dieses Gefühl, auch wenn es mir meine Kraft vollständig raubte. Willenlos lag ich in seinem Arm und er zog mich fest an sich heran und dann lehnte er sich mit dem Rücken an einen Baumstamm.
Eine seiner Hände streichelte nun über mein Haar, während er mit der anderen sanft mit den Fingerkuppen immer wieder zwischen dem Verschluss meines BHs und den Bündchen meines Strings hin und her fuhr und eine brennende Spur seitlich von meiner Wirbelsäule hinterließ. Von dort breitete sich ein Feuer aus und ließ meinen ganzen Körper glühen.
Die streichelnde Hand an meinem Haar glitt langsam nach vorne, über mein Ohrläppchen, meinen Kiefer entlang zu meinem Kinn. Dann hob er mit unendlich sanftem Druck meinen Kopf hoch. Ich konnte seinem Blick nicht widerstehen und langsam, quälend langsam näherten sich seine Lippen meinem Mund. Die Hand löste sich von meinem Kinn und streichelte auf dem gleichen Weg zurück, blieb dann aber in meinem Nacken liegen, um meinen Kopf zu fixieren.
Wir verharrten einen ewigen Augenblick in dieser Position. Seine Lippen waren höchstens einen Zentimeter von meinen entfernt, doch er rührte sich nicht. Ich verzweifelte in seinem Arm. Ich wollte diesen Kuss so sehr und schließlich erhörte er mein flehen und überbrückte die letzte Distanz zwischen uns.
Dann geschah zu viel auf einmal,
als dass ich es begreifen konnte. Ich spürte seinen Kuss auf
meinen Lippen und gleichzeitig glitten die streichelnden Finger an
meinem Rücken tiefer und umfassten eine Pobacke. Er drückt
mich fest an sich und ich drängte mich an ihn. Meine Beine
umschlossen eines von seinen und ich spürte den Druck an meiner
intimsten Stelle. Ich schlang die Arme um seinen Hals, um seinen Kuss
besser erwidern zu können, doch konnte ich mich kaum halten. Ich
rutschte ein Stück tiefer über sein Bein, was eine
prickelnde Welle auslöste, wie ich sie noch nie zuvor gespürt
hatte. Mein Körper brannte in seinen Armen und ein Schauer nach
dem anderen rauschte durch meinen Körper.
Ich riss die Augen auf und sah noch kleine Lichtblitze, wie sie eben noch vor meinen geschlossenen Lidern hell und bunt erstrahlten. Ich lag in meinem Bett und war vollkommen außer Atem. Mein Herz raste und ich spürte, dass sich im Schlaf meine Hand unter mein Höschen verirrt hatte. Erschrocken zog ich sie heraus und erlebte noch mal einen prickelnden Schauer, der über meinen Körper jagte.
Was war mit mir passiert? Nie zuvor hatte ich einen solchen Traum. Er war so intensiv und so verwirrend und so unglaublich schön und er schien noch nicht ganz vorbei zu sein. Ich spürte noch immer das Echo der faszinierenden Wellen, die in meinem Traum durch meinen Körper jagten. Ich fühlte mich erschöpft. Erschöpft aber auf eine ungewohnte Art auch sehr glücklich. Ich hatte mich niemals zuvor nach dem Aufwachen weder so komisch erschöpft noch so merkwürdig glücklich gefühlt.
Allerdings hatte ich auch das dringende Bedürfnis, die Toilette aufzusuchen, doch auch das fühlte sich anders an, als sonst.
Ich warf meinen, nein Rosalies Tanga in die Wäsche. Jetzt war ich tatsächlich froh, dass sie mir einen mehr als Reserve gegeben hatte, da ich das offensichtlich verschwitzte Teil nicht länger anbehalten wollte. Es war doch nicht normal, dass ich nachts so schwitzte und mein Schlafanzugoberteil fühlte sich doch auch wie gewohnt an. Merkwürdig. Alles war merkwürdig an diesem Morgen. Insgeheim hoffte ich, dass Rosalie keine Erklärung für den Bedarf an dem dritten Stück fordern würde. Ich wüsste nicht, wie ich das erklären sollte. Ich verstand es ja selbst nicht.
Da es keinen Sinn machte, in diesem Mysterium weiter nach einer Lösung zu suchen, stieg ich erst einmal unter die Dusche. Das heiße Wasser tat mir sehr gut. Ich fühlte mich schon bald vollkommen entspannt und voller Energie. Die Erinnerungen an den faszinierenden Traum ließen mich aber nicht mehr los. Ob mir so etwas tatsächlich einmal passieren könnte? Vermutlich nicht genau so, aber mein Unterbewusstsein hatte da definitiv einige sehr imposante Eindrücke miteinander vermischt und mir diesen unglaublichen Traum geschenkt. Danke du verrücktes Unterbewusstsein. Das war echt nett von dir, auch wenn ich keine Ahnung hatte, was du mir damit sagen wolltest.
Mit einer merkwürdigen Vorfreude stieg ich aus der Dusche, trocknete mich ab und zog mir den Reservestringtanga an. Heute morgen würden wir zu Jagd gehen. Mit dem Höschen traute ich mich aber nicht, dazu einen Rock anzuziehen. Ich entschied mich daher für eine sportliche kurze Hose und ein passendes T-Shirt. Im Spiegel musste ich feststellen, dass Rosalie völlig recht hatte. Bei dieser Art von Unterwäsche zeichnete sich absolut nichts ab. Ich wollte künftig auch solche Teile haben.
Ich ging nach unten zu den Anderen, die sich der Geräuschkulisse nach zu urteilen wohl schon im Wohnzimmer versammelt hatten. Kaum, dass ich das Wohnzimmer betreten hatte, bemerkte ich gleich Dads Lächeln, als er mich begrüßte.
»Guten Morgen, Liebling. Gut geschlafen?«
Oh mein Gott. Hatte Dad etwa meinen Traum mit angesehen? Schlagartig wurde mein Gesicht kochend heiß und ich blickte ihn entsetzt an.
»Alles in Ordnung Schatz?«
Jetzt sah Dad seinerseits irritiert aus und sein Lächeln war verschwunden. Also das passte nicht. Ich schüttelte den Kopf und versuchte selbst ein entspanntes Lächeln aufzusetzen, was mir aber noch nicht so recht gelingen wollte.
»Ja … Daddy. Alles in Ordnung.«
Er sah mich prüfend an und
schaute dann kurz zu Mom, die ihrerseits zwischen Dad und mir hin und
her blickte. Dann schüttelte sie unmerklich den Kopf und ich
verstand. Sie hatte mich wie immer in den letzten Tagen zu Hause
abgeschirmt und gerade entschieden, dass sie das auch weiterhin tun
würde, auch wenn Dad jetzt zu gerne wissen wollte, was ich
dachte. Ja, ich war mir sicher, dass es keine Neugierde war, sondern
reine Sorge, was der Grund für meine merkwürdige Reaktion
sein konnte, doch dafür wollte ich ihm auf keinen Fall eine
Erklärung geben. Alles was er jetzt von mir bekam, war ein Kuss
auf die Wange, den ich natürlich auch Mom schenkte.
Die Jagd verlief, anders als in meinem Traum, ohne eine prickelnde Überraschung. Ich bedauerte das aber nicht, denn die Natur hier war einfach wunderschön. Die uralten unberührten Wälder und die faszinierende Hügellandschaft, die sich immer weiter erhob, zogen mich magisch in ihren Bann. Doch egal wie sehr ich das Panorama genoss, der Traum kam immer und immer wieder zurück in mein Bewusstsein. Jedes Mal, wenn ich an einer Stelle vorbei kam, die der in meinem Traum ähnlich sah, musste ich einfach daran denken und stellte mir kurz vor, dass Gabriel dort stehen würde. Inzwischen wusste ich auch sehr gut, was damit gemeint war, wenn man von Schmetterlingen im Bauch redete, denn dieses Gefühl hatte ich sehr häufig bei diesem Jagdausflug. Es war wunderschön und doch irritierend. Ständig vergaß ich, dass ich eigentlich hier war, um meinen Durst zu stillen. Wäre mir nicht zufällig ein großer starker Hirsch über den Weg gelaufen, hätte ich womöglich durstig zu meinem Date gehen müssen. Eine beunruhigende Vorstellung, aber auch unrealistisch. Das hätte Dad sicherlich nie zugelassen. Ich ging aber lieber auf Nummer sicher und trank so viel ich nur konnte. Außerdem war es eine sehr leckere Beute.
Mom und Dad hatten auch ihren Spaß. Wieder einmal hatten sie ein paar Luchse erbeutet, aber nicht gleich getrunken. Ich hatte sie kurz beobachtet und war überrascht, dass Dad mich nicht bemerkte. Mom konnte mich unmöglich auf diese Entfernung vor ihm abschirmen. Es war so faszinierend, die beiden zu beobachten. Sie sahen sich tief in die Augen und küssten sich. Erst sehr zärtlich und dann doch irgendwie immer intensiver. Dad hatte so einen durchdringenden Blick, wie ich ihn nur selten bei ihm bemerkte, wobei mir dabei auffiel, dass der Gabriel in meinem Traum mich so ähnlich angesehen hatte. So hatte ich auch erst kürzlich Jasper gesehen. War das der Grund, warum mein Unterbewusstsein das in meinen Traum eingearbeitet hatte? War es das, was ich auch haben wollte, ohne es wirklich zu wissen, oder spielte mir meine Fantasie einfach nur einen Streich? Irgendwann würde ich das schon noch herausfinden, doch für den Moment schaute ich einfach meinen Eltern zu.
Spannend war dann auch, wie sie
sich plötzlich voneinander lösten und jeder sich schnell
eine der Katzen packte, die bewusstlos neben ihnen lagen, gierig
trank und sich dann gleich die nächste schnappte. Dann sahen sie
sich noch mal tief in die Augen und plötzlich rannte Mom weg und
Dad ihr hinterher. Es dauerte noch nicht mal eine Sekunde, bis ich
sie aus den Augen verlor. Einen kurzen Moment lang dachte ich darüber
nach, ihnen nachzulaufen, doch ich besann mich eines besseren. Sie
würden das bestimmt genauso wenig wollen, wie ich von Dad zu
meinem Rendezvous begleitet werden wollte.
Kaum, dass wir wieder zu Hause waren, nutzte ich zum ersten Mal die Gelegenheit, meine Badewanne auszuprobieren. Ich stieg in das heiße Wasser und aktivierte die Düsen. Die vielen kleinen Blubberbläschen kitzelten mich überall. Es war aber nicht unangenehm. Ganz im Gegenteil, fand ich es sehr entspannend. Ich war so aufgeregt wegen meines Dates und mit jeder Minute die verging und dieses für mich so besondere Ereignis näher rückte, stieg die Nervosität. Das Bad jedoch hatte eine beruhigende Wirkung auf mich. Das Streifen der Bläschen über meine Haut, das ich am ganzen Körper spürte, erweckte den Eindruck, überall zärtlich gestreichelt zu werden. Ich fand das so toll und konnte es richtig genießen. Von jetzt an würde ich bestimmt öfters mal so ein Bad nehmen.
Als es schließlich allmählich Zeit wurde, stieg ich aus der Wanne und machte mich fertig. Alice und Rosalie überprüften noch mal mein Aussehen und wirkten recht zufrieden. Sie wünschten mir viel Spaß, was ich auch von Emmett und meiner Mom zu hören bekam. Dann endlich fuhr ich mit Dad und Jazz zum Kino.
Auf dem Weg erinnerte mich Dad noch mal eindringlich an das Versprechen, dass er mir abverlangt hatte. Natürlich würde ich das halten. Um nichts in der Welt wollte ich Gabriel verletzen und ich wusste, dass ich vorsichtig sein musste. Dann kamen wir beim Kino an und Dad versprach mir noch mal, dass sie außerhalb seiner Reichweite warten würden und er bat mich, ihn sofort auf dem Handy anzurufen, wenn irgendetwas wäre. Natürlich bestätigte ich das und dann stieg ich aus.
Ich war wohl etwas zu früh, denn Gabriel war noch nicht da. Also blieb ich vor dem Kino stehen und wartete. Die Wartezeit war nicht gerade angenehm. Ständig starrten mich die Leute im Vorbeigehen an und es waren nicht nur Jungs, die mich genauer betrachteten. Interessant waren allerdings die unterschiedlichen Reaktionen. Mädchen, die mit einem Jungen hier waren, sahen mich meistens eher verärgert an. Ob die sich mit dem Lou-Virus angesteckt hatten? Es gab allerdings auch welche, die mich eher bewundernd ansahen oder selbst ganz schüchtern wirkten. Bei den Jungs war der Anteil der Schüchternen überraschend groß. Es gab aber auch ein paar Kevin-Kopien die meinten, sie müssten mich mit einem dämlichen Spruch anquatschen. Ein paar Jungs waren aber auch richtig süß, jedoch hielt keiner einem Vergleich mit Gabriel stand.
Als es viertel vor acht war, wurde ich allmählich richtig nervös. Ich hatte schon eine halbe Stunde gewartet und er war immer noch nicht da. Das konnte er doch nicht vergessen haben, oder? Er würde mich doch nicht versetzen? Sollte ich ihn vielleicht auf dem Handy anrufen? Nein, das wäre jetzt zu peinlich. Wenn er mit mir reden wollte, hätte er mich bestimmt schon angerufen. Hoffentlich war ihm nichts auf dem Weg hierher passiert. Ich dachte daran, Alice anzurufen und sie zu bitten in seine Zukunft zu sehen, doch ich wollte jetzt nicht panisch werden. Unruhig lief ich wie ein Tiger im Käfig vor dem Kino auf und ab und wartete.
Dann endlich bemerkte ich ein älteres Auto, das etwa 250 Meter entfernt kurz anhielt und Gabriel stieg aus. Eine Frau saß am Steuer, die eine schwache Ähnlichkeit mit ihm hatte. Bestimmt war das seine Mutter. Er sagte noch etwas zu ihr, doch nicht sehr laut, so dass ich es auf die Entfernung und bei den ganzen Störgeräuschen nicht verstehen konnte. Dann schloss er die Tür und rannte in meine Richtung, während das Auto wendete und wegfuhr. Am liebsten wäre ich ihm entgegen gerannt, doch ich widerstand dem Verlangen. Auf die Entfernung würde ein normales Auge jedenfalls nicht erkennen können, wer da ausgestiegen war. Also zwang ich mich dazu, mich noch mal umzudrehen und wieder ein Stückchen in die andere Richtung zu gehen. Boah, war das schwer. Es zerriss mich fast und ich hielt das nur wenige Sekunden aus. Dann drehte ich mich wieder in seine Richtung und tat so, als würde ich ihn jetzt erst erkennen und dann erst langsam und schließlich immer schneller auf ihn zu eilen.
Es dauerte nicht lange und dann rannte ich ihm freudestrahlend entgegen. Kurz bevor wir zusammentrafen, bremste er ab, was ich wohl besser auch getan hätte, denn ich rummste voll in ihn hinein. Er reagierte zum Glück aber blendend, packte mich sicher und wir drehten uns zweimal im Kreis. Ich quietschte vergnügt und fiel ihm lachend um den Hals.
»Wow. So eine stürmische Begrüßung habe ich doch gar nicht verdient, Nessie. Es tut mir leid, dass ich so spät bin, aber meine Mom kam leider nicht früher aus der Arbeit.«
»Macht nichts, Gabriel. Ich bin nur froh, dass du noch gekommen bist. Ich habe mir schon Sorgen gemacht.«
»Sorgen gemacht?«, fragte er jetzt betroffen. »Oh man. Ich hätte dich ja auch anrufen können und sagen, dass ich mich verspäte. Es tut mir so leid, Nessie. Das habe ich nicht gewollt.«
Ich lächelte ihn an und streichelte über sein Gesicht. Dann gab ich ihm einen Kuss auf die Wange. Eigentlich wollte ich ihm sagen, dass er sich keine Vorwürfe machen brauchte und dass ich einfach nur glücklich war, dass er endlich bei mir war, doch ich bekam keine Wort heraus. Die Berührung seines Gesichts mit meiner Hand und gleich darauf mit meinen Lippen ließen keine klaren Gedanken mehr zu. Dazu noch seine wunderbarer Duft, den ich einatmen durfte. Störend war nur das Deo oder Aftershave, dass er aufgetragen hatte. Es roch zwar nicht schlecht, aber sein natürlicher Duft war so viel besser.
Zum Glück brauchte ich auch keine Worte, denn meine Zärtlichkeit ließ ihn auch so erkennen, dass ich ihm nicht böse war und so erwiderte er mein Lächeln und gab auch mir einen Kuss auf die Wange. Diesmal allerdings sehr viel näher an meinem Mund als sonst. Sehr viel näher. Sehr, sehr viel näher. Sein Mundwinkel berührte meinen und jagte mir einen Schauer durch den Körper. Wieder einmal hatten meine Organe nichts besseres zu tun als Verstecken zu spielen. Nur auf meinen Blutdruck, konnte ich mich verlassen und spürte auch schon die Hitze in meinem Gesicht aufsteigen. Allerdings war das nicht die einzige Körperstelle, die sich heißer als normal anfühlte. Auch wenn es mir jedes Mal aufs Neue peinlich war, wenn ich so rot wurde, so hatte das Ganze noch auch einen faszinierenden Nebeneffekt, denn gerade die heißen Stellen waren besonders empfindsam und so spürte ich ihn noch intensiver, was mir so unendlich gut gefiel.
»Du siehst Atemberaubend
schön aus, Nessie«, sagte er und sah mich dabei bewundernd
an, dass ich noch verlegener wurde. Ich griff eine seiner blonden
Locken, die sich auf seiner Schulter abgelegt hatte und zwirbelte sie
ganz leicht durch die Finger.
»Du auch, Gabriel«,
sagte ich mit einer peinlich schüchternen Stimme, die ihm jedoch
zu gefallen schien. Zumindest ließ sein Lächeln das
erahnen. Auch er griff zu einer Strähne meines Haars, um sie zu
streicheln. Seine Hand berührte dabei ganz leicht meine Wange
und ich nahm einen ungewohnt herben Geruch wahr, der jedoch sehr
interessant war. Ich drehte den Kopf zu seiner Hand und stupste
grinsend mit meiner Nase gegen die Innenseite. Es war eindeutig die
Hand, die diesen faszinierenden Geruch an sich hatte.
Schließlich nahm er meine heiße Hand in seine etwas kühlere und ging mit mir zum Kino. Dort betrachteten wir ein paar Plakate, um uns einen Überblick über das aktuelle Programm zu verschaffen. Zu meinem Leidwesen musste ich feststellen, dass er ausgerechnet vor einem 3D-Film ziemlich lange stehen blieb. Nun ja, der Film war mir im Grunde ja auch nicht so wichtig. Die Hauptsache war, mit ihm zusammen zu sein.
»Der soll gut sein. Magst
du den sehen?«
»Wenn du willst«, sagte ich etwas
unsicher. Ich wollte ihn eigentlich nicht sehen, aber ich würde
definitiv mit ihm hinein gehen.
Ȁhm, wenn nicht, dann
sag’ es bitte.«
Was sollte ich denn jetzt machen? Ihn anlügen, was mir zutiefst widerstrebte, oder ihm die Wahrheit sagen, was mir nicht weniger unangenehm war.
»Ich finde 3D-Filme nicht
so toll, aber ich schau ihn mir gerne mit dir an.«
»Nee,
also wenn du das nicht magst, dann nicht. Der Kinobesuch soll dir ja
auch gefallen.«
“Oh Gabriel. Du hast ja keine Ahnung, wie gut mir das hier gefällt”, dachte ich und lächelte ihn wieder an. Dann gingen wir weiter zu anderen Plakaten.
Diesmal blieb er vor einem Vampirfilm stehen und ich musste unweigerlich schmunzeln. Irgendwie fand ich es total witzig, dass er sich für solche Filme interessierte. War das jetzt ein gutes Omen?
»Willst du den ansehen?«,
fragte ich diesmal etwas freudiger.
»Würde ich gerne,
der ist aber ab 16. Da lassen die uns nicht ‘rein.«
»Hm,
schade.«
Dass ich mich auch für einen Vampirfilm interessiert zeigte, hatte ihm wohl gefallen. Er legte mir nämlich spontan den Arm um und ich ergriff die Hand, die da über meine Schulter baumelte und lächelte vor mich hin.
Als nächstes standen wir zwischen zwei Plakaten. Auf dem einen eine Komödie und auf dem anderen ein Liebesfilm. Mir war beides recht, also war ich sehr entspannt.
»Was meinst du Nessie?
Liebe oder Lachen?«
»Beides mit dir.«, sagte ich
spontan, ohne darüber nachzudenken und er strahlte mich schon
wieder mit seinen unglaublichen Augen an und gab mir einen weiteren
Kuss auf die Wange.
»Du hast recht, Nessie. Kein Liebesfilm
könnte besser sein, als das, was ich da im Arm habe. Dann die
Komödie?«
Oh war das süß. Ich hatte keine Worte, um die Freude zu beschreiben, die ich gerade verspürte. Die Schmetterlinge in meinem Bauch hatten einen Düsenantrieb verpasst bekommen und übten Loopings. Jedes Haar an meinem Kopf schien unter Strom zu stehen und es fing schon fast an zu pieksen.
Sachte schob er mich in Richtung Kasse und bestellte die Karten. Ich holte inzwischen meinen Geldbeutel aus der Tasche.
»Nein, lass’ nur. Ich mach’ das«, sagte er und zog seinen Geldbeutel aus der Hosentasche.
Das war irgendwie nicht richtig. Ich hatte doch vorhin das Auto gesehen, mit dem er gebracht wurde. Sie schienen nicht gerade viel Geld zu haben. Außerdem musste seine Mom am Samstag bis zum Abend arbeiten. Auch ein Indiz, dass sie das Geld brauchten.
»Gabriel. Das musst du nicht. Ich habe Geld mitbekommen, um zu bezahlen. Bitte lass’ mich meine Karte selbst kaufen.«
Das gefiel ihm nicht, wie ich ihm deutlich ansehen konnte, doch ich merkte auch, dass es ihm im Grunde auch recht war, er wollte es nur nicht zugeben. Wie könnte ich es ihm denn einfacher machen?
»Gabriel, bitte. Ich muss darauf bestehen. Meinen Eltern würde das nicht gefallen.«
Dieses Argument musst er einfach akzeptieren. Er wollte mir ja schließlich keinen Ärger machen. Also gab er nach und ich war sehr erleichtert. Danach holten wir uns noch Cola und Popcorn und gingen zu unseren Plätzen.
Wir saßen ziemlich in der Mitte des noch nicht mal halb vollen Kinos. Vor und neben uns war niemand und so konnte ich problemlos meine Jack neben mir ablegen. Ich stellte meine Cola auch gleich in den Halter rechts von mir und er machte es links von sich. Somit war nichts zwischen uns, das uns stören könnte. Lediglich der kleine Popcorn-Eimer auf seinem Schoß sollte sich schon bald als hinderlich herausstellen.
Schon kurz nachdem wir uns hingesetzt hatten, wurde es dunkel und der Vorhang vor der Leinwand geöffnet. Es folgten rund zwanzig Minuten Werbung, in denen Gabriel immer versuchte zu erraten, für was hier Werbung gemacht wurde, bevor der Firmenname erschien. Das war zwar ein albernes Spiel, aber das war mir vollkommen egal, weil er schließlich mit mir redete und ich seiner schönen Stimme lauschen durfte. Er hätte genauso gut aus “Aufstieg und Niedergang der römischen Welt” vorlesen können, ich wäre nicht weniger glücklich gewesen.
Dann fing der Film an und die Unterhaltung endete ziemlich schnell. Jetzt hörte ich nur noch sein Atmen, das Rascheln des Popcorns, dass er in regelmäßiger Bewegung zu seinem Mund führte und selbstverständlich das anschließende Kauen. Er bot mir natürlich auch Popcorn an, aber ich lehnte ab. Ich war noch von der Jagd vollkommen satt und außerdem waren es keine aufgeplatzten Maiskörner, die ich an meinen Lippen spüren wollte.
Nach etwa fünf Minuten fing ich allerdings an, an meinem Entschluss zu zweifeln. Seine rechte Hand, die doch eigentlich meine halten sollte, war unaufhörlich damit beschäftigt, eine Ladung Knabberkram nach der anderen in seinen Mund zu befördern. Das war so was von dämlich. Ich wollte ihn doch berühren und mich ihm nahe fühlen. Ja, er saß direkt neben mir und ich roch seinen Duft, doch ich wollte mehr. Vielleicht sollte ich ihm ja doch beim Essen helfen, damit der blöde Eimer endlich leer wird und seine Hand einer sinnvolleren Beschäftigung nachgehen konnte. Was würde er wohl sagen, wenn ich mir das Zeug eilig in dem Rachen stopfen würde? Er hatte ja keine Ahnung, wie viel ich in wenigen Sekunden verdrücken konnte. O.K. Das wäre meiner Tarnung sicherlich nicht zuträglich, aber sein verdutztes Gesicht wäre bestimmt lustig.
Von meinen eigenen Gedanken amüsiert, grinste ich vor mich hin. Gabriel deutete das wohl so, als würde mir der Film gefallen, dabei achtete ich kaum auf das, was da vorne lief. Ich wollte etwas ganz Anderes und wusste nicht, wie ich es bekommen könnte. Sollte ich einfach warten, bis das Popcorn alle war? Das könnte bei der Menge ja ewig dauern. Nein, ich hielt es einfach nicht mehr aus und wollte ihn jetzt endlich wieder berühren. Dann hatte ich glücklicher Weise eine Idee, wie ich das anstellen könnte.
Vorsichtig veränderte ich meine Sitzposition, so dass ich ihm seitlich zugeneigt war. Dann, ganz langsam, ließ ich meinen Kopf auf seine Schulter sinken. Ich bemerkte, wie er leicht zusammenzuckte und offensichtlich irritiert von meiner Aktion das Essen vergessen hatte. Dann, ein paar Sekunden später, spürte ich seinen Kuss auf meinem Kopf und gleich darauf, wie er seinen an meinen lehnte. Ich hörte, wie er tief einatmete. Dabei drehte er ganz leicht den Kopf zu mir. “Er schnuppert an mir”, dachte ich vergnügt. Durch mein Ohr an seiner Schulter konnte ich eine Beschleunigung seines Herzschlages wahrnehmen. Das war so schön. Er war wohl genauso aufgeregt wie ich. Auch sein Duft schien sich zu verstärken, zumindest konnte ich ihn jetzt noch intensiver riechen und ich mochte es total.
Plötzlich nahm seine Hand wieder den Betrieb auf, packte etwas Popcorn mit den Fingerspitzen und führte es dann überraschender Weise zu meinen Lippen. Begeistert von der Idee, mich füttern zu lassen, öffnete ich bereitwillig den Mund und er legte vorsichtig das süße Knabberzeug in meinem Mund ab. Dabei berührten seine Finger meine Lippen, was einen leichten Schauer auslöste.
Der Geruch des Süßkrams hatte leider den vorhin noch vorhanden leicht herben Duft seiner Hand inzwischen überdeckt. Das tat dem Geschmack aber keinen Abbruch. Ein kaum wahrnehmbarer Hauch von ihm, vermischte sich mit dem Popcorngeschmack und ich genoss es. Von da an ging seine Hand immer abwechselnd zu seinem und meinem Mund und jede neue Berührung war wie ein klitzekleiner Vorgeschmack auf den Kuss, den ich mir ersehnte.
Mir gefiel die Situation sehr. Ich spürte seine Nähe, hatte seinen Duft in der Nase, schmeckte ihn ein wenig über seine Finger und fühlte mich sehr glücklich. Gerne würde ich ihm zeigen, wie wohl ich mich fühlte. Natürlich konnte ich meine Gabe nicht einsetzten, was ich sehr schade fand, doch ich wollte es ihm unbedingt auf irgend eine Weise zeigen. Ich kuschelte mich noch ein wenig besser an seine Schulter und dann nahm ich meine rechte Hand, die ich bis dahin nur auf der Armlehne zwischen uns abgelegt hatte und streichelte ihm sanft über das Gesicht. Dann ließ ich die Hand beim zurückziehen ganz leicht nach unten über seine Brust gleiten und legte sie wieder zurück auf die Armlehne. Fasziniert stelle ich fest, dass er bei meiner Berührung scharf Luft einzog und dass sich seine Muskeln anspannten, was ich deutlich an dem leichten Anheben seiner Schulter spüren konnte. Auch sein Herzschlag beschleunigte sich spontan wieder. Ich fragte mich, wie ich wohl reagiert hätte, wenn er das Gleiche bei mir gemacht hätte. Wenn seine Hand ganz leicht über meine Brust gestreift wäre. Der Gedanke bescherte mir prompt eine Gänsehaut, ein Ziehen im Busen und ein Kribbeln im Bauch.
Ich wiederholte die Zärtlichkeit im Abstand von vielleicht fünf Minuten noch drei Mal, als er dann überraschend meine Hand ergriff, sie an der Innenseite auf das Handgelenk küsste und sie sich dann seitlich gegen den Hals presste. Auch das fühlte sich faszinierend an. Unter meinen Fingern konnte ich überdeutlich seinen Puls fühlen. Ich spürte, wie das Blut in einem endlos erscheinenden Strom durch seinen Körper gepumpt wurde und wie es magisch meine Aufmerksamkeit auf sich zog.
Ich ließ meine Hand dort liegen, auch als er seine wieder von meiner gelöst hatte. Sanft streichelte ich mit dem Daumen die Konturen seiner Halsschlagader nach. Die Haut dort war so zart und dünn. Tief atmete ich seinen Duft ein und ließ mich von ihm verführen. Ich war total gefesselt von dem Augenblick. Es kribbelte mich am ganzen Körper und meine Sinne waren sehr geschärft, was mir sehr recht war, da ich seine Gegenwart dadurch so viel intensiver wahrnehmen konnte.
Nach einiger Zeit, etwa zur Mitte des Films, bekam ich allmählich immer mehr Durst und richtete mich wieder auf, um etwas zu trinken. Gabriel stellte bei der Gelegenheit gleich den Popcorn-Eimer auf den Boden. Er war zwar noch nicht leer, aber offensichtlich hatte er genug gegessen.
Als ich mich wieder an seine Schulter anlehnen wollte, viel mir auf, dass er den Arm ausgestreckt und über meine Rückenlehen gelegt hatte. Ich war kurz verunsichert, ob er jetzt vielleicht die Position verändert hatte, weil er nicht mehr wollte, dass ich meinen Kopf bei ihm anlehnte, doch ich wollte es unbedingt und versuchte es einfach. Mit großer Freude stellte ich dann fest, dass er wohl geradezu darauf gewartet hatte, denn er legte sofort den Arm um meine Schulter und streichelte meinen Oberarm.
Wieder spürte ich ein intensives Kribbeln, da ich seine Hand direkt auf der Haut spüren konnte, da mein Oberteil an den Schultern ja nur von kleinen Bändchen zusammengehalten wurde und somit leicht geöffnet war. Außerdem waren die Ärmel recht kurz, so dass er mich bei Streicheln unweigerlich direkt berühren musste. Hinzu kam, dass aufgrund seines angehobenen Armes, sein Duft nun sehr viel stärker verströmte. Als ich das bemerkte, atmete ich sehr tief ein, um kein einziges Molekül zu verschwenden. Es war berauschend und unglaublich anregend. Ich konnte gar nicht genug davon bekommen. Ich streichelte ihn auch immer wieder über das Gesicht, den Hals und die Brust, was jedes Mal seine Atmung und seinen Herzschlag beschleunigte und seinen Duft zusätzlich verstärkte. Einfach Wahnsinn.
Als der Film dann endete, bekam ich es erst gar nicht mit. Erst als er mich noch mal auf mein Haar küsste und mir leise zuflüsterte, dass wir jetzt wohl gehen müssten, bemerkte ich es. Es fiel mir sehr schwer, mich von ihm zu lösen und es kostete mich viel Kraft, mich dazu durchzuringen.
Schwer seufzend stand ich schließlich auf, zog schnell meine Jacke an und nahm seine Hand. Ich sah ihm in die Augen und er lächelte mich so unglaublich glücklich an, dass es mir automatisch auch die Mundwinkel nach oben zog. Dann gingen wir hinaus.
Vor der Tür schaute er erst auf seine Armbanduhr und dann wieder in mein Gesicht.
»Es ist viertel nach zehn.
Wann wirst du denn abgeholt?«
»Oh… ich soll
nach dem Kino anrufen … und du?«
»Meine Mutter
holt mich um elf ab.«
»Und was machen wir so
lange?«
»Wir? … Sagtest du nicht, dass du zu
Hause anrufen sollst?«
Ȁh, ja, aber ich will
noch nicht.«
Gabriel lachte leise und streichelte mein Gesicht. Oh man, davon konnte ich einfach nicht genug bekommen. Jede seiner Berührungen verstärkte immer wieder das Fliegen der Schmetterlinge in meinem Bauch. Ich fühlte mich, als würde ich von Wolken getragen, so schwerelos und frei. Ich wollte einfach nur in seine Arme fliegen und wieder seinen Duft einatmen und ihn streicheln.
»Aber Nessie, wenn du deswegen Ärger bekommst. Das will ich nicht. Ich meine, ich will auch nicht, dass du jetzt gehen musst, aber du solltest wirklich anrufen.«
Ja, ich wusste, dass er recht hatte und ich fügte mich meinem Schicksal. Mein Handy war schnell aus der Handtasche herausgefischt und gleich nach dem Wählen von Dads Nummer an meinem Ohr.
»Nessie? Alles in
Ordnung?«
»Ja Dad, hallo. Der Film ist jetzt aus und
Gabriel wird erst um elf abgeholt, darf ich bitte so lange noch mit
ihm hier bleiben?«
Er seufzte.
»Du hast alles unter
Kontrolle?«
»Ja Dad. Ich hab’s doch
versprochen.«
»Also gut. Dann um elf vor dem
Kino.«
»Danke Daddy, ich hab dich lieb.«
»Ich
dich auch Schatz.«
»Er hat’s erlaubt. Er kommt
auch erst um elf. … Und was machen wir jetzt?«, fragte
ich ihn breit grinsend.
»Magst du spazieren gehen? Dort um
die Ecke ist ein kleiner Park.«
»Ja, gerne.«
Hand in Hand gingen wir zu der Grünanlage und schlenderten einfach so herum. Es war herrlich. Ich war noch immer berauscht von seinem Duft und glücklich, seine Hand zu halten. Alle meine Sorgen war wie weggeblasen. Alles was ich wollte, war hier. Nach einer Weile, vielleicht zehn Minuten, ließ er plötzlich meine Hand los und riss mich damit aus meiner heilen Welt. Leicht entsetzt blickte ich ihn fragend an. Was hatte ich denn getan, dass er plötzlich meine Hand nicht mehr halten wollte?
Er bemerkte meinen Blick und erwiderte ihn. Die Finger, die noch eben mit meinen verschränkt waren, wurden von ihm mit der anderen Hand massiert. Hatte ich ihm weh getan? Oh Gott, bitte nicht. Ich bekam einen Anflug von Panik. Ich hatte die Kontrolle verloren und ihn verletzt. Vermutlich einfach zu fest gedrückt.
»G-Gabriel, … ist
alles in Ordnung?«, fragte ich mit zittriger Stimme.
»Was?
… Ja schon … Deine Hand ist nur irgendwie immer so
heiß.«
Oh nein, nicht das. Das konnte ich nicht kontrollieren. Augenblicklich war ich den Tränen nah. Was sollte ich da nur tun?
»Es tut mir leid. Ich kann
nichts dafür.«
»Das muss dir doch nicht leid tun,
Nessie.«
Kaum, dass er das gesagt hatte, drehte er sich ganz zu mir und zog mich in seine Umarmung.
»Ich liebe dich Nessie. Mir tut es leid, dass ich deine Hand loslassen musste. Das ist das Letzte, was ich will.«
Dann drückte er mich an sich und küsste mich wieder auf den Kopf. An seine Brust gekuschelt, vergaß ich meinen Anflug von Trauer. Wieder nahm ich seinen berauschenden Duft intensiv war. Ich hörte das Rauschen seines Blutes und das starke klopfen seines Herzens, das mich geradezu hypnotisierte. Ich hob leicht den Kopf an und streifte dabei mit der Nase leicht über seinen Hals. Das Pochen der dicken Ader an seinem Hals zog meinen Blick auf sich. Meine Lippen bewegten sich wie ferngesteuert zu dieser Stelle. Ich musste schlucken. Mein Hals war rau und trocken und brannte etwas. Ich sehnte mich danach, meine Lippen genau auf diese Stelle zu drücken.
Dann plötzlich spürte ich seine Hand an meinem Kinn, die versuchte, meinen Kopf anzuheben. Was sollte das? Ich wollte nicht weg von dieser Stelle. Er drückte nur ganz leicht, doch ich gab nicht nach. Er hätte auch mit aller Kraft drücken können, doch hätte das nichts daran geändert.
»Nessie?«, hörte ich ihn zaghaft sagen.
Seine Stimme war ähnlich faszinierend wie diese pochende Stelle unter der zarten Haut. Hin und her gerissen, erlaubte ich schließlich doch der Hand, meinen Kopf zu heben. Im Gegenzug senkte er seinen Kopf und plötzlich waren seine Lippen ganz dicht vor meinen.
Wollte er mich küssen? Jetzt? Ausgerechnet jetzt, wo ich doch viel lieber seinen Hals gekostet hätte. Diese Stelle versprach so viel köstlicher zu sein, als seine Lippen.
Was dachte ich denn da? Da sehnte ich mich Tag für Tag danach, endlich einen ersten Kuss von ihm zu bekommen und dann, in dem Moment, da mein Wunsch in Erfüllung zu gehen schien, wollte ich plötzlich seinen Hals kosten?
Oh mein Gott. Ich erkannte plötzlich, dass ich in größter Gefahr schwebte, die Kontrolle zu verlieren und bekam Panik. Seine Lippen warteten immer noch unmittelbar vor meinen auf die Annahme des Kussangebotes.
Verdammt, ich konnte das jetzt nicht. Wenn ich ihn jetzt küssen würde, dann würde ich bestimmt alles um mich herum vergessen. Das Risiko war zu groß. Ich konnte es nicht. Ich wollte es so sehr, doch ich konnte nicht. Es hätte ihn in Gefahr gebracht.
Die innere Zerrissenheit entlud sich plötzlich mit einem Schluchzen und dem Fließen von Tränen. Ich senkte den Kopf und überwand leicht den schwachen Gegendruck seiner Finger an meinem Kinn. Dann presste ich das Gesicht an seine Brust.
»Nessie? … Was hast
du denn?«, fragte er besorgt.
»Es … tut …
mir … leid … Gabriel. Ich … würde dich …
gerne … Küssen … aber ich … kann nicht.«
Meine ganze Trauer und Verzweiflung brachte meine Stimme zum zittern.
»Jetzt wein’ doch nicht. … Nessie bitte … ich wollte doch nicht… Es tut mir leid.«
Er hielt mich im Arm und streichelte mir sanft über das Haar und den Rücken. Allmählich beruhigte ich mich wieder, doch lag die Enttäuschung über mich selbst jetzt wie ein schwerer Stein in meinem Bauch. Kein Schmetterling konnte dagegen etwas unternehmen. Jegliches Glücksgefühl schien gerade zerquetscht worden zu sein. Unsicher schaute ich wieder nach oben in sein besorgt dreinblickendes Gesicht.
»Gabriel? … Verzeih
mir bitte. … Ich weiß nicht, wie ich das erklären
soll. Ich liebe dich. Ich möchte dich eigentlich auch küssen,
aber…«
»Ist gut, Nessie. Ich kann warten, bis
du soweit bist.«
Toll. Tagelang wollte ich das und dachte, er traute sich nicht und jetzt, wollte er und ich traute mich nicht. Das war doch total bescheuert.
»Komm Nessie, es ist zehn
vor elf. Lass’ uns zurück gehen und das hier vergessen.«
Pünktlich um elf Uhr fuhren Jasper und Dad vor. Ich umarmte Gabriel zum Abschied, doch ich konnte ihm noch nicht einmal einen Kuss auf Wange geben. Ich stieg ein und vermied es, die beiden anzusehen. Ich konnte es im Augenblick einfach nicht. Jazz fuhr direkt los und auch meine Tränen machten sich auf den Weg.
So hatte ich mir diesen Abend nicht vorgestellt. Alles hatte so perfekt begonnen und dann dieses niederschmetternde Ende. Ich zeigte Dad meine Erlebnisse, damit er sich nicht alles bei meinen sprunghaften Gedanken zusammenreimen musste. Allerdings bat ich ihn, jetzt nichts dazu zu sagen. Auch Jasper erhielt die selben Informationen, gleich nachdem wir zu Hause angekommen waren. Während der Fahrt wollte ich ihn nicht mit einer Übertragung ablenken und so musste er meine traurige Stimmung ertragen, ohne zu wissen, was der Grund war. Sicherlich hätte ich ihn einfach bitten können, mich aufzumuntern, doch das wollte ich nicht. Nein, ich wollte das so fühlen, wie es eben gerade echt war, auch wenn es sehr weh tat.
Mom erwartete mich schon, doch ihr Lächeln erstarb bei meinem Anblick. Bevor sie nach dem Grund fragen konnte, zeigte ich es ihr auch schon. Danach nahm sie mich gleich tröstend in den Arm, doch auch das wollte ich jetzt nicht. Ich wollte einfach nur alleine sein. Also schüttelte ich nur den Kopf, ging in mein Zimmer, machte mich bettfertig und legte mich schlafen. Der Schlaf kam nicht sofort, sondern ließ sich Zeit. Erst nachdem meine Tränen keinen Nachschub mehr erhielten und ich schließlich vollkommen erschöpft war, gewährte mir meine Körper diese Gnade.
Es war schon recht hell, als ich erwachte. Ich blinzelte in Richtung Fenster und bemerkte den blauen Himmel. Machte sich Mutter Natur über mich lustig oder wollte sie mich mit dem schönen Wetter trösten? Mein noch etwas trüber Blick wanderte durch mein Zimmer und blieb an der Kommode mit den Wolfsfiguren hängen.
Jacob hatte mich heute Nacht in meinen Träumen besucht. Es war schön, ihn mal wieder zu sehen, denn das war jetzt schon eine ganze Weile nicht mehr passiert. In meinem Traum tröstete er mich und sprach mir gut zu, dass ich das schon alles schaffen würde, wenn ich nur an mich glaubte. Ich wäre doch schließlich sein tapferes kleines Halbvampirmädchen. Nur seine Stimme war merkwürdig. Ich konnte mich nicht mehr so genau an sie erinnern. Es war einfach schon so lange her, dass ich sie gehört hatte. Da war nur noch eine leichte Vorstellung davon, aber die war nicht stark genug, um ihren Klang perfekt zu simulieren. Ich würde sie sicherlich sofort erkennen, wenn ich sie hörte, aber so? Das war so traurig. Ich hatte das Gefühl, ein weiteres Stück von meinem früheren Freund verloren zu haben und das tat mir richtig weh. Wie gerne würde ich mich mit ihm unterhalten. Er könnte sich doch auch bestimmt besser als die Anderen in Gabriel hinein versetzen. Ob er inzwischen eine Freundin hatte? Die Glückliche. Einen besseren Freund als Jacob kann man sich wohl kaum vorstellen.
Seufzend stand ich auf und ging ins Bad, machte mich frisch und zog mich an. Was Gabriel jetzt wohl machte? Sicherlich war er sehr enttäuscht von dem Ende des gestrigen Abends. Wie sollte ich ihm das jemals erklären können? Gut, das Wichtigste war, dass ihm nichts passiert war. Ich konnte mich zurückhalten und darauf war ich sogar ein kleines bisschen stolz und es machte mir Mut. Wenn ich es schaffte, mich in einer solchen Situation von ihm zu lösen, dann müsste doch irgendwann auch mehr möglich sein. Die Hoffnung auf den Kuss wollte ich jedenfalls nicht aufgeben. Das musste ich einfach schaffen können.
Ich hörte ein Klopfen an der Tür und nahm plötzlich auch einen ziemlich starken Essensduft wahr.
»Ja, bitte?«
»Ich
bin’s, darf ich ‘reinkommen?«
»Klar Mom.«
Sie öffnete die Tür und trat ein. Auf ihrer rechten Hand balancierte sie ein Tablett mit allerlei Frühstücksleckereien. Waffeln mit Ahornsirup, Rühreier mit Speck, Fruchtsalat und Toasts.
»Äh? Mom? …
Was hat das zu bedeuten?«
»Ach Sternchen. Ich dachte,
nach gestern … da könntest du vielleicht ein bisschen
Aufmunterung vertragen … und da dachte ich … Frühstück
im Bett?«
Ich war vollkommen überrascht und wusste nicht so recht, was ich sagen sollte. Das war so nett von ihr. Es musste sie doch einige Überwindung gekostet haben, das alles zu kochen und es jetzt auch noch zu riechen. Gut, im Moment hielt sie die Luft an, aber wenn sie mit mir reden wollte, müsste sie es riechen und sie sah eindeutig so aus, als ob sie mit mir reden wollte.
»Aber ich bin doch schon
angezogen.«
»Oh!? … Ja natürlich ... Dann
bringe ich es wieder in die Küche.«
Mom schien enttäuscht zu sein. Das wollte ich nun gar nicht. Es war doch so eine nette Geste von ihr.
»Nein, warte kurz.«
Schnell flitzte ich ins Badezimmer, zog wieder meinen Schlafanzug an und hüpfte in mein Bett.
»Kann los gehen!«, sagte ich und grinste sie an.
Sie ließ sich auch nicht lange bitten und kam ebenfalls grinsend auf mich zu, klappte die Standbeine unter dem Tablett auf und stellte es über meinem Schoß ab.
»Dann lasse es dir schmecken, Schatz.«
Genüsslich machte ich mich über die Waffeln her. Ich hatte schon lange kein frisch zubereitetes warmes Frühstück mehr gegessen. Es war eine schöne Abwechslung.
»Danke Mom, dass ist so
nett von dir.«
»Habe ich doch gerne für dich
gemacht.«
Sie lächelte mich liebevoll an und setzte sich am Fußende im Schneidersitz auf das Bett. Offensichtlich vermied sie es immer noch zu atmen, denn sie redete kein Wort, obwohl sie den Eindruck auf mich machte, dass sie sich wahnsinnig gerne mit mir unterhalten hätte. Ich konnte mir gut vorstellen worüber, doch ich wollte mir davon nicht meine augenblickliche gute Laune verderben lassen. Außerdem wäre es vielleicht ganz gut, wenn ich mit ihr darüber reden würde.
»Also wenn du mit mir reden willst, Mom, dann schieß' los. Wir können aber auch warten, bis ich fertig gegessen habe, wenn dich der Geruch so stört.«
»Nein, das ist es nicht, Liebling. Der Geruch ist nicht sooo schlimm. Ich weiß nur nicht, ob du reden willst. … Willst du denn?«
Ich lächelte sie mit vollem Mund an, zeigte mit dem Finger auf meine Wange und machte übertriebene Kaubewegungen, so dass sie leicht anfing zu kichern. Dann schluckte ich und sprach sie an.
»Ich stecke in einem
Dilemma, Mom.«
»Was meinst du?«, fragte sie
besorgt.
»Na ja, ich will mit dir reden, aber auch essen, so
lange es noch heiß ist.«
Wieder hatte sie ein
glückliches Lächeln auf den Lippen.
»Dann iss mal
schön, Schatz. Reden können wir danach so viel du willst.«
Nachdem auch die Rühreier und die Toast in meinem Magen verschwunden waren, stellte ich das Tablett auf die Seite und stand auf, um ein paar Fenster zum Auslüften zu öffnen. Dann hüpfte ich in die Kuhle ihres Schneidersitzes und kuschelte mich an sie. Instinktiv zog sie meine Decke heran, um mich einzupacken, als ob mir ihr kühler Körper etwas ausmachen würde. Das war natürlich albern, aber dennoch genoss ich ihre Fürsorge.
»Hast du mit Dad darüber geredet, was mir gestern passiert ist?«
Sie atmete tief durch und fuhr mir dabei mit den Fingern durch das Haar.
»Ja, habe ich … und
auch mit Jasper … und Rosalie … und Alice … und
Emmett …«
»Du hast mit allen darüber
gesprochen?«, sagte ich überrascht.
»Nun ja,
Schatz, wir haben sozusagen die ganze Nacht über nichts anderes
geredet.«
»Und?«
»Was “und”?«
»Na,
zu welchem Urteil seid ihr gekommen?«
»Urteil? Schatz,
du stehst doch nicht vor Gericht. Wir haben doch nur überlegt,
wie wir dir helfen können, wenn du überhaupt unsere Hilfe
willst.«
»Ich weiß es nicht, Mom. Das gestern
war hart, aber es ist ja zum Glück nichts schlimmeres passiert.
Ich liebe Gabriel noch immer so sehr und wünsche mir nach wie
vor einen Kuss von ihm. Einen richtigen Kuss. Doch jetzt habe ich
Angst, dass ich den nie bekomme, aber ich will keine Angst haben. Ich
will das schaffen.«
»Und ich bin mir sicher, dass du
das schaffst«, sagte sie und küsste mich dabei auf den
Kopf.
»Da bist du bestimmt die Einzige«, meinte ich
seufzend.
»Aber wie kommst du denn darauf? Edward ist
mächtig stolz auf dich.«
»Wirklich?«
»Er
kann besser als alle Anderen nachfühlen, wie schwer es für
dich gewesen sein muss. Du hast die Gefahr erkannt und das einzig
Richtige gemacht, um Gabriel zu schützen.«
Dad war stolz auf mich? Cool.
»Und Jasper?«, fragte ich unsicher.
Mom antwortete nicht sofort, was bei mir die Alarmglocken läuten ließ. Es wäre ja auch zu schön gewesen, wenn Jasper mein Verhalten ebenfalls gut gefunden hätte.
»Weißt du, Sternchen, Jasper bewertet das Ganze, nun ja, etwas nüchtern. Er meint noch immer, dass du deine Emotionen viel zu wenig kontrollieren kannst. So wie er das sieht, hast du es lediglich geschafft, eine Emotion gegen die andere auszuspielen, weil sie annähernd gleich stark waren. Er ist natürlich froh, dass du das geschafft hast, aber er sieht nach wie vor die Gefahr.«
Ja, das wunderte mich nicht. Er sprach schließlich nur das aus, was ich auch befürchtete. Ein Konkurrenzkampf zwischen Durst und Liebe. Die erste Runde hatte jedenfalls die Liebe gewonnen und so sollte es auch bleiben.
»Da hat Jasper wohl nicht unrecht, Mom. Ich empfinde es auch so. Hoffentlich ist Gabriel nicht verärgert. Ich kann kaum erwarten, ihn morgen wieder in der Schule zu sehen.«
Mom seufzte leicht und schluckte. Ich sah ihr ins Gesicht und erkannt sofort, dass sie sehr besorgt zu sein schien. Das hatte nichts Gutes zu bedeuten.
»Was ist los,
Mom?«
»Liebling, … es tut mir leid …
aber Alice hat gesehen, dass wir die nächsten zwei Tage schönes
Wetter haben werden. So wie heute.«
»Was? …
Dann geht ihr nicht in die Schule?«
Ȁhm, wir
gehen nicht in die Schule, Schatz. Wir alle.«
»Aber
warum denn? Bei mir macht das doch nichts aus. Ich kann doch alleine
gehen. Es muss mich auch niemand fahren. Ich kann laufen.«
»Nessie,
bitte. Das geht nicht. Versteh’ doch. Wir können dich
nicht alleine gehen lassen. Wenn etwas passiert…«
»Aber
ich passe doch auf. Ehrlich. Bitte, ich will in die Schule
gehen.«
»Oh, Sternchen. Bitte, verlange das nicht von
mir.«
»Nein. Bitte Momma. Was habe ich denn davon, so
gut getarnt zu sein, wenn ich trotzdem bei schönem Wetter zu
Hause bleiben muss? Bitte, ich will zu Gabriel.«
»Du
darfst ja auch wieder zu ihm. Aber erst am Mittwoch.«
»Aber
da verpasse ich ja Musik und Spanisch mit ihm. Das sind meine
Lieblingsfächer.«
»Schatz, es tut mir leid. Wir
haben besprochen, dass wir es als eine leichte Lebensmittelvergiftung
ausgeben werden und dass die ganze Familie davon betroffen ist.«
»Das
ist unfair. Ich habe das gar nicht mit besprochen. Warum kann ich
denn nicht etwas Anderes gegessen haben und als Einzige gesund sein?
Dann könnte ich doch in die Schule.«
»Liebling.
Wie würde das denn aussehen? Du läufst alleine in die
Schule? Das sind gut fünf Meilen. Für dich natürlich
kein Problem aber für ein menschliches Mädchen, dass so
etwas nicht gewohnt ist?«
»Ich kann ja ein Taxi
nehmen. Bitte Momma. Erlaub es mir doch.«
»Nein
Renesmee, das kann ich nicht machen. Ich würde umkommen vor
Sorge. Es tut mir leid, aber das geht nicht.«
Sie sagte es zwar mit Mitgefühl, aber auch mit Entschlossenheit. Meine Chancen sie umzustimmen waren gleich Null. Schlagartig war ich total frustriert und krabbelte von ihrem Schoß herunter an das Kopfende des Bettes und sah sie missmutig an.
»Das ist gemein!«, sagte ich gleichermaßen traurig wie verärgert.
Meine Stimme zitterte leicht und ich spürte, dass ich den Tränen nahe war. Mom sah mich bedauernd an und legte seufzend die Hände in den nun wieder leeren Schoß. Ich wusste natürlich, dass es ihr nicht leicht gefallen war, mir das zu sagen und dass es ihr weh tat, wenn ich mich von ihr abwandte.
Dann machte sie eine Bewegung auf mich zu und ich ahnte, dass sie mich tröstend in den Arm nehmen wollte, doch das konnte ich jetzt nicht zulassen. Auch wenn es ungerecht war, so war ich doch trotzdem sauer auf sie.
»Lass’ mich bitte alleine, Mom.«
Sie stockte in ihrer Bewegung und schaute mir flehend in die Augen, doch ich richtete meinen Blick weg von ihr und verschränkte die Arme vor der Brust. Eine Träne stahl sich aus meinen Augen und suchte ihren Weg über meine Wange, wie ein gemeiner Dieb in der Nacht, doch ich weigerte mich, jetzt eine Reaktion zu zeigen oder anzufangen zu schluchzen.
»Es tut mir leid, Liebling. Das musst du mir glauben«, sagte sie leise und vorsichtig, doch ich beachtete sie nicht. Ich konnte es nicht. Meine Gedanken waren jetzt nur bei Gabriel. Erst dieses Unglück bei meinem Date und dann zwei Tage Schulverbot? Selbst wenn er mir nicht böse war, so mussten wir gestern doch traurig auseinander gehen und jetzt hatte ich keine Chance es wieder irgendwie gut zu machen. Da musste er doch noch enttäuschter von mir sein und ich hatte Angst, dass uns das noch stärker trennen würde. Oh Himmel, was konnte ich nur tun?
Mom nahm seufzend das Tablett und verließ mein Zimmer. Ich bemerkte, dass sie mir noch mal einen sehnsüchtigen Blick zuwarf, doch ich konnte ihn nicht erwidern. Dann schloss sie die Tür und ich ließ mich auf das Bett fallen und meinen Tränen freien Lauf.
Nach einigen Minuten ließ meine Trauer wieder nach und mein Verstand tat das, wofür er da war und fing an zu arbeiten. Verdammt, wenn ich nicht bald aufhören konnte, ständig zu weinen, dann würde ich bald in einem Wasserbett schlafen müssen. Das war so dämlich. Mom konnte doch schließlich nichts für das Wetter und Gabriel würde mich doch nicht aufhören zu lieben, nur weil ich eine Lebensmittelvergiftung hätte. Das war doch vollkommen absurd.
Ich beschloss, mich nicht mehr so gehen zu lassen und mich bei Mom zu entschuldigen. Das war ihr gegenüber total unfair gewesen, was ich gemacht hatte. Sie war so nett und brachte mir sogar Frühstück ans Bett, damit ich mich wieder wohler fühlte und ich war so … bescheuert.
Nachdem ich mich wieder umgezogen hatte, verließ ich mein Zimmer und machte mich auf die Suche nach Mom. Zuerst klopfte ich an ihrer Zimmertür an.
»Mom? Bist du da?«, fragte ich vorsichtig.
Dann spürte ich einen Windhauch und wie aus dem Nichts stand sie plötzlich neben mir.
»Ja Schatz?«, sagte
sie und schaute mich hoffnungsvoll an.
»Wow. Wo kommst du
denn auf einmal her?«
Ȁhm, aus dem Wohnzimmer.
Du hast mich doch gerufen, oder?«
»Mein Gott, hast du
gute Ohren. Die sind definitiv besser als meine.«
»Dann
wolltest du jetzt gar nicht, dass ich zu dir komme?«, fragte
sie enttäuscht.
»Was? … Doch natürlich. …
Mom, es tut mir leid. Das vorhin war total daneben.«
»Ach
Sternchen.«
Glücklich lächelnd nahm sie mich fest in den Arm und ich drückte sie ebenfalls. Dann küsste sie mich auf die Wange und streichelte gleich danach auf der anderen Seite mein Gesicht. In dem Moment war schon wieder alles vergeben und vergessen. Ob es mit Gabriel auch so einfach sein könnte?
Da ich mich nun mit meinem Schicksal so halbwegs abgefunden hatte, ging ich mit Mom hinunter und versuchte gute Mine zum bösen Spiel zu machen. Es klappte ganz gut und da mich alle ziemlich bedauernd ansahen, fühlte ich mich tatsächlich auch etwas getröstet. Diese Familie war einfach immer für mich da und sorgte sich ständig um mein Wohlergehen, auch wenn es manchmal etwas lästig war. Irgendwie hatte ich nicht nur ein Elternpaar, sondern gleich vier.
Rosalie war die Erste, die sich nicht länger zurückhalten konnte und zu mir kam, um mich in ihre Arme zu schließen. Sie sagte mir natürlich, dass es ihr schrecklich leid für mich tat, dass mein Date so unglücklich endete, aber dass ich deshalb den Kopf nicht hängen lassen sollte, denn es würde sich alles bestimmt wieder einrenken. Dann kam auch Alice zu mir und entschuldigte sich für das Wetter, was ja nun wirklich totaler Blödsinn war. Ich mochte es ganz und gar nicht, dass sie so bedrückt aussah. Wenn man sich auf etwas verlassen konnte, dann darauf, dass Alice fröhlich war, doch jetzt war ihr Gesicht besorgt und das sollte es nicht sein. Ich dachte darüber nach, was ich dagegen unternehmen könnte und tatsächlich kam mir eine Idee.
»Alice? Hast du eigentlich
schon etwas für meine Party am Samstag geplant?«
»Deine
Party?«, fragte sie überrascht, doch schon mit einer
deutlichen Spur von Lächeln auf dem Gesicht. »Natürlich.
Die wird ganz toll. Versprochen.«
»Aber was hast du
denn geplant?«
»Nein, nein, nein, das wird jetzt nicht
verraten. Das soll eine Überraschung werden.«
»Aber
Alice, ich habe doch überhaupt keine Ahnung von Partys. Kannst
du mich nicht ein bisschen darauf vorbereiten?«
Der Gedanke, mir Nachhilfestunden auf diesem Gebiet zu geben, schien ihr zu gefallen und ich erhielt auch sofort eine Lektion, wie man sich als Gastgeber zu verhalten hätte, wobei sie mir auch gleich versprach, sich selbst um alles zu kümmern, damit ich mich richtig amüsieren könnte. Rosalie und Emmett beteiligten sich ebenfalls an der Unterhaltung und schienen ihrerseits auch sehr aufgeregt zu sein, wie mir wohl meine erste richtige Fete gefallen würde. Dann meinte Emmett noch, dass Gabriel sich sicherlich auch schon sehr darauf freuen würde, mit mir zu tanzen.
»Tanzen!?«, frage
ich leicht entsetzt. Ich konnte doch gar nicht tanzen. Ja, alleine
natürlich schon, falls es als Tanzen galt, sich einfach so zur
Musik zu bewegen, aber mit einem Jungen? Mit Gabriel?
»Ja
was hast du denn gedacht, was auf einer Teenager-Party gemacht
wird?«, fragte mich Alice überrascht.
»A-A-Aber
ich kann das doch gar nicht.«
Alice blickte mich ungläubig
und verwirrt an und Rosalie schüttelte grinsend den Kopf.
»Süße,
du kannst tanzen. Das haben wir alle schon zig mal gesehen.«
»Aber
ich habe doch noch nie mit einem Jungen getanzt«, sagte ich
kleinlaut.
»Also das ist heutzutage echt kein Problem mehr«,
meinte Alice. »Das ist eigentlich wie voreinander alleine
tanzen. Die klassischen Varianten werden ja leider nicht mehr
geschätzt.«
»Klassische Varianten«, gab
Emmett schnaubend und verächtlich von sich. »Die Rock ’n’
Roll-Ära war ja wohl das Beste. … Hast du Lust?«
Emmett grinste Rosalie breit an und die freute sich schon darauf und nickte. Dann ging Emmett blitzschnell zur Stereoanlage, legte eine Chuck Berry CD ein, drehte die Lautstärke auf, zog Rosalie an der Hand zu einer freien Ecke im Wohnzimmer und dann ging es los. Wahnsinn. Einfach unglaublich, wie gut die beiden tanzen konnten und wie viel Spaß sie dabei hatten. Selbst Mom, die an Dads Seite gekuschelt war, wippte mit den Beinen und schien sich die Schrittfolgen einprägen zu wollen. Dann schaute sie mit einem bittenden Lächeln auf den Lippen in Dads Augen und er fügte sich seufzend seinem Schicksal. Schnell gingen sie zur auserkorenen Tanzfläche und stiegen mit ein. Der Unterschied zu Em und Rose war extrem, doch das schien ihnen nichts auszumachen. Mom hatte offensichtlich Freude daran und das zauberte auch auf Dads Gesicht ein schiefes Lächeln.
Plötzlich flüsterte Emmett etwas in Rosalies Ohr, sie nickte und Emmett kam auf mich zu.
»Darf ich um den nächsten
Tanz bitten?«
»Was? … Ich? … I-I-Ich
kann das nicht.«
»Noch nicht!«, sagte er
bestimmt, aber mit so einem herzlichen Lächeln, dass ich einfach
keine andere Wahl hatte.
Schnell hatte er mir ein paar
einfache Schritte beigebracht und schon tanzten wir. Es war richtig
toll.
Nach einer halben Stunde gönnte ich mir erst einmal eine Pause und überließ Emmett wieder seiner Frau, doch schon fünf Minuten später ging die Musik aus und mehrere Köpfe drehten sich wie an der Schnur gezogen in Richtung Stereoanlage.
»Also wenn wir uns schon auf eine Geburtstagsfeier einstimmen wollen, dann vielleicht doch mit etwas aktuellerer Musik«, meinte Alice und wechselte die CD.
Die neue Musik war voll geil. Aktuelle Popmusik die von einem DJ bearbeitet sein musste, denn die Bässe hämmerten und meine Beine wollten schlagartig keine Pause mehr machen. Mom und Dad verzogen sich wieder, während Emmett und Rosalie überhaupt kein Problem damit hatten und sich einfach dem neuen Sound anpassten. Alice zog Jasper auch auf die Tanzfläche und die beiden gingen zu meiner großen Überraschung voll ab. Ich hatte ja mit vielem gerechnet, aber nicht damit, dass Alice zu dieser Musik Jasper antanzen würde und der begeistert darauf einging.
Ich musste mich ja damit begnügen, alleine zu tanzen, aber den Anderen dabei zuzusehen, beruhigte mich ungemein. So würde ich auf jeden Fall auch mit Gabriel tanzen können, wenn er das überhaupt auch wollte.
Eine Stunde später war ich leicht erhitzt und unglaublich glücklich. Es hatte wahnsinnig viel Spaß gemacht, so ausgelassen mit meiner halben Familie zu tanzen, doch für den Moment hatte ich genug und ließ mich auf ein Sofa fallen. Alice ging daraufhin wieder zur Anlage und wechselte erneut die Musik. Diesmal waren es sehr ruhige Töne und aus dem ausgelassenen Herumtoben wurde innerhalb weniger Sekunden ein eng umschlungenes Stehkuscheln. Es wurden verliebte Blicke zugeworfen und kleine Küsschen gegeben und viel gestreichelt. Also das wollte ich definitiv auch mit Gabriel haben. Ich entspannte mich bei den sanften Klängen total, schloss die Augen und stellte mir vor, so am Ende meiner Geburtstagsparty mit Gabriel zu tanzen und zu kuscheln und … zu küssen. Hoffentlich konnte mir das auch gelingen.
Immer wenn Gabriel auf so eine Weise in meinen Gedanken war, begann auch unmittelbar das Kribbeln an meinem Körper. Es war so faszinierend, als ob ein unsichtbarer Teil von ihm immer bei mir wäre und mich streichelte, wenn ich an ihn dachte. Ich verstand noch immer nicht, was da eigentlich mit mir los war, aber von Mal zu Mal gefiel es mir immer besser. Mit meinem Herzen hatte sich wohl mein ganzer Körper in ihn verliebt.
“Ach Gabriel”, dachte ich. “Wie gerne wäre ich jetzt wieder bei dir und dabei darf ich weder heute, noch morgen, noch übermorgen bei dir sein.”
Wegen des kleinen Anflugs von Trauer wollte ich mich selbst wieder auf andere Gedanken bringen, denn ich wollte mich jetzt nicht schon wieder in Selbstmitleid suhlen. Davon hatte ich erst einmal genug. Ein Spaziergang zu meinem geheimen Platz und ein schönes Buch dazu würde mir sicherlich gut tun. Don Quijote wollte ich allerdings nicht lesen. Das würde mich zu sehr an den Spanischunterricht erinnern, den ich am Dienstag verpassen würde. Ich wollte überhaupt nichts lesen, das mit der Schule in Verbindung stehen könnte, also wählte ich mal ein ganz ungewöhnliches Buch. Die 1897er Originalausgabe von Bram Stoker‘s Dracula. Carlisle erzählt mir mal, dass Bücher wie dieses ein großer Glücksfall für uns wären. Jeder Mensch hätte schon aufgrund dieser Geschichten von Vampiren gehört und jeder hätte Vorstellungen davon, die nicht zur Realität passten. Außerdem war der Großteil der Menschheit davon überzeugt, dass Erzählungen von Vampiren reine Fantasie wären. Ein gewaltiger Vorteil, um das Geheimnis effektiv hüten zu können.
Nun fand ich es an der Zeit,
selbst einmal dieses Buch zu lesen. Außerdem interessierte sich
Gabriel ja auch für Vampirfilme und da war es sicherlich nicht
schlecht, wenn ich da mitreden könnte, ohne mich zu verraten.
Ich nahm das Buch, verabschiedete mich von den Anderen und rannte zu
meinem Lieblingsplatz im Wald. Noch immer war ich unentschlossen, ob
das schöne Wetter jetzt Fluch oder Segen war. Die warmen
Sonnenstrahlen auf der Haut zu spüren war einfach schön.
Der ganze Wald sah so viel lebendiger aus, wenn er so
lichtdurchflutet vor mir lag. Das Grün wirkte noch satter und
viele Wildblumen richteten sich nach der Sonne aus und verströmten
ihren frischen Duft. Die Vögel zwitscherten in den Ästen
und hier und da wuselte allerlei Getier durch die Sträucher. Für
die Natur war es offenbar ein Segen, also beschloss ich für
mich, es auch so zu sehen. An meinem Platz angekommen, machte ich es
mir auf meinem Baumstamm in der Sonne gemütlich und begann zu
lesen.
Erst spät am Nachmittag machte ich mich wieder auf den Heimweg. Wie praktisch jeden Sonntag waren Mom und Jazz beim Training. Ungewöhnlich war, dass Dad ebenfalls dabei war und mit Emmett kämpfte.
“Daddy? Hat es einen bestimmten Grund, dass du mittrainierst? Das machst du doch sonst nie”, dachte ich und schaute fragend zu meinem Vater, der jedoch sehr darauf konzentriert war, Emmetts angriffen auszuweichen.
»Auszeit!«, rief er
plötzlich und alle hielten inne.
»Renesmee möchte
wissen, was hier los ist«, informierte er die Anderen.
»Oh,
hallo Liebling«, begrüßte mich Mom. »Jasper
meinte, ich müsste meine Konzentrationsfähigkeit besser
trainieren und deshalb sind Dad und Emmett dabei. Ich soll versuchen,
mich nicht zu sehr von ihnen ablenken zu lassen und sie trotzdem im
Auge behalten.«
»Du sollst dich überhaupt nicht
ablenken lassen«, korrigierte Jasper sie energisch.
»Sir,
ja, Sir«, gab sie schnippisch zurück.
»Und?
Klappt’s?«, fragte ich leicht schmunzelnd.
»Geht
so«, sagte sie, doch ihre Körpersprache ließ mich
etwas Anderes vermuten. Trotzdem fand ich das sehr interessant. Der
Kampf hatte schließlich auch viel mit Körperkontrolle und
Selbstbeherrschung zu tun. Es könnte sicherlich nicht schaden,
wenn ich das mal ausprobieren würde, auch wenn ich nicht
wirklich am Kämpfen interessiert war.
»Darf ich auch
mitmachen?«
Mom schluckte. Das schien ihr noch weniger zu gefallen, als dass Dad und Em miteinander kämpften. Jasper hingegen schien von der Idee geradezu begeistert zu sein, während Dad ihm äußerst kritische Blicke zuwarf und leicht vor sich hin schnaubte. Emmett hingegen hatte nichts dagegen einzuwenden. Er sah vor allem den Spaß an der Sache.
»Willst du das wirklich?«,
fragte Mom mit besorgt klingender Stimme.
»Na ja, irgendwie
würde ich schon gerne mitmachen. Ich meine, ich kann sicherlich
nicht mit euch mithalten, das weiß ich selbst, aber vielleicht
hilft es mir ja bei meinem Kontrollproblem.«
Jasper schaute Mom fragend an. Er schien wirklich sehr daran interessiert zu sein, dass ich mitmachte.
»Bella, wir haben schon
mal darüber gesprochen. Du weißt, wie ich das sehe. Es
würde dich garantiert voranbringen und Nessie könnte auch
vieles dabei lernen.«
»Und du weißt, wie ich
darüber denke, Jazz«, knurrte Dad ihn an.
»Meine
Güte, Edward. Vergiss’ doch mal für eine Minute
deinen Beschützerinstinkt und denke logisch darüber nach.
Deine Frau und deine Tochter würden beide davon enorm
profitieren. Wieso gefällt dir das nicht?«
»Mir
gefällt deine Art nicht.«
»Aber sie ist effektiv.
Schau dir Bella an. Schau dir ihre Fortschritte an, die sie gemacht
hat, obwohl sie nur ein bis zwei Mal in der Woche trainiert. Es
gefiel dir von Anfang an nicht, trotzdem hat es ihr in den letzten 4
Jahren wohl kaum geschadet. Ganz im Gegenteil. Sie ist gut geworden.
Sie könnte es vielleicht sogar mit dir aufnehmen, da sie deine
Gabe neutralisiert.«
»Das wird nie passieren«,
rief Mom dazwischen.»Bella, das habe ich doch gar nicht gesagt.
Ich weiß, dass ihr niemals miteinander kämpfen wollt, auch
nicht zur Übung, obwohl Edward genau das brauchen könnte.
Ich sage doch nur, dass du recht gut geworden bist und wenn wir
Nessie einbeziehen, könntest du noch besser werden. Warum
vertraut ihr mir denn nicht? Ich will euch doch nur voran bringen.«
Mom, Dad und Jasper warfen sich gegenseitig merkwürdige Blicke zu. Ich hatte beim besten Willen nicht damit gerechnet, dass meine Frage so einen Konflikt auslösen könnte. Wenn ich das geahnt hätte, hätte ich niemals gefragt. Jetzt lag Streit und Ärger in der Luft und alles wegen mir.
»So ist das nicht,
Schatz.«
»Wie ist es dann, Daddy?«
Dad atmete
schwer durch.
»Ich kann das nicht erklären.«
»Aber
ich kann es«, meinte Jasper. »Renesmee, du weißt
dass ich eine sehr gewalttätige Vergangenheit habe. Ich habe
Neugeborene zu Soldaten ausgebildet und dabei Grausamkeiten begangen,
die zu schrecklich sind, als dass ich dir davon erzählen könnte.
Ich habe dieses Leben hinter mir gelassen, aber die Erinnerungen habe
ich immer noch und wenn ich Kämpfe, egal ob es Ernst oder
Training ist, dann kommen diese Erinnerungen hoch und dein Dad kann
sie sehen. Deshalb hat er Vorbehalte.«
Dads Gesichtsausdruck war eine deutliche Bestätigung dafür, dass Jaspers Worte sehr zutreffend waren. Diese Erinnerung von ihm mussten wahrhaftig extrem sein, wenn sie Dad so zusetzen konnten. Jasper hatte ja auch etwas Furchteinflößendes an sich und das lag nicht nur an seiner Gabe. Aber er war mir doch auch schon so oft eine große Hilfe gewesen und ich vertraute ihm.
»Hört mal, es wäre gelogen, wenn ich sagen würde, dass ich keine Angst hätte. Ich vertraue Jasper, aber ich weiß auch, dass er mir schreckliche Angst machen kann und dass er es wird, wenn er es für nötig erachtet, um mich zu trainieren. Deshalb wollte ich das auch nicht, als wir das letzte Mal darüber gesprochen haben. Ich will es im Grunde immer noch nicht, aber wenn das der Weg ist, damit ich Gabriel nicht mehr in Gefahr bringe, dann muss ich es doch einfach versuchen. Mom, Dad? Glaubt ihr denn nicht, dass es mir helfen könnte?«
Meine Eltern schauten sich eine Weile an und dann sprach Mom zu mir.
»Das ist nicht so einfach, Sternchen. Das betrifft nicht nur dich, sondern auch Daddy und mich. Bitte gib uns etwas Zeit, damit wir darüber nachdenken und reden können.«
Ich nickte. Mehr konnte ich jetzt ohnehin nicht tun. Also ging ich hinein.
Carlisle und Esme informierten mich noch über die näheren Umstände unserer Ausrede für die nächsten zwei Tage. Wie immer war es der Familie sehr wichtig, dass alle die gleiche Geschichte erzählen würden. Demnach hätten wir heute beim Brunch alle von der gleichen Mayonnaise gegessen und eine leichte Salmonellenvergiftung erlitten. Folglich müsste ich also von Bauchschmerzen, Übelkeit und Durchfall erzählen. “Wenigstens nichts kompliziertes”, dachte ich bei mir.
Ich ging danach noch ein wenig in mein Zimmer und arbeitete an meinem Gemälde weiter. Das schöne Abendlicht hatte mich inspiriert und wollte unbedingt festgehalten werden.
Dann plötzlich klingelte mein Handy und auf dem Display erschien Lissie. Ich erschrak. Was sollte ich jetzt machen? Was ihr erzählen? Sie wollte doch bestimmt wissen, wie meine Date mit Gabriel war und ich hatte keine Ahnung, wie ich ihr das erklären könnte. Andererseits müsste ich nach unserer Geschichte jetzt allmählich die Symptome der Lebensmittelvergiftung aufweisen. Das schien mir die Beste Lösung zu sein.
»Hallo?«, krächzte
ich ins Telefon und versuchte dabei möglichst leidend zu
klingen.
Ȁh? Hallo Nessie, hier ist Lissie. Alles in
Ordnung mit dir?«
»Nein, Lissie. Ich hab’
Bauchschmerzen und mir ist übel.«
»Oh, das tut
mir leid. Ist es sehr schlimm?«
»Ja«, jammerte
ich. »Irgendetwas mit dem Essen. … Mir ist so schlecht.
… Ich glaube ich muss mich übergeben.«
Dann ließ ich das Handy
aufs Bett fallen und rannte ins Bad und gab Würgegeräusche
von mir, die herrlich im Badezimmer hallten. Nach zwei-drei Minuten
ließ ich die Spüle rauschen griff mir das Handy und
stöhnte:
»Bist du noch dran?«
Ȁh,
ja. Mensch, du hörst dich ja schrecklich an. Ich wünschte,
ich könnte dir helfen.«
»Lissie, sei mir nicht
böse, aber ich kann jetzt nicht mehr telefonieren.«
»Ja
natürlich. … Dann kommst du wohl morgen nicht in die
Schule, oder?«
»Vermutlich nicht.«
»Das
tut mir leid. Dann gute Besserung.«
»Danke Lissie.
Tschüss.«
»Tschüss Nessie.«
Puh! Das war geschafft. Auf einmal hörte ich ein Klatschen vor der Tür. Ich öffnete sie und entdeckte meine gesamte Familie, die vor meinem Zimmer versammelt war.
»Was macht ihr denn
hier?«, fragte ich.
»Wir dachten, etwas stimmt nicht
mit dir, Liebes, aber zum Glück hat Edward erkannt, was du
machst«, sagte Esme und lächelte mich irgendwie stolz
an.
»Das war echt eine gute Vorstellung«, meinte
Emmett grinsend. »Wir sollten dich in der Schauspiel-AG
anmelden.«
Dann tätschelte er mit seiner riesigen
Pranke meinen Kopf.
»Toll gemacht«, meinte Mom und
küsste mich.
»Sehr realistisch«, lobte Carlisle
und lächelte ebenfalls ähnlich wie Esme.
»Das war
gut«, ergänzte Alice noch. »Ich habe gerade gesehen,
dass sie es in der Schule ihren Freunden erzählen wird und auch
gleich deinem Klassenlehrer berichtet. Es war zwar undeutlich, wie
alles, was mit dir zu tun hat, aber es hat ja auch mit uns zu tun und
da sehe ich keine Probleme. Alle werden diese Ausrede glauben. Super
toll.«
»Wow. So viel Lob, für ein vorgespieltes
Übergeben? Ihr solltet erst mal meinen sterbenden Schwan sehen«,
sagte ich und machte ein paar gespielte Ballettbewegungen, wobei mein
Schwan wohl eher erschossen wurde, sehr zur Belustigung meines
Publikums.
Dann ging ich mit allen wieder
hinunter, bog allerdings zunächst in die Küche ab, um etwas
zu essen, bevor wir dann zusammen noch einen netten Abend
verbrachten.
Am nächsten Morgen wachte ich dann tatsächlich mit Bauchscherzen auf, denn zu allem Überfluss hatte ich an meinem Schulverbotstag auch noch meine Periode bekommen. Ui, toll. Ich war ja mal gespannt, wie lange ich dieses Mal meine Freude daran haben würde. Seit dem letzten Zyklus waren nun fünf Wochen vergangen. Es verlangsamte sich also weiterhin. Carlisle würde das sicherlich wissen wollen.
Ein Blick aus dem Fenster verriet mir, dass Alice mal wieder goldrichtig lag, mit ihrer Wettervorhersage. Es war ein wunderschöner Tag, der mir ein Lächeln auf mein Gesicht zauberte, obwohl ich eigentlich böse sein müsste. Blödsinn, diesem Anblick konnte man gar nicht böse sein.
Gut gelaunt, trotz Bauchscherzen und verordnetem Schulschwänzen, zog ich mich an und ging frühstücken. Allerdings konnte ich nicht anders, als die Hände auf meinen Bauch zu drücken, in der Hoffnung, den Schmerz herausdrücken zu können, was natürlich nicht funktionierte. Hatte es ja noch nie, aber ich versuchte es trotzdem jedes Mal wieder.
»Hey Süße«,
meinte Emmett, der gerade mit Rosalie aus dem Zimmer kam. Ȇbst
du schon für die Schauspiel-AG? Die Bauchweh-Einlage haben wir
dir doch gestern schon abgenommen.«
»Oh Emmett. Das
ist nicht gespielt. Ich habe tatsächlich Bauchschmerzen.«
»Du
willst mich verarschen!?«, meinte er lachend.
»Rosalie?
Könntest du dem Typ mit dem Feingefühl eines Ambos wohl
erklären, was für menschliche Mädchen, sowie für
Halbvampirmädchen, alle paar Wochen auf dem Terminkalender
steht?«
Rosalie grinste und flüsterte ihm etwas ins Ohr, während ich die Treppe hinunter ging.
»Oh!«, hörte ich Emmett noch sagen, während ich die Küche betrat und amüsiert den Kopf schüttelte. Mich wunderte allerdings schon, dass er es noch nicht gerochen hatte. Ich selbst hatte ja das Gefühl, ich würde riechen, als ob ich gerade in einem Schlachthaus gewesen wäre.
Nach dem Frühstück suchte ich Carlisle auf und ließ mich von ihm durchchecken. Er meinte, dass alles in bester Ordnung wäre. Gegen meine Bauchschmerzen konnte er aber leider noch immer nichts machen. Ja, das war nichts Neues und ein Stück weit hatte ich mich auch schon daran gewöhnt. Jedenfalls waren die Beschwerden nicht so schlimm wie damals, als es anfing und morgen würden sie sicherlich schon wieder besser sein. Bisher war es jedenfalls immer so.
Ich ging ins Wohnzimmer und gleich fiel mir auf, dass meine Eltern mit Jasper und Alice in einer Ecke standen und sich unterhielten. Allerdings endete das Gespräch sofort, kaum, dass ich den Raum betreten hatte. Einen Windhauch später stand Mom auch schon vor mir und nahm mich sachte in den Arm.
»Ist es sehr schlimm,
Schatz?«
»Nein Mom, es geht schon. Im Grunde ist es ja
auch irgendwie witzig.«
»Witzig?«, fragte sie
und hatte dabei einen Gesichtsausdruck, als würde sie an meinem
Verstand zweifeln.
Bei ihrem Anblick musste ich kichern, was bei Bauchschmerzen einen äußerst unangenehmen Nebeneffekt hatte, weshalb mir das Lachen auch schnell wieder verging.
»Ich meine doch nur, dass
ich mich gestern noch so furchtbar darüber aufgeregt habe, dass
ich nicht zur Schule darf und heute bin ich froh, dass ich nicht
muss.«
»Ach so«, sagte sie erleichtert und
streichelte mir über das Haar.
»Mom? Habt ihr gerade
darüber gesprochen, ob ich mich an dem Kampftraining beteiligen
darf?«
Sie stockte kurz, doch dann nickte sie.
»Dann
will ich euch nicht dabei stören.«
»Aber Schatz,
du störst doch nicht. Wir können das auch später
weiterdiskutieren.«
»Nein, nein. Ich glaube, ich lege
mich lieber noch ein bisschen ins Bett. Außerdem weiß ich
doch auch, dass euch mein Geruch jetzt unangenehm ist.«
»Liebling.
Das mit dem Geruch ist doch Blödsinn, aber wenn du meinst, dass
du dich lieber hinlegen willst, dann mach’ das. Ich bringe dir
dann gleich eine Wärmflasche. O.K.?«
Ich lächelte sie dankbar
an, gab ihr einen Kuss und schleppte mich wieder nach oben.
Eigentlich war es gar nicht so schlimm, aber irgendwie fühlte
ich mich heute wehleidig.
Etwa fünf Minuten später kam Mom zu mir und gab mir eine heiße Wärmflasche, die ich vorsichtig unter der Bettdecke an meinen Bauch anlehnte. Es war sehr entspannend und Mom streichelte mir dabei mit ihrer jetzt ausnahmsweise sehr warmen Hand liebevoll über mein Gesicht. Schade, dass der Effekt der Wärmflasche an ihrer Hand nur so kurz anhielt.
»Besser?«, fragte
sie nach einer Weile.
»Ja, danke Momma.«
»Kann
ich sonst noch etwas für dich tun?«
»Ja, mir die
Teilnahme am Kampftraining erlauben.«
Das war jetzt sicherlich nicht so ganz fair von mir, sie ausgerechnet in dem Moment zu fragen, wo sie mir doch unbedingt etwas Gutes tun wollte, aber im Augenblick war das einfach der vorherrschende Gedanke in meinem Kopf. Abgesehen von den leichten Krämpfen im Bauch vielleicht.
»Bitte Nessie, dränge mich doch nicht. Das ist viel schwieriger für Daddy und mich, als du dir vorstellen kannst. Was glaubst du, wie ich mich fühlen werde, wenn Jasper dir Angst macht und ich dich beschützen oder befreien soll? Oder wie es für dich ist, wenn du in Panik mit ansehen musst, wenn ich es nicht schaffe?«
Oh!? … Damit hatte ich jetzt nicht gerechnet und die Vorstellung alleine war schon nicht gerade angenehm. Die Erinnerung an unsere Familienkonferenz, bei der Jasper mir so schreckliche Angst gemacht hatte, kam augenblicklich in mir hoch und ich fing an, an meiner Entschlossenheit ernsthaft zu zweifeln. Doch gleich im nächsten Moment dachte ich an Gabriel und damit an den Grund, warum ich das wollte. Ja, ich wollte das. Das war mein Wunsch, nicht ihrer.
»Momma? Wenn du das nicht
willst, dann werde ich eben mit Jasper alleine trainieren. Ich habe
zwar Angst davor, aber ich denke, ich muss es wenigstens
versuchen.«
»Ach Sternchen«, sagte sie, gab mir
einen Kuss auf die Stirn und streichelte mich weiterhin liebevoll.
»Wir finden schon einen Weg. Gib’ mir noch ein bisschen
Zeit, ja?«
»Natürlich Mom.«
Ich blieb bis zum Mittag im Bett, hörte Musik oder las ein Buch. Zwischendurch kam Mom bei mir vorbei, um meine Wärmeflasche auszutauschen und mich dann wieder mit ihren kurzzeitig heißen Händen zu streicheln. Irgendwie schien ihr das auch zu gefallen. Kaum, dass es zwölf Uhr war, musste ich ständig auf meinen Wecker starren. Im Fünf-Minuten-Takt zog die Digitalanzeige magisch meinen Blick an und jedes Mal dachte ich darüber nach, wie es jetzt gerade in der Schule wäre. Pausenglocke, in die Mensa gehen, zusammen essen, Tablett wegräumen und schließlich mit Gabriel in den Hof gehen. Ich wollte so gerne einmal mit ihm im Sonnenlicht spazieren gehen. Ob er den leichten Schimmer meiner Haut überhaupt bemerken würde? Ob es ihm gefallen würde?
Plötzlich klingelte mein Handy und ich schrak auf, was mein Bauch sofort mit einem heftigen Zusammenzuck-Protest bestrafte. Aua. Mein Wecker verriet mir, dass es 12.25 Uhr war. Ich quälte mich aus dem Bett und holte mein Handy, das auf meinem Schreibtisch lag.
»Gabriel«, sagte ich atemlos, als ich seinen Namen auf dem Display erkannte. Schnell hüpfte ich mit dem Handy ins Bett, was meinem Bauch noch weniger gefiel.
Ein »Ahrg« kam über meine Lippen, als ich gerade das Gespräch annahm.
»Nessie? Alles in
Ordnung?«, hörte ich die besorgt klingende Stimme von
Gabriel.
Es tat so gut, ihn zu hören. Ich hatte ihn ja so
vermisst.
»Gabriel, das ist aber schön, dass du mich
anrufst.«
Meine Stimme hörte sich sehr gequält an, doch diesmal war es nicht gespielt. Die ruckartigen Bewegungen hatten wirklich weh getan, doch jetzt arbeitete eine Armee Schmetterlinge daran, mit ihrem kitzelnden Flügelschlag das unangenehme ziehen in meinem Bauch zu überdecken. Nette Schmetterlinge.
»Oh Nessie, was hast du
denn?«
»Eine leichte Lebensmittelvergiftung«,
“und meine Tage”, ergänzte ich im Gedanken, aber das
wollte er sicherlich nicht hören.
»Du Arme. Es tut mir
ja so leid. Kann ich denn irgendetwas für dich tun?«
»Alleine
deine Stimme zu hören hilft mir schon.«
»Also
wenn ich das vorher gewusst hätte, dann hätte ich dich
schon gestern angerufen.«
Es klang tatsächlich so, als ob er es wirklich so meinte, wie er es sagte.
»Warum hast du dich denn
nicht bei mir gemeldet?«, fragte er nach.
»Es sind
doch nur Bauchschmerzen. Ich wollte dir nicht auf die Nerven
gegen.«
»Aber du gehst mir doch nicht auf die Nerven.
Wie kommst du nur darauf? Ich will doch wissen, wie es dir geht.«
Wollte er das wirklich? Er hörte sich so aufrichtig an, doch ich war total unsicher, wegen dem, was am Samstagabend passiert war.
»Dann bist du mir nicht
böse?«
»Ich? Warum sollte ich dir denn böse
sein? Wovon redest du überhaupt?«
»Na von
Samstag. Du warst doch bestimmt voll enttäuscht von mir.«
»Wegen
Samstag? Spinnst du? Das war der schönste Tag meines
Lebens.«
»Ehrlich? Dann bist du gar nicht sauer auf
mich?«
»Um Himmels Willen, Nessie. Nur weil du noch
nicht bereit warst, mich zu küssen, macht das doch nicht diesen
tollen Abend kaputt. Ich würde das sofort wieder machen. Immer
und immer wieder.«
»Oh ich auch«, sagte ich so
voller Freude, dass ich fast besorgt war, dass man mir meine
Beschwerden nicht mehr anhören würde.
»Na damit
warten wir lieber, bis es dir wieder besser geht. Jetzt ruh’
dich erst einmal aus.«
»Bitte nicht auflegen«,
rief ich fast panisch ins Telefon. Das Gespräch war so schön
und ich wollte nicht, dass es jetzt schon endete.
»Aber das
habe ich doch gar nicht vor.«
»Wirklich nicht?«,
fragte ich unsicher.
»Natürlich nicht. Ich vermisse
dich total hier alleine auf dem Schulhof. Wann kommst du denn
wieder?«
»Erst übermorgen«, sagte ich mit
dem ganzen Bedauern in der Stimme, das ich dabei
empfand.
Ȇbermorgen? Na ja, das ist ja nicht mehr so
lange. Ich hatte schon Angst, dass du die ganze Woche weg bist und
dann vielleicht auch noch deine Geburtstagsparty ausfällt.«
»Oh
nein. Die findet statt und wenn ich mir dafür den Bauch
rausoperieren lassen muss.«
»Na, wir wollen mal nicht
gleich übertreiben«, sagte er lachend.
Herrlich. Ihn
lachen zu hören war so wunderbar.
»Was ist eigentlich
mit deiner Familie? Sind die auch alle krank?«
»Ja,
wir haben alle das Gleiche gegessen. Die sind auch alle halb tot.«
Kaum, dass ich das gesagt hatte, musste ich ein Kichern unterdrücken. Er hatte ja keine Ahnung, wie nah das an der Wahrheit dran war.
»Sag’ so etwas
nicht, hörst du? Ich will, dass du schnell wieder gesund
wirst.«
»Das mache ich, Gabriel.«
Gabriel unterhielt sich tatsächlich noch eine halbe Stunde mit mir und ich war total glücklich. Er erzählte auch davon, dass er heute das Geschichtsreferat abgegeben hatte, das er mit Hilfe meiner Notizen erstellt hatte. Er bedankte sich gleich noch mal dafür, weil sie ihm ja so geholfen hätten. Ich fragte ihn dann noch nach den Hausaufgaben und er versprach mir, dass er sich nach der Schule noch mal melden würde, um mir alles durchzugeben. Dann musste er das Gespräch aber leider beenden, da die Schulglocke geläutet hatte.
Die Schmetterlinge in meinem Bauch hatten in der Zwischenzeit ganze Arbeit geleistet. Solange ich mich nicht zu heftig bewegte, war das Glücksgefühl im Bauch stärker als alles Andere.
Vorsichtig erhob ich mich aus dem Bett - sehr vorsichtig, damit die kleinen Krabbler in mir nicht aufgeschreckt würden - und ging zu Mom und Rosalie und Alice und allen Anderen die es wissen wollten und erzählte ihnen von meinem Telefonat mit Gabriel. Dann erhielt ich noch eine Lektion von Alice in Sachen Partyverhalten, damit ich nicht den Fehler machte, meine Gäste zu vernachlässigen, weil ich vielleicht nur mit Gabriel tanzen wollte. Vielleicht? Ganz bestimmt sogar, aber ich verstand natürlich, was sie mir erklärte. In gewisser Weise eine sehr grausame Lektion.
Am späteren Nachmittag rief Gabriel dann wie versprochen noch mal an, telefonierte aber nicht sehr lange mit mir, weil er meinte, dass sein Akku gleich leer sein würde. Allerdings hörte er sich merkwürdig an, als er das sagte und da war auch kein Piepsen oder so. Irgendetwas schien ihn zu bedrücken, aber er wollte es mir wohl nicht sagen. Es konnte aber unmöglich etwas mit unserer Liebe zu tun haben. An der hatte ich jetzt keinen Zweifel mehr. Nicht nach dem Telefonat von heute Mittag.
Gegen Abend machte ich dann noch
schnell meine Hausaufgaben und ging recht früh schlafen. Mom
brachte mir noch einmal eine Wärmflasche und blieb noch eine
ganze Weile bei mir sitzen. Ich schenkte ihr noch eine Übertragung
mit meinen schönen Erlebnissen der letzten Tage, was sie wie
immer sehr freute. Es war aber auch gut für mich, denn so hatte
ich sehr positive Gedanken und schon bald schlief ich ein.
Auf eine recht gute Nacht, folgte ein recht guter Tag. Meine Beschwerden hatten tatsächlich nachgelassen und ich fühlte mich schon viel besser, auch wenn die Anderen noch immer unter dem Geruchsproblem zu leiden hatten. Das Thema Kampftraining wurde noch nicht entschieden und ich beschloss für mich, das erst nach meinem Geburtstag wieder anzusprechen. Den Vormittag verbrachte ich bei dem schönen Wetter auf meinem Baustamm im Wald. Ich achtete aber darauf, frühzeitig wieder zurückzugehen. Wenn Gabriel mich anrufen würde, wollte ich lieber zu Hause sein. Er rief mich erneut gegen halb eins an, doch fasste er sich diesmal sehr kurz. Er sagte, dass er mich liebte und mich vermisste und dass er sich auf morgen freute und er hörte sich sehr aufrichtig dabei an, doch dann beendete er das Telefonat schnell wieder und meinte, dass er auf die Toilette müsste. Allerdings klang er erneut merkwürdig dabei, so wie gestern Nachmittag. Außerdem hätten wir danach doch noch bestimmt zwanzig Minuten Zeit gehabt und ich verstand nicht, warum er die nicht zum Telefonieren mit mir nutzen wollte.
Unter dem Vorwand, ihn wegen der Hausaufgaben fragen zu wollen, rief ich ihn dann noch mal eine viertel Stunde vor dem Ende der Pause an. Ich fragte ihn dann noch beiläufig, was sie denn so am Vormittag durchgenommen hätten und er fing an zu erzählen. Es war wieder richtig schön, doch es war mir auch ein Rätsel, was sich in den zehn Minuten zwischen den beiden Telefonaten geändert haben könnte, dass er jetzt wieder entspannt mit mir reden konnte, wo ihm das doch zuvor anscheinend nicht möglich war. Konnte das tatsächlich an einem Toilettengang liegen? Warum rief er mich denn dann nicht einfach danach wieder an? Das war so merkwürdig.
Am Nachmittag dann schon wieder das gleiche Spiel. Kaum hatte ich das Gespräch angenommen, gab er mir gleich die Hausaufgaben durch, beendete das Telefonat dann schnell wieder, da er meinte, seine Mutter hätte ihn gerufen und bräuchte seinen Hilfe. Ich hatte allerdings nichts gehört. Zehn Minuten später machte ich den Test und rief ihn wieder an, um wegen der Hausaufgaben noch mal etwas nachzufragen. Erneut hatten wir ein entspanntes Gespräch, das ich praktisch beenden musste, weil ich so irritiert war, dass mir nichts mehr einfiel. Was machte es denn bitte schön für einen Unterschied, ob er mich, oder ich ihn anrief? Ich wurde einfach nicht schlau daraus.
Ich nutzte dann noch das schöne Licht des späten Tages, um an meinem Gemälde weiterzuarbeiten. Es nahm mehr und mehr Gestalt an und gefiel mir richtig gut. Nach Sonnenuntergang überredete ich Emmett dazu, mit mir noch etwas Musik zu machen. Normalerweise musste ich ja nicht gerade darum betteln, weil er das gerne machte, doch wenn ich meine Periode hatte, war ihm das nicht wirklich angenehm. Dennoch erfüllte er mir meinen Wunsch und ich beließ es im Gegenzug bei nur einer halben Stunde.
Mit Alice und Rosalie hatte ich auch noch ein eindringliches Gespräch bezüglich meines Outfits für meine Geburtstagsfeier. Ich hatte den Fehler begangen und angedeutet, dass ich doch das Selbe anziehen könnte, wie bei meinem Kinobesuch. Das führte dann unmittelbar zu einem Erdbeben der Stärke 5 mit heftigen Vulkanausbrüchen und endete mit einem verordneten Einkaufsbummel am Freitag Abend.
Schließlich ging auch
dieser Tag zu Ende und die zunehmende Wolkendecke stimmte mich schon
mal auf einen neuen Schultag ein. Endlich wieder Gabriel sehen.
Am nächsten Morgen fühlte ich mich wieder ziemlich wohl in meiner Haut und hatte kaum noch Probleme mit dem Bauch. Das Bisschen war vermutlich sogar hilfreich, da sicherlich jeder in der Schule verstehen konnte, wenn ich mir das Bäuchlein rieb. Jedenfalls war ich furchtbar ungeduldig und wollte endlich losfahren. Ich meinte zu den Anderen, dass wir doch ruhig mal vor meinen Freunden da sein könnten. Außerdem würde ich so keine Minute mit Gabriel versäumen. Auch wenn dieses Argument nicht unbedingt das Stärkste war, gaben sie meinem Drängen doch nach und wir fuhren eine viertel Stunde früher als sonst. Es war allerdings noch keiner meiner Freund da. Nach fünf Minuten wurde dann zuerst Susi gebracht, die mich freundlich begrüßte und sich nach meinem Befinden erkundigte. Wir unterhielten uns nett, aber bislang hatte ich zu ihr noch keinen richtigen Draht gefunden. Jedenfalls informierte sie mich darüber, dass die Anderen in etwa fünf Minuten alle mit dem Bus ankommen würden. “Gut zu wissen”, dachte ich und legte schon mal die künftige Abfahrtszeit gedanklich neu fest. Dann war es endlich soweit und Lissie entdeckte mich als Erste und winkte mir zu. Ich lief ihr gleich entgegen. Gabriel, der neben ihr herlief, entdeckte mich Sekunden später und breitete die Arme aus. Für einen kurzen Moment musste ich darüber nachdenken, ob ich nun zuerst Lissie begrüßen sollte, da sie mich ja als Erste gesehen hatte, oder Gabriel, der mich mit seinem wahnsinnig schönen Lächeln anstrahlte. Die Entscheidung fiel mir leicht und ich sprang in seine Arme. Etwas zu heftig, denn mein Bauch schmerzte gleich ein wenig und ich musste unweigerlich mit der Hand darauf drücken. Mist.
»Oh Nessie, übertreibe es doch nicht gleich«, sagte er glücklich aber auch leicht tadelnd.
Schuldbewusst schaute ich ihm in die faszinierenden Augen. Wie sehr hatte mir diesen Anblick gefehlt. Die Schmetterlingskolonie in meinem Bäuchlein machte sich sofort an die Arbeit, mein Wohlbefinden zu steigern.
»Aber ich habe dich doch so vermisst«, sagte ich kleinlaut, streichelte ihm über das Gesicht und gab ihm einen kleinen Kuss auf die Wange.
Da war er wieder. Sein berauschender Duft zog mir in die Nase und belebte mich. Die so ersehnte Berührung seines Gesichts mit der Hand und den Lippen ließ mir spontan einen Schauer über den Körper laufen und ich war einfach nur glücklich.
Liebevoll und übertrieben zärtlich nahm er mich in den Arm und gab auch mir einen Kuss auf die Wange. Einfach herrlich dieses Kribbeln, das überall auftrat, wo er mich berührte.
Lissie stand geduldig wartend neben uns und grinste mich pausenlos an. Ich schielte an Gabriels Schulter vorbei und lächelte ihr zu. Sie schien sich richtig für mich zu freuen und war nicht ansatzweise böse, weil ich meinen Freund zu erst begrüßte. Außerdem würden wir ja gleich in der Schule nebeneinander sitzen.
Irgendwann löste ich mich von Gabriel und nahm auch sie in den Arm. Dann musste ich natürlich noch allen meine Leidensgeschichte erzählen, die sogar sehr überzeugend war, da ich ja tatsächlich Bauchschmerzen hatte.
Der Unterricht selbst verlief ohne Besonderheiten. Lissie hatte mir extra ihre Mitschriften kopiert, damit ich mir nicht soviel Arbeit mit dem Abschreiben machen musste. Das war so lieb von ihr, wenn auch vollkommen unnötig, was sie natürlich nicht wissen konnte. Martin gab mir sein Geographie-Heft, damit ich seine Notizen übernehmen konnte. Der MacLeish wäre es zuzutrauen, dass sie das in der nächsten Stunde kontrollieren würde oder einen Test veranstaltete. Allerdings wäre das beim aktuellen Thema auch so kein Problem für mich.
In meiner Mittwochs-Freistunde erledigte ich dann die Übertragungen in meine Hefte und machte auch gleich die Hausaufgaben. Zum Mittagessen gönnte ich mir dann lediglich Schonkost und Gabriel schien sich heute besonders mit dem Essen zu beeilen. Dann folgten fast 40 Minuten glückliches Beisammensein, außerhalb des Blickfelds der Anderen. Ich durfte mich in seinen Arm kuscheln, mich von ihm streicheln lassen und einfach glücklich sein. Dazu noch die beruhigende Geräuschkulisse von leichtem Regen. Herrlich.
Ich fühlte mich so wohl, dass ich kurz daran gedacht hatte, einen Kussversuch zu unternehmen, doch als ich meinen Kopf leicht hob und meine Augen seine pochende Halsschlagader erblickten, verließ mich der Mut und ich gab ihm nur einen flüchtigen Kuss seitlich an den Kiefer und kuschelte mich sofort wieder an ihn. Ihm schien das aber mehr als genug gewesen zu sein, denn er küsste mich gleich mehrfach aufs Haar und drückte mich etwas fester.
Danach hatten wir noch unsere
Doppelstunde Chemie, die ich mit zwei Flaschen Wasser in seiner Nähe
gut überstand und dann folgte wieder der unangenehmste Teil
eines jeden Schultages, die Verabschiedung bis zum nächsten Tag.
Dennoch überwog die Freude auf das baldige Wiedersehen und
machte den Abend und die folgende Nacht sehr angenehm.
Auch der nächste Tag verlief genauso wunderbar. Meine Familie erklärte sich einverstanden, dass wir ab sofort fünf Minuten früher zur Schule fahren würden und so gewann ich wertvolle Zeit mit Gabriel, die ich von nun an praktisch jeden Schultag bekommen würde.
Am Freitag dann machte Mrs. MacLeish doch tatsächlich einen unangekündigten Test. Allerdings sah sie mich sehr verwundert an, als ich als Erste das Blatt abgab und musterte dann mit versteinerter Mine meine Arbeit.
Der IT Unterricht am Nachmittag war wiederum von Blitzen geprägt, die aus Lous Augen geschossen kamen. Dass ich in Kevins Reichweite war, konnte sie wohl immer noch nicht ertragen. Ich versuchte sie zu ignorieren, aber das fiel mir schwer und der langweilige Unterricht war nicht gerade hilfreich.
Nach der Schule sagten mir dann alle meine Freunde, dass sie sich schon auf meine morgige Party freuen würden und so fuhr ich dann mit meiner Familie gut gelaunt nach Hause. Dort zogen wir uns schnell um und dann verschleppten mich meine Tanten in ein Einkaufszentrum in Glasgow.
Das Outfit, das sie für mich zusammenstellten, war toll. Sie hatten sich mal wieder selbst übertroffen. Es war zwar im Grunde die gleiche Art der Kombination wie bei meinem Kinobesuch, aber doch ganz andere Farben und Schnitte. Außerdem besorgten wir noch einen ordentlichen Vorrat an Stringtangas für mich. Viele davon in Kombinationen mit passenden BHs. Danach fuhren wir wieder nach Hause und ich machte erst einmal meine Hausaufgaben, um mich danach an den Vorbereitungsarbeiten für meine Party zu beteiligen.
Ich half Esme bei Dekorationsarbeiten im Haus, während Rosalie und Alice draußen vor dem Haus am Werken waren. Dad und Emmett zimmerten etwas im Garten zusammen, das ich noch nicht so ganz deuten konnte. Auf jeden Fall schien es recht groß zu werden. Vielleicht ein Pavillon?
Irgendwann im Laufe des Abends
wurde ich dann doch ziemlich müde und ging schlafen. Obwohl vom
Garten her noch Hämmern und Klopfen zu hören war, schlief
ich doch recht schnell ein.
Am nächsten Morgen erwachte ich mit der Gewissheit, dass endlich der 10. September war. Samstag. Mein Geburtstag. Heute würde ich meinen fünfzehnten Geburtstag feiern. Nun ja, eigentlich ja erst den fünften, aber das würde mir sowieso niemand außerhalb der Familie glauben. Ich war auch die Einzige, die tatsächlich ihren echten Geburtstag feierte. Alle Anderen hatten mit ihrer neuen Identität auch ein neues Datum bekommen, während bei mir nur das Geburtsjahr um zehn Jahre vorverlegt wurde. Carlisle meinte einmal zu mir, dass die Veränderung des Datums wichtig wäre, um keinen Spuren zu hinterlassen. Bei mir war das noch nicht nötig und ich fand es gut, am richtigen Tag feiern zu dürfen. Dennoch wollte sich bei mir noch keine so richtig fröhliche Grundstimmung einstellen.
Die Erinnerung an einen Traum hielt mich noch fest. Jacob war mir heute Nacht wieder begegnet. Er war hier in unserem Garten und er gratulierte mir zum Geburtstag. Dann tanzte er mit mir zu ruhiger Musik und schaute mich an, wie es sonst nur Gabriel machte. Es war so merkwürdig. Dann plötzlich kam Gabriel aus dem Haus und Jacob verwandelte sich in einen Wolf und rannte weg. Ich rief ihm noch hinterher, dass er sich hier doch nicht verwandelt dürfte, doch er war schon verschwunden. Dann kam Gabriel zu mir und fragte mich, ob alles in Ordnung sei und wollte auch mit mir tanzen, was ich natürlich gerne machte. Mein Blick ging aber immer zum Waldrand und manchmal dachte ich, die Augen eines Wolfes zu sehen, doch ich war mir nie sicher.
Was wollte mir mein verkorkstes Unterbewusstsein denn dieses Mal mitteilen? Hatte das überhaupt einen Sinn? Warum begegnete mir Jacob immer wieder in meinen Träumen, wo ich ihn doch schon ewig nicht mehr gesehen hatte. Ob das etwas mit meinem Geburtstag zu tun hatte?
Ich versuchte den verwirrenden Traum aus meinem Bewusstsein zu schieben und stand auf. Ein Blick aus dem Fenster verriet mir, dass Dad und Emmett offensichtlich die ganze Nacht durchgearbeitet hatten. Dort stand tatsächlich ein imposanter Tanz-Pavillon und ein Holzpfad führte von ihm bis zu der Terrasse. Der Weg war gesäumt von Fackelständern, die in größerem Abstand angebracht waren. Bei Nacht musste das bestimmt toll aussehen.
Nachdem ich mich angezogen hatte, machte ich mich auf den Weg nach unten. Das heißt, ich wollte mich auf den Weg nach unten machen, kam aber noch nicht mal aus meinem Zimmer heraus. Kaum, dass ich die Tür geöffnet hatte, sprang mich auch schon ein kleines fröhliches Energiebündel mit kurzen stacheligen Haaren an und riss mich zu Boden.
»Alles gute zum
Geburtstag!«, hörte ich den hellen und klaren Klang dieser
unverwechselbaren Stimme.
»Au! … Danke Alice.«
»Du
hast dir ja ganz schön Zeit gelassen«, tadelte sie mich.
»Ich wollte unbedingt die Erste sein, die dir gratuliert, aber
ich hatte keine Ahnung, wann du endlich aufstehst. Du kannst dir
nicht vorstellen, wie merkwürdig das für mich ist, so etwas
nicht zu wissen. Ich habe zwei Stunden vor deiner Tür
gewartet.«
»Du bist so ein verrücktes Huhn. Ich
hab’ dich ja sooo lieb«, sagte ich und drückte sie
fest an mich.
»Ich dich auch, du süßer Fratz.
Komm, die Anderen warten im Wohnzimmer auf dich.«
Wir gingen hinunter und wurden dort mit einem Geburtstagsständchen meiner ganzen Familie begrüßt. Das war so schön und alle waren festlich gekleidet. Mom trug zu ihrem blauen Kleid die Holzkette mit dem Sternanhänger, den ich ihr mal geschnitzt hatte. Diese Stück hütete sie wie ihren größten Schatz. Nur zweimal im Jahr, legte sie die Kette um. An meinem Geburtstag und an Weihnachten.
Auf dem Esstisch entdeckte ich drei Torten und auf jeder waren fünf lange Kerzen. Ich fand das sehr witzig. So feierten wir gleichzeitig meinen echten fünften wie auch den vorgetäuschten fünfzehnten Geburtstag. Wer wohl diese Idee hatte?
Nach dem Ende der Gesangseinlage fielen alle über mich her, um mir zu gratulieren. Dann schoben sie mich zu einer Ecke des Wohnzimmers, in der sie meine Geschenke aufgestapelt hatten. Ich ließ mich natürlich nicht lange bitten und machte mich gleich ans Auspacken.
Von Emmett bekam ich eine neue Gitarre, die einfach super aussah und gut in der Hand lag. Rose und Alice hatten mich mit Handtaschen und unzähligen Accessoires wie Armreifen und Halsketten überhäuft. Jasper hatte mir ein Mountainbike geschenkt, wobei ich noch nicht so recht wusste, was ich damit anfangen sollte. Von Carlisle und Esme bekam ich eine Sammlung von Büchern. Etwas Anderes, als hier normalerweise gelesen wurde. Es waren Jugendbücher mit Liebesgeschichten, aber auch Vampir-Romane und Horrorbücher. Sie meinten, dass das doch mal eine andere Art von Literatur wäre und dass es mir vielleicht ja auch helfen könnte, mit Klassenkameraden noch weiteren Gesprächsstoff zu haben. Ich fand das Geschenk jedenfalls klasse. Mom und Dad schenkten mir für die Winterferien ein Flugticket nach Forks zu Opa und ein weiteres im Anschluss nach Südamerika, damit ich noch mal Zafrina besuchen könnte. Bei diesem Geschenk fühlte ich mich hin und her gerissen. Ich freute mich total darauf, sie wieder sehen zu können und das zeigte ich auch, doch auf der anderen Seite wäre ich dann ja von Gabriel getrennt. Das gefiel mir nicht, doch ich wusste auch, dass praktisch die ganze Familie in den Ferien verreisen wollte. Vor allem Emmett, der unbedingt irgendwo hin wollte, wo er etwas Ordentliches zu Essen bekam.
Dann lag da noch ein kleines Päckchen von Opa dabei. Freudig packte ich es aus und holte eine kleine Schneekugel mit der Figur eines Anglers heraus. Auf dem Sockel war “damit du deinen Opa nicht vergisst” eingraviert. Ich freute mich über das Geschenk, doch konnte ich keines von Jacob entdecken. Er hatte mir doch bislang immer etwas zum Geburtstag und zu Weihnachten geschenkt.
»Momma? Hat Opa auch etwas von Jacob mitgeschickt?«
Alle schauten mich betroffen an. Das alleine war schon Antwort genug.
»Es tut mir leid, Liebling.«
Ich zuckte mit den Schultern. Es war traurig, aber es konnte ja auch nicht ewig so weitergehen, also schob ich den Gedankten beiseite und versuchte mich einfach über das zu freuen, was ich bekommen hatte.
Nachdem all diese tollen Geschenke bewundert und gewürdigt waren, machte ich mich erst mal über ein ordentliches Stück Kuchen her. Esme verriet mir, dass sie die Kuchen in der Nacht zusammen mit Mom gebacken hätte und ich musste sie dafür auch beide loben, den der Geschmack war super.
Nachdem ich fertig war, zog ich mich kurz zurück, um meinen Opa anzurufen und mich für das Geschenk zu bedanken. Es war schön, seine Stimme zu hören, obwohl er wie immer recht wortkarg war. Ich übergab das Gespräch dann noch an Mom und schlenderte ein wenig herum und sah mir genauer an, wie das Haus für meine Feier dekoriert war. Neugierig ging ich auch vor das Haus, denn dort hatten gestern ja Alice und Rose gewütet. Wahnsinn, was die da alles gemacht hatten. Der ganze Weg von der Hauptstraße bis zum Haus war mit Solarleuchten abgesteckt. Büsche und Sträucher waren mit bunten Luftballons und Girlanden verziert. Alles schrie geradezu nach Geburtstagsfeier und das alles nur für mich. Ich konnte es kaum abwarten, dass meine Gäste kommen würden, doch ich musste mich noch bis zum Abend gedulden. Die Feier sollte erst um sechs beginnen, aber bis Mitternacht gehen und ich war schon wahnsinnig aufgeregt.
Die meisten meiner Familie huschten durchs Haus, um hier und da noch letzte Vorbereitungen zu treffen. Da ich dabei offensichtlich als Störfaktor wahrgenommen wurde, schickten sie mich kurzerhand weg. Ich könnte ja noch ein wenig spazieren gehen oder lesen oder was auch immer. Da ich wohl keine andere Wahl hatte, räumte ich das Feld, bat aber Jasper, mich ein Stück zu begleiten. Er stimmte zu und wir gingen ein Stück zusammen.
»Gefällt dir das
Fahrrad?«
»Oh ja, sehr sogar. … Ich frage mich
nur, warum du es mir geschenkt hast. Ich meine, ich brauche ja
eigentlich kein Fahrrad. … Hat das etwas mit meinem
Trainingswunsch zu tun?«
»Wo denkst du hin. Natürlich
nicht. Ich dachte mir, mit dem Rad bist du ein bisschen flexibler und
unabhängiger und kannst trotzdem auf deine Tarnung achten. Du
darfst halt nicht zu schnell fahren, aber so kannst du ja vielleicht
auch mal mit deinem Gabriel eine Radtour machen.«
»Ach
so, jetzt verstehe ich. Das ist ja noch viel toller, als ich gedacht
hatte. Danke Jasper.«
Er lächelte mich an und dann gingen wir einfach weiter. Als uns ein Reh über den Weg lief, forderte mich Jasper auf, es zu jagen. Es war ihm wohl lieber, wenn ich meinen Durst vor der Party noch stillen würde, wobei ich eigentlich gar nicht durstig war. Dennoch fügte ich mich seinem Wunsch und trank. Nachdem wir dann eine Weile durch den Wald spazierten und uns weitestgehend dabei anschwiegen, nahm ich schließlich meinen ganzen Mut zusammen und fragte ihn, was mir auf der Seele brannte.
»Jasper? Ich muss dich das
jetzt einfach fragen. Ich möchte so gerne heute meinen Freund
küssen, aber ich habe Angst davor, dass etwas schief gehen
könnte. Bitte, kannst du mir nicht irgendwie dabei helfen?«
Er
seufzte, denn er hatte wohl so etwas erwartet.
»Renesmee.
Ich kann dir nicht wirklich dabei helfen. Würdest du wirklich
wollen, dass ich in dem Moment in deiner Nähe bin und deine
Gefühle überwache?«
Auch ich seufzte. Das wollte ich natürlich nicht.
»Aber was soll ich denn machen? Ich will es doch so sehr. Alles an mir sehnt sich danach. Kann das wirklich der Vampir in mir sein, der das will?«
»Nein Kleines, das
bestimmt nicht. Das bist schon du, der das will, aber der Vampir in
dir ist immer dabei und lauert. Das muss dir klar sein.«
»Ja,
aber woran erkenne ich das denn? Ich meine, ich fühle mich bei
Gabriel manchmal wie in meinem Jagdmodus, obwohl er es nicht ist. Ich
bin immer so aufgeregt und nervös und … verlangend. Es
ist alles so neu und merkwürdig und unbekannt. Ich weiß
einfach nicht, ob sich mein Verlangen auf die Liebe bezieht oder auf
den Durst nach Menschenblut. Das Erlebnis nach dem Kino hat mich
total verunsichert. Ich dachte, ich wollte einfach nur bei ihm sein
und dann plötzlich sah ich nur noch seine pochende
Halsschlagader.«
»Genau das ist es, Nessie. Dein
Verlangen richtet sich auf beides. Seine Liebe und sein Blut. Du
wirst noch viel Erfahrung benötigen, um das sicher unterscheiden
zu können.«
»Viel Erfahrung?«, fragte ich
missmutig.
»Daran führt kein Weg vorbei. … Du
kennst doch unsere Freunde, die Denalis.«
Ich nickte.
»Lange
vor deiner Zeit, ernährten sich Kate und Tanya von Menschen.
Vornehmlich von Männern, zu denen sie sich auch körperlich
hingezogen fühlten. Sie haben sehr lange gebraucht, um diese
beiden Instinkte voneinander trennen zu können.«
Ich
erschrak.
»Aber Jasper. Heißt das, sie haben die
Männer geliebt und doch getötet? I-I-Ich will auf keinen
Fall Gabriel etwas antun. Das könnte ich mir ja nie
verzeihen.«
»Ganz so war es nicht, Renesmee. Ich würde
eher sagen, sie mochten die Männer, doch sie wollten auch ihr
Blut und der Wunsch war stärker. Bei dir ist es wohl ein wenig
anders.«
»Bist du sicher?«
»Natürlich
bin ich mir sicher. Gabriel bedeutet dir viel und du willst, dass ihm
nicht schlimmes passiert und nur deshalb lebt er noch.«
»Aber
was heißt das denn jetzt? Wie soll ich mich denn
verhalten?«
»Nessie. Hundertprozentige Sicherheit gibt
es nicht. Wenn du sicher gehen willst, ihm nie etwas zu tun, dann
müsstest du dich von ihm fern halten. Wenn du mit ihm zusammen
sein willst, dann musst du immer auf deine Gefühle achten. So,
wie es dir auch nach dem Kino gelungen ist, obwohl es knapp war.
Konzentriere dich darauf, nur das zu tun, was ihm nicht schaden kann.
Das ist sehr schwer, ich weiß das, vor allem für dich, wo
du doch von all den neuen Emotionen so überrannt wirst, doch die
Alternative heißt Abstand.«
Ja, ich verstand, was er meinte. Emmett hätte wohl einfach wieder “no risk, no fun” gesagt, was auch auf diesem Gebiet merkwürdig zutreffend war. Aber konnte ich das? Konnte ich sein Leben riskieren, um mit ihm Spaß zu haben? Nein, nicht für den Spaß, aber für die Liebe? Die Vorstellung, von ihm Abstand halten zu müssen, war furchtbar. Das wollte ich nicht, oder besser gesagt, das konnte ich nicht.
Ich bedankte mich bei Jasper und ging noch ein wenig allein spazieren. Das Nieselwetter war nicht gerade einladend, um meinem Platz einen Besuch abzustatten und ich wollte ja auch nicht völlig durchnässt nach Hause kommen. Andererseits war die kühle, frische Luft auch sehr angenehm und half mir, einen klaren Kopf zu behalten. Ich dachte viel über Jaspers Worte nach und mehr und mehr reifte in mir der Wunsch, es vorsichtig auszutesten, wie weit ich gehen konnte, ohne ihn zu gefährden.
Schließlich ging ich wieder nach Hause und beschloss, noch ein entspannendes Bad zu nehmen und dabei weiter nachzudenken. Als es allmählich an der Zeit war, zog ich mein neues Outfit an, natürlich mit einem dieser faszinierenden Stringtangas, ging wieder nach unten und wartete auf meine Gäste.
Das Wohnzimmer war inzwischen vollkommen umgeräumt. Die eine Hälfte war praktisch zur Disco umgestaltet worden und die andere Hälfte zur Chilloutzone mit diversen Sitzgelegenheiten und einer Bar, an der Dad verschiedene alkoholfreie Cocktails mixte. Hoffentlich waren meine Gäste wegen des strickten Alkoholverbots nicht enttäuscht, aber Carlisle hätte dafür nicht das leiseste Verständnis, zumal Alkohol auch einen furchtbaren Geruch hatte. Hier im Wohnzimmer waren zahlreiche Knabbereien platziert und draußen auf der Terrasse gab es warme Speisen, die wohl von einer Catering-Firma stammten und in Warmhaltevorrichtungen bereitstanden. Dort waren jetzt auch Heizstrahler angebracht, wenn es gegen Abend kühler würde. Wenigstens hatte der Nieselregen aufgehört und Alice meinte, dass es ein sehr schöner Abend werden würde und viele bestimmt auch draußen sein wollten. Dann hörten wir ein erstes Auto vorfahren, obwohl es doch erst halb sechs war.
Voller Freude lief ich zur Eingangstür und trat hinaus. Zuerst bemerkte ich, dass es wegen der Wolkendecke schon etwas dunkler war und die Solarleuchten angegangen waren. Der ganze Weg bis zur Straße hin war gesäumt von unzähligen Lichtern. Aber nicht nur die leuchteten, sondern auch die Luftballons. Weiß der Kuckuck, wie sie das hinbekommen haben.
Das anfahrende Auto war mir zwar fremd, doch ich erkannte sofort Lissie, die auf dem Beifahrersitz saß. Das Auto fuhr im großen Bogen auf den Vorplatz und blieb seitlich vor dem Haus stehen. Da bemerkte ich dann auch, dass die Rückbank ebenfalls besetzt war. Überrascht stellte ich fest, dass es Gabriel war. Warum kam er denn mit Lissie zusammen? Hatte das einen besonderen Grund?
Meine Freundin stieg als Erste aus und lief auf mich zu.
»Alles gute zum
Geburtstag!«, begrüßte sie mich fröhlich und
fiel mir um den Hals.
»Danke Lissie. Ich freu’ mich ja
so, dass du da bist.«
» … dass ihr da seid«,
ergänzte ich noch schnell, als Gabriel ebenfalls bei mir
ankam.
»Ich wünsche dir auch alles Gute zum Geburtstag,
Nessie«, sagte er, nahm mich in den Arm und gab mir einen Kuss
auf die Wange.
Hmm, er roch sehr gut, hatte aber leider wieder dieses etwas störende Aftershave aufgetragen. Nun ja, das würde ja hoffentlich nicht ewig seinen tollen Duft beeinträchtigen. Ich schaute ihn verliebt an und bemerkte, wie er aus seiner Hosentasche ein kleines Päckchen herausholte und es mir mit einem unsicheren Lächeln reichte.
»Hier für dich. Ich
hoffe es gefällt dir.«
Überrascht nahm ich es
an.
»Aber du hättest mir doch nichts schenken müssen.
Du bist da und mehr habe ich mir nicht gewünscht.«
Jetzt lächelte er sehr glücklich und ich machte das Päckchen auf. Es kam ein kleines silbernes Kettchen mit einem Herzanhänger zum Vorschein. Ich freute mich sehr über dieses süße Geschenk.
»Vielen Dank Gabriel, legst du es mir gleich an?«, sagte ich und streckte ihm die Schachtel und mein linkes Handgelenk entgegen.
»Äh ja, klar«,
meinte er und versucht dann mit zittrigen Fingern den Verschluss zu
öffnen, um mir die Kette umzulegen.
»Soll ich helfen?«,
fragte Lissie mit einem verschmitzten Lächeln.
»Nein,
ich schaff’ das schon«, gab er leicht gereizt zurück
und er behielt recht.
»Du sieht toll aus, Nessie. Hast du
das Outfit auch geschenkt bekommen?«, wollte Lissie
wissen.
»Ja, von meinen Tanten.«
»Hä?
Ich dachte du bist eine Waise und hast keine Verwandten mehr?«
Verflucht. Was hatte ich jetzt wieder angestellt? Wie konnte ich nur so blöd sein. “Was mach’ ich denn jetzt?”, fragte ich mich selbst halb verzweifelt.
»Vanessa Masen!«, hörte ich plötzlich Rosalies ernste Stimme und drehte mich zu ihr um. Sie stand mit Alice schräg hinter mir und hatte die Fäuste in die Hüften gestemmt. Beide schauten mich brüskiert an.
»Da gehen wir mit dir extra einkaufen und schenken dir diese tollen Sachen und du beschimpfst uns zum Dank als Tanten?«
Oh man. Rosalie hatte mir aus der Patsche geholfen und Lissie hielt sich die Hand vor den Mund, um ihr grinsen zu verbergen. Auch Gabriel schien amüsiert, aber gleichzeitig auch verwirrt und wohl etwas besorgt um mich. Ich rannte sofort zu Rosalie und Alice, um das Spiel weiter mitzuspielen.
»Bitte verzeiht mir«,
sagte ich mit halb weinerlicher Stimme und fiel den beiden mit
jeweils einer Hand um den Hals, was gar nicht so einfach war, denn
schließlich war Alice ein ganzes Stück kleiner und Rosalie
etwas größer. »Ich habe das nicht böse gemeint.
Ich liebe euch doch.«
»Lieblingstante. Pah!«,
meinte Alice und reckte die Nase empor und drehte sich leicht weg.
Dennoch konnte ich gut erkennen, dass sie sich kaum ein Grinsen
verkneifen konnte und schließlich prusteten wir alle los vor
Lachen.
Dankbar und glücklich und mit leicht rotem Kopf von der ganzen Aufregung, ging ich wieder zurück zu meinen beiden Lieblingsgästen. Lissie grinste jetzt offen, da sie erkannt hatte, dass die Situation bei weitem nicht so ernst war, wie man auf den ersten Blick hätte vermuten können. Dann überreichte auch sie mir ein Päckchen. Ich nahm es an und packte es auch gleich aus. Es war die neueste Kuschelrock CD.
»Vielleicht hast du ja
Verwendung dafür«, mutmaßte sie schelmisch und
zwinkerte mir zu.
»So, du bist also diese Nessie, von der
meine Kleine hier ständig erzählt«, sagte die Frau,
die inzwischen ebenfalls ausgestiegen war. “Sicherlich Lissies
Mutter”, dachte ich mir, denn sie hatte das gleiche blonde Haar
und ebenfalls Sommersprossen im Gesicht.
»Ja Mrs. Miller.
Erfreut sie kennen zu lernen«, sagte ich und gab ihr die Hand.
Ein hauch ihre Duftes wehte mir zu und ich musste schlucken. Sie roch wahnsinnig lecker und ich verkrampfte innerlich, was mir einen roten Kopf bescherte.
»Und so höflich«,
stellte sie lächelnd fest und deutete mein Verhalten sicherlich
als Verlegenheit.
»Dann bis heute Nacht, Elizabeth«,
meinte sie noch zu Lissie, die das mit einem mürrischen »Mom«
quittierte. Dann ging sie grinsend zu ihrem Auto und fuhr weg.
Erleichtert, dass der verführerische Duft wieder weg war, entspannte ich mich recht schnell wieder und wandte mich erneut meinen Gästen zu.
»Wollt ihr nicht mit ‘rein
kommen?«, fragte ich die beiden, die natürlich sofort
nickten und mir folgten. »Wieso seid ihr eigentlich so früh?
Nicht dass ich mich nicht freue, aber ich bin schon überrascht.«
»Oh,
ich dachte, du brauchst vielleicht noch ein bisschen Hilfe bei den
Vorbereitungen und Gabriel hatte gefragt, ob er bei uns mitfahren
darf.«
Ich blickte ihn an und wartete, ob er es vielleicht
erklären wollte.
»Na ja«, begann er schließlich
stockend. »Meine Mom hatte keine Zeit und sie wollte nicht,
dass ich dann noch in der Nacht von hier aus mit dem Fahrrad nach
Hause fahre. Da habe ich eben Lissie gefragt.«
»Aber
du hättest doch bei mir anrufen können. Wir hätten
dich auch abgeholt.«
»Oh … das kam mir nicht in
den Sinn. Aber ihr habt doch bestimmt auch so alle Hände voll zu
tun und das mit Lissie hat ja geklappt.«
»Natürlich
hat das geklappt. Wie könnte ich zulassen, dass du nicht zu
Nessies Geburtstagsfeier kommst«, meinte sie gespielt
vorwurfsvoll.
Ich zeigte den beiden das Haus und erzählte dabei von seiner Geschichte. Inzwischen wusste ich von Esme ja eine Menge darüber. Dann führte ich sie den Gang entlang zu meinem Zimmer.
»Hier auf der Seite wohnen
Edward und Bella und hier ist mein Zimmer«, sagte ich, während
ich die Tür für sie aufhielt und sie hereinbat.
»Hast
du für Bella und Edward auch Spitznamen?«, wollte Lissie
wissen.
Was sollte ich ihr denn dazu sagen? Im Grunde war das mit den Tanten ja gar kein richtiger Spitzname. Das war vielmehr ein Versehen gewesen.
»Na ja, nicht so richtig, aber manchmal sind sie so fürsorglich, dass ich sie Mom und Dad nenne.«
Lissie grinste breit und betrat mein Reich. Sie blickte sich kurz um und ging gleich zu einem der großen Fenster auf der Rückseite.
»Wahnsinn diese Aussicht.
Gabriel? Ist das nicht wunderschön?«, meinte sie.
»Ja
ist es«, antwortete er, starrte dabei aber nur mich an, was bei
mir sofort eine atomare Kettenreaktion in meinem Gesicht auslöste,
denn ich fing unweigerlich an ihn anzustrahlen und fühlte die
Hitze aufsteigen. Dann schaute sich Lissie genauer im Zimmer um und
entdeckte meine Staffelei.
»Wow. Hast du das
gemalt?«
»Ja, daran arbeite ich schon eine ganze
Weile. Immer wenn das Licht schön ist und ich Lust habe.«
»Oh
man. Wenn Mrs. Stuard das sieht, kriegst du bestimmt ein A dafür.«
Als nächstes fielen ihr meine Wolfsfiguren auf.
»Man sie die toll. Wo hast du die denn her? … Moment mal. … Bist du das etwa?«
Himmel. Was wird denn heute noch alles schief gehen? Ich hätte sie vorher wegräumen sollen.
Ȁh ja, die habe ich
mal geschenkt bekommen. … Von einem früheren Freund. …
Aus dem Waisenhaus. … Er stand auf Wölfe.«
»Und
was ist das für ein toller Stein?«, fragte sie und zeigte
auf den Brillanten von den Volturi.
»Auch ein Geschenk. Ist
aber schon Jahre her.«
»Der glitzert ja unglaublich.
Als wäre es ein echter Diamant.«
Gabriel schaute sich
jetzt auch den Stein an.
»Der ist ja riesig. Wenn der echt
wäre, müsste er ja Millionen wert sein.«
»Ja
klar«, meinte Lissie kopfschüttelnd, »und dann
stellte man den einfach mal so auf einer Kommode ab. … Aber er
sieht schon klasse aus.«
Lissie erforschte weiter mein Zimmer und ich schaute mich unruhig um, ob hier noch etwas war, das mich vielleicht verraten könnte, doch mir fiel nichts auf.
»Sind das Fotoalben? … Darf ich?«, fragte sie und griff schon in mein Regal.
Verdammt, das war zu riskant. Ihr würde bestimmt auffallen, dass diese Fotos unmöglich aus einem Waisenhaus stammen konnten.
»Nein, bitte nicht Lissie.
Das ist mir jetzt zu peinlich«, log ich.
»Ach komm
schon. Nur ein paar Bilder.«
»Lissie. Das ist mir
jetzt echt zu peinlich. Vielleicht ein andermal? Heute ist doch mein
Geburtstag.«
»Also gut«, gab sie nach und ließ
das Album, wo es war.
Meine Güte. Nicht im Traum hätte ich damit gerechnet, dass ich hier so viele Fallen in meinem Zimmer hatte. Bevor noch eine andere unentdeckte Falle zuschnappen konnte, ging ich mit meinen Freunden lieber wieder hinunter ins Wohnzimmer. Auch hier bekamen beide große Augen und schienen geradezu fassungslos. Alice hatte inzwischen die Musik angestellt und ich führte Lissie und Gabriel kurz herum und dann zu Dad an die Bar, der uns sofort etwas zu trinken servierte. Von draußen waren weitere Geräusche von heranfahrenden Autos zu hören und ich machte mich auf zum Eingang, um alle zu begrüßen.
Natürlich freute ich mich über jeden, der meiner Einladung gefolgt war, auch wenn ich jetzt lieber bei meinen beiden besten Freunden an der Bar sitzen würde. Die nächste halbe Stunde kam ich hier jedenfalls nicht mehr weg. Im Minutentakt kamen Autos und brachten Gäste an. Lissie war allerdings schon bald zu mir nach draußen gekommen und stellte mir die Leute von ihrer Liste vor, die ich noch nicht kannte. Carlisle und Esme waren ebenfalls draußen und unterhielten sich meist kurz mit den Eltern, die ausgestiegen waren. Hauptsächlich machte das allerdings Carlisle, denn Esme war ständig damit beschäftigt, die ganzen Blumensträuße, die ich geschenkt bekam, in Vasen zu verfrachten und im Haus zu platzieren. Während ihr das anfangs noch Freude zu machen schien, hielt sich die Begeisterung spätestens nach dem fünfzehnten Blumenstrauß aber arg in Grenzen. Vasen hatte sie natürlich genug, aber dann immer einen passen Platz zu finden, schien für sie eine anstrengende Herausforderung zu sein.
Als dann endlich alle Gäste da waren - und es waren mehr als ich eingeladen hatte, denn einige brachten noch einen Freund oder eine Freundin mit - gingen wir hinein. Die Musik war inzwischen etwas lauter, doch es traute sich noch niemand auf die ausgewiesene Tanzfläche.
»Soll ich mit Rosy den
Anfang machen?«, fragte mich Emmett mit Blick auf die ganzen
Tanzmuffel.
»Bloß nicht. Wenn die euch gesehen haben,
trauen die sich erst recht nicht.«
»Das wäre
natürlich auch möglich«, meinte er breit grinsend und
ging dann mit Rosalie in Richtung Bar.
Dann kam Alice zu mir und meinte, dass ich vielleicht den Anfang machen sollte. Ich schluckte, aber ich hatte auch keine bessere Idee. Also ging ich nervös zu Gabriel.
»Ha-Hast du Lust mit mir zu tanzen?«
Er zuckte mit den Schultern und schien wenig begeistert zu sein.
»Also wenn du willst, dann
mache ich mit dir den Anfang«, sagte Lissie, doch das schien
Gabriel noch weniger zu gefallen.
»Nein ich mach das
schon«, sagte er auf einmal sehr entschlossen, nahm meine Hand
und zog mich zur Tanzfläche.
Ich blickte noch zu Lissie zurück, die mir ein doppeltes “Daumen-Hoch” zeigte und frech grinste. Das hatte sie wohl so geplant. Nachdem wir erst sehr zurückhaltend angefangen hatten, uns zur Musik zu bewegen, wurden wir schon nach einer Minute lockerer und bekamen allmählich auch Spaß an der Sache. Es dauerte auch nicht mehr lange und Connie und Nathan schlossen sich uns an. Schon fünf Minuten später tanzten etwa zwei Drittel meiner Gäste.
Es war berauschend. So viele Menschen um mich herum, die sich zur Musik bewegten. Überall konnte ich die steigende Herzfrequenz wahrnehmen und die Gerüche, die sie verströmten, die pulsierenden Schlagadern, den Adrenalinduft, der in der Luft schwebte, aber vor allem Gabriel, der immer in meiner Nähe war und den ich intensiver wahrnahm als alle Anderen. Es war anstrengend. Sehr anstrengend. Nicht vom Tanzen her, sondern wegen der Konzentration, die ich aufbringen musste, um auf meine Instinkte zu achten. Nach zwanzig Minuten brauchte ich eine Pause und gab Gabriel ein Zeichen, dass ich zur Bar gehen wollte. Meine Kehle brannte etwas und ich hatte das dringende Bedürfnis etwas zu trinken und das sollte nach Möglichkeit maximal ein Blutorangensaft sein.
Dad stellte mir gleich einen Longdrink hin, der eine verdächtig rote Farbe hatte. Es schmeckte allerdings tatsächlich nur nach Fruchtsaft, was mich fast ein bisschen enttäuschte, weshalb er mich wohl schief angrinste. Las er etwa meine Gedanken?
Er nickte.
Mist. Mom schirmte mich also
nicht ab. Gut, das war wohl eine Vorsichtsmaßnahme, angesichts
der ganzen Gäste hier. Damit würde ich wohl leben müssen.
Ich trank meinen Saft aus und ließ mir gleich den nächsten
geben. Dann schaute ich mir das Treiben im Wohnzimmer gleich viel
entspannter an. Alle schienen Spaß zu haben, nur einer nicht.
Martin stand etwas abseits und beobachtet die Tanzenden. Das gefiel
mir nicht. Ich fragte Gabriel ob es ihm etwas ausmachte, wenn ich
kurz zu Martin gehen würde, was er schließlich mit wenig
Begeisterung aber Verständnis akzeptierte. Also ging ich zu ihm,
um mich ein wenig zu unterhalten. Ich versuchte auch, ihn zum Tanzen
zu überreden, doch das lehnte er strickt ab.
Nach zehn Minuten hielt es Gabriel wohl nicht mehr aus und kam wieder an meine Seite. Lissie vergnügte sich derweilen auf der Tanzfläche und sah sehr fröhlich, wenn auch schon etwas erschöpft aus. Im Gedanken bat ich Dad noch, dass er vielleicht Alice dazu bringen könnte, sich mit Martin zu beschäftigen. Sie würde wohl am ehesten einen Weg finden, ihn aus der Reserve zu locken.
Ich ging mit Gabriel zu meiner Geschenke-Ecke und zeigte ihm, was ich heute so bekommen hatte. Lissie, die das bemerkte, kam einfach auch dazu und noch ein paar andere Freunde waren sehr interessiert. Vor allem das Fahrrad und die Gitarre erregten große Aufmerksamkeit.
»Ich würde dich gerne
mal spielen hören«, meinte Gabriel mit Blick auf die
Gitarre.
»Au ja. Spiel uns was vor«, jubelt Lissie
geradezu.
»Ach, dass will doch jetzt bestimmt keiner hören«,
meinte ich unsicher.
»Na, das finden wir ja gleich heraus«,
sagte sie und ging zur Stereoanlage, um die Musik leiser zu stellen,
was einige Buh-Rufe zur Folge hatte.
»Ist ja gut, Leute. …
Also wer Lust hat, Nessie mal Gitarrespielen zu hören, der soll
doch bitte mal die Hand heben«, rief sie und streckte dabei
selbst die Hand in die Luft. Gabriel Hand folgte sofort und die
beiden blieben zu meiner Überraschung nicht alleine. Ein
Großteil meiner Gäste war sehr interessiert daran und
somit hatte ich keine Wahl mehr.
»Also gut«, gab ich
mich geschlagen und winkte Emmett zu, der natürlich alles
mitbekommen hatte und grinsend zu mir kam.
»Hast du Lust,
Em?«
»Klar Süße. Mit dir doch immer.«
Ich schnappte meine neue Gitarre und forderte alle Interessierten auf, uns zu folgen.
Zum Glück war unser Übungsraum sehr geräumig und alle hatten Platz darin. Emmett setzte sich schon mal an sein Schlagzeug und ich schloss das neue Instrument an und stimmte es auch gleich.
»Was wollt ihr denn
hören?«, fragte ich in die Runde.
»Was kannst du
denn spielen?«, wollte Gabriel wissen.
Gute Frage. Eine ganze Menge eigentlich. Ich spielte ja schon seit ich klein war mit Emmett und wir hatte viele Stück einstudiert.
»Wie wäre es mit
"Hotel California" von den Eagles zur Einstimmung?«
»Das
kannst du? Cool.«
Gesagt getan und schon nach einer Minute waren alle begeistert und Emmett drehte richtig auf. Zwischendurch war ich kurz besorgt, dass er gleich wieder etwas zerdeppern würde, aber er hatte sich gerade so unter Kontrolle. Wir spielten dann auch noch "Stairway to Heaven" von Led Zeppelin und "November Rain" von Guns N'Roses.
»Boah Nessie. Du rockst voll«, meinte Lissie voller Begeisterung und ich freute mich total darüber, dass es ihr gefiel. Als Zugabe spielten wir dann noch etwas von Pink Floyd, Metallica und Santana. Danach gingen wir wieder alle nach oben und ich erhielt noch viel Lob und Bewunderung für mein Gitarrenspiel. Auch Emmett wurde von einigen bewundernd angesprochen, was ihm gut gefiel. Er war es wohl nicht gewohnt, dass Menschen so positiv auf ihn reagierten und nutzte die Gelegenheit, um mit ein paar Scherzen noch mehr für Stimmung zu sorgen.
Die Tanzfläche wurde danach allerdings nicht mehr so stark besucht. Jetzt verteilten sich meine Gäste und bildeten hier und da kleine Grüppchen. Alice hatte es auch tatsächlich geschafft, Martin mit ein paar Anderen zusammenzubringen und auch er schien sich endlich zu amüsieren.
Mir stand der Sinn jetzt nach
etwas Ruhe und Entspannung und so führte ich Gabriel zu einer
der Sitzgruppen. Allerdings waren wir dort nicht lange alleine, denn
schnell gesellten sich viele meiner Gäste zu uns. Auch wenn ich
jetzt gerne ein bisschen mit Gabriel die Zweisamkeit genossen hätte,
so war es doch auch schön, dass die Party allen zu gefallen
schien und sie gerne mit mir feierten.
Gegen elf wollte ich dann aber wirklich ein wenig mit Gabriel alleine sein und ging mit ihm auf die Terrasse. Sehnsüchtig blickte ich zu dem Pavillon, von wo sanfte Musik zu uns herüberschwebte. Die Fackeln auf dem Weg dorthin erzeugten genau das stimmungsvolle Licht, das ich mir vorgestellt hatte. Gabriel stand plötzlich ganz nah hinter mir, legte seine Arme um meinen Bauch und küsste mich ganz dicht neben meine Ohr. Ein wahnsinniger Schauer rauschte durch meinen Körper und bescherte mir eine Gänsehaut und ein verrücktes Kribbeln im Bauch. Oh, wie mich seine Nähe immer wieder faszinierte. Ich gehörte genau da hin. In seine Umarmung. So wie Eisenspäne von einem Magneten angezogen wurde, so wurde ich von ihm eingefangen.
»Magst du dort mit mir tanzen?«, hauchte er mir ins Ohr und ich bekam weiche Knie.
Wollen? Oh ja. Können? Oh je. Ich schluckte … und nickte. Er gab mir noch einen Kuss, der eine weitere Kribbelwelle verursachte und löste dann die Umarmung, um mich an die Hand zu nehmen. Dann schlenderten wir den Weg entlang.
Endlich angekommen, drehte er mich zu sich, legte seine Hände an meine Hüften und begann sich langsam zur Musik zu bewegen. Ich streichelte mit meinen Händen seine Arme hinauf und legte sie ihm in den Nacken. Wir bewegten uns wie schwerelos und sahen uns dabei tief in die Augen. Mit jedem kleinen Wippen von links nach rechts schien sich der Abstand zwischen uns millimeterweise zu verkürzen und mit jedem winzigen Stückchen, nahm ich seine Nähe und seinen Duft immer intensiver war. Seine Augen und sein sanftes Lächeln zogen mich in seinen Bann und ließen mich nicht mehr los. Warum nur hatte er so eine unglaubliche Wirkung auf mich? Er zog mich an, wie der Mond das Meer. Eben noch lag mein innerer Ozean ruhig da und kaum war er in meiner Nähe, kommt alles in mir in Bewegung. Jede Berührung von ihm, lässt die Wellen in mir höher schlagen. Ich spürte die Brandung in jeder meiner Zellen und hörte das Rauschen in meinen Ohren.
Dann, als ich ganz dicht vor ihm stand, seine Hände inzwischen den Weg um meine Taille herum zu meinem Rücken gefunden hatte und meine Arme um seinen Hals verschränkt waren, schien mein Herz kurz vor der Explosion zu stehen. Die Aufregung die ich verspürte, war verwirrend. Sein Duft war in meiner Nase, sein Blick in meinen Augen, seine Hände an meinem Körper und seine Liebe in meinem Herzen. Es war überwältigend und ich sehnte mich danach, dem einfach nachzugeben und meine Lippen die seinen berühren zu lassen. Ich hörte das Schlagen seines Herzens, das versuchte, sich meinem in der Geschwindigkeit anzugleichen. Ich nahm das Rauschen seines Blutes in seinen Adern wahr und seinen Duft, der ein leichtes Brennen in meiner Kehle auslöste.
All diese Eindrücke, die auf mich einströmten, ließen mich fast Raum und Zeit vergessen. Ich spürte wie ich den Überblick verlor, wie mir die Kontrolle entglitt. Nein, ich konnte das nicht zulassen. Ich war noch nicht so weit. Ich wollte am liebsten einfach loslassen und auf meinem Ozean zu ihm treiben, doch die Furcht, die Kontrolle zu verlieren, wenn ich in meiner Konzentration nachlassen würde, war zu groß. Es brach mir fast das Herz, doch ich konnte ihm nur einen Kuss seitlich gegen das Kinn geben und dann drückte ich mich gegen seine Brust.
Gabriel seufzte leicht und ich wusste, dass er sich mehr erhofft hatte. Ich wusste es ganz genau, denn mir ging es ebenso. Dennoch streichelte er mich beruhigend und küsste mich mehrfach aufs Haar. Schließlich nahm ich wieder Geräusche von heranfahrenden Autos wahr und ich musste einsehen, dass meine Party nun zu Ende ging. Ein Ende ohne Kuss, wie ich deprimiert feststellen musste.
Ich hörte Esmes Stimme, die mich fast entschuldigend darauf hinwies, dass einige meiner Gäste abgeholt würden. Also löste ich mich leicht von Gabriel und schaute noch mal in sein so liebevoll lächelndes Gesicht. Auch wenn er etwas enttäuscht sein musste, so zeigte er es mir zumindest nicht und ich liebte in noch mehr dafür.
Wir gingen wieder ins Haus und praktisch gleich zur Eingangstür durch. Dort verabschiedete ich Einen nach dem Anderen und jeder bedankte sich bei mir für die tolle Party.
Es war schon fast halb eins, als dann zuletzt Lissies Mom angefahren kam und meine ganze Familie mit mir vor der Tür wartete.
»Tschüss Nessie«,
meinte sie. »Das war eine super Party. … Bis
Montag.«
Dann drehte sich Gabriel wieder zu mir und küsste
mich auf die Stirn.
»Dann muss ich wohl…«
Das
war doch bescheuert. Ich wollte nicht dass er ging.
»Bitte!
Nur noch fünf Minuten«, rief ich Lissies Mom zu, die
ausgestiegen war und sich gerade mit Carlisle und Esme unterhielt.
Sie lächelte mir zu und nickte und ich ergriff Gabriels Hand und
zog ihn zurück ins Wohnzimmer.
»Was hast du vor?«,
wollte er wissen.
»Nicht reden.«
Ich zog ihn zu einem Stuhl am Esstisch, drehte den Stuhl herum und bat Gabriel sich zu setzen. Dann führte ich seine Hände nach hinten, damit er sich seitlich am Stuhl festhalten konnte.
»Nessie, was…«
Ich legte ihm den Finger auf die Lippen und schüttelte mit dem Kopf. Dann setzte ich mich vorsichtig auf seinen Schoß.
»Versprich mir, dass du die Hände dort lässt, wo sie sind, ja?«
Er sah mich verwundert mit großen Augen an und nickte schließlich. Ich löste meinen Finger von seinen Lippen und kaute nervös auf meiner Unterlippe herum. Dann streichelte ich sein Gesicht und fuhr ihm anschließend mit den Händen durch die Haare und rutschte ein wenig näher an ihn heran. Sein Herzschlag beschleunigte sich wie meiner und unser beider Aufregung ließ die Luft erzittern. Mein Gesicht schien zu glühen und meine Lippen kribbelten. Ich wollte ihn küssen und ich lauschte einen Moment lang in mich hinein. Nein, da war nichts außer dem Wunsch zu küssen. Ich näherte mich seinem Gesicht und vergrub meine Finger in seinen Haaren. Sehr sanft und darauf bedacht ihm nicht weh zu tun, zog ich seinen Kopf leicht nach hinten in den Nacken. Dann hielt ich die Luft an und überbrückte den letzten Zentimeter und küsste ihn. Ich küsste ihn auf den Mund. Meine Lippen schlossen sich sanft um seine Oberlippe. Sein Geschmack war berauschend und ich spitzelte mit der Zuge hervor um seine Lippe zu berühren. Meine Lunge schrie nach Luft und zwang mich dazu, scharf einzuatmen. Sein Duft und sein Geschmack raubten mir fast die Sinne. Ich zog die Luft durch meinen leicht geöffneten Mund und mit ihr auch seine Lippe tiefer hinein und im Gegenzug glitt meine Unterlippe in seinen, denn er tat das Selbe. Ich keuchte leise und griff ihm fester in die Haare. Die Intensität dieses Augenblicks war unbeschreiblich und ich musste meine ganze Konzentration aufbringen, um die Beherrschung zu behalten und ihm nicht weh zu tun. Ich wollte mich kurz von ihm lösen, doch er reckte mir seinen Kopf entgegen, um den Kuss fortzusetzen. Auch sein Mund war leicht geöffnet und ich spürte seine Zunge, die meine Lippe berührte und das Prickeln in ihr verstärke. Von dort aus schien es sich über meinen ganzen Körper auszubreiten und wütete besonders stark in meinen empfindsamsten Regionen. Sein Atem vermischte sich mit meinem und ich wiederholte das faszinierende Spiel, doch jetzt mit seiner Unterlippe.
Schließlich musste ich mich dazu zwingen, mich von seinen Lippen zu lösen, um erst einmal kurz durchatmen zu können. Wieder wollte er es nicht zulassen, doch ich musste mich von ihm wegdrücken, um wenigsten ein kleines Bisschen zur Ruhe zu kommen und die Fassung zu behalten.
Ich hatte es geschafft. Endlich. Mein erster richtiger Kuss und er war atemberaubend.
»Bitte Nessie. Darf ich dich jetzt in den Arm nehmen?«
Konnte ich das zulassen? Wenn ich jetzt auch noch die Berührungen seiner Hände spüren würde, würde das meine Beherrschung nicht vielleicht überfordern? Oh ich wollte berührt werden, nichts lieber als das, aber war das nicht zu riskant?
»O.K. aber ganz sachte, ja?«
Er nickte und nahm ganz langsam die Hände nach vorne, streichelte über meine Oberschenkel, was eine brennende Spur hinterließ und legte sie dann auf meiner Hüfte ab. Dort ließ er sie ruhig liegen. Es fühlte sich so gut an und ich neigte noch mal meinen Kopf, um ihn erneut zu küssen. Kaum, dass sich unsere Lippen berührten, zog er mich mit seinen Händen an meiner Seite fester an sich. Er presste meinen Unterkörper ganz nah an seinen und ich spürte von unten einen leichten Druck an meinem Schoß, der dort ein heftiges Zucken in meinem Innern auslöste.
Überrascht von diesem intensiven und wundervollen Gefühl musste ich den Kuss abbrechen und drückte mich leicht mit den Händen von seiner Brust weg und rang um Atemluft.
»Entschuldige«, sagte er schuldbewusst, doch ich schüttelte den Kopf und lächelte ihn glücklich an.
Noch einmal spürte ich ein leichtes Pochen an meiner intimsten Stelle, was eine weiter kribbelnde Welle durch meinen Körper jagte und die Schmetterlinge in meinem Bauch in den Wahnsinn trieb. Dann hörten wir ein grausames Klopfen an der Tür, das uns darauf Aufmerksam machte, dass die fünf Minuten wohl vorbei waren, wenn wir sie nicht schon deutlich überzogen hatten. Ich stieg mit einer Mischung aus Wehmut und Erleichterung von seinem Schoß herunter und kam nicht umhin festzustellen, was mich da gerade von unten berührt hatte und dieses intensive Gefühl in mir auslöste. Es war uns beiden irgendwie peinlich und deshalb lächelten wir auch nur verlegen. Für ihn war es sicherlich noch peinlicher als für mich, so wieder das Wohnzimmer zu verlassen, doch ich entschädigte ihn draußen vor allen Anderen mit einem weiteren Kuss auf den Mund. Dann fuhr er mit Lissie davon und meine ganze Familie strahlte mich freudig an. Mom drückte mich an sich und auch Rosalie konnte nicht widerstehen, mich fest in den Arm zu nehmen. Keiner sagte etwas, aber das war auch nicht nötig. Ich war glücklich und jeder konnte es mir ansehen. Allerdings auch sehr müde, was sich nun, da die Aufregung von mir abgefallen war, in einem durchdringenden Gähnen äußerte. Mom schickte mich daraufhin einfach ins Bett und ich fügte mich sehr gerne. Ich ging zu Bett und schon kurze Zeit später, umfing mich auch schon ein tiefer Schlaf.
Ich war glücklich. Die Wochen nach meinem Geburtstag waren die schönsten meines Lebens. Jeder Tag in der Schule, an dem ich mein Gabriel sehen durfte, war ein Geschenk und jedes Mal bedankte ich mich mit einem Kuss dafür. Ich liebte es, ihn zu küssen, auch wenn es immer furchtbar anstrengend war, die Konzentration aufrecht zu erhalten. Solange er mich beim Küssen nicht zu fest an sich drückte oder zu wild streichelte, klappte es richtig gut, doch wenn er sich nicht zurückhielt, musste ich den Kuss beenden. Ich bekam dann immer Angst, von den wundervollen Gefühlen überrannt zu werden und die Kontrolle zu verlieren, doch das wollte ich niemals zulassen. Das irritierte ihn zwar jedes Mal, doch er begriff schnell, auch ohne dass ich ihm etwas erklären musste, dass er dabei nicht zu aktiv werden durfte. Für seine rücksichtsvolle Art liebte ich ihn nur noch mehr.
Einen Wermutstropfen hatten diese schönen Wochen aber dennoch. Immer und immer wieder begegnete mir Jacob im meinen Träumen. Ich verstand einfach nicht, warum dies in letzter Zeit so häufig der Fall war und warum er in diesen nächtlichen Phantasien häufig Gabriels Platz einnahm. Das war so merkwürdig. Es war dann auch immer so, dass Jacob schnell verschwand, sobald Gabriel wieder auftauchte und mich für sich forderte. Ist stand dann sogar in meinen Träumen immer ratlos herum und wusste nicht, was ich tun sollte.
In der Schule hingegen lief es richtig locker. Vielleicht hatte ich es mir mit meiner Fächerauswahl auch zu einfach gemacht, denn in jeder Klausur bekam ich ein A. Selbst in Geographie, weshalb es Mrs. MacLeish wohl endgültig aufgegeben hatte, mich zu piesacken. Jetzt benutzte sie mich eher, um andere fertig zu machen, in dem sie zum Beispiel sagte, dass sich der- oder diejenige schämen sollte, so viel schlechter als eine amerikanische Gastschülerin zu sein. Dummerweise, hatte sie genau das zu Lou gesagt, deren Zorn auf mich dadurch eine neue Dimension erreicht hatte. Bislang beließ sie es aber dabei, hinter meinem Rücken über mich herzuziehen, doch damit konnte ich gut leben. Ich ignorierte sie einfach und freute mich stattdessen auf meinen Gabriel.
Da meine Geschwister wie zu erwarten war ebenfalls nur Bestnoten mit nach Hause brachten, hatte unsere Familie schon bald einen gewissen Streber-Ruf. Für die Anderen außer Mom und mich war es ja nichts Neues, mit viel Missgunst und Neid betrachtet zu werden. Wir beide taten uns damit schon schwerer. Vor allem Mom ging inzwischen gar nicht mehr gerne in die Schule. Sie schaffte es nicht, mit anderen in freundschaftlichen Kontakt zu treten, freute sich aber für mich, da ich einen netten Freundeskreis hatte. Ich war mir ziemlich sicher, dass sie nur noch wegen Dad zur Schule ging, um immer in seiner Nähe sein zu können.
Meine Clique war jedoch echt
toll und Lissie definitiv die beste Freundin, die man sich wünschen
konnte. Ich war inzwischen auch mehrmals mit ihr shoppen und es hatte
jedes Mal Spaß gemacht. Bei der Gelegenheit hatte ich natürlich
auch schon angefangen, die Weihnachtsgeschenke für meine Familie
einzukaufen und war jetzt schon praktisch fertig damit. Manchmal
waren auch andere aus unserer Kantinen-Runde dabei und es wurde immer
viel herumgealbert und gelacht. Mit Gabriel war es aber leider nicht
so spaßig. Ihm bereitete ein Einkaufsbummel offensichtlich
keine Freude und so ließ ich es nach dem zweiten missglückten
Versuch lieber bleiben. Er kaufte nie etwas und sah mich auch
merkwürdig an, wenn ich mit meiner Kreditkarte etwas bezahlte.
Ich durfte ihm noch nicht mal einfach so eine Kleinigkeit kaufen und
schenken. Das lehnte er kategorisch ab und die Stimmung war danach
total im Keller. Nein, auf so etwas konnte ich verzichten. Da
verbrachte ich meine Zeit mit ihm lieber auf andere Art und Weise.
Lissie hatte es zu meinem großen Bedauern sehr viel schwerer in der Schule als ich. Ihre Noten waren alles Andere als gut und sie hatte jetzt schon Panik, dass sie vielleicht nicht den benötigten Notenschnitt für die Versetzung erreichen würde. Ich hatte ihr natürlich angeboten, ihr bei den Hausaufgaben und beim Lernen zu helfen, doch sie zögerte noch, darauf einzugehen. Sie wollte es lieber selbst schaffen und ich versuchte ihr wenigstens Mut zu machen.
Gabriel hingegen hatte nur in Spanisch Probleme und da hatte er mich tatsächlich gefragt, ob ich ihm Nachhilfestunden geben würde. Meine Familie hatte dem zugestimmt, wenn es Samstags nachmittags nach der Jagd bei uns stattfinden würde. Gabriel und mir war das sehr recht, konnten wir uns doch so jetzt immer an sechs Tagen in der Woche sehen … und küssen. Jedenfalls kam häufig auch Lissies Geburtstagsgeschenk, die Kuschelrock CD, zum Einsatz. Dann tanzten wir wie an diesem wunderschönen Abend an meinem Geburtstag.
Manchmal fuhren wir auch zusammen mit den Fahrrädern durch die Gegend. Anfangs war ich etwas besorgt, dass ich vielleicht zu auffällig dabei sein könnte, doch ich bekam es gut hin. Fahrradfahren war echt leicht und ich orientierte mich einfach an Gabriel.
Ich zeigte ihm auch meine neuen
Erinnerungsfotos. Nach dem Beinahedesaster mit Lissies Neugierde, bat
ich Alice, meine gesamten Fotos zu bearbeiten, um sie menschlicher zu
machen und teilweise nach Waisenhaus aussehen zu lassen. Sie hatte
ganze Arbeit dabei geleistet und sogar die Kleidung, die ich auf den
Bildern trug, verändert. Beim Bearbeiten war ihr nämlich
aufgefallen, dass meine Sachen zu modern war, und nicht zu dem Datum
passten, an dem die Aufnahmen gemacht worden sein sollten. Also hatte
sie alles retuschiert und mir ein perfektes neues Fotoalbum
zusammengestellt, dass ich bedenkenlos Gabriel und Lissie zeigen
konnte.
Die Sonntage hingegen waren für die Familie und insbesondere für unser Training reserviert. Gleich am nächsten Tag nach meiner Party hatte ich meine Familie noch mal darauf angesprochen, dass ich das Training mit Jasper machen möchte und sie haben es mir schließlich erlaubt.
Das führte allerdings auch dazu, dass die letzten Wochen nicht nur die schönsten meines Lebens waren, sondern auch die härtesten. Jeden Tag nach der Schule machte Jasper ein Emotions-Training mit mir. Meine Aufgabe war simpel. Ich sollte einfach nur ruhig auf einem Stuhl sitzen bleiben und versuchen, die von ihm aufgezwungenen Gefühle zu ignorieren und dabei gelassen zu wirken. Das war die Theorie. Die Praxis sah hingegen so aus, dass ich es schlichtweg nicht schaffte. Wenn er mir Freude schickte, zappelte ich ungeduldig und grinsend auf meinem Stuhl herum oder sprang lachend auf. Wenn er mit Wut schickte, ging der Stuhl nicht selten zu Bruch. Das Schlimmste war allerdings, wenn er mir Angst machte. Dann kauerte ich mich meistens schon nach Sekunden hinter dem Stuhl zusammen und wimmerte, dass er doch bitte aufhören sollte, was er natürlich auch immer tat. Zumindest bei der Angst brach er das Training frühzeitig ab. Bei den anderen Emotionen ließ er es häufig weiterlaufen und ermahnte mich immer und immer wieder, dass ich versuchen sollte, zur Ruhe zu kommen. Obwohl es mir unmöglich erschien, wollte ich die Hoffnung nicht aufgeben.
Das Kampftraining am Sonntag war hingegen ganz anders und wir trainierten fast immer den ganzen Nachmittag lang. Er brachte mir Techniken bei, schulte meine Fähigkeiten und machte auch Geschicklichkeits- und Krafttraining mit mir. Manchmal tat mir hinterher alles weh und Carlisle meinte, ich hätte wohl einen Muskelkater, was ihn selbst überraschte, denn er hatte nicht damit gerechnet, dass das bei mir möglich wäre. Für ihn war es ein Beweis dafür, dass meine Muskulatur recht menschlich reagierte und dass ich folglich auch Muskelmasse auftrainieren konnte, was er leider auch Jasper erzählt hatte.
Vor allem aber bestand unser Training darin, dass ich versuchen sollte, vor ihm wegzulaufen, was im Grunde aber lächerlich war. Wie soll man auch vor jemandem flüchten, der einem so unglaublich überlegen ist? Am Anfang dauerte es noch nicht einmal eine Sekunde und er hatte mich schon. Dann folgte eine Lektion darüber, was ich falsch gemacht hätte und wie ich es besser machen könnte und danach eine endlose Abfolge von Wiederholungen, um es einzustudieren. Er war geradezu besessen davon, mir beizubringen, wie ich einen Kampf mit einem Vampir entgehen könnte. Das sollte das Erste sein, das ich wirklich lernen musste, denn Vampire waren nun mal stärker und schneller als ich. Vielleicht nicht mehr ganz so sehr, wenn ich ausgewachsen und gut trainiert war, aber jetzt auf jeden Fall.
Das Training mit Mom zusammen bestand zumeist darin, dass ich wie immer vor Jasper flüchten sollte und mich Mom dabei verteidigte. Das war cool. Mom war sensationell und Jasper hatte große Mühe, an ihr vorbei zu kommen. Sie verschaffte mir auch häufig genug Zeit, um mich immer wieder in Sicherheit zu bringen. Es war extrem anstrengend, da ich immer hoch konzentriert sein musste, da die beiden so unglaublich schnell waren. Mom jedenfalls beschützte mich wie eine Löwin. Sie knurrte und fauchte und mehr als ein mal schleuderte sie Jasper in den Wald. Eine Tatsache, die Jasper in keinster Weise verärgerte, sondern richtig stolz zu machen schien. Jedenfalls wünschte ich mir, er würde mich nur einmal nach dem Training so zufrieden anlächeln, wie er es bei Mom machte.
Eine andere Form des
Kampftrainings bestand darin, dass Mom mich befreien musste, während
Jasper mich bewachte und gefangen hielt. Das war jetzt alles andere
als toll. Jasper nutzte seine Gabe, um mir gerade soviel Angst zu
machen, dass ich mich nicht traute aufzustehen und wegzulaufen.
Stattdessen musste ich verzweifelnd dabei zusehen, wie Mom verbissen
versuchte, an ihm vorbeizukommen. Als ich sie zum ersten Mal so
kämpfen sah, wusste ich sofort, warum sie so große
Vorbehalten gegen das gemeinsame Training hatte. Ihrem Gesicht nach
zu urteilen, war es die reinste Hölle für sie, mich so
hilflos und verängstigt zu sehen und ich bewunderte sie nur noch
mehr dafür, dass sie der schrecklichen Aura von Jasper
widerstehen konnte und einfach alles gab, um mich zu retten. Es
gelang ihr nicht immer, aber egal ob sie es schaffte oder nicht,
danach waren wir beide restlos erschöpft und Mom bestand darauf,
dass wir uns anschließend wenigstens eine halbe Stunde
zurückzogen. Meistens gingen wir dann im mein Zimmer, wo sie
mich dann auf dem Bett liegend im Arm hielt und nicht selten
erleichtert eine Melodie summte, die ich als ihr Schlaflied erkannte.
Danach ging es uns beiden wieder richtig gut. Ich war mir sicher,
dass ich bestimmt schreckliche Albträume hätte, wenn es
nicht diese schönen, entspannenden Ruhephasen nach dem Training
geben würde.
Inzwischen war es Anfang Dezember und damit recht kalt geworden. Mit Schnee würden wir zwar nicht rechnen dürfen, was ein erster Minuspunkt für die ansonsten so wunderbare Natur hier war, dennoch war heute ein schöner sonniger Tag, wie es sich für einen Sonntag gehörte.
Alice hatte mich allerdings schon beruhigt, dass die kommende Schulwoche wieder schön düster sein würde und es keine Ausrede brauchte. Überhaupt war dies nur an einem Tag in den letzten Wochen der Fall gewesen und da hatte die Familie die altbewährte Geschichte mit dem Campingausflug gebraucht. Da alle ja inzwischen gute Schulnoten hatte, gab es keine Probleme mit der Unterrichtsbefreiung. Dafür allerdings noch mehr missgünstige und neidvolle Blicke von unseren Mitschülern.
Den Sonntagvormittag hatte ich heute wie immer zur freien Verfügung und bei einem solch schönen Wetter bedeutete dies in der Regel, dass ich mir ein Buch schnappte und zu meinem Versteck im Wald lief. Ich hatte mich diesmal für einen Roman mit dem Titel “Interview mit einem Vampir” entschieden. An den Vampir-Büchern hatte ich inzwischen einen ziemlichen Narren gefressen. Gut, an vielen Stellen, wo andere Mädchen vermutlich nervös wurden, stahl sich bei mir häufig ein Schmunzeln auf die Lippen, weil die Situationen so abwegig waren. Wenn es dann allerdings zum Biss kam, war auch ich meistens sehr fasziniert.
Dieses spezielle Buch gefiel mir aber auch aus einem anderen Grund so gut. Da war der Hauptcharakter, der versuchte, sich nach seiner Verwandlung wie wir vegetarisch zu ernähren. Es gab ein Mädchen, das in einem Kinder-Vampir verwandelt wurde und genauso, wie es auch in unserer Welt erzählt wird, unberechenbar war und ganze Familien ausgelöscht hatte. Dann war da noch die Herrscherfamilie, die eben dieses Kind zum Tode verurteilt hatte, ebenfalls so, wie es bei uns die Volturi machen würden. Manche Vampire in dem Buch hatten auch besondere Fähigkeiten. Es gab einfach so viele parallelen zu unserer Welt, dass ich davon überzeugt war, dass dieses Buch von einem echten Vampir inspiriert wurde und vielleicht sogar ein echtes Interview als Grundlage hatte. Nur die Art, wie Vampire getötet wurden, passte nicht. Das wollte der wahre Informant wohl nicht preisgeben.
Während ich so in mein Buch vertieft auf meinem Baumstamm lag und mir den kalten Wind um die Ohren wehen ließ, nahm ich plötzlich einen angenehmen süßlichen Duft wahr, wie er nur von Vampiren verströmt wurde. Einen Geruch, den ich allerdings nicht kannte. Erschrocken sprang ich blitzschnell auf und schaute mich um und entdeckte einen Mann mit roten Augen. Eben noch schien er mich amüsiert beobachtet zu haben, doch kaum, dass ich mich im zugewandt hatte, veränderte sich sein Gesichtsausdruck in Überraschung. Interessiert musterte er mich und ich ihn.
Er hatte ein eher schmales doch sehr markantes Gesicht mit einem unbeschreiblich durchdringenden Blick, der mich anzog und gleichzeitig nervös machte. Er sah zweifellos gut aus, hatte einen schmalen Oberlippen- und spitz zulaufenden Kinnbart. Seine Haare waren mehr als schulterlang, schwarz und leicht gewellt. Er wirkte, als wäre er einem Piratenfilm entsprungen und mit seiner Körperhaltung unterstrich er sein verwegenes Auftreten.
Nach einer Weile veränderte sich seine Mimik und er lächelte mich an. Ein sehr schönes Lächeln, wenn auch ein wenig unheimlich, da er seine weißen, spitzen Eckzähne dabei zeigte und mir ein kleiner Schauer über den Rücken lief. Obwohl ich nicht wirklich Furcht verspürte, ertappte ich mich doch selbst dabei, wie ich Jaspers Lektionen im Gedanken noch mal durchging. Allerdings war ich mir ziemlich sicher, dass ich gar nicht weglaufen wollte. Das war kein Angstschauer, der mich da befiel.
»Nun mein hübsches
Kind. Was machst du denn so alleine im Wald?«
Hübsch?
Er fand mich hübsch? Das gefiel mir und ich lächelte ihn
an.
»Ich habe ein Buch gelesen«, antwortete ich
wahrheitsgemäß und er beobachtete mich weiterhin sehr
genau.
»Wer bist du?«, fragte ich ganz direkt.
»Hmm.
Ich bin Lennox … und du?«
»Nessie. …
Entschuldige die Frage, aber was machst du hier? Ich hatte nicht
damit gerechnet, dass mir ein fremder Vampir in diesem Wald über
den Weg laufen würde.«
Verwirrt und doch sehr neugierig
schaute er mich jetzt noch intensiver mit seinen faszinierenden roten
Augen an.
»Du weißt, dass ich ein Vampir
bin?«
»Natürlich. … Ich bin auch einer. …
Na ja, ein halber zumindest.«
»Ein Halbvampir? Ich
habe nur von einem Halbvampirmädchen gehört, doch das lebt
in Nordamerika. Nicht hier.«
»Oh, du kennst uns? Wir
sind kürzlich hierher gezogen. Ich bin Renesmee Cullen.«
Ich ging einen Schritt auf ihn zu und streckte ihm die Hand zum Gruß entgegen, doch er wich überrascht zurück. Enttäuscht ließ ich den Arm wieder sinken.
»Die Cullens sind hier? … Hier in Schottland? … Oh man.«
Er wirkte sehr besorgt, was mich wiederum total verwirrte. Was hatte er nur gegen uns? Gab es etwa schon Kontakte zwischen ihm und meiner Familie vor meiner Zeit?
»Bist du meiner Familie
schon mal begegnet?«
»Oh nein … und dabei soll
es bitte auch bleiben.«
»Tut mir leid, aber wir tun
doch niemandem etwas.«
»Ja, ja, ich habe davon gehört.
… Vegetarier … Aber das ist es nicht. Wo ihr seid, da
sind auch die Volturi und mit denen will ich keinen Ärger
haben.«
Ach so. Darum ging es also. Er fürchtete sich nicht vor uns, sondern vor den Volturi. Das erklärte einiges und es erleichterte mich auch, dass er im Grunde also nichts gegen uns hatte.
»Du kannst unbesorgt sein.
Meine Familie hat keinen Konflikt mehr mit den Volturi. Sie lassen
uns in Ruhe. Komm doch mit zu mir nach Hause, dann kannst du dich mit
meiner Familie bekannt machen.«
»Lieber nicht. Wer
weiß, wie lange euer Friede anhält. Irgendwann könnte
mir das zum Verhängnis werden.«
Wie enttäuschend. Ich hätte ihn gerne näher kennen gelernt, doch er hatte so große Vorbehalte, dass es wohl ziemlich ausgeschlossen war. Dennoch stand er da und beobachtete mich weiterhin. Eine innere Stimme sagte mir, dass es besser wäre, jetzt nach Hause zu gehen, doch eine andere wollte mehr über diesen Mann erfahren und in seiner Nähe bleiben.
»Darf ich dich noch einmal
fragen, was du hier machst?«
»Jagen«, lautete
seine kurze Antwort und mir war klar, dass es dabei nicht um Rehe
ging. Ich schaute ihn weiter fragend an und er lächelte erneut
und begann zu erklären.
»In diesen abgelegenen Gegenden
sind häufiger einzelne Wanderer, Pärchen oder kleine
Gruppen unterwegs. Leichte Beute und kein Aufsehen…. Dein Duft
hat mich angelockt.«
»Mein Duft?«, wiederholte
ich unsicher und spürte eine leichte Panik in mir aufsteigen.
Dass mich ein echter Vampir als Beute ansehen könnte, wäre
mir im Traum, beziehungsweise im Albtraum nicht eingefallen.
»Ja,
er ist … interessant. Ich konnte ihn nicht einordnen und
wollte nachsehen. Erst hielt ich dich für ein ganz normales
Mädchen, doch dann hast du dich so ungewöhnlich schnell
bewegt. Jetzt weiß ich natürlich, warum du das kannst und
warum du diesen besonderen Duft hast.«
»Mit besonders
meinst du doch hoffentlich nicht lecker«, fragte ich nach und
lächelte dabei unsicher.
Er lachte laut auf und das
Gelächter hallte von der Felswand wider.
»Oh, ich finde
dich schon lecker, aber nicht auf diese Weise. Sei unbesorgt. Mit den
Cullens will ich genauso wenig Ärger haben wie mit den Volturi.«
Ich ahnte, was er mit lecker meinte und bekam sofort ein ziemlich heißes Gefühl im Gesicht. Sicherlich wurde ich gerade knallrot, was ihn zu amüsieren schien.
»Du bist ein sehr süßes
Mädchen, aber das ist dir ja sicherlich bewusst«, sagte er
mit einer merkwürdig rauen und doch auch irgendwie samtigen
Stimme, die mir einen weiteren prickelnden Schauer über den
Körper laufen ließ. Dieser Vampir war absolut
faszinierend.
»D-Danke für das … Kompliment«,
stammelte ich und fühlte mich noch unsicherer.
»Gern
geschehen. … Kommst du öfters hier her?«
»Manchmal.
Wenn das Wetter schön ist.«
»Also nicht so oft«,
stellte er fest und wirkte dabei etwas enttäuscht.
»Warum
interessiert dich das?«
»Oh, ich finde dich nett. Ich
würde dich gerne näher kennen lernen.«
»Dann
komm doch mit zu uns und lerne meine ganze Familie kennen.«
»Nein
meine Hübsche. Das ist mir zu riskant. Tut mir leid.«
Das war doch jetzt total dämlich. Nur wegen den blöden Volturi wollte er meine Familie nicht treffen. Jetzt ließen die uns schon in Ruhe und trotzdem hatten wir Probleme wegen denen.
»Aber«, fuhr er fort, »dich würde ich gerne wieder sehen, wenn du auch möchtest. Wir könnten uns vielleicht hier treffen?«
Wieder hatten die Stimmen in mir ein heftiges Streitgespräch. Die Eine warnte mich vor diesem Unbekannten und die Andere wollte genau das ändern. Sie wollte ihn kennen lernen. Erneut gewann diese Stimme den inneren Disput und ich nickte ihm zu.
»Wenn es meine Familie
erlaubt, können wir uns gerne treffen.«
Erneut wirkte
er verunsichert.
»Nessie, ich möchte wirklich keinen
Kontakt zu deiner Familie. Ich will noch nicht mal in ihre Nähe
kommen.«
»Ja, ich verstehe schon. Ich muss sie aber
trotzdem fragen. Ich werde ihnen von deinen Vorbehalten berichten.
Wenn sie es mir nur erlauben, wenn sie dich vorher kennen lernen,
dann wird es eben leider nicht geschehen.«
»Kannst du
es ihnen nicht verheimlichen?«
Ich schüttelte den
Kopf.
»Unmöglich. Mein Dad liest Gedanken.«
»Oh!«,
sagte er und blickte unsicher um sich.
»Nein, soweit kommt
er nicht. Was glaubst du, warum ich diesen Platz für mich
ausgesucht habe?«, sagte ich und lächelte ihn an.
Er erwiderte ein sehr charmantes Lächeln und hatte dabei ein unglaubliches Funkeln in den Augen. Man, ich wollte ihn unbedingt näher kennen lernen. Ich musste es irgendwie anstellen, dass es meine Familie erlaubte.
»Und wenn sie es erlauben?
Wann sehen wir uns dann wieder?«
Ȁhm, morgen
vielleicht? Gegen Abend?«
»Gut. Ich werde hier sein«,
sagte er, noch immer sehr charmant lächelnd.
Ich nickte ihm zu, schnappte mein Buch und machte mich auf den Heimweg. Unterwegs dachte ich angestrengt darüber nach, wie ich meine Familie dazu bewegen könnte, dem zuzustimmen. Eines war klar, ich musste Mom davon überzeugen. Nur mit ihrer Unterstützung und vielleicht der von Rosalie und Alice würde es klappen. Damit Dad aber nicht zu viel erfährt, sollte ich an etwas Anderes denken.
“Wapiti, Wapiti, Wapiti”, wiederholte ich wie einstudiert in meinem Kopf.
Verdammt! Warum nur dachte ich denn jetzt an Wapitis? Das erinnerte mich natürlich sofort an Jacob und daran, wie ich damals das Weihnachtsgeschenk vor Dad geheim halten wollte. An Jacob zu denken, passt mir jetzt aber gar nicht. Er begegnete mir auch so schon viel zu häufig in meinen Träumen und er würde das hier sicherlich nicht gut finden. Er hätte garantiert nur einen verächtlichen Blick für Lennox übrig. Kein Wunder, war er doch ein Vampir, der sich von Menschen ernährte. Es konnte Jacob unmöglich gefallen, dass ich mich mit so jemandem abgeben würde.
Dämlicher Weise hatte ich jetzt doch über Lennox nachgedacht und als ich dann vor unserem Haus stand, war mir klar, dass Dad schon viel mehr mitbekommen haben musste, als ich eigentlich zulassen wollte. Schnell ging ich hinein und traf auf die halbe Familie im Wohnzimmer. Dad schaute mich natürlich grimmig an. Meine Befürchtung war wohl absolut zutreffend.
»Mom? Ich muss mit dir
reden. Können wir kurz nach oben gehen?«
Sie schaute
mich überrascht an und nickte mir zu.
»Moment. Ich will
mitreden. Jetzt«, sagte Dad mit energischer Stimme.
»Nein,
Daddy. Ich will erst mit Mom reden.«
»Oh nein,
Renesmee. Nicht bei einer solchen Sache. Da spiele ich nicht mit.«
Mom schaute ihn verwundert an und blickte dann besorgt wieder auf mich. Emmett und Rosalie kamen näher und wollten wissen, was los sei. Verflucht, so hatte ich mir das nicht vorgestellt. Das lief hier völlig verkehrt und ich sah keine Möglichkeit mehr, mein ursprüngliches Vorhaben umzusetzen. Resigniert musste ich erkennen, dass ich keine andere Wahl mehr hatte, als es gleich mit allen zu besprechen. Dann sollten aber auch alle da sein.
»Könnten vielleicht
bitte alle ins Wohnzimmer kommen?«, rief ich ziemlich laut und
schon Sekunden später war die gesamte Familie um mich
versammelt.
»Entschuldigt bitte, dass ich euch schon wieder
belästige, aber es gibt da etwas, das ich euch berichten muss.
Ich bitte euch nur, dass ihr euch erst alles anhört, bevor ihr
euch eine Meinung bildet. Das gilt vor allem für dich, Daddy.«
Alle schauten mich interessiert und gespannt an. Lediglich mein mürrischer Vater machte einen weniger offenen Eindruck und verschränkte die Arme vor der Brust. Seufzend begann ich zu erzählen und berichtete den Anwesenden von meiner Begegnung mit Lennox. Danach war ein kurzer Moment des Schweigens.
»Zeig’ ihn mir.«, sagte Rosalie dann, kam auf mich zu und streckte mir ihre Hand entgegen.
Alice sprang gleich neben sie und streckte mir auch eine Hand hin. Ich atmete noch einmal tief durch und dann schickte ich beiden ein Bild von Lennox.
»Das ist jetzt aber nicht
dein Ernst, Nessie«, sagte Rose fast beleidigt. »Ich
möchte die gesamte Begegnung sehen und nicht nur sein Bild.«
Dem
stimmte Alice mit energischem Nicken zu.
»Aber er mag das
sicher nicht«, gab ich kleinlaut zurück.
»Du hast
gesagt, er will keinen Kontakt zu uns. Das ist kein Kontakt. Das ist
nur eine Art Erzählung, wie nur du sie liefern kannst. Also komm
schon.«
Schwer atmend fügte ich mich ihrer Bitte und zeigte ihnen die ganze Unterhaltung mit Lennox. Dann lächelten Rose und Alice sich verschmitzt an.
»Ich verstehe. … Er
gefällt dir. … Aber ist das nicht ein wenig unfair deinem
Gabriel gegenüber?«
»WAS?«, platzte es aus
mir heraus und ich spürte, wie mein Gesicht heiß wurde.
»Wie kannst du das nur sagen? Das hat doch gar nichts mit
Gabriel zu tun. Er ist doch einfach nur … interessant …
und ich möchte ihn näher kennen lernen. Ist das denn so
falsch?«
»Nicht falsch, Süße. Nur …
interessant.«
»Zeigst du es mir auch?«, fragte
Mom.
Ich nickte und schaute zu Dad, ob er es auch sehen möchte, doch er hielt weiterhin die Arme vor der Brust verschränkt. Stattdessen trat Jasper hervor und bat um die Übertragung. Also zeigte ich es ihnen beiden. Ihre Reaktion war nicht so amüsiert wie die von Rosalie und Alice, aber auch nicht wirklich besorgt.
»Willst du es auch
sehen?«, fragte ich Emmett, doch er schüttelte nur den
Kopf, nahm mich mit seinen Pranken fest in den Arm und hob mich dabei
hoch.
»Hey Süße. Mach’ von mir aus, was dir
Spaß macht. Wenn du dich mit einem rotäugigen Nomaden
treffen willst, dann tu das.«
Dankbar lächelte ich ihn an. Ich liebte meinen großen Bruder einfach.
»Das gefällt mir
nicht. Der Kerl verheimlicht doch etwas. Ich will ihn mir näher
ansehen«, meinte Dad und klang dabei sehr verärgert.
»Nein
Daddy. Das will er doch nicht. Er hat uns doch gar nichts
getan.«
»Aber er könnte dir etwas tun.«
»Und
warum hat er es dann nicht? Die Gelegenheit war ja wohl da und ihr
wusstet noch nichts von ihm. So dämlich wird er wohl nicht sein,
dass er mir erst dann etwas antut, nachdem ich euch von ihm erzählt
habe und er wusste, dass ich euch berichten würde.«
»Du
weißt nicht, was er vorhat, Renesmee.«
»Du aber
auch nicht, mein Lieber«, meldete sich plötzlich Esme zu
Wort. »Es steht uns nicht zu, Anderen unseren Kontakt
aufzuzwingen, wenn das nicht gewünscht wird. Auch wir haben
Geheimnisse, vergiss das nicht. Seine Beweggründe, die er Nessie
genannt hat, sind nicht unplausibel. Solange er sich nichts zu
schulden kommen lässt, sollten wir das respektieren.«
»Mein Sohn«,
ergänzte Carlisle noch. »Deine Tochter hat das Recht
selbst zu entscheiden, mit wem sie ihre Freizeit verbringen will.
Wenn es ihr Wunsch ist, sich mit einem uns unbekannten Vampir zu
treffen, dann ist das eben so. Wir würden ihn hier willkommen
heißen, wenn er zu uns kommen wollte und vielleicht will er das
ja auch irgendwann. Es ist nicht unsere Art, Fremden mit Vorurteilen
und Verdächtigungen zu begegnen, das weißt du.«
»Es
geht aber um die Sicherheit meines Kindes«, gab er leicht
zornig zurück.
Natürlich ging es ihm wieder einmal nur um meinen Schutz. Er war besorgt und wollte sicherstellen, dass mir keine Gefahr drohte. Zu besorgt, wie ich fand, wenn auch irgendwie rührend. Es war eben seine Art zu zeigen, wie sehr er mich liebte. Sicherlich hatte Lennox etwas Gefährliches an sich, aber das richtete sich doch nicht gegen mich. Irgendwie musste ich Dad doch davon überzeugen können.
»Daddy, bitte. Ich glaube nicht, dass er mir etwas antun will. Den Eindruck hat er nicht auf mich gemacht. Er hat sich doch nur mit mir unterhalten und nicht ansatzweise versucht mich aufzuhalten, als ich gehen wollte. Er war nett zu mir, was ist denn daran gefährlich? Da kommen mir die täglichen Schulbesuche gefährlicher vor.«
Dad sah mich eindringlich an und kam dann plötzlich auf mich zu und drückte mich fest an sich.
»Ich will doch nur sicher gehen, dass dir nichts passiert, Liebling. Das könnte ich nicht ertragen«, sagte er und küsste mich dabei auf den Kopf.
Ich erwiderte seine Umarmung und eigentlich war mir danach zu seufzen, doch er drückte mich so fest, dass ich kaum atmen konnte. Ich ließ ihn noch einen Augenblick gewähren und schließlich lockerte er wieder seinen Griff. Dann schaute ich zu ihm auf und er blickte mir fast flehend in die Augen.
»Bitte Daddy. Ich möchte
das. Erlaube es mir bitte.«
Er sah mir noch eine Weile tief
in die Augen und verzog das Gesicht dann zu einem bitteren Lächeln
und nickt leicht.
»Versprich mir nur, keine Dummheiten zu
machen.«
»Geht klar, Daddy. Danke.«
Es war geschafft. Ich hatte tatsächlich die Erlaubnis bekommen und meine Familie würde Lennox’ Wünsche respektieren. Ich war schon sehr gespannt darauf, mehr über ihn zu erfahren. Etwas hatte mich allerdings irritiert. Rosalies Bemerkung, dass das Gabriel gegenüber unfair sein würde, konnte ich nicht verstehen. Was hatte sie denn gesehen, das mir entgangen war? Ich empfand für ihn doch nicht so wie für Gabriel. Ich kannte ihn ja auch kaum. Was sollte denn eine mögliche Freundschaft zu ihm an meiner Beziehung zu Gabriel ändern? Ich war doch auch mit Martin befreundet und mit Lissie. Das änderte doch auch nichts?
In meinem Zimmer dachte ich noch eine Weile darüber nach, während ich an meinem Gemälde weiterarbeitete. Es war praktisch schon fertig, doch hin und wieder hatte ich kleine Ideen, wie ich es noch verbessern könnte.
Dann gegen Mittag war es wieder Zeit für das Training und ich ging zu Jasper, der mich wieder durch die Gegend jagte. Dieses mal hatte ich den törichten Fluchtversuch unternommen, auf das Dach des Hauses zu klettern. Er war natürlich viel schneller und ich erhielt eine Standpauke, dass er mir doch schon mal erklärt hätte, dass ich nicht auf geradem Wege flüchten dürfte. Das galt für die Horizontale wie auch für die Vertikale. Zur Strafe, nein zur Übung natürlich, ließ er mich dann eine Stunde lang im Zickzack von einem Baum zum andere rennen. Immer wenn er in die Hände klatschte, sollte ich dann einen Baum anspringen und mich fest von ihm abdrücken, aber darauf achten, dass ich in Richtung eines anderen nahe stehenden Stammes sprang, um nicht zu lange in gerader Linie durch die Luft zu fliegen. Wenn ich dabei einen Fehler machte, beförderte er mich meist recht unsanft wieder zurück auf den Boden.
Er zeigte mir auch eine Technik, wie ich einem direkten Angriff ausweichen und gleichzeitig meinem Gegner seitlich einen Schlag verpassen konnte, um ihn aus dem Gleichgewicht zu bringen. Das studierten wird dann eine weitere Stunde ein.
Danach folgte wieder etwas Akrobatik und Krafttraining und danach das Training zusammen mit Mom, wobei sie mich wieder befreien sollte. Obwohl ich ja einen sehr passiven Teil dabei hatte, ermahnte mich Jasper, dass ich die ganze Zeit versuchen sollte, die Angst, die er mir machte, zu überwinden. Der hatte gut reden. Ich hatte das noch nie geschafft und es gelang mir auch heute nicht. Dafür war Mom sensationell gut. Ich saß zusammengekauert auf dem Boden und beobachtete sie dabei, wie sie immer wieder Jasper attackierte. Dann täuschte sie einen Angriff an und rannte blitzschnell auf mich zu. Ich verspürte trotz der ganzen Angst die Hoffnung, dass sie mich gleich auf ihren Arm reißen würde, um mich wegzubringen, doch sie tat es nicht. Zu meiner und auch zu Jaspers Überraschung machte sie kurz vor mir kehrt und schlug Jasper, der ihr nachgerannt war, mit solcher Wucht, dass er sich rückwärts überschlug und auf den Boden krachte.
Blitzschnell sprang sie auf ihn, fixierte seine Schultern und packte seinen Kopf.
Sie hatte ihn besiegt! Zum ersten Mal war ihr das gelungen. Sie hatte mich zwar auch schon in anderen Trainingseinheiten erfolgreich gerettet oder verteidigt, aber noch nie hatte sie Jasper so im Griff, dass sie ihn tatsächlich töten könnte. Augenblicklich ließ er die Furcht von mir abfallen und ich sprang meiner Momma um den Hals. Glücklich lächelnd trug sie mich ins Haus und Jasper wurde nicht müde, ihre überraschend kreative Aktion zu loben und ihr zu sagen, wie stolz er auf ihre Entwicklung wäre. Ich bekam noch mit, wie er den Anderen davon berichtete, während Mom mich nach oben in mein Zimmer trug und sich mit mir aufs Bett legte.
Wir lagen eine Weile auf dem Bett und Mom summte ihr Lied. Es war immer so schön, wenn sie das machte und ich fühlte mich pudelwohl.
»Du warst echt klasse
heute, Momma. Jasper hast du’s voll gegeben.«
Sie
kicherte.
»Das hat er auch verdient, wenn er dir immer
solche Angst macht. Du hast ja keine Ahnung, wie wütend ich dann
immer auf ihn werde.«
»Jedenfalls hat er bei dir wohl
recht damit gehabt, dass dir das gemeinsame Training viel bringen
wird. Ich kann das zwar nicht wirklich beurteilen, aber ich glaube
nicht, dass ich dich schon mal so habe kämpfen sehen.«
»Ja,
mag sein, aber es gefällt mir nicht, Sternchen. Ich würde
damit lieber sofort wieder aufhören. Bringt es dir denn
etwas?«
Ich zuckte mit den Schultern.
»Weiß
nicht. Vielleicht braucht es einfach Zeit. Bis jetzt merke ich keine
Veränderung. Ich finde es aber toll, dir beim Kämpfen
zuzusehen. Du bist so gut. Du kannst ihn jetzt sogar besiegen und ich
schaffe es noch nicht mal, vor ihm wegzulaufen.«
»Ach
Sternchen. Du machst das erst seit ein paar Wochen. Ich habe jetzt
mehr als 4 Jahre gebraucht um ihn ein Mal zu besiegen. Hab’
Geduld und hör auf ihn. Er ist ein sehr guter Lehrer, auch wenn
seine Methoden … nun ja, unangenehm sind.«
Ich wusste natürlich, dass sie recht hatte und wollte auch unbedingt weitermachen, auch wenn es hart war und ich noch keine Fortschritte feststellen konnte. Solange Jasper nicht aufgeben wollte, gab es ja wohl noch Hoffnung.
»Sag mal, Liebling. … Wegen diesem Lennox. … Du weißt schon, woran er interessiert zu sein scheint, oder? Ich meine, wie er dich angesehen und mit dir gesprochen hat?«
Oh man. Was für ein Gespräch sollte das denn jetzt werden? Mir war schon klar, auf was sie da hinaus wollte. Rosalies und Alice’ Grinsen war ja auch eindeutig. Ich war mir zwar nicht sicher, ob das wirklich so war, aber ausschließen konnte ich das natürlich nicht.
»Ich glaube schon,
Mom.«
»Und du willst dich … ähm …
darauf einlassen?«
»MOM!«
»Ach komm
schon, Schatz. Was soll ich denn denken, wenn du es weißt und
ihn unbedingt sehen willst.«
»Hmm.«
»Was
ist dann mit Gabriel? Willst du mit ihm Schluss machen?«
»Was?
Nein, natürlich nicht. Ich liebe Gabriel. Ich will auch gar
nichts von Lennox. Ich bin doch nur neugierig auf ihn. Er ist einfach
… interessant.«
»Bist du dir
sicher?«
»Natürlich bin ich mir sicher.«
Eigentlich wollte ich das mit Überzeugung sagen, aber ich glaubte mir selbst nicht so ganz, als ich mich hörte und Mom wohl auch nicht. Ich hatte ehrlich keine Ahnung. Lennox war faszinierend, aber Gabriel liebte ich. Die zwei waren so unglaublich unterschiedlich, dass man die beiden doch gar nicht vergleichen konnte.
Wir lagen noch eine Weile schweigend auf dem Bett und gingen danach wieder hinunter zu den Anderen. Ich holte mir vorher noch etwas zu essen und dann verbrachten wir noch einen schönen Abend zusammen. Moms Trainingserfolg war natürlich das Thema Nummer 1 und Emmett versuchte ständig Jasper damit aufzuziehen, dass er von einer Fünfjährigen vermöbelt worden wäre, denn schließlich war Mom ja erst seit fünf Jahren ein Vampir. Jazz ließ sich aber überhaupt nicht damit ärgern, sondern konterte damit, dass er schließlich die Fünfjährige selbst trainiert hätte und dass Emmett das auch irgendwann schaffen könnte, wenn er nicht immer nur Unfug im Kopf hätte. Wir hatten jedenfalls noch eine Menge zu lachen an diesem Abend.
Später dann dachte ich im Bett noch eine Weile über die Begegnung mit Lennox nach. Konnte es wirklich so sein, dass er sich auf diese besondere Art für mich interessierte? War das der Grund, warum ich ihn so faszinierend fand? Ich konnte mir doch überhaupt nicht vorstellen, mich auf so etwas einzulassen. Wenn überhaupt, dann wollte ich das doch eher mit Gabriel haben, aber das war doch praktisch nicht möglich. Ich konnte mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass ich dafür die nötige Selbstbeherrschung haben würde. Bei Lennox wäre das natürlich kein Problem.
Was? Was sollten jetzt diese
Gedanken? Das kam doch überhaupt nicht in Frage. Ich schüttelte
über mich selbst den Kopf und drehte mich auf die andere Seite
und versuchte angestrengt an etwas Anderes zu denken. Ich entschied
mich dafür, an Gabriel zu denken und daran, wie wir miteinander
tanzten. Eine sehr schöne Vorstellung, die mich langsam in den
Schlaf trug.
Nach einer unruhigen Nacht erlöste mich schließlich mein Wecker von den blöden Träumen. Zu den konkurrierenden Gabriel und Jacob hatte sich nun natürlich auch Lennox hinzu gesellt. Gabriel war wütend und stritt mit mir, weil noch zwei andere Männer hier waren. Lennox wollte Gabriel töten, weil er so lecker roch und Jacob ihn zerfleischen, weil er ein Blutsauger war, durfte sich wegen der Volturi aber nicht verwandeln. Dann kam auch noch Mom dazu und verteidigte Gabriel vor Lennox und machte mir Vorwürfe, weil ich so leichtsinnig war und alle hier im Pavillon versammelt hatte, als ob ich etwas dafür könnte. Jedenfalls war ich froh, dass dieser frustrierende Traum ein Ende hatte.
Zu allem Überfluss ging mir dann beim Anziehen auch noch Gabriels Kette kaputt, die er mir zum Geburtstag geschenkt hatte. Deprimiert zeigte ich sie Alice, die sich ziemlich gut mit Schmuck auskannte und sich manchmal selbst welchen machte, wenn sie nichts passendes beim Juwelier finden konnte. Sie reparierte sie für mich, meinte aber, dass es nicht lange halten würde. Es wäre leider kein besonders gutes Material und schlecht verarbeitet. Ihrem Gesicht nach zu urteilen hätte sie es wohl am liebsten als billigen Schrott bezeichnet, doch das brachte sie offensichtlich nicht übers Herz. Mir war es auch vollkommen egal, was die Kette gekostet haben mag. Es war mein schönstes Schmuckstück und ich trug es so gerne. Die Vorstellung, sie womöglich zu verlieren, war mir aber unerträglich. Also legte ich sie lieber wieder in die Schachtel auf meinem Nachtisch und fuhr ohne sie in die Schule. Das erste mal, seit meinem Geburtstag und es fühlte sich doof an.
Neuerdings fuhren Rosalie und Emmett mit mir und Jasper in die Schule, da sich meine Eltern nach langem Drängen endlich mit dem Autotausch einverstanden erklärten. Emmett war richtig glücklich deswegen und konnte selbst kaum abwarten, dass er in vier Monaten endlich das benötigte Alter für den Führerschein haben würde. Er wollte unbedingt auch so einen Geländewagen haben. Alice war auch sehr froh, die beiden Nörgler endlich los zu sein.
In der Schule nahm alles zunächst seinen gewohnten Gang. Ich ertappte mich allerdings selbst mehrmals dabei, dass ich an Lennox denken musste, den ich heute Abend treffen wollte. Das war sehr irritierend.
Lissie machte auch einen unglücklichen Eindruck, da in den nächsten zwei Wochen mehrere wichtige Klausuren angesetzt waren. Ich wünschte, ich könnte ihr helfen, aber selbst wenn sie mir jetzt doch noch erlauben würde, mit ihr zu lernen, würde das so kurzfristig wohl nicht mehr viel nützen, zumal ich heute Abend ja auch eigentlich keine Zeit hätte und auch nicht wusste, wie es in den nächsten Wochen sein würde. Ich war daher sogar etwas erleichtert, dass sie mich fragte und ich diese Entscheidung nicht treffen musste.
In der Pause dann hatte ich wieder meine halbe Stunde mit Gabriel alleine. Allerdings konnte ich sie dieses Mal nicht richtig genießen, weil mir immer mein mysteriöses Rotauge in den Sinn kam. Ich schaffte es einfach, nicht die nötige Konzentration aufzubringen, um Gabriel zu küssen. Stattdessen standen wir einfach dicht aneinander gekuschelt da und bewegten uns kaum.
»Stimmt etwas nicht,
Nessie?«
»Was? … Nein. … Ja … Ich
meine, ich habe so viel im Kopf zur Zeit.«
»Was denn?
Du hast doch bestimmt keinen Prüfungsstress, oder? Bei deinen
Noten kann ich mir das nicht vorstellen.«
»Das ist es
nicht.«
»Was ist es dann?«
Was sollte ich ihm dazu nur sagen? Ich konnte das unmöglich erklären aber ich wollte ihn auch nicht anlügen. Was für ein Dilemma. Dann hatte ich allerdings einen rettenden, wenn auch unangenehmen Einfall.
»Mir ist heute Morgen die
Kette gerissen, die du mir geschenkt hast«, sagte ich und
zeigte ihm mein nacktes Handgelenk zum Beweis.
»Oh? …
Das tut mir leid«, antwortete er und klang dabei eher so, als
ob ihm das peinlich wäre.
»Und mir erst. Sie ist doch
mein liebstes Schmuckstück.«
»Wenn du sie mir
mitbringst, kann ich sie ja reparieren lassen«, meinte er
unsicher, doch ich schüttelte den Kopf.
»Das ist nicht
nötig. Alice kennt sich mit so etwas aus und hat das schon
gemacht. Sie meint aber, dass es nicht lange halten wird. Deshalb
habe ich sie zu Hause gelassen, damit ich sie nicht verliere.«
Gabriel streichelte mir nervös über den Rücken und mir war klar, dass ihm die Sache total unangenehm war. Ich spürte auch, dass sich sein Herzschlag beschleunigt hatte und hörte ihn leise seufzen. Irgendwie war es heute nicht so schön wie sonst. Es war eher so, als würden wir versuchen, uns gegenseitig zu trösten, ohne großen Erfolg dabei zu haben. Fast erleichtert musste ich feststellen, dass er wenigstens keinen Kussversuch unternahm, denn ich hätte ihn verhindern müssen und ich hasste den Gedanken. Irgendwie war heute alles falsch.
Im Musikunterricht am Nachmittag wurde nur Theorie durchgenommen. Das war zwar langweilig, aber da mir ohnehin nicht zum Singen zumute war, hätte es auch schlimmer kommen können. Außerdem merkte man deutlich, dass auch in diesem Fach spätestens nächste Woche ein Klausur anstehen würde.
Alles in Allem war das heute einer der blödesten Schultage seit langem und ich war direkt froh, dass er vorbei war. Insgeheim hoffte ich, dass der Abend angenehmer verlaufen würde, doch sicher war ich mir da nicht.
Zu Hause erledigte ich dann wie immer schnell meine Hausaufgaben und begab mich dann zum Spezialtraining mit Jasper. An meiner Stimmung hatte sich allerdings noch nichts geändert.
»Hey Nessie. Was ist los
mit dir?«
»Was meinst du Jasper?«
»Was
ich meine? Kannst du dir das nicht denken? Du fühlst dich an wie
drei Tage Sonnenschein.«
Ein netter Scherz, der mir ein kleines Schmunzeln entlockte, meine Grundstimmung aber nicht verändern konnte.
»Irgendwie läuft heute alles schief, Jazz. Ich hatte total dämliche Träume und dann ist mir auch noch Gabriels Kette gerissen. Meine Freundin Lissie ist wegen der Prüfungen schlecht drauf und ich konnte noch nicht mal mit Gabriel schmusen, weil ich mich nicht konzentrieren konnte.«
Er musterte mich eindringlich
und schwieg eine Zeit lang. Dann sprach er mich wieder an.
»Kann
es nicht sein, dass das auch etwas mit dem Nomaden zu tun hat?«
Natürlich hatte es das. Ich musste schließlich ständig an ihn denken und nickte folglich Jasper zur Bestätigung zu.
»Nessie, ich glaube, diese
Begegnung ist für dich eine größere emotionale
Herausforderung, als dir bewusst ist.«
»Wie meinst du
das?«
»Ich meine, dass du mal wieder mit neuen
Gefühlen konfrontiert wirst, die du nicht kennst und die dich
wieder überrollen. Du musst vorsichtig sein und es war richtig
von dir, Gabriel zu seinem eigenen Schutz heute etwas auf Distanz zu
halten.«
»Was sind das für Gefühle,
Jazz?«
»Das kann ich nicht mit Sicherheit sagen. Du
empfindest sie ja nicht im Moment und ich spekuliere nicht gerne.
Jetzt bist du jedenfalls frustriert, deprimiert, nervös, fühlst
dich hilflos und ärgerst dich über dich selbst.«
»Danke,
das weiß ich auch«, sagte ich gereizt und er stöhnte
leise auf.
»Renesmee. Du musst zur inneren Ruhe kommen. So
hat das ganze keinen Wert. Werde dir im Klaren darüber, was du
für den Fremden empfindest. Das sollte wohl mehr als genug
Training für dich sein.«
Eigentlich hätte er mir ja einfach innere Ruhe schenken können, doch das wäre wohl kein Training gewesen. Wie sollte ich denn das alleine schaffen?
Da ich bisher ein heißes Bad immer als sehr entspannend und wohltuend empfunden hatte, wollte ich das einfach mal versuchen. Ich ging in mein Badezimmer und ließ die Wanne volllaufen. Dann legte ich mich hinein und genoss die Massage von unzähligen Blubberbläschen. Es fühlte sich wie immer sehr schön an und half mir tatsächlich, meine negativen Emotionen zu bekämpfen. Ich fing an über das nachzudenken, was Jasper mir gesagt hatte.
Was empfand ich eigentlich für
Lennox? Ich fand ihn faszinierend und interessant. Obwohl seine Augen
rot waren und damit für etwas standen, das ich ablehnte, fand
ich seine Augen anziehend. Ich hatte auch etwas Angst vor ihm und er
machte mich nervös, doch ich wusste nicht, warum das so war. Er
hatte nichts getan, weshalb ich Angst haben müsste. Mom, Rose
und Alice waren sich wohl ziemlich sicher, dass er mich attraktiv
fand und ich fühlte mich deshalb geschmeichelt. Warum
eigentlich? So neu war das doch nicht für mich. Fand ich ihn
vielleicht auch attraktiv? Irgendwie schon, doch es war anders als
bei Gabriel. Das konnte doch keine Liebe sein. Das widersprach ja
allem was ich über die Liebe wusste. Wie könnte man denn
etwas lieben, das einen auch ängstlich und nervös machte?
Ich wurde daraus einfach nicht schlau und vielleicht war auch das der
Grund, warum ich ihn näher kennen lernen wollte.
Nach meinem langen Bad suchte ich mir ein nettes Outfit zusammen und machte mich schließlich auf den Weg zu meinem Platz. Das Abtrocknen hätte ich mir wohl sparen können, denn der Nieselregen hatte sich innerhalb kürzester Zeit auf meine Haaren und mein Gesicht gelegt. Kleine Wasserperlen bildeten sich auf meiner Jacke und meine Jeans wurde von der Feuchtigkeit dunkler. Schließlich kam ich an und entdeckte ihn auch sofort auf meinem Baumstamm sitzend und wartend. Seine nassen, schwarzen Haare glänzten im schwächer werdenden Licht und hier und da fielen einzelne Tropfen von den Haarspitzen herab. Auch er hatte mich bemerkt und kam auf mich zu, was mein Herz sofort schneller schlagen ließ.
»Du bist gekommen. Wie schön. Ich hatte schon befürchtet, dass du vielleicht nicht darfst … oder nicht willst«, sagte er mit seinem charmanten lächeln und dieser faszinierenden rau-samtigen Stimme.
Ich freute mich sehr, ihn zu sehen, auch wenn ich sofort wieder nervös wurde. Allerdings wurde mir auch schlagartig bewusst, dass ich mir überhaupt keine Gedanken darüber gemacht hatte, was ich hier eigentlich erwartete, beziehungsweise, was ich mit ihm reden wollte. Mein Schweigen schien ihn jedenfalls zu verwirren.
»Du bist doch alleine,
oder?«, fragte er unsicher.
»Natürlich. Ich habe
doch gesagt, ich komme alleine oder gar nicht.«
»Entschuldige
bitte, aber nicht jeder tut das, was er verspricht.«
»Ich
schon«, gab ich leicht enttäuscht zurück, denn es
gefiel mir nicht, dass er daran gezweifelt hatte.
»Das freut
mich. … Und was machen wir jetzt?«
Ja, wenn ich das wüsste. Im Grunde wollte ich ja nur reden. Nicht mehr und nicht weniger. Nun ja, ich wollte auch in seiner Nähe sein, aber das war ja wohl auch nötig, wenn man reden wollte, oder?
»Wollen wir ein wenig
spazieren gehen und uns unterhalten?«
»Wenn es das
ist, was du willst, gerne.«
Blitzschnell war er an meiner
Seite und hielt mir galant den Arm hin, dass ich mich bei ihm
einhaken konnte. Irritiert nahm ich sein Angebot an und legte meine
Hand in seine Armbeuge. Er tätschelte sie kurz mit seiner kalten
Hand, während er immer noch sehr charmant lächelte. Seine
Berührung war faszinierend und löste ein leichtes Kribbeln
in meinem Arm aus. Außerdem mochte ich dieses Lächeln und
erwiderte es. Da er mir jetzt auch viel näher war, konnte ich
seinen Duft deutlich besser als gestern wahrnehmen. Er roch sehr
angenehm und ich fing an, diesen Abend zu genießen.
Nachdem wir ein paar Minuten schweigend durch den Wald spazierten und ein paar flüchtige Blickwechsel hatten, sprach er mich an.
»Wolltest du dich nicht
mit mir unterhalten?«
»Äh, ja?«
»Warum
sagst du dann nichts?«
»Ähm, … na ja, …
ich weiß nicht ... Hmm.«
Das war ja mal wieder eine eloquente Meisterleistung und ich kam mir total blöd vor. Wenigstens kühlte der Nieselregen mein Gesicht ab, sonst wäre ich bestimmt knallrot geworden.
»Wie wäre es denn,
wenn du mir einfach eine Frage stellst, die dich interessiert?«
»O.K.
… Wie alt bist du?«
»295 Jahre. …
Vampirjahre. … Und du?«
»Fünf.«
»Im
Ernst?«
»Ja, ich wachse schnell, das heißt, ich
bin schnell gewachsen. Jetzt wird es langsamer und in zwei Jahren bin
ich ausgewachsen.«
»Faszinierend.«
»Lebst
du schon immer als Nomade?«
»Im Grunde ja. Das ist das
einzig Wahre. Die totale Freiheit. Gehen wohin man will, wann man
will, mit wem man will.«
»Mit wem man will?«,
rutschte es mir heraus, was mir natürlich sofort wieder peinlich
war.
»Natürlich. Wer will schon immer alleine sein? Mit
jemandem an der Seite ist es viel angenehmer«, erwiderte er
leicht lachend und tätschelte erneut meine Hand, was das
kribbeln verstärkte, das noch immer nicht verschwunden war.
»Und
gibt es da schon jemanden?«
»Nein …
interessiert?«
Oh Gott. Wie konnte er mich so
etwas nur fragen? Das ging mir jetzt viel zu weit.
»Ich habe
schon einen Freund, tut mir leid.«
»Also wenn es dir
leid tut, dann ist er wohl kein sehr guter Freund, oder?«
»So
habe ich das nicht gemeint«, antwortete ich nervös und er
lachte.
»Schon gut meine Hübsche. Ich meine das nicht
böse. … Wer ist denn dein Freund.«
»Ein
Klassenkamerad.«
»Aha. … Moment … ein
Mensch?«
Ich nickte.
»Du bist mit einem Menschen
befreundet? So richtig?«
Was meinte er mit “So richtig”, wenn er das so komisch betonte? Natürlich war ich richtig mit Gabriel zusammen. Ich liebte ihn schließlich. Also nickte ich erneut.
»Hat man dir denn nicht
beigebracht, dass man nicht mit seinem Essen spielt?«
»Was?
Ich esse ihn doch nicht, ich meine, ich trinke doch nicht sein Blut.
Ich ernähre mich von Tieren.«
»Ach ja, richtig …
Vegetarier. … Findest du menschliches Blut denn nicht
anziehend?«
»Doch natürlich. Aber ich will
nicht.«
»Warum?«, fragte er sehr überrascht.
Er verstand es wohl wirklich nicht.
»Warum? … Weil
wir den Menschen nicht schaden wollen.«
»Aha!?«,
sagte er ungläubig. »Und du kannst mit deinem Freund
zusammen sein, ohne ihn beißen zu wollen? …
Erstaunlich.«
»Ganz so einfach ist es nicht. Es ist
sogar sehr anstrengend.«
»Und das macht Spaß?«
»Ich
mag ihn sehr und will ihm nicht schaden. Ich bin gerne in seiner
Nähe.«
Merkwürdig, aber irgendwie hatte ich Hemmungen Lennox zu sagen, dass ich meinen Gabriel liebte.
»Wäre es mit einem
Vampir nicht viel einfacher?«
Einfacher? Vermutlich schon,
aber was hatte das mit Liebe zu tun? Ich konnte ihm darauf keine
Antwort geben und zuckte mit den Schultern.
»Na ja, dann
wünsche ich dir noch viel Spaß mit deinem Leckerli.«
»Ha,
ha!«, erwiderte ich mürrisch.
Es gefiel mir gar nicht, dass er sich über meine Beziehung zu Gabriel lustig machte, vor allem aber deswegen, weil er mein größtes Problem bei der Sache angesprochen hatte. Mein Blutdurst war mir immer im Weg und er schien das wohl zu ahnen.
»Hey meine Hübsche.
Ich gönne dir deinen Spaß. Sei doch bitte nicht sauer auf
mich.«
»Bin ich doch gar nicht.«
»Du
siehst aber so aus.«
»Tut mir leid. Ich hatte heute
einen schlechten Tag.«
»Das ist aber keine gute
Voraussetzung für ein erstes Date.«
Erstes Date? Er betrachtete das hier als Date? Oh Gott, was sollte ich denn jetzt antworten? War es denn ein Date? Nun ja, ich wollte ihn kennen lernen und das machte man doch bei einem Date, oder? Himmel, ich hatte ein Date und wusste es nicht mal?
»Das ist mir jetzt sehr
unangenehm Lennox. Du hast dir bestimmt etwas Anderes
vorgestellt.«
»Etwas Anderes als mit einem
wunderhübschen Mädchen am Arm spazieren zu gehen und sich
nett zu unterhalten? Nein, eigentlich nicht.«
Wow. Er war wirklich unglaublich charmant und brachte mich erneut dazu, ihn anzulächeln. Wir gingen noch eine ganze Weile schweigend nebeneinander her und um uns herum wurde es immer dunkler und ich spürte allmählich eine stärker werdende Müdigkeit.
»Ich glaube, ich sollte
jetzt nach Hause gehen, Lennox.«
»Ja? Schade. Ich
finde es sehr angenehm hier mit dir.«
»Ich auch.«
Hatte ich das eben wirklich gesagt? Und auch so gemeint? Ja, es war tatsächlich angenehm und ich fühlte mich recht wohl. Dennoch war es an der Zeit, das Date zu beenden. Oh man, jetzt bezeichnete ich es selbst schon als Date.
»Wann sehen wir uns wieder?«, fragte er ganz direkt.
Er ließ keinen Zweifel daran, dass er sich auf ein Wiedersehen freute und mir ging es merkwürdiger Weise auch so, obwohl ich ein schlechtes Gewissen wegen Gabriel hatte.
»Morgen?«, fragte
ich.
»Gleiche Zeit, gleicher Ort?«
Ich
nickte.
»Dann bis morgen«, sagte er und ehe ich mich
versah, gab er mir einen Kuss auf die Wange und verschwand in der
Dunkelheit.
Ich stand da wir angewurzelt und war völlig perplex. Er hatte mir ohne Vorwarnung einen Kuss gegeben und ich hatte es zugelassen. Doch nicht nur das. Seine kalten Lippen hatten meine heiße Wange berührt und ich spürte den Kontrast viel stärker als bei Gabriel. Auch löste sein Kuss ein Prickeln in mir aus, das ich sonst immer mit Gabriel in Verbindung brachte. Was war nur los mit mir? Warum war ich nicht entsetzt deswegen? Warum war ich nicht wütend auf Lennox, dass er mich so überrumpelt hatte? Ich konnte mich selbst nicht verstehen. Der Kuss hatte mir gefallen und ich fühlte mich schrecklich deswegen, weil mir eine innere Stimme vorwarf, dass ich gerade Gabriel hintergangen hätte. Das wollte ich doch gar nicht und jetzt wusste ich nicht, was ich tun sollte.
Dieses Treffen hatte einige Fragen beantwortet, doch andere, viel schwerwiegendere aufgeworfen. Ich war mir jetzt noch weniger über meine Gefühle zu Lennox bewusst als vorher.
Schließlich löste ich mich aus meiner Starre und rannte nach Hause. Es war schon recht spät und so kombinierte ich die Begrüßung meiner Familie und den Gute-Nacht-Wunsch miteinander und ging direkt in mein Zimmer. Zum Glück wollte mich niemand aufhalten, beziehungsweise ich ließ es nicht zu, denn ich wollte jetzt auf keinen Fall irgendjemandem von dem erzählen, was ich gerade erlebt hatte. Vermutlich hatte Dad auch so schon wieder viel mehr mitbekommen als er sollte, weil ich mich auf dem Heimweg natürlich nicht von meinen Gedanken lösen konnte. Ich konnte nicht mehr tun, als ihn gedanklich darum zu bitten, es für sich zu behalten. Jetzt hoffte ich, dass Mom mich wieder abschirmen würde, so wie es für sie in letzter Zeit ohnehin eine Selbstverständlichkeit war, sobald ich in ihre Reichweite kam.
Ich ging zu Bett, streichelte noch mal die Kette von Gabriel, die in der Schachtel auf meinem Nachttisch lag und bat ihn im Gedanken um Verzeihung für das, was heute passiert war. Unruhig wälzte ich mich dann noch eine ganze Weile im Bett hin und her, denn ich befürchtet einen erneuten unangenehmen Traum.
Meine Befürchtungen hatten sich bestätigt. Ich hatte in der Tat einen unschönen Traum, wenn auch anders, als in der vorherigen Nacht. Diesmal führte mich meine Phantasie zurück zu meinem Geburtstag, als ich auf Gabriels Schoß saß, um ihn zum ersten Mal zu küssen. Allerdings waren wir nicht alleine sondern hatten zwei Zuschauer. In einer Ecke stand Lennox und beobachtete mich grinsend und in der anderen Ecke stand Jacob mit mürrischem Blick und vor der Brust verschränkten Armen. Immer und immer wieder bat ich die beiden den Raum zu verlassen, doch sie taten es nicht. Gabriel wartete auf seinen Kuss, doch ich schaffte es nicht, weil ich abgelenkt war und mich nicht konzentrieren konnte. Es war furchtbar frustrierend.
Warum nur quälte mich mein Unterbewusstsein so. Was hatte ich denn getan, dass ich das verdiente? Ich hatte das alles doch gar nicht gewollt.
Deprimiert stand ich auf, zog mich an und ging frühstücken. Während ich gerade mein Müsli löffelte, klopfte es an der Küchentür und gleich darauf strecke Rosalie ihren schönen Kopf herein und fragte, ob sie hereinkommen dürfte. Ich nickte ihr zu und sie setzte sich mir gegenüber hin.
»Na Süße? Ist
wohl nicht so gut gelaufen gestern, oder?«
»Was? …
Nein … Ja … Ach, ich weiß auch nicht.«
»Willst
du es mir erzählen?«
Wollte ich das? Einerseits war es mir ja ziemlich peinlich, aber andererseits war Rosalie mir schon mehr als einmal eine große Hilfe gewesen.
»Ich weiß nicht,
Rosalie. Es ist … etwas passiert.«
»Hat er dir
etwas angetan«, sagte sie leicht zornig und richtete sich dabei
auf.
»Nein Rose, hat er nicht. … Also nicht wirklich.
… Ich meine, er hat mir einen Abschiedskuss auf die Wange
gegeben.«
»Das ist alles?«
»Wie, das
ist alles. Hast du mir nicht zugehört? Er hat mich
geküühüüst!«
»Auf die Wange«,
wiederholte sie sachlich.
»Ja!«, sagte ich wiederum
sehr energisch.
»Und wo liegt da jetzt das Problem?«
»Wo
das Problem liegt? Himmel, Rosalie, er hat mir einen Kuss gegeben und
ich …«
»Und du?«
»Und ich …
hab’ es gemocht.«
»Jetzt habe ich aber immer
noch nicht verstanden, wo das Problem liegt.«
»Man
Rosalie. Ich kann doch nicht einfach Küsse von jemandem Anderen
mögen, außer von Gabriel.«
»Ach so. Du hast
eine schlechtes Gewissen wegen Gabriel.«
Ich nickte nur. Es
war mir unerträglich, das auszusprechen.
»Nessie, es
ist doch nichts passiert. Ein kleiner Abschiedskuss auf die Wange
bedeutet doch gar nichts.«
»Doch, es hatte etwas
bedeutet. Es war schön gewesen und hatte sich gut
angefühlt.«
»Dann magst du ihn also?«
Ich
nickte wieder.
»Mehr als Gabriel?«
»Nein!«,
brach es aus mir heraus. »Mit Gabriel ist es ganz anders.«
Rosalie schaute mich eindringlich an und dann lächelte sie sanft.
»Ach Süße. Du
bist echt Bellas Tochter.«
»Was soll das denn jetzt
heißen?«, sagte ich leicht genervt.
»Na, deiner
Mom ging es ähnlich, bevor du auf der Welt warst. Du kennst die
Geschichte doch, oder?«
»Ja, aber ich verstehe nicht,
was du meinst.«
»Ich meine, dass du dich auch
irgendwann entscheiden musst.«
»Und wie?«
»Also
das musst du schon selbst heraus finden. Hör’ auf dein
Herz, dann ergibt sich der Rest von selbst.«
Ein toller Ratschlag. Auf mein Herz, also auf meine Gefühle zu hören war ja im Augenblick sooo einfach. Ich wusste weder, was genau ich fühlte, noch was die Gefühle zu bedeuten hatten. Ich wusste nur, dass ich für beide auf unterschiedliche Art und Weise empfand. Wie sollte man da denn eine vernünftige Entscheidung treffen können. Außerdem verstand ich nicht, warum ich überhaupt darüber nachdenken musste, wie ich mich entscheiden wollte. Ich liebte Gabriel doch. Wieso fiel es mir denn nicht ganz leicht, mich für ihn zu entscheiden?
Das Gespräch mit Rosalie hatte mir dieses Mal nicht wirklich geholfen. Ich war danach so schlau wie zuvor. Ich grübelte praktisch pausenlos darüber nach, was ich wirklich wollte.
Kaum in der Schule angekommen und in Gabriels Armen, wusste ich, dass ich ihn wollte und doch war Lennox auch in meinen Gedanken. Als ich Gabriels verführerischen Duft wahrnahm und ich wieder schwer mit mir zu kämpfen hatte, als ich ihn küsste, da wurde mir plötzlich klar, dass Lennox einen Vorteil hatte. Sein Duft war auch sehr angenehm und anziehend, doch ohne die Gefahr, ihm zu schaden.
War es das? War es mit Lennox einfach weniger gefährlich? Ich war mir sicher, dass ich Lennox mochte, aber ich war mir auch sicher, dass ich für Gabriel mehr empfand.
Im Unterricht saß ich fast teilnahmslos da und starrte häufig unabsichtlich auf Gabriel. Der Gedanke ließ mich einfach nicht mehr los. Alles was ich mit Gabriel haben wollte, könnte ich vermutlich sehr viel leichter mit Lennox haben, doch das war nicht das, was ich wollte. Ich wollte Gabriel, doch da war immer dieses verfluchte Durstproblem.
In der zweiten Stunde schrieben wir eine Matheklausur. Im Grunde war es sehr einfach und ich war schon nach zwanzig Minuten fertig, obwohl ich mich kaum darauf konzentrierte. Ich hatte aber keine Lust das Blatt abzugeben, denn dann hätte ich den Raum verlassen müssen und könnte nicht mehr Gabriel ansehen. Immer und immer wieder dachte ich über mein Problem nach, bemerkte dabei aber, dass Lissie neben mir völlig verzweifelt zu sein schien. Ich warf einen kurzen Blick auf ihr Arbeitsblatt und erkannte sofort, dass sie dabei war, totalen Mist zu bauen. Meine Güte, was hatte sie nur im Kopf? Die Finger ihrer linken Hand klopften Nervös auf dem Tisch herum. Ich ergriff ihre Hand, um sie zu beruhigen. Ich dachte an mein Arbeitsblatt und wie einfach die Lösung doch war und verstand nicht, wieso sie das nicht auch sehen konnte. Dann plötzlich zuckte Lissie neben mir total zusammen und riss die Augen auf. Ihr Blick ging erst zu meiner Hand und dann hoch zu meinen Augen.
Oh Gott. Unabsichtlich hatte ich ihr gerade einen Übertragung geschickt und ihr die Lösung gezeigt. Panik ergriff mich. Ich hatte ihr mein wichtigste Geheimnis verraten und ihr meine Gabe offenbart. Entsetzt über mich selbst und völlig unfähig, einen klaren Gedanken zu fassen, sprang ich auf und rannte aus dem Klassenzimmer. Ich hörte noch ein überraschtes »Miss Masen?« von Mr. Wattson, doch konnte ich nicht umkehren. Ich war verzweifelt, wimmerte und rief im Gedanken um Hilfe.
“Scheiße, Daddy, Scheiße. Ich hab’ Mist gebaut. Was mach’ ich denn jetzt?”
Ich wusste nicht, wo ich hin sollte und verkroch mich auf der Mädchentoilette, setzte mich auf den Boden, zog die Knie an die Brust und vergrub das Gesicht in meinen Armen. Ich konnte meinen Tränen nicht aufhalten und schluchzte vor mich hin. Jetzt war es passiert. Ich hatte alles verraten und nichts war mehr zu retten. Wir würden wegziehen müssen und ich würde Gabriel nie wieder sehen.
Dann hörte ich von draußen leise Schritte und kurz darauf ging die Tür auf. Ich traute meinem von Tränen getrübten Blick nicht, als ich Lissie zu erkennen glaubte und wisch mir mit dem Ärmel über das Gesicht. Was sollte ich nur machen? Das Geheimnis um jeden Preis schützen? Sie töten? Hier und jetzt? Nein, das konnte ich nicht. Das wollte ich nicht. Sie war doch meine beste Freundin. Ich schluchze noch mehr vor Verzweiflung und Hilflosigkeit.
Vorsichtig kam sie auf mich zu
und ging vor mir in die Hocke.
»Nessie? Was ist mit dir?«,
sagte sie sanft und besorgt und streichelte dabei meinen
Unterarm.
»Was … mit … mir … ist?«,
gab ich stockend unter anhaltendem Schluchzen von mir. »Kannst
… du dir … das … nicht denken?«
»Das
warst wirklich du gerade eben, oder?«
Ich nickte und weitere Tränen suchten ihren Weg über mein Gesicht und sammelten sich an meinem Kinn.
»Aber … warum
weinst du denn so?«
»Lissie … das darf doch …
niemand … wissen … dass ich … so was kann. Das
macht … alles … kaputt.«
»Jetzt beruhige
dich doch. Ich sage auch keinem etwas. Versprochen.«
Unsicher schaute ich ihr in die Augen. Meinte sie das ernst? Oh, ich hoffte es so sehr, doch konnte ich mich darauf wirklich verlassen?
Noch bevor ich weiter darüber nachdenken konnte, ging die Tür ein weiteres Mal auf und Mom kam herein, stürzte auf mich zu und nahm mich in den Arm.
»Mom? … Ich …
Ich …«
»Schscht, Sternchen, alles wird wieder
gut. Beruhige dich.«
»Woher…?«, kam es
überrascht aus Lissies Mund und mir war klar, dass sie wissen
wollte, woher meine Mom wusste, dass ich hier war und sie brauchte.
Zu allem Überfluss hatte ich ihr jetzt auch noch verraten, dass
das meine Mom war. Wie sollte sie das jemals verstehen können?
»Lissie«, sprach Mom
sie an. »Ich verspreche dir, dass du dafür einen Erklärung
bekommen wirst, aber bitte, lass’ mich mit Nessie jetzt
alleine. Ich denke, du solltest lieber wieder zurück in deine
Klasse gehen. Ihr schreibt doch gerade eine Prüfung, oder?«
Ȁh
ja, ich gehe dann wohl besser.«
»Sag’ dem Lehrer
einfach, dass ihr schlecht geworden ist.«
»O.K.«
Dann ging Lissie und ich war mit
Mom alleine.
»Es tut mir so leid Momma. Ich hab’ alles
kaputt gemacht.«
»Nicht doch, Liebling. Wir kriegen
das wieder hin.«
Sie streichelte mir liebevoll über das Haar und das Gesicht und schaffte es, dass ich mich allmählich beruhigte. Danach verließ sie mit mir die Toilette und wir stießen auf Dad, der draußen auf uns gewartet hatte. Schuldbewusst ließ ich den Kopf hängen und schaute ihn und Verzeihung flehend an.
»Ist ja gut, Schatz«,
sagte er und umarmte mich ebenfalls.
»Was machen wir denn
jetzt?«, fragte ich kleinlaut.
»Du gehst jetzt erst
einmal nach Hause. Ich habe Esme bereits angerufen und sie ist auf
dem Weg um dich abzuholen.«
»Aber was ist mit Lissie?
Ihr tut ihr doch nichts, oder?«
»Natürlich nicht,
Liebling. Erstens hat sie tatsächlich vor, es für sich zu
behalten und zweitens würde ihr ohnehin kaum jemand glauben.
Außerdem hat sie dich sehr gerne und will dir nicht schaden. Du
hast ihr furchtbar leid getan.«
»Und was sagen wir ihr
jetzt?«
»Darüber reden wir später. Komm,
Esme wird bald hier sein. Gehen wir zum Ausgang.«
Esme war tatsächlich schon kurze Zeit später da und nahm mich gleich tröstend in die Arme. Dad hatte sie wohl schon über alles informiert. Dann brachte sie mich nach Hause und setzte sich dort mit mir auf ein Sofa. Das heißt, sie setzte sich und ich legte mich hin, den Kopf auf ihren Schoß gebettet. Dann redete sie beruhigend auf mich ein und streichelte mich die ganze Zeit, bis die Anderen wieder von der Schule nach Hause kamen. Auch Carlisle machte früher Feierabend und war wenig später ebenfalls da. Dann wurde besprochen, was ich angerichtet hatte.
Mom hatte meine Schulsachen abgeholt, meinem Klassenlehrer Bescheid gegeben und dann in der Pause mit Lissie unter vier Augen gesprochen. Sie war zu ihr so ehrlich, wie es gerade eben noch möglich war und bestätigte ihr, dass ich tatsächlich eine telepathische Begabung hätte. Etwas sehr Fantastisches, was natürlich von der Angst begleitet wurde, dass die falschen Leute davon erfahren würden. Deshalb hielten wir es geheim und deshalb bat Mom Lissie inständig, es für sich zu behalten, was diese auch zusagte. Dad bestätigte uns das Ganze, da er ja ihre Gedanken dabei überwacht hatte. Er ergänzte noch, dass Lissie sehr fasziniert davon war und gerne mehr erfahren wollte. Meine Familie war der Meinung, dass ich jetzt, da sie ohnehin schon von meiner Gabe wusste, ihr auch mehr davon erzählen dürfte, doch nur in Bezug auf meine Gabe und sonst nichts, was mir natürlich auch so klar war.
Als dann kurze Zeit später mein Handy klingelte, ging ich schnell in mein Zimmer. Natürlich war es Lissie und ich atmete noch mal tief durch und ging dran.
»Hallo Lissie«,
meldete ich mich mit unsicherer Stimme.
»Hallo Nessie, wie
geht es dir denn?«
»Schon wieder besser, danke.«
»Du
hast mir ja einen ziemlichen Schrecken eingejagt.«
Ich
schluckte.
»Es tut mir leid, Lissie. Das war keine Absicht.
Ich wollte dir nur helfen.«
»Was? Ach so. Nein, das
meine ich nicht, ich meine, dass du weggelaufen bist. Das war doch
nicht nötig. Ich würde dich doch nie verraten.«
»Ich
weiß nicht, was ich sagen soll.«
»Aber ich weiß
es. Danke Nessie.«
»Danke?«
»Ja, Danke.
Danke, dass du mir in der Matheprüfung geholfen hast. Mr.
Wattson hat mir noch die Pause dazu gegeben und ich konnte meine
Arbeit noch verbessern. Das wird bestimmt eine gute Note und ich bin
sehr erleichtert.«
»Das freut mich für dich
Lissie.«
»Ja, ich freu’ mich auch, aber hey, du
musst dir wirklich keine Sorgen deswegen machen. Ich behalte das für
mich. Das würde mir sowieso niemand glauben.«
Ich seufzte erleichtert ins Telefon.
»Du kommst doch morgen
wieder, oder Nessie?«
»Ich glaube schon.«
»Das
ist gut. … Ach ja, deine Mom ist echt nett«, sagte sie
lachend. »Ich finde es ja zum schießen, dass du deine …
was ist sie eigentlich … Adoptivschwester? … Ist ja
auch egal. Also, dass du sie Mom nennst und ihr das gar nichts
ausmacht, ist echt witzig. Ihr müsst euch ja unheimlich nahe
stehen.«
»Oh ja, sehr sogar.«
Ich sagte das mit der ganzen Erleichterung, die ich gerade empfand. Ich glaubte ihr, dass sie es für sich behalten würde. Außerdem war mein Mom-Ausrutscher doch nicht so schlimm und an unserer Freundschaft schien sich nichts geändert zu haben.
Wir unterhielten uns noch eine Weile, bis sie dann beiläufig erwähnte, dass sich Gabriel auch große Sorgen um mich gemacht hätte. Ich sagte ihr, dass ich mit ihm auch noch reden würde, dass er aber nichts von meiner Gabe wüsste, was auch so bleiben sollte und dass sie es deshalb doch bitte ebenso vor ihm geheim halten sollte, was sie mir natürlich auch versprach. Kurz darauf beendete sie das Gespräch, damit ich ihn sofort anrufen konnte.
Also wählte ich seine Nummer, bestätigte ihm auch gleich die Geschichte mit der Übelkeit und versprach ihm, dass ich morgen wieder zur Schule kommen würde, was ihn sehr freute. Er sagte mir noch, dass er mich in der Pause und im Spanischunterricht sehr vermisst hätte und dass Mrs. Molinero für nächste Woche eine Klausur angekündigt hätte. Deswegen gäbe es auch keine Hausaufgaben.
Wie immer, wenn ich ihn
angerufen hatte, unterhielten wir uns recht lang und entspannt.
Offensichtlich war es ihm viel angenehmer, wenn ich ihn anrief, warum
auch immer das so war. Ich hatte mich jedenfalls inzwischen daran
gewöhnt.
Gegen Abend war ich dann wieder ziemlich beruhigt, dass trotz dieses riesigen Fehlers nichts schlimmeres passiert war. Eine Sache musste ich allerdings noch klären, denn schließlich hatte ich Lennox versprochen, ihn heute erneut zu treffen. Also ging ich wieder zu meinem geheimen Platz im Wald, wo er schon auf mich wartete.
»Hallo meine Hübsche«, sagte er, kam gleich blitzschnell auf mich zu und begrüßte mich mit einem Küsschen auf die Wange.
Wieder stieg mir gleich sein toller süßlicher Duft in die Nase und meine geküsste Wange fing an zu prickeln. So gut mir das auch gefiel, es war nicht das, was ich jetzt wollte. Da war ich mir sicher.
»Stimmt etwas nicht,
Süße?«
Offensichtlich war er von meiner Reaktion
enttäuscht.
»In gewisser Weise.«, gab ich ihm zur
Antwort. »Ich hatte auch heute keinen besonders guten Tag. Es
tut mir leid, aber bei mir läuft zur Zeit vieles nicht so, wie
es sollte.«
»Es stimmt mich traurig, das zu hören«,
sagte er sehr charmant mit seiner besonderen Stimme, die ich so
mochte.
»Danke Lennox.«
»Also, was möchtest
du heute machen? Noch ein Spaziergang mit Frage-Antwort-Spiel?«
Dabei hielt er mir gleich wieder galant den Arm hin, damit ich mich wieder einhaken konnte. Kaum, dass ich das gemacht hatte, streichelte er mir sanft mit den kühlen Fingern über die Hand und schenkte mir wieder so ein faszinierendes Lächeln. Sofort hatte ich wieder ein kribbeln im Bauch, das ich jetzt doch gar nicht haben wollte, aber ich konnte nichts dagegen tun. Ich mochte ihn einfach und genoss seine Gegenwart. Allerdings führte ich mir diesmal immer wieder vor Augen, dass ich Gabriels Nähe mindestens genauso gerne hatte.
Während wir durch den Wald schlenderten, erzählte er mir von seiner Verwandlung, und ich musste schmunzeln, als er mir davon berichtete, dass er damals doch tatsächlich ein Seeräuber in der Karibik gewesen wäre. Ursprünglich war er ein Matrose auf einem englischen Handelsschiff, das von Piraten geentert wurde. Er hatte damals nur die Wahl sich ihnen anzuschließen oder über Bord zu gehen. Eine leichte Entscheidung, wie er mir versicherte. Außerdem waren die Bedingungen, unter denen ein Seemann damals leben musste, fast unmenschlich. Durch die Piraten hatte er es erst schätzen gelernt, was es hieß, frei zu sein und das hätte er sich bis heute erhalten. Er erzählte davon, dass er bei einem Landgang in Port Royal von einem Vampir gebissen und verwandelt wurde. Das hatte dann seiner Piraten-Karriere ein Ende gesetzt. Seither lebte er als Nomade.
Ich hörte ihm gerne zu, denn er konnte sehr lebendig erzählen. Die Zeit verging auch wie im Fluge und schließlich war es wieder an der Zeit, Abschied zu nehmen.
»Sehen wir uns morgen wieder?«, wollte er wissend und lächelte wieder sein umwerfend charmantes Lächeln.
Schweren Herzens schüttelte ich den Kopf, denn ich musste mich gegen den Willen einer meiner inneren Stimmen so entscheiden.
»Lennox. Ich mag dich
wirklich sehr und ich verbringe auch gerne Zeit mir dir, aber ich
muss mir über einiges im Klaren werden. Wärst du damit
einverstanden, dass wir uns erst am Sonntag wieder treffen?«
»Erst
am Sonntag? Nun ja, wenn es dein Wunsch ist, dann Sonntag.«
»Danke
Lennox. Ich komme dann am Vormittag wieder hierher.«
»Ich
freue mich darauf, meine Hübsche, auch wenn es noch so lange
dauert, bis ich dich wieder sehen darf.«
Dann gab er mir wieder einen Kuss auf die Wange und hielt mir seine hin und mir war klar, dass er sich wohl einen Abschiedskuss von mir wünschte. Die Vorstellung, sein Gesicht mit meinen Lippen zu berühren war aufregend und fachte das Kribbeln in mir neu an. Ich reckte mich ihm entgegen, um ihn den gewünschten Kuss zu geben, doch kurz bevor ich angekommen war, drehte er plötzlich den Kopf und meine Lippen landeten auf seinen.
Vor Überraschung setzte mein Herz und meine Atmung aus. Ich war völlig überrumpelt und schon im nächsten Moment spürte ich seine starke Hand in meinem Genick und die andere an meiner Taille. Ich nahm meine Hände hoch und drückte gegen seine Brust, doch seine liebkosenden Lippen raubten mir die Kraft. Sein Kuss war betörend. Seine Lippen war kühl und samtig, aber eher fest. Seine Zunge spielte mit meiner Oberlippe, leckte sie sanft, streichelte über meine Zähne. Sein Geschmack war genauso köstlich süß wie sein Duft und sein Atem, den er mir über das Gesicht streifen ließ. Sein Kuss war einfach umwerfend und ich wollte mich nicht mehr dagegen wehren. Ich ließ mich innerlich fallen, schloss meine Augen, öffnete meinen Mund und gewährte seiner fordernden Zunge Einlass. Er stieß seinen Atem jetzt direkt in mich und ich hatte das Gefühl, einen Teil von ihm plötzlich in mir zu haben. Die Schmetterlinge in meinem Bauch schienen ganz außer sich zu sein, wegen dieses unerwarteten Besuchs. Er füllte meine Lungen aus und schon nach wenigen Sekunden war ich wie berauscht. Meine Hände hatten längst damit aufgehört, ihn wegdrücken zu wollen und angefangen, über seine Brust nach oben zu seinem Gesicht zu wandern, um es zu halten und zu streicheln. Seine Hand wanderte von meiner Taille zu meinem Po und er drückte mich fest an sich. Ich wurde überrollt von heißen Welle, die von meinem Innern ausgesandt wurde, um mir eine Gänsehaut am ganzen Körper bescherten.
Dann löste sich die Hand von meinem Nacken, glitt seitlich an meiner Brust vorbei nach unten zur Taille und auch die andere Hand zog er nach oben, um sie auf gleicher Höhe abzulegen. Sein wilder, leidenschaftlicher Kuss wurde immer sanfter und klang schließlich mit einem kleinen Seufzer von mir aus.
Unfähig zu begreifen, was er da gerade mit mir gemacht hatte, schaute ich ihm atemlos in die Augen. Er erwiderte meinen Blick und lächelte verführerisch. Dann sah ich eine Bewegung seiner Lippen und erwartete spontan den nächsten Kuss, doch der kam nicht. Stattdessen sprach er mich an.
»Danke meine Hübsche. Jetzt habe ich etwas Schönes, woran ich mich die nächsten Tage bis zu unserem Wiedersehen erinnern kann.«
Ohne eine Antwort von mir abzuwarten, löste er sich von mir und verschwand blitzschnell in der Dunkelheit des Waldes.
Vollkommen verwirrt und total aufgewühlt stand ich da und versuchte zu begreifen, was passiert war. Er hatte es wieder getan. Er hatte mir eine Zärtlichkeit aufgedrängt, dich ich doch eigentlich nicht wollte und doch hatte ich sie genossen. Ich sollte ihn eigentlich dafür zum Teufel wünschen doch ich konnte es nicht. Er hatte mich auf eine Art und Weise geküsste, die mich fast um den Verstand gebracht hatte und die ich so nicht für möglich gehalten hätte.
Konnte man seinen Abschiedskuss von gestern vielleicht noch als harmlos abtun, so war das hier nicht möglich. Das war nicht harmlos. Wie sollte ich mir das denn selbst vor Gabriel als unbedeutend weismachen? War ich doch schon gestern wegen des kleinen Küsschens davon überzeugt, dass ich ihn hintergangen hatte, war es nun in Stein gemeißelt. Ich schämte mich dafür. Schämte mich dafür, dass ich mich nicht stärker dagegen gewehrt hatte und dass ich es schließlich genossen hatte. Am meisten schämte ich mich aber dafür, dass ich im Grunde genau das von Lennox bekommen hatte, was ich mir so sehr von Gabriel wünschte. Wenn ich Gabriel nur einmal so küssen könnte, würde ich Lennox sicherlich nie wieder sehen wollen.
Schließlich machte ich mich seufzend auf den Heimweg und versuchte angestrengt an die für morgen angesetzte Geschichtsklausur zu denken, damit Dad hiervon nicht mitbekommen würde. Zu meiner Überraschung schaffte ich es sogar und kam erleichtert zu Hause an und ging gleich zu Mom um sie zu umarmen.
»Hattest du einen schönen
Abend?«, fragte sie mich.
»Schirmst du mich
ab?«
»Natürlich.«
»Dann komm mit«,
sagte ich, nahm ihre Hand und ging mit ihr in mein Zimmer.
Sie setzte sich aufs Bett und wartete, während ich mich schnell im Badezimmer umzog. Dann kuschelte ich mich in meine Decke und Mom legte sich neben mich.
Wir lagen eine Weile einfach nur seitlich einander zugewandt da und sagten nichts. Sie streichelte mir übers Haar und lächelte mich an.
»Momma? Darf ich dich
etwas fragen?«
»Sicher Liebling. Was immer du
willst.«
»Woher wusstest du, dass Dad der Richtige ist
und nicht Jacob?«
Überrascht schaute sie mich an und ich hatte den Eindruck, dass sie gerade bereute, mir zugesagt zu haben, dass ich sie alles fragen dürfte.
»Das kann ich nicht so
einfach beantworten. Meine Gefühle für Jacob waren stark,
doch die für Edward waren immer stärker.«
»Du
hast beide geliebt?«
Sie seufzte.
»In gewisser
weise, ja, wobei ich heute sagen würde, dass ich für Jacob
eine tiefe Verbundenheit im Sinne von Freundschaft und vielleicht
verliebt sein hatte, wo hingegen ich deinen Dad über alles in
der Welt liebte und noch immer liebe. So wie ich auch dich seit dem
ersten Augenblick liebe, so liebe ich auch deinen Daddy.«
»Aber
das was ich für Gabriel und für Lennox empfinde, kann ich
nicht mit dem vergleichen was ich für dich empfinde, Momma.«
Ein
weiterer Seufzer von ihr.
»Das verstehe ich Schatz. Lass es
mich so sagen. Die Liebe im Herzen, die ich für dich und für
Daddy empfinde, ist gleich stark. Es gibt da aber noch eine andere
Art von Liebe, die ich für ihn empfinde.«
»Ja
Mom, aber bevor das jetzt zu peinlich wird, ich weiß was du
meinst.«
»Gut«, sagte sie sichtlich erleichtert.
»Fragst du aus einem bestimmten Grund?«
»Nun
ja, … schon … es ist so … also eigentlich liebe
ich Gabriel im Herzen mehr, aber auf die … andere Art …
fühle ich mich stark zu Lennox hingezogen. Die Art, die ich mit
Gabriel wohl nicht haben kann. … Jetzt weiß ich nicht,
was ich machen soll, wie ich mich
entscheiden soll.«
»Ich verstehe Liebling, aber
diese Frage kann ich dir nicht so einfach beantworten. Wenn dein Herz
für Gabriel schlägt, dann solltest du dir, oder besser
gesagt euch, vielleicht einfach die Zeit geben, bis du auch auf die
andere Art so mit ihm zusammen sein kannst, wie du es dir wünschst.«
Ich verstand was sie meinte und
bedankte mich bei ihr. Sie gab mir noch einen zärtlichen Kuss
auf die Schläfe und ging.
Am nächsten Morgen erwachte ich aus einem schönen Traum. Meine Phantasie hatte mir das geschenkt, was in der Realität so schwer vorstellbar war. Ein inniger leidenschaftlicher Kuss von Gabriel, der unendlich zu sein schien. Das wollte ich so gerne haben.
In der Schule holte ich mir dann gleich einen kleinen Vorgeschmack, obwohl mir sofort wieder bewusst wurde, dass ein Kuss in der Wirklichkeit sehr viel anstrengender war, aber auch sehr viel schöner.
Auch Lissie begrüßte mich heute sehr innig und gab mir das gute Gefühl, dass sich nichts an unserer Freundschaft geändert hatte. Martin begrüßte mich ebenfalls sehr freundlich und legte mir gleich seine Mitschriften aus Geographie vor, damit ich sie in mein Heft übertragen konnte. Er erzählte noch, dass Mrs. MacLeish gestern gemeint hätte, dass sie die Klasse wohl besser keinen Test schreiben lassen sollte, wenn unsere Musterschülerin nicht da wäre, um den Notendurchschnitt auf ein erträgliches Niveau zu heben. Ich fand das sehr amüsant, wobei mir natürlich klar war, dass diese spezielle Lehrerin damit nur die ganze Klasse gegen mich aufbringen wollte.
In der zweiten Stunde schrieben wir dann unsere Geschichtsklausur und wieder musste ich feststellen, dass sich Lissie unglaublich schwer tat, wobei sich einige der Fragen doch sogar auf das Thema bezogen, über das sie mit meinen Notizen ein Referat verfasst hatte. Wieso wusste sie das denn alles nicht mehr?
Ich konnte deutlich spüren, wie sich ihr Herzschlag von Minute zu Minute beschleunigte und mehr und mehr Adrenalin von ihr ausgeschüttet wurde. Wieder tippte sie unruhig mit den Fingern auf dem Tisch, jedoch führte sie ihre Hand näher zu mir herüber. Das durfte doch wohl nicht ihr ernst sein. Wollte sie etwa schon wieder meine Hilfe auf diese Art? Das konnte sie doch nicht von mir verlangen.
»Nessie, bitte«, hörte ich sie leise flehen.
Oh man. Das war doch betrügen, aber wenn ich es nicht machte, würde sie vielleicht sauer auf mich werden und dann war mein Geheimnis nicht mehr sicher. Ich fühlte mich total elend. Natürlich wollte ich ihr helfen, aber doch nicht so. Wenn das jemandem auffallen würde, dann wären wir vielleicht wirklich nicht mehr sicher hier. Was konnte ich nur tun?
Ihre Hand kam noch weiter zu mir herübergetippelt und erneut flüsterte sie ein fast wimmerndes »Bitte«.
Ich gab ihr schließlich,
wonach sie verlangte, auch wenn ich es wirklich nicht gerne tat und
mich sehr schlecht dabei fühlte. Auch diesmal zuckte sie kurz
zusammen, doch dann fing sie sofort an, ihre fehlerhaften Antworten
zu korrigieren. Da ich mit meiner Arbeit fertig war und Lissie
bekommen hatte, was sie wollte, gab ich mein Blatt ab und verließ
das Klassenzimmer. In meiner anschließenden Freistunde hatte
ich praktisch nichts zu tun, da keine Hausaufgaben anstanden. Also
ging ich ein wenig spazieren und dachte nach.
Zur Mittagspause versammelten sich alle wieder in der Mensa und ich begnügte mich wie so häufig mir einem Salat, in dem ich desinteressiert herumstocherte. Schließlich, als alle aufgegessen hatte und ich für gewöhnlich mit Gabriel nach draußen ging, bat ich Lissie, mit mir eine Runde spazieren zu gehen. Ich entschuldigte mich bei Gabriel und nahm meine überraschte Freundin mit hinaus.
Kaum, dass wir ein Stück gegangen waren, sprach sie mich an.
»Danke für deine Hilfe vorhin. Du hast mich wieder gerettet.«
Sie sagte das sehr aufrichtig und mit einem echten dankbaren Lächeln, so dass es mir noch schwerer fiel, ihr das mitzuteilen, was ich mir vorgenommen hatte.
»Bitte Lissie, verlange
das nicht mehr von mir«, sagte ich und schaute sie dabei
flehend an.
»Aber warum denn? Willst du mir denn nicht mehr
helfen?«
»Natürlich will ich
dir helfen, aber doch nicht so. Das ist wie betrügen und ich
fühle mich schrecklich dabei. Ich würde dir gerne jeden Tag
mit den Hausaufgaben und beim Lernen helfen, wenn du mich lässt,
aber das? … Ich weiß, du hast mich jetzt in der Hand,
mit deinem Wissen über mich, aber ich bitte dich, tu mir das
nicht an.«
»Aber Nessie, was sagst du denn da?
Ich würde dich doch nicht verraten, nur weil du mir nicht mehr
so helfen willst. Weißt du das denn nicht?«
»Ich
weiß gar nichts Lissie. Versteh’ mich doch. Ich bin total
verzweifelt. Ich habe Angst, Lissie. Angst, dass mein Geheimnis
gelüftet wird, Angst, dass ich hier weg muss. Angst, dass ich
dich und Gabriel nie wieder sehen darf. Ich will diese Angst nicht
haben und deshalb will ich meine Fähigkeit nicht in der
Öffentlichkeit benutzen. Wenn das den falschen Leuten auffällt
… du hast ja keine Ahnung, was das bedeutet.«
Wie sollte ich ihr denn auch sagen, dass es Mächte auf dieser Erde gab, die ohne mit der Wimper zu zucken, sie und alle die mich kannten töten würden, um das Vampirgeheimnis zu hüten.
»Ist ja
gut Nessie, ich hab’s verstanden. Ich will dich doch nicht in
Schwierigkeiten bringen. Es war nur … so einfach.«
»Ich
weiß, Lissie. Einfach und schnell aber eben auch gefährlich
und falsch.«
»Na ja … und du
würdest wirklich mit mir üben?«
»Das
will ich, Lissie. Ich frage zu Hause nach, wie wir das am besten
machen können, O.K.?«
»O.K.«, sagte sie
seufzend und dann gingen wir wieder zurück.
Ich verbrachte dann noch die letzten zehn Minuten der Pause mit Gabriel zusammen und danach hatten wir noch Chemie. Anschließend ging es nach Hause, wobei Dad mich noch gleich am Parkplatz in den Arm nahm und für meine Verhalten lobte.
Wir besprachen dann noch die Sache mit Lissies Nachhilfe und einigten uns darauf, dass ich jeden Tag nach der Schule mit zu ihr fahren könnte, um die Hausaufgaben zu machen und zu lernen. Spätestens um sieben sollte ich allerdings zu Hause sein, damit ich meinen eigenen Trainingsplan auch einhalten könnte. Jaspers Range Rover war ja zum Glück groß genug, dass Lissie auch noch Platz haben würde und Jazz war auch damit einverstanden, dass er uns nach der Schule zu ihr fahren würde und mich dann wieder abholte, wenn wir fertig waren. Er meinte dann, dass wir ja auf dem Heimweg schon ein wenig mit dem Emotionstraining anfangen könnten. Na, da freute ich mich aber schon darauf.
Am nächsten Tag besprach ich das dann auch gleich mit Lissie und sie stimmte zu. Nicht nur das, sie wollte es auch gleich in die Tat umsetzen und so fuhr Jasper uns direkt nach der Schule zu ihr nach Hause.
Sie wohnten außerhalb von Helensburgh in einer angenehmen Wohngegend. Es war ein nettes Haus mit einem kleinen gepflegten Vorgarten und wirkte sehr einladend.
»Hier
wohne ich«, sagte sie grinsend. »Komm ‘rein.«
Sie
öffnete die Tür und ich folgte ihr.
»MOM! Ich bin
wieder da!«
»Du bist aber früh heute. Ist was
passiert?«, hörte ich ihre Mom sagen und kurz darauf trat
sie aus einem Raum heraus, in dem, so viel ich sehen konnte,
vermutlich die Küche war.
»Oh? Du hast Besuch
mitgebracht?«
»Ja Mom. Du kennst doch Nessie?«
»Guten
Tag Mrs. Miller. Schön sie wieder zu sehen«, begrüßte
ich sie und reichte ihr die Hand.
Sofort nahm ich ihren leckeren Duft wahr. Diese Frau roch einfach unglaublich und es war anstrengend, den Geruch zu ignorieren.
»Natürlich kenne ich
Vanessa.« sagte sie und lächelte mich an. »Gibt es
einen bestimmten Grund, dass du sie mitbringst, ohne mir etwas zu
sagen?«
»Du hast nicht um Erlaubnis gefragt?«
Ich war überrascht. Damit hatte ich nicht gerechnet. Für mich wäre es selbstverständlich gewesen, dass ich vorher zu Hause nachfragte, bevor ich jemandem mitbrachte. Nun ja, bei uns hatte das natürlich auch besondere Gründe.
Ȁhm,
‘tschuldigung Mom. Es ist nur so, Nessie hat super Noten und
mir angeboten zu helfen. Deshalb wollen wir zusammen Hausaufgaben
machen und lernen.«
»Warum denn das jetzt auf
einmal? Du hast mir doch erst gestern erzählt, dass deine
Arbeiten gut gelaufen sind?«
»Ja …
schon … trotzdem«, sagte Lissie stockend und es war
total offensichtlich, dass sie etwas verheimlichte.
»Elizabeth,
was ist los?«
»N-Nichts.«
»Raus mit der
Sprache«, sagte ihre Mom jetzt recht streng.
»Bitte
Mom. Es ist nicht so wie du denkst.«
»Ach ja? Was denk
ich denn?«
»Ich … die
Klausuren … also … Nessie hat mir geholfen.«
»Wie
geholfen? Könntest du wohl in ganzen Sätzen mit mir reden?«
Ihre Mom wirkte etwas ungehalten, dass Lissie so herumdruckste und ich sah ihr an, dass sie verzweifelt nach einer Antwort suchte, die ihre Mom zufrieden stellen könnte.
»Die letzten beiden Prüfungen … sind nicht so gelaufen, wie ich erhofft hatte. … Ich hätte sie total verhauen, wenn Nessie mir nicht geholfen hätte.«
Oh nein! Das konnte sie doch nicht machen, Sie durfte das ihrer Mutter doch nicht erzählen. Sie hatte ja keine Ahnung, was dieses Wissen für ihre Familie für Konsequenzen hätte, wenn die Volturi jemals davon erfahren würden. Ich warf ihr einen flehenden Blick zu, um sie an ihr Versprechen zu erinnern.
»Und wie hat sie dir
geholfen?«, stellte Mrs. Miller die furchtbarste Frage, die sie
stellen konnte.
»Mom es tut mir leid.
Wirklich, du musst mir glauben. Ich war total verzweifelt. Nessie war
wie immer viel früher fertig und ich habe auf ihr Blatt
geschielt und … abgeschrieben.«
»Was?!
Wie kannst du nur, Elizabeth. Du weißt doch, dass du ein F
bekommst, wenn das bemerkt wird.«
»Ja
Mom. … Aber das hätte ich auch so bekommen. Ich hatte
alles falsch.«
»Ein F? Aber Lissie, was ist nur
los mit dir? Seit einem halben Jahr werden deine Noten immer
schlechter.«
»Ich weiß es ja und ich lerne doch,
aber es klappt nicht. Es ist irgendwie alles schwerer geworden. Jetzt
hat Nessie mir angeboten, dass sie mit mir lernen will, weil sie auch
ein schlechtes Gewissen hat, wenn sie mich abschreiben lässt. Da
lernt sie lieber jeden Tag mit mir, hat sie gesagt. Bitte Mom, sie
ist so gut in der Schule. Sie kann mir bestimmt helfen.«
Ein riesiger Stein fiel mir vom Herzen, dass sie mein Geheimnis bewahrt hatte und trotzdem eine Erklärung liefern konnte, die sehr nah an der Wahrheit dran war. Ihre Mom hatte offensichtlich keinen Zweifel an ihrer Aussage und sah sie mit bedauern an. Dann schaute sie zu mir und lächelte leicht.
»Du hast ein schlechtes
Gewissen, weil du meine Tochter hast abschreiben lassen?«
Ȁhm,
ja Ma’am. Ich möchte nicht betrügen, aber ich will
ihr helfen. Sie ist doch meine beste Freundin.«
»Das
ist sehr lieb von dir«, sagte sie jetzt mit einem herzlichen
Lächeln und streichelte mir dabei über das Gesicht.
Ihre Berührung war völlig unerwartet und überraschte mich total. Ich spürte die zarte und weiche Haut und nahm ihren leckeren Duft jetzt viel intensiver wahr. Meine Augen trafen auch sofort auf die kleine zuckende Pulsader an ihrem Handgelenk und ich spürte schlagartig ein anschwellendes brennen im Hals. Meine Sinne waren geschärft und ich wusste sofort, was das zu bedeuten hatte.
Verdammt. Ich war so mit meinem Geheimnis-Problem beschäftigt gewesen, dass ich meine Selbstbeherrschung vernachlässigt hatte. Ich musste schlucken und versuchte wieder ruhig zu atmen. Verlegen lächelte ich sie an.
»Hast du Durst, Liebes?«,
fragte sie mich und ich war verwirrt, wieso sie das wusste und
nickte, ohne darüber nachzudenken.
»Dann mache ich euch
eine Limonade«, sagte sie, und wandte sich dann ihrer Tochter
zu. »Ihr könnt ja schon mal in dein Zimmer gehen und wir
reden dann später weiter.«
»O.K. Mom«,
sagte Lissie deprimiert.
Ich war sehr froh, mich von ihrer Mom entfernen zu dürfen. Der Duft hatte mich total überrascht, denn Lissie hatte ich noch nie so wahrgenommen, obwohl ich sie schon oft umarmt hatte. Es war mir ein Rätsel, wo sie ansonsten ihrer Mom doch so ähnlich war. Irritiert folgte ich ihr in ihr Zimmer und schaute mich kurz um. Es waren viele Poster an den Wänden von einigen Musikern und Schauspielern. Es herrschte eine ziemliche Unordnung und überall lagen irgendwelche Sachen herum. Meine liebe Freundin war wohl ziemlich chaotisch veranlagt und offensichtlich kein Ordnungsliebhaber.
Lissie ließ sich mit dem Gesicht nach unten auf ihr Bett fallen und wirkte sehr traurig. Es tat mir so leid, dass sie jetzt wegen mir Ärger hatte und ich ging zu ihr, um sie etwas zu trösten. Ich streichelte ihr über das Haar und beugte mich zu ihr hinunter. Allerdings konnte ich nicht widerstehen einen tiefen Atemzug zu nehmen, um ihren Duft zu testen. Es war total merkwürdig, denn sie roch für mich überhaupt nicht lecker. Nicht ein kleines Bisschen. Ich schüttelte über mich selbst den Kopf und konzentrierte mich wieder auf das, was ich eigentlich jetzt machen wollte.
»Lissie? Alles in
Ordnung?«, fragte ich vorsichtig.
»Hmm«, kam es
durch ein Kissen zurück.
»Es tut mir leid. Das habe ich
nicht gewollt«, sagte ich entschuldigend.
Sie drehte den Kopf zu mir und
sah mich an.
»Muss es nicht, Nessie. Ich bin doch selbst
schuld. Mir tut es leid, dass ich dich da mit hinein gezogen
habe.«
»Ach was«, sagte ich. »Ist doch
nichts passiert. Deine Mom mag mich anscheinend.«
»Natürlich
mag sie dich. Wer denn nicht«, sagte sie und klang dabei so
vorwurfsvoll, als ob es völlig ausgeschlossen wäre, dass
jemand mich nicht mögen könnte.
»Na Lou zum
Beispiel oder Mrs. MacLeish.«
Sie lachte.
»O.K.
dann anders. Wer mit allen Tassen im Schrank mag dich nicht.«
Da
mussten wir beide lachen und umarmten uns.
Schließlich setzten wir uns auf den Boden und machten uns an die Hausaufgaben. Ihr Mom brachte uns einen Krug Limonade und leider auch ihren Duft mit, so dass ich vorsichtshalber sofort ein großes Glas in mich hinein kippte, was sie sehr amüsierte. Sie sagte noch, dass wir Bescheid geben sollten, wenn wir Nachschub wollten und ließ uns wieder alleine.
Lissie schien wirklich große Schwierigkeiten mit den Hausaufgaben zu haben und ich versuchte ihr alles so gut ich nur konnte zu erklären. Sie wirkte aber schon bald sehr müde und hatte wohl Probleme damit, sich richtig zu konzentrieren. Ob sie vielleicht schlecht geschlafen hatte? Nach einer Stunde bat sie um eine Pause und legte sich seufzend aufs Bett.
»Sag mal, Nessie. Wie ist
es so mit Gabriel?«, fragte sie plötzlich.
»Schön«,
antwortete ich kurz und breit grinsend.
»Ich wünschte,
ich hätte auch einen Freund«, sagte sie leicht
traurig.
»Gibt es denn einen bestimmten Jungen?«
»N-Nicht
wirklich.«
»Wer ist es«, wollte ich sofort
wissen, denn ihre zögerliche Art verriet mir, dass es da
jemanden geben musste.
»Du lachst mich bestimmt aus, wenn
ich das sage.«
»Bestimmt nicht. Versprochen.«
»Es
ist mir aber peinlich.«
»Jetzt
sag’s schon.«
Sie seufzte noch mal
schwer.
»Kevin.«
»Nein! … Kevin? …
Der Kevin? … Im Ernst?«
»Ich weiß ja
selbst, dass das total dämlich ist. Der kann so ein Idiot sein …
aber er sieht so gut aus und wenn er lächelt … dann …
ist er sooo süß.«
»Oh Lissie. Ob das
gut geht?«
»Ja, ja. Er ist ja auch gar nicht an mir
interessiert.«
»Womit definitiv bewiesen wäre,
dass er ein Idiot ist«, sagte ich und wir lachten wieder
beide.
»Außerdem würde Lou mir bestimmt die Haare
ausreißen, wenn ich ihn ansprechen würde.«
»Also
vor Lou musst du keine Angst haben. Die halte ich schon im
Zaum.«
»Ja. Lou ist wohl immer noch geschockt von
deiner Ohrfeige. Das ist schon so lange her und sie sieht dich immer
noch so feindselig an, doch sie macht gar nichts. Ich hatte ja
gedacht, dass sie sich irgendwie an dir rächen will, aber nix.
Außer blöd rumlabern kommt da nichts.«
»Ist
halt ein doofes Schneeflittchen«, sagte ich und erneut lagen
wir uns lachend in den Armen.
Nach einer viertelstündigen Pause machten wir uns wieder an die Hausaufgaben und danach mit einer weiteren Unterbrechung noch ans Lernen für die nächste Klausur. Ich hatte aber nicht den Eindruck, dass es viel nützen würde, denn sie schien erschöpft zu sein. Also beendeten wir es schließlich und ich rief Jasper an, damit er mich abholte.
Unterwegs schickte er mir dann Freude, mit der Anweisung, nicht zu grinsen, was natürlich so albern war, dass ich laut lachen musste, was ihn wiederum aufstöhnen ließ. Er ermahnte mich, dass ich mich besser konzentrieren sollte, aber ich fand das Ganze so witzig, dass es mir einfach nicht gelingen wollte.
Am Abend erzählte ich
meiner Familie noch von dem gemeinsam Lernen mit Lissie und wie ihre
Mom darauf reagiert hatte, als sie davon erfuhr. Wir alle hofften,
dass Lissie deswegen keinen großen Ärger bekommen würde.
Am nächsten Tag schienen sich alle in der Schule auf das Wochenende zu freuen, um den Prüfungsstress für zwei Tage entgehen zu können, obwohl viele diese Tage zum Lernen nutzen dürften.
Natürlich fragte ich Lissie, was denn gestern Abend bei ihr noch so passiert wäre und sie erzählte mir, dass ihr Vater wegen der ganzen Aktion wohl ziemlich enttäuscht von ihr gewesen wäre, was ihr sichtlich zu schaffen machte. Ihre Eltern hofften aber sehr, dass das gemeinsame Lernen mit mir tatsächlich helfen würde und dass sie dann im nächsten Trimester bessere Leistungen bringen könnte.
Bevor wir allerdings ins Wochenende starten durften, hatten wir in der letzten Doppelstunde IT auch noch eine Klausur zu absolvieren. Ich verzog mich in der Mittagspause noch mal kurz mit Lissie auf die Mädchentoilette um ihr ein letztes Mal mit einer Übertragung zu helfen. Ich wusste zwar nicht, was drankommen würde, aber ich schickte ihr einfach das, was ich dafür gelernt hatte. Allerdings schien es nicht so zu funktionieren, denn sie schüttelte den Kopf und meinte, dass es zu viel gewesen sei und auch ganz anders. Die beiden Male davor, hatte ich ihr einfach das Bild von meiner Klausur geschickt. Jetzt waren es haufenweise Erinnerungen an gelerntes, was sie so nicht einfach aufnehmen konnte. Wir hatten aber keine andere Wahl, da wir ja nicht nebeneinander saßen.
Nach dem Ende des Schultages sagte sie noch, dass die Prüfung einigermaßen gut gelaufen wäre, aber dass sie sich dabei völlig unsicher sei. Mit Gabriel verabredete ich mich wie immer für den morgigen Samstagnachmittag bei mir und dann fuhr ich wieder zu Lissie.
Ihre Mom meinte dann zur Begrüßung zu mir, dass sie sich überlegt hätte, mir etwas für die Nachhilfestunden bezahlen zu wollen, aber das lehnte ich bestimmend ab. Das war vollkommen unnötig und ich wollte das definitiv nicht.
Das Lernen mit Lissie verlief ähnlich schwierig wie am Vortag, denn sie schien einfach fix und fertig von der ganzen Woche zu sein. Sie tat mir einfach leid und ich wünschte mir, ich könnte ihr besser helfen. Als sie dann seufzend meinte, dass sie wohl das ganze Wochenende durchlernen müsste, um die letzten Prüfungen zu schaffen, sagte ich ihr, dass diese Taktik wohl bisher auch nicht sonderlich gut funktioniert hätte. Ich stellte ihr noch einen überschaubaren Lehrplan für die nächsten zwei Tage zusammen, denn sie sollte sich auf jeden Fall auch eine richtige Pause gönnen und Energie tanken und höchstens zwei Stunden am Tag lernen. So fertig wie sie aussah, machte es sicherlich keinen Sinn, wenn sie Stundenlang versuchte das Wissen in ihren müden Kopf zu pressen. Sie war sehr skeptisch und befürchtete, dass das wohl kaum für eine gute Note ausreichen würde. Da hatte sie natürlich recht, aber sie ließ sich davon überzeugen, dass es im Augenblick doch ausreichend wäre, wenn sie wenigstens ein D erreichen würde. Alles Weitere könnten wir ja in den nächsten Wochen und Monaten in Angriff nehmen.
Sie schenkte mir noch ein Lächeln und eine liebevolle Umarmung zu Abschied und dann fuhr ich mit Jasper nach Hause. Gemeiner Weise schickte mir Jasper heute Trauer während der Fahrt und da ich sowieso bedrückt war, dass ich Lissie nicht besser helfen konnte, heulte ich vor mich hin. Jasper unterbrach das Training zwar mehrmals, damit ich mich wieder fassen konnte und natürlich ermahnte er mich wie immer, auf meine innere Ruhe zu achten, doch es half nichts. Ich versuchte gegen die Trauer anzukämpfen, doch sie fühlte sich einfach zu echt an und ich konnte die Tränen nicht aufhalten. Wenigstens schenkte er mir diesmal zum Abschluss der Übungseinheit etwas Aufmunterung und so wurde der Abend schließlich doch noch recht schön.
Morgen würden wir wieder auf die Jagd gehen und dann durfte ich mit Gabriel zusammen sein. Ein wundervoller Gedanke, der mir ein glückliches Lächeln auf das Gesicht zauberte. Vielleicht sollte ich beim nächsten Mal, wenn Jasper mich mit seiner Fähigkeit traurig machte, einfach an so etwas Schönes denken, um einen Ausgleich zu schaffen. Ich würde das auf jeden Fall versuchen wollen. Für den Moment war ich jedenfalls glücklich und voller Vorfreude. Beste Voraussetzungen, um schnell und zufrieden einschlafen zu können.
Mein Zimmer war hell erleuchtet, als ich die Augen aufschlug. Was für ein schöner sonniger Morgen. Er passte einfach perfekt zu dem glücklichen Gefühl in meinem Bauch. Ich hatte so einen schönen Traum, in dem mir meine Fantasie einen Spaziergang mit innigen Küssen mit meinem Gabriel geschenkt hatte. Auch in meinem Traum war das Wetter so schön. Vielleicht ein gutes Vorzeichen?
Fröhlich hüpfte ich aus meinem Bett und warf einen langen und sehnsüchtigen Blick aus dem Fenster. Der herbstliche Wald, der sich schon mehr und mehr auf den Winter vorbereitet hatte, erstrahlte noch mal in dem Licht der Sonne in vielen bunten Farben. Es war so schön, dass ich am liebsten ein neues Bild anfangen würde, wenn ich heute nicht schon so viel besseres vorhätte.
Gut gelaunt machte ich mich für unseren Jagdausflug fertig und ging hinunter ins Wohnzimmer, wo auch schon die ganze Familie versammelt war.
»Na Süße. Du
strahlst ja heute heller als die Sonne. Gut geschlafen?«,
begrüßte mich Rosalie und gab mir einen Kuss auf die
Wange.
»Sehr gut sogar. Heute wird bestimmt ein toller
Tag.«
»Also, dann wollen wir mal mit einer tollen Jagd
beginnen«, sagte sie noch und dann machten wir uns auch schon
alle in Richtung Garage auf.
Ich fuhr wie meistens in letzter Zeit mit Jasper, Rosalie und Emmett. Das Ziel unserer Reise war wieder einmal der Argyll Forest Park und wir machten uns auch gleich daran, eine nette Beute aufzuspüren. Nun ja, nett war das Rotwild ja eigentlich nur für mich. Für Jazz und Rose war das so akzeptabel, aber Em tat mir schon richtig leid. Er mochte das Nahrungsangebot hier überhaupt nicht und meinte auch, dass er schon viel schwächer geworden wäre, weil er nichts vernünftiges mehr zu Essen bekommen würde. Zum Beweis wollte er zeigen, dass er nicht einmal mehr einen Baum ausreißen konnte. Dazu umfasste er einen mittelstarken Baumstamm und versuchte angestrengt auszusehen, also ob es ihm tatsächlich nicht gelänge. Dabei zerdrückte er den Stamm aber versehentlich, woraufhin der Baum einfach umknickte. Rose meinte dazu lachend, dass es doch gar nicht nötig wäre den Baum auszureißen, wenn er ihn doch einfach wie ein Streichholz zerbrechen könnte. Emmett trat wütend gegen den Stamm, weil sein Schauspiel so schlecht war, was dazu führte, dass der Baum gegen einen anderen krachte, der dann tatsächlich entwurzelt wurde. Das ging mir dann aber zu weit und ich richtet das arme Opfer wieder auf und klopfte die Erde wieder fest. Außerdem schimpfte ich mit Emmett, dass er seinen Frust doch nicht an den armen Bäumen auslassen sollte. Die konnten schließlich auch nichts dafür, dass es hier keine Bären gab. Schnaubend und von einer lachenden Rosalie und einem kopfschüttelnden Jasper begleitet, machte er sich dann doch daran, ein Reh zu erlegen. Auch ich musste nicht lange nach meiner Beute suchen und war zufrieden, auch wenn es nichts besonderes war. Auf dem Heimweg meinte Emmett dann noch, dass dies definitiv sein letztes Reh für dieses Jahr gewesen wäre. Er würde erste wieder jagen, wenn er mir Rose, Jazz und Alice die Weihnachtsferien in einer anständigen Gegend mir richtiger Beute verbringen würde.
Unser Ausflug war relativ schnell zu Ende und so hatte ich noch zwei Stunden Zeit, bis Gabriel kommen würde. Da Emmett ja ein bisschen mürrisch war, was so gar nicht zu ihm passte, wollte ich ihn etwas aufheitern und bot ihm an, mit mir etwas zu spielen oder Musik zu machen, oder etwas anderes, wozu auch immer er Lust hatte. Was er dann allerdings wollte, überraschte mich doch sehr. Er bat mich, meine Gabe bei ihm einzusetzen und ihm Erinnerungen zu zeigen, als wir zum letzten Mal zusammen in Amerika auf der Jagd waren und er einen Bären als Beute hatte. Ich erfüllte ihm seinen Wunsch und versuchte es mit allen Sinnen darzustellen. Ich hatte ja selbst damals einen Bären probiert und nutzte dies nun, damit er seine Lieblingsbeute auch riechen und schmecken konnte. Das gefiel ihm so gut, dass er dabei mehrmals schlucken musste und einmal sogar leise knurrte. Danach drückte er mich freudestrahlend und ging mit mir noch eine Stunde in den Musikkeller.
Am frühen Nachmittag kam
dann Gabriel an und ich bat Mom vorher noch, dass sie uns wieder
abschirmt, was sie natürlich auch zusagte. Dann verzog ich mich
gleich mit ihm in meinem Zimmer. Dort begrüßten wir uns
erst einmal richtig mit einem langen, tollen Kuss. So kurz nach der
Jagd kam es mir nicht ganz so anstrengend vor wie sonst, mich dabei
zu konzentrieren und zu beherrschen. Ich strotzte geradezu vor
Energie und Glück und sah ihm, so verliebt wie ich war, intensiv
in die Augen, als sich unsere Lippen voneinander lösten und wir
uns noch umarmend gegenüber standen.
»Ich liebe
dich, Nessie«, sagte er zärtlich.
»Ich dich
auch.«
Es war einfach wunderschön. Die Schmetterling in meinem Bauch ließen den bevorstehenden Winter vergessen und taten einfach so, als wäre mein Inneres eine bunte, duftende Blumenwiese im Sommer. Sie krabbelten und kitzelten und lösten einen wohligen Schauer nach dem anderen aus.
»Was hast du denn zu
Mittag gegessen?«, wollte er plötzlich wissen und
irritierte mich damit total.
»Warum?«, fragte ich
verwirrt.
»Na, du schmeckst heute irgendwie anders.«
Ich erschrak. Bei der Jagd war ich heute sehr ordentlich gewesen und hatte mich weder verschmiert noch sonst irgendwie beschmutzt. Es war mir gar nicht in den Sinn gekommen, mich vorher noch mal zu waschen oder umzuziehen.
»Entschuldigte bitte, ich
putze mir gleich die Zähne«, sagte ich und wollte mich
schon aus seiner Umarmung lösen, doch er hielt mich fest und ich
stoppte sofort, um mich nicht versehentlich von ihm
loszureißen.
»Hey, das war doch kein Vorwurf. Ich bin
doch nur neugierig. Ist dein Mittagessen denn so ein großes
Geheimnis?«
Ȁh, nein.
Natürlich nicht. Wir hatte … Reh- … braten zum
Mittagessen.«
»Schmeckt gut«, meinte er grinsend
und gab mir noch einen Kuss, den ich aber, so irritiert wie ich
gerade war, nicht richtig erwidern konnte.
»Wollen wir mit
Spanisch anfangen?«, fragte ich ihn.
»Ja, klar«,
seufzte er und ergänzte dann noch verschmitzt lächelnd:
»Deshalb bin ich doch hier.«
Wir lösten uns voneinander, holten unsere Unterlagen heraus und setzten uns auf die Bettkante. Heute wollten wir uns auf die Grammatik stürzen, da dies für die Klausur nächste Woche wichtig war. Trotz unserer leidenschaftlichen Begrüßung schaffte es Gabriel, sich voll und ganz auf das Thema zu konzentrieren. Er war viel mehr bei der Sache, als das bei Lissie der Fall war, obwohl er doch allen Grund hätte, mit den Gedanken ganz wo anders zu sein. Also nicht wo anders, sondern bei mir. Nun ja, manchmal war er das auch, zumindest glaubte ich das, weil er mir dann hin und wieder doch so verträumt in die Augen schaute, aber immer nur kurz und dann richtete er gleich wieder seine Aufmerksamkeit auf die Spanischnachhilfe. Allerdings reichten diese kurzen Augenblicke aus, um mich aus den Konzept zu bringen und ich musste mich danach immer erst wieder neu orientieren, was ihn immer grinsen ließ.
Nach etwa zwei Stunden intensivem Arbeiten hatten wir unser Vorhaben in die Tat umgesetzt und Gabriel war sehr zuversichtlich, dass er nun bestens für nächste Woche vorbereitet war. Den Eindruck hatte ich auch, denn er schien wirklich alles verstanden zu haben. Es war so ein gutes Gefühl, dass ich ihm wirklich helfen konnte. Das musste doch bei Lissie auch irgendwie klappen können.
»Danke meine Blume. Du
kannst echt gut Nachhilfe geben.«
»Blume?«
Ȁhm
… na ja, ich dachte, weil du immer so gut duftest, da wäre
es ein passender Kosename. … Gefällt er dir nicht?«
“Er mag meinen Duft”, stellte ich erfreut im Gedanken fest. Das gefiel mir sehr. So sehr, dass ich doch glatt wieder rot wurde. Warum war mir eigentlich noch nie so ein Name für ihn in den Sinn gekommen? Es gab doch auch so vieles, das mir an ihm gefiel. Das war mir jetzt sogar ein bisschen peinlich.
»Oh doch, ich mag Blumen.
Das ist wirklich lieb von dir. Aber ich habe doch gar keinen
Kosenamen für dich?«
»Ach, das macht nichts. Egal
wie du mich nennst, aus deinem Mund klingt alles schön.«
Er war ja mal wieder sooo süß, wie er so da saß, mich verliebt anlächelte und mir in die Augen sah. Ich musste ihn einfach küssen. Ich beugte mich zu ihm rüber, streichelte zärtlich über sein Gesicht und küsste ihn. Den Kontakt unserer Münder zu fühlen, die sich so liebevoll vereinten, als wären sie füreinander bestimmt, war einfach unbeschreiblich. Dazu noch sein Duft, der Geschmack seiner Lippen, das gelegentliche leise Seufzen von uns beiden. Das alles war so magisch und wundervoll und ich genoss es so sehr.
Er legte den Arm um mich und zog mich leicht mit sich, als er sich rückwärts auf das Bett sinken ließ. Ich war unsicher, ob ich das wirklich zulassen konnte. Wir lagen noch nie auf meinem Bett und ich war jetzt schon so sehr von dem schönen Moment berauscht, dass ich etwas Angst um meine Selbstbeherrschung hatte. Andererseits hatte ich ja gerade erst gejagt und so lange ich mir der Gefahr bewusst war, war ja auch alles unter Kontrolle. Ich ließ es also zu und ging sogar noch einen Schritt weiter. Ich drehte mich ihm zu und lag halb auf ihm an seiner Seite. Mein linker Arm lag unter seinem Kopf und meine Hand auf seiner Schulter. Meine rechte Hand hat sich wie von selbst in seinen Haaren vergraben und massierte ihm sanft die Kopfhaut. Mein rechtes Bein lag zwischen seinen Beinen und baumelte über der Bettkante. So lag ich ganz dicht an ihm und ließ meine Lippen mit den seinen spielen.
Viel wichtiger war allerdings das, was er tat. Anfang noch sehr zurückhaltend, lag seine rechte Hand in meinem Nacken und seine linke an meiner Taille. So wie er es meistens machte, wenn wir uns küssten, war er sehr darauf bedacht, mich nicht zu intensiv mit seinen Händen zu berühren. Doch dann tat er etwas Überraschendes. Seine Hand an meiner Taille streichelte hinunter zu meinem Po und dann wieder nach oben unter mein T-Shirt. Seine Hand dort direkt auf der Haut zu spüren, ließ vermutlich einen der Schmetterlinge in meinem Bauch gerade explodieren, denn ich wurde von einer prickelnden Druckwelle überrollt. Alle meine Organe verklumpten sich bei dem Versuch, ganz nah an die Stelle zu kommen, die da gerade berührt wurde. Selbst mein Herz und meine Lunge, auf die ich mich in letzter Zeit doch eigentlich recht gut verlassen konnte, schlossen sich dem Kollektiv an und ließen mich im Stich.
Ich musste mich einfach ruckartig von seinen Lippen lösen und scharf einatmen. Gleich darauf entwich die Luft wieder keuchend meiner Kehle, denn meine Lunge hatte ja gerade besseres zu tun, als sich mit so was profanem wie Atmung zu beschäftigen.
Gabriel ließ die Hand jetzt ganz ruhig liegen und schaute mir tief in die Augen. Er wirkte unsicher und auch etwas besorgt. Was ging wohl gerade in seinem Kopf vor? Manchmal wünschte ich, meine Gabe würde auch andersherum funktionieren. Dann könnte ich mir jetzt ganz einfach mit der Hand an seinem Kopf die Informationen holen, die ich so gerne haben wollte.
Abwartend blickten wir uns weiter in die Augen. Ich versuchte meine Organe wieder zur Ordnung zu rufen, um wieder zu innerer Ruhe zu kommen, aber das war so unfassbar schwer. Seine Hand, die eigentlich ganz ruhig unter meinem T-Shirt auf meiner Taille lag, wurde doch immer wieder ganz leicht bewegt. Unsere Atmung, der Puls und klitzekleine Zuckungen führte wieder und wieder zu minimalen Verlagerungen, die wie winzige Wassertropfen immer neue kleine Wellen auslösten, die über meinen Körper schwappten und mir einen Schauer nach dem anderen bescherten. Überall kribbelte es an mir. Meine Haarwurzeln schienen unter Strom zu stehen. Dieses ziehende Kribbeln in meiner Brust, das sich von dort über meinen Körper ausbreitete, wie ein Steinchen, das auf dem Wasser hüpfte, raubte mir fast den Verstand. In meinem Schoß war es besonders intensiv und ich verspürte dieses wahnsinnige Verlangen, an dieser Stelle etwas mehr Druck auf sein Bein auszuüben, doch ich wollte dem nicht nachgeben. Selbst meine Zehen schienen außer Kontrolle geraten zu sein, denn ich musste immer wieder unwillkürlich mit ihnen wackeln oder sie zusammenballen.
Ich war vollkommen außer Atem. Die Berührung seiner Finger auf meiner nackten Haut war so schön und noch so bedrohlich. Oh Himmel, wie gerne würde ich dem einfach nachgeben und es nur genießen, doch ich konnte es nicht riskieren. Fast flehend sah ich ihm in die Augen. Ich schaffte es nicht, ihm zu sagen, dass er die Hand da wegnehmen sollte. Ich wollte das eigentlich auch gar nicht, denn es war wundervoll. Also versuchte ich weiterhin mich zu beruhigen, so, wie Jasper es immer wieder von mir verlangt hatte, wenn ich mit ihm trainierte. Aber auch hier gelang es mir einfach nicht.
Dann plötzlich löste sich seine Hand und kehrte an einen Platz an meiner Hüfte auf meiner Jeans zurück. Meine Organe, die eben noch wie Eisenspäne von einem Magneten angezogen wurden, schossen nun wie von Gummibändern gezogen enttäuscht an ihre Plätze zurück. Das Prickeln ließ nach, doch anstatt deshalb beruhigt zu sein, spürte ich Enttäuschung. Nein, das war nicht richtig. Ich wollte diese Berührung und es fühlte sich schrecklich an, dass sie vorbei war.
»Es tut mir leid Nessie«,
hörte ich seine sanfte Stimme. »Ich hatte mir das schon so
lange gewünscht und konnte einfach nicht widerstehen. Bitte
verzeih mir.«
»Oh Gabriel. Es gibt da nichts zu
verzeihen. Es hat sich schön angefühlt. Sehr schön
sogar. Wunderschön. Ich … Ich … Ich kann dir nicht
erklären, warum ich immer so … verkrampft
reagiere.«
»Hast du Angst davor? Angst vor
mir?«
»Nicht vor dir, Gabriel. Niemals vor dir. Ich
liebe dich. Ich habe vor mir selbst Angst.«
»Vor dir
selbst?«
»Ja Gabriel. Angst davor, dass ich etwas tue,
… dass etwas passiert, dass ich nicht will.«
»Aber
ich würde doch niemals etwas tun, dass du nicht willst.«
»Das
weiß ich doch, Gabriel. Ich vertraue dir voll und ganz. Ich
vertraue mir selbst nicht.«
»Ach Nessie. Ich werde aus
dir nicht schlau, aber wenn du Zeit brauchst, bis du solche
Berührungen zulassen kannst, so wie du Zeit gebraucht hast, bis
du mich küssen konntest, dann nimm sie dir. … Wobei…«
Plötzlich schob Gabriel mich sanft zu Seite und stand auf. Verwirrt schaute ich ihm hinterher. War er etwa so enttäuscht von mir, dass er trotz der netten Worte, die er gerade gesagt hatte, jetzt gehen wollte? “Nein, bitte bleib”, dachte ich und versuchte das mit meinen Augen zu sagen, denn ich brachte im Moment keinen Ton über meine Lippen.
Er ging zu meiner Anlage, schaltete die Musik ein und drehte die Lautstärke auf. Das passte zwar nicht unbedingt zu den sanften Melodien, aber die Schallwellen harmonierten gut mit dem Kribbeln in meinem Bauch. Als nächstes holte er meinen Schreibtischstuhl und stellte ihn neben sich.
»Vielleicht können wir es ja so machen, wie bei unserem ersten Kuss«, sagte er und lächelte mich wieder zärtlich an.
Mit angehaltenem Atem schaute ich ihm dabei zu, wie er sich langsam den Pullover und das T-Shirt darunter auszog. Dann stand er mit nackten Oberkörper vor mir und meine Organe spielten schon wieder verrückt. Diesmal schienen sie alle nach oben zu drängen um auch einen Blick durch meine Augen auf ihn werfen zu können. Rücksichtslos drückten sie meine arme Lunge zusammen und ich hatte Probleme Luft zu holen. Mein Mund war plötzlich furchtbar trocken und ich nahm einige große Schlucke aus meiner Wasserflasche, was ihn zu amüsieren schien. Er stand einfach lächelnd da und ließ sich von mir ansehen. Er hatte so einen tollen Körper. Nicht übertrieben Muskulös, sondern gut definiert, wie ein durchtrainierter Sportler. Seine kleinen dunkleren Brustwarzen, waren ein besonderer Blickfang, der es auch in meinem Busen wieder stärker kribbeln ließ. Ich musste noch mehr trinken, bevor ich ihn weiter anschmachten konnte.
Dann setzte er sich langsam auf meinen Stuhl und verschränkte die Arme hinter der Rückenlehne, was seine Brustmuskulatur noch stärker betonte.
»Wenn du möchtest, dann komm zu mir«, sagte er sanft und liebevoll.
Konnte ich das? Durfte ich das wirklich zulassen? Es war unheimlich verlockend und bei dem ersten Kuss hat es ja auch so funktioniert. Er würde bestimmt stillhalten und ich könnte ihn streicheln. Allein der Gedanke setzte meine Schmetterlinge in Aufruhr und meine Beine zuckten, denn sie wollten offensichtlich zu ihm. Meine Finger kribbelten voller Verlangen, ihn zu berühren. Auch meine Lippen fingen an zu prickeln, bei der Vorstellung, vielleicht seine Brust zu küssen.
Ich konnte diesem Angebot nicht widerstehen. Ich wollte es mit jeder Faser meines Körpers. Etwas das sich so richtig anfühlte, konnte einfach nicht falsch sein. Langsam stand ich von dem Bett auf und stellte mich vor ihn. Seine Augen blickten mich erwartungsfroh an. Ich atmete noch mal tief durch und dann zog ich mir das T-Shirt über den Kopf. Schlagartig verlagerte sich sein Blick von meinem Gesicht auf meinen Oberkörper. Ich konnte ihn regelrecht spüren, wie er über meinen BH wanderte und meinen Bauchnabel. Ich sah, wie seinen Augen wild hin und her hüpften, bei dem Versuch, jedes Stückchen Haut auf einmal anzusehen und so richtig wahrzunehmen. Es war faszinierend und ich gab ihm die Zeit, die er auch mir gegeben hatte, ihn in Ruhe anzusehen. Außerdem mochte ich es, so von ihm betrachtete zu werden. Es hatte nichts peinliches, wie ich es mir vorgestellt hatte, wenn ich mich selbst in Unterwäsche vor dem Spiegel betrachtete. Gut, meine Hose würde ich jetzt nicht ausziehen. Dafür fehlte mir definitiv der Mut aber so wie es war, fühlte es sich gut an.
Noch einmal atmete ich tief durch und dann ging ich näher an ihn heran und setzte mich auf seinen Schoß. Meine Hände streichelten sein Gesicht und fuhren ihm durch die Haare, bevor ich ihm einen zärtlichen Kuss gab. Dann löste ich meine Lippen wieder und streichelte mit meinen Händen ganz langsam nach unten über seine Brust und weiter zu seinem Bauch. Ich ertastete sanft mit den Fingerspitzen die Konturen seiner Muskeln und fuhr auch um seinen Bauchnabel herum. Eine Spur kleiner dunkler Härchen hatte hier ihren Ursprung und führte nach unten. Ich folgte ihr bis zu seinem Gürtel und machte dann wieder kehrt. Sein Atem beschleunigte sich und auch sein Herz schlug schneller. Sein Muskulatur war angespannt und ich ließ fasziniert meine Finger darüber gleiten. Es war einfach wundervoll, dass ich das tun durfte, denn es machte mich so glücklich. Ich rutschte näher an ihn heran und legte die Hände wieder in seinen Nacken. Ich war so nah an ihm, dass meine Brust die seine berührte und es war ein tolles Gefühl. Fast war ich versucht, meinen BH auszuziehen, um ihn noch intensiver spüren zu können, doch auch so war ich nahezu überwältigt, wie gut sich das anfühlte. Ich rutschte so nah es nur möglich war an ihn heran und küsste ihn wieder. Ich fühlte seine Haut unter meinen Armen, an meiner Brust und an meinem Bauch. Noch nie hatte ich mich ihm so nahe gefühlt.
Ich schickte meine Lippen auf einen küssende Wanderschaft. Über seine Wange, seinen Hals zu seiner Schulter. Ich sah sehr wohl die pochende Halsschlagader und war stolz auf mich, dann ich sie überwinden konnte. An seiner Schulter ankommen hatte ich das Gefühl, dass ich es geschafft hätte und dass sich meine innere Anspannung allmählich löste. Ich genoss es mehr und mehr, schmeckte die leicht salzige Haut, roch seinen verführerischen herben Duft, fühlte seinen Körper unter meinen Händen und vor allem ein gelegentliches leichtes Pochen an meinem Schoß, das mich schon bei unserem ersten Kuss so faszinierte.
Auch er küsste mich nun am Hals und an der Schulter und war sehr zärtlich dabei. Seine sanften Lippen fühlten sich unendlich gut an und er ließ noch immer die Hände hinter seinem Rücken, was mir zusätzlich das Gefühl von Sicherheit gab und ich mir weiter erlaubte, den Moment zu genießen. Es war toll, fühlte sich fantastisch an und ich wollte immer mehr. Ich drückte mich noch fester an ihn und hörte, wie er leise aufstöhnte und keuchte. Oder war ich das? Es war mir egal, denn es war einfach wundervoll. Nie zuvor hatte ich solch eine Leidenschaft in mir verspürt und ich rieb mich geradezu an ihm. Diese Gefühle waren überwältigend und ich gab mich ihnen hin. Ich genoss ihn mit allen Sinnen und war einfach nur berauscht vom Augenblick. Immer wieder zog ich seinen Duft ein und küsste seine Schulter. Ich schloss meine Augen, um es noch besser genießen zu können. Sein Geruch war so lecker und er schmeckte so unglaublich gut. Ich fühlte eine unbändige Energie in mir, die mich total faszinierte und mich in ihren Bann zog.
»Au! … Nessie …«
Was hatte er denn? Warum verkrampfte er sich so? Es war doch so unglaublich und ich fühlte mich gelöst und befreit. Sein Geschmack war einfach umwerfen.
»Nessie, hör auf, du tust mir weh.«
Was hatte er gesagt? Es rauschte so sehr in meinen Ohren, dass ich kaum etwas verstehen konnte. Doch es war mir egal, denn ich hatte ihn noch nie so intensiv wahrgenommen. Es war einfach durch und durch belebend und wundervoll.
»Scheiße, Nessie. Stopp!«
Was war nur los mit ihm? Warum gönnte er mir diesen schönen Moment denn nicht und zappelte so herum? Stimmte etwas nicht? Ich spürte seine Hände, wie sie mich unter meinen Achseln packten und versuchten mich wegzudrücken, als ob er das schaffen könnte. Was sollte das? Er hatte doch versprochen, die Hände hinten zu lassen. Ich war plötzlich wütend auf ihn, dass er den tollen Augenblick kaputt gemacht hatte. Widerwillig löste ich mich von seiner Schulter und schaute ihn an, fest entschlossen, ihn zur Rede zu stellen.
Der ganze Raum war in rotes Licht getaucht. Sein Gesicht war schmerzverzerrt und seine Augen weit aufgerissen. Er starrte mich an und in Sekundenbruchteilen entdeckte ich die blutende Wunde an seiner Schulter. Hatte ich ihn verletzt? Ich musste schlucken und nahm einen unglaublich köstlichen Geschmack wahr.
“Oh Gott nein. Ich habe ihn gebissen”, schoss es mir durch den Kopf und ich sprang von seinem Schoß auf und ging zurück, bis ich mit dem Rücken gegen die Badezimmertür stieß.
Gabriel drückte sich mit der rechten Hand auf die verletzte Schulter und sah mich fassungslos an. Panik stieg in mir auf. Mein größter Albtraum war wahr geworden. Ich hatte die Kontrolle verloren und meinen über alles geliebten Gabriel gebissen, sein Blut getrunken und es genossen. Das würde er mir nie verzeihen können. Ich hatte die Liebe zwischen uns mit einem grausamen Biss getötet und spürte nur noch Verzweiflung. Meine Augen füllten sich mit Tränen und ich konnte ihn nur noch verschwommen sehen.
»Es tut mir leid Gabriel. Das wollte ich nicht. … Bitte vergib mir.«
Ich konnte seinen Anblick und die Schuldgefühle in mir nicht mehr ertragen. Alles Glück, das ich noch vor wenigen Augenblicken empfunden hatte, war tot und bildete einen massiven Klumpen in meinem Bauch. Unter lautem schluchzen ging ich in das Badezimmer. Ich schaute in den Spiegel und sah mit entsetzen mein Gesicht. Blut klebte an meinen Lippen und war mir die Mundwinkel herunter gelaufen. Mein Zuge schoss spontan aus meinem Mund heraus, leckte über die Lippen und ließ ihn mich noch mal schmecken. Ich hasste mich in diesem Moment selbst dafür, dass ich das getan hatte und gab mir eine laut klatschende Ohrfeige. Ich musste hier weg. Schnell wischte ich mir mit einem Handtuch die Blutreste aus dem Gesicht, ging zum Fenster, öffnete es und sprang hinaus. Dann rannte ich so schnell ich konnte in den Wald und immer weiter.
Ich hatte meinen Gabriel gebissen und verabscheute mich dafür. Alles war vorbei. Nie wieder würde ich ihm in die Augen sehen können. Nie wieder würde er mir in die Augen sehen wollen. Ich hoffte nur, dass ich ihn nicht allzu schwer verletzt hatte und dass er sich davon erholen würde.
Ich rannte und rannte und hatte das Gefühl, noch nie so schnell gerannt zu sein. Meine Muskeln arbeiteten viel besser, als ich es gewohnt war. Ich spürte eine ungeahnte Kraft in mir und ich wusste, was die Ursache war. Menschenblut! Gabriels Blut. Die wertvollste Flüssigkeit des Universums strömte durch meine Adern und schenkte mir eine Stärke, die ich niemals haben wollte. Eine Kraft, die ich nur zu einem Zweck nutzen konnte. Um wegzulaufen, so weit weg es nur ging.
Alles hatte ich verraten. Meine Liebe zu Gabriel. Meine Überzeugung, niemals einen Menschen zu beißen. Das Geheimnis meiner Familie, das doch unbedingt geschützt werden musste.
Geschockt von diesem Gedanken blieb ich plötzlich stehen. Das Geheimnis meiner Familie? Sie würden doch nicht … Gabriel … wegen des Geheimnisses …? Nein. Das würden sie nicht tun, oder? “Um Himmels willen, das dürfen sie nicht”, schoss es mir durch den Kopf und ich drehte mich um und dachte daran, zurück zu rennen, doch was würde das ändern? Ich könnte ihn nicht beschützen. Inzwischen wäre er auch längst tot, wenn sie es tun wollten. Vielleicht auch gar nicht mit Absicht? Vielleicht hatte Jasper das Blut gerochen und die Kontrolle verloren? Dann könnte er noch nicht mal etwas dafür und ich wäre letzten Endes doch ganz alleine schuld an Gabriels Tod.
Ein weiterer Sturzbach von Tränen ergoss sich aus meinen Augen und ich rannte halb blind weiter in Richtung Norden, weg von zu Hause, weg von diesem Unglücksort. Ich war schon eine Stunde gerannt und stellte fest, dass die Landschaft sich immer weiter erhob und zerklüfteter wurde. Hier in dieser Höhe lag tatsächlich etwas Schnee. Die Temperaturen waren deutlich unter null Grad und ich rannte hier herum, nur mit einer Jeans und einem BH bekleidet. Die Kälte machte mir zwar nichts aus, aber die Situation war mir trotzdem unangenehm.
Wieder blieb ich stehen und dachte darüber nach, zurückzukehren um mir etwas anzuziehen, damit ich auf meiner Flucht nicht so auffällig war.
“Was sind denn das für bescheuerte Überlegungen”, schrie ich mich selbst in Gedanken an und gab mir noch eine Ohrfeige. Ich war definitiv auf dem besten Wege den Verstand zu verlieren. Unruhig ging ich im Kreis, setzte mich auf einen Felsen, stand wieder auf, lief herum, setzte mich wieder. Im gleichen Rhythmus hüpften meinen Gedanken von Gabriel, zu meiner Familie, zu meiner Tat, zu meiner Flucht und wieder zurück zu Gabriel. Ich war unfähig einen klaren Kopf zu bekommen und wusste einfach nicht mehr weiter. Wieder setzte ich mich und heulte vor mich hin. Ich hatte das alles doch nicht gewollt. Ich wollte zurück zu Gabriel, ich wollte zurück zu meine Momma. Was konnte ich nur tun? Wie sollte ich, nachdem was ich getan hatte, zurückkehren können? Wo sollte ich denn jetzt hin?
Plötzlich wurde ich von zwei Armen gepackt, mitgerissen und gedrückt. Es ging so schnell, dass ich es gar nicht richtig mitbekommen hatte, aber das Gefühl kannte ich zu gut. Ich passte in diese Umarmung wie ein Edelstein in die Fassung einer Brosche, die speziell für ihn gemacht war.
»Wie konntest du das nur tun, Renesmee? Mach’ das ja nie wieder.«
Die besorgte und vorwurfsvolle Stimme meiner Momma raubte mir das letzte Bisschen Selbstbeherrschung und ich klammerte mich an sie, schluchzte laut und vergrub mein Gesicht in ihrer Halsbeuge.
»Ich … hab’ …
das … nicht … gewollt«, wimmerte ich vor mich
hin. »Du … musst mir glauben … Momma. …
Ich wollte … Gabriel … nicht beißen.«
»Kleines,
das weiß ich doch«, sagte sie jetzt sanfter. »Das
habe ich doch gar nicht gemeint. Wie konntest du nur weglaufen? Ich
bin fast umgekommen vor Sorge, als Edward plötzlich deine
Gedanken aufgeschnappt hatte, während du in den Wald gerannt
bist. Was hast du dir nur dabei gedacht? Du sollst gefälligst zu
mir laufen und nicht von mir weg, hörst du?«
»Bitte
… verzeih’ mir Momma. … Es tut mir … so
leid.«
»Ist ja gut, Sternchen … Schscht …
alles wird wieder gut.«
Sie streichelte und küsste mich unentwegt, hielt mich fest und wiegte mich dabei in ihren Armen. Sie setzte sich mit mir auf einen Felsbrocken und schenkte mir die Liebe und Nähe, die ich so sehr brauchte. Allmählich beruhigte ich mich und die Pausen zwischen zwei Schluchzattacken wurden immer größer. Schließlich verwandelte es sich mehr und mehr in ein Seufzen und ich konnte langsam wieder klarer denken.
»Wie geht es ihm,
Momma?«
»Das weiß ich nicht genau, Liebling. Als
Edward sagte, dass du gerade wegläufst, habe ich den Schild
fallen lassen und bin dir sofort nachgerannt. Dann habe ich nur
mitbekommen, dass er zu Carlisle noch sagte, dass Gabriel an der
Schulter verletzt sei und dann war ich auch schon draußen und
bin deiner Fährte gefolgt. Du warst sehr schnell und ich hatte
schon befürchtet, dass ich dich verlieren könnte. Zum Glück
hast du zwischendurch mal angehalten, sonst weiß ich nicht, ob
ich dich nicht verloren hätte.«
Ich wusste ganz genau, warum ich so schnell war und fing sofort wieder an zu heulen, als ich an den Grund dachte.
»Ich bin mir sicher, dass
es nicht so schlimm ist, Schatz. Edward sagte, dass er verletzt ist,
nicht schwer verletzt. Du weißt, dass dein Daddy da immer recht
präzise ist. Es geht Gabriel bestimmt schon besser.«
»Wie
soll ich ihm das nur erklären, Momma? Wie soll er mir das jemals
vergeben können? Es war doch so schön und dann mache ich
alles kaputt.«
»Wir werden eine Lösung finden,
Renesmee. Hab’ Mut. Es ist doch das Wichtigste, dass ihm nichts
schlimmeres passiert ist, oder?«
Ich nickte nur und
schniefte leicht zu Bestätigung.
»Na siehst du. Das ist
sicher so. Alles Andere wird sich auch regeln lassen. Komm, lass uns
nach Hause gehen und die Sache in Ruhe besprechen. Es machen sich
bestimmt alle Sorgen um dich.«
Ich atmete noch einmal tief durch und dann nickte ich ihr erneut zu. Natürlich würden sich alle Sorgen um mich machen und das wollte ich auch nicht. Ich hatte schon genug angerichtet.
Zusammen liefen wir zurück,
allerdings nicht so schnell, wie ich weggerannt war. Auf keinen Fall
wollte ich noch mal die Kraft in mir ausleben, die mir Gabriels Blut
verschafft hatte. Der Gedanke war einfach nur abstoßend.
Wir brauchten gut zwei Stunden, bis wir schließlich in der Dunkelheit des Abends heimkehrten. Als wir aus dem Wald heraus traten, sah ich sie schon alle auf der Terrasse stehend und wartend. Sie alle blickten mit viel Mitgefühl auf mich und ich schämte mich noch mehr für das, was ich getan hatte. Ich hatte einfach alles falsch gemacht und wieder einmal hatte die Familie wegen mir Schwierigkeiten, doch merkwürdiger Weise schien keiner mir deshalb einen Vorwurf machen zu wollen.
Daddy konnte sich als Erster nicht mehr zurückhalten und lief uns entgegen, um mich in seinen Arme zu schließen und mich fest an sich zu drücken. Er sagte nichts, doch das war auch nicht nötig. Ich fühlte auch so, dass er einfach nur froh war, mich wieder im Arm halten zu dürfen und ich war froh, dass er das noch immer wollte. Ich hatte kurz daran gezweifelt, weil er mir ja nicht mit Momma zusammen nachgerannt war und befürchtete schon, dass er zu enttäuscht von mir war, um mich zurückholen zu wollen.
»Wie kannst du nur so
etwas von mir denken«, sagte er entsetzt. »Natürlich
wollte ich dir gleich nachlaufen, doch Carlisle bat mich zu bleiben,
da er wissen musste, was Gabriel jetzt dachte. Es ist mir nicht
leicht gefallen, Liebling. Bitte zweifle doch nicht immer wieder an
meiner Liebe zu dir. Das bringt mich noch um den Verstand.«
»Es
… tut … mir … leid … Daddy«,
jammerte ich schon wieder schluchzend vor mich hin, während er
mich noch fester an sich drückte.
Wenn ich ihn nicht mit meiner Tat enttäuscht hatte, dann sicherlich jetzt mit meinen Gedanken. Ich liebte meinen Daddy doch. Warum nur tat ich ihm immer wieder so unrecht? Niemand aus der Familie würde Mom ohne wichtigen Grund darum bitten, vor meinem Daddy abgeschirmt zu werden, doch ich tat das ständig. Immer dachte ich darüber nach, wie ich etwas vor ihm verbergen konnte, doch alle Anderen hatten keine Probleme damit. Warum nur war ich so bescheuert und vertraute ihm nicht einfach? Er hatte mich doch noch nie verletzt und dabei tat ich das wieder und wieder.
»Ist ja gut, Liebling, ist
ja gut. Ich bin nur froh, dass du wieder da bist. Ich komme schon
damit klar, dass du nicht willst, dass ich in dein süßes
Köpfchen schaue. Ich verstehe das doch, nur bitte, bitte, bitte,
zweifle nicht an mir.«
»Nie wieder, Daddy. …
Nie wieder. … Versprochen.«
Nachdem ich mich wieder etwas beruhigt hatte, gingen wir zu den Anderen. Sie hatte alle gewartet und mir erst einmal den Moment alleine mit meinen Eltern gelassen. Dafür war ich ihnen sehr dankbar. Esme reichte mir ein T-Shirt, damit ich nicht länger mit halbnacktem Oberkörper hier herumstehen musste. Erst jetzt war mir das so richtig bewusst geworden und ich wurde auch etwas rot, weil es doch auch peinlich war. Dann nahmen sie mich alle nacheinander in den Arm und sprachen mir Trost und Mut zu. Danach gingen wir ins Haus und ich stellte Carlisle die brennende Frage, die ich nicht länger zurückhalten konnte.
»Carlisle? Wie geht es
Gabriel?«
»Sei unbesorgt, Liebes. Er ist nicht schwer
verletzt. Ich habe seinen Wunde versorgt und genäht. Mehr als
eine kleine Narbe wird er nicht davon zurückbehalten.«
Eine Narbe? Ein ewiges Mahnmal an seinem Körper als Beweis für mein Versagen? Sie wird ihn immer wieder daran erinnern, dass er eine gefährliche Bestie als Freundin hatte.
»Schatz, du bist keine
Bestie … und außerdem, wieso “hatte”? Er
sieht dich doch noch immer als Freundin«, sagte Dad
plötzlich.
»Was? … Aber ich habe doch …
Wieso? … Hasst er mich denn nicht?«
»Er liebt
dich, Nessie. Er versteht nur nicht, was passiert ist. Als wir in das
Zimmer kamen, hatte er krampfhaft überlegt, was er uns erzählen
sollte. Er wollte noch nicht mal sagen, dass du ihn gebissen hattest,
sondern redete wirres Zeug von einem Unfall und wollte, dass wir
zuerst im Badezimmer nach dir sehen. Er ist fast ausgerastet, als ich
ihm sagte, dass du durch das Fester geklettert und weggelaufen bist
und wollte dir hinterher laufen. Erst als ich ihm sagte, dass Bella
schon hinter dir her rennt, hat er sich etwas beruhigt und sich von
Carlisle behandeln lassen.«
»Aber ihr habt ihm doch
unmöglich die Unfall-Geschichte abnehmen können.«
»Das
stimmt natürlich, Liebes«, beantwortete Carlisle meine
Bemerkung. »Ich habe ihm gesagt, dass ich wüsste, was
passiert war.«
Ich schluckte. Dass Carlisle meinem Gabriel die Wahrheit erzählen würde, hätte ich nicht für möglich gehalten.
»Dann weiß er jetzt,
dass wir Vampire sind?«, fragte ich kleinlaut.
»Nein
Renesmee. Das natürlich nicht. Dafür ist es zu früh.
Ich habe ihm eine Erklärung geliefert, die nahe an der Wahrheit
ist.«
»Was hast du denn gesagt?«
»Ich
habe ihm erzählt, dass du unter einer Art Epilepsie leidest und
vermutlich einen Krampf hattest, der dich zubeißen ließ,
obwohl du das nicht wolltest.«
»Und wie hat er darauf
reagiert?«
»Äußerlich gelassen«,
antwortet Dad wieder. »Aber er hat sich im Gedanken gefragt,
warum du ihm das nicht erzählt hast. Allerdings war das für
ihn die Erklärung, warum du Angst davor hattest, mehr zuzulassen
und warum du manchmal so erstarrt warst, wenn er dich überraschend
berührt hat. Er machte sich selbst große Vorwürfe
deswegen und gibt sich die Schuld, weil er dich zu sehr gedrängt
hat.«
»Ich habe ihm noch erzählt, dass du eine
Therapie machst, aber dass es seine Zeit braucht«, ergänzte
Carlisle noch. »Dann wollte er von mir wissen, ob er dir
irgendwie helfen könnte.«
»Mir helfen? Er will
mir helfen, obwohl ich ihn beinahe umgebracht hätte?«
»So
sieht er das nicht, Liebes. Er sieht es als Unfall und das war es ja
auch.«
»Was hast du ihm denn gesagt, Carlisle?«
»Ich
habe ihn einfach nur gebeten, dir Zeit zu geben und es nach
Möglichkeit für sich zu behalten, was er natürlich
auch zugesagt hat. Zuhause wird er erzählen, dass ihr im Wald
spazieren ward und dass ihn ein Tier gebissen hätte. Ein großer
Luchs schien uns recht passend zu sein. Seinen Pullover und sein
T-Shirt hat er da gelassen, da sie ja zerrissen sein mussten, so wie
seine Verletzung aussieht. Deshalb hat Edward ihm etwas aus seinem
Kleiderschrank gegeben.«
»Ja, er wollte es zwar nicht
annehmen, doch ich bestand darauf, dass er dieses Geschenk oder
besser gesagt, dieses Tauschgeschäft akzeptiert. Schließlich
fühle ich mich für meine kleine Schwester verantwortlich«,
sagte Daddy und ich nahm ihn noch mal fest in den Arm.
Konnte ich tatsächlich so
ein Glück haben? Hätte ich das überhaupt verdient? Ich
spürte so eine unglaublich starke Hoffnung, dass Gabriel noch
immer mit mir zusammen sein wollte, dass sich ein erleichtertes
Lächeln auf meinem Gesicht abzeichnete, was auch alle Anderen zu
freuen schien.
Wir blieben noch eine ganze Weile alle zusammen und jeder kam zu mir und bot mir an, dass ich jederzeit mit ihm oder ihr darüber reden könnte, wenn mir danach wäre. Nur Jasper nicht. Er bot es mir nicht an. Er bestand vielmehr darauf, gleich mit mir zu reden. Er nahm mich zur Seite und ging mit mir in mein Zimmer. Es lag ein leichter Hauch des Blutdufts in der Luft und verstärkte die grausame Erinnerung an das, was hier passiert war. Allerdings war er nicht sehr stark und ich roch auch Reinigungsmittel. Sicherlich hatte Esme hier ihr Möglichstes getan, um die Spuren zu beseitigen. Gabriels Pullover und sein T-Shirt lagen über der Rückenlehne meines Schreibtischstuhls. Ich öffnete die Fenster, um richtig durchzulüften und der Duft wurde schwächer, wenn auch nicht vollständig beseitigt.
»Nessie, ich weiß, dass dir das peinlich und unangenehm ist, doch ich bitte dich trotzdem. Zeige mir von Anfang bis zum Ende genau was passiert ist. Ich muss es verstehen, um dir richtig helfen zu können.«
Ich hatte geahnt, dass er das von mir wollen würde und mich innerlich schon darauf vorbereitet, es auch zu tun. Jasper wollte mir helfen, das war mir immer bewusst. Ihm jetzt die Informationen vorzuenthalten, die es ihm vielleicht einfacher machen könnten, wäre nicht nur dumm von mir, sondern auch unverantwortlich Gabriel gegenüber. So etwas durfte nie wieder passieren, also gab ich ihm, was er verlangte.
Nach der Übertragung blieb Jasper noch minutenlang Gedankenversunken stehen und schien die Eindrücke zu verarbeiten. Mal grinste er und dann schüttelte er wieder den Kopf. Er ging auf und ab, sah manchmal sehr angestrengt und kurz darauf wieder gelöst aus. Dann lächelte er mich plötzlich an.
»Du bist nicht weniger
beeindruckend als deine Mom, Nessie.«
»Beeindruckend?
Aber Jasper, ich habe ihn gebissen. Ich habe doch total
versagt.«
»Nein, hast du nicht. Du hast ihn zwar
gebissen, aber auch viel mehr als das. Du hast dich wieder von ihm
gelöst, obwohl du sein Blut bereits geschmeckt hast. Das ist
wahrlich beeindruckend.«
»Na ja, … vielleicht,
… ich bin ja auch nur ein Halbvampir.«
»Oh
nein, versuch erst gar nicht, es damit zu begründen. Du hast es
mir gezeigt, Nessie. Du hast mir gezeigt, dass du voll und ganz in
deinem Jagdmodus warst. Hast mir gezeigt, wie gut er für dich
gerochen hat, wie gut sein Blut geschmeckt hat, wie es dich belebt
hat und vor allem, wie sehr du es genossen hast. Das kenne ich alles
nur zu gut aus meiner eigenen Erfahrung. Du hast es nicht anders
empfunden, als jeder andere Vampir. Dennoch genügte eine kleine
Ablenkung und du konntest dich von ihm lösen, sobald du die
Situation erkannt hattest. Das hätte ich niemals geschafft. Du
bist unglaublich willensstark.«
Normaler Weise hörte ich ja gerne Komplimente aber bei dieser Sache? Nein, ich war ganz und gar nicht stolz auf das, was passiert war und mir war nicht klar, warum er das überhaupt erwähnt hatte.
»Und was heißt das
jetzt, Jasper?«
»Dass ich mich geirrt habe und mich
bei dir entschuldigen muss. Ich lag total falsch.«
Ȁhm,
was? Jetzt kapier’ ich gar nichts mehr«, sagte ich völlig
verwirrt.
»Lasse es mich dir erklären. Ich dachte, dass
dir lediglich die Willenskraft fehlt, deine Gefühle so zu
kontrollieren, wie es deine Mom macht. Ich wollte dich mit dem
Training der letzten Wochen dazu bringen, dein Potenzial zu erkennen
und zu nutzen. Ich war mir sicher, dass du stark bis, denn ich habe
bei dir auch schon bei der Jagd gesehen, dass du das Trinken
unterbrechen kannst, wenn etwas deine Aufmerksamkeit erregt. Also
dachte ich mir, wenn ich dich nur genug mit Emotionen unter Druck
setze, dann wirst du dich irgendwann bewusst dagegen wehren und sie
verdrängen, ganz so, wie es deine Mom kann.«
»Ich
bin halt nicht so stark wie Mom«, sagte ich kleinlaut.
»Rede
doch keinen Unsinn, Nessie. Selbst deine Mom hätte sich nicht
lösen können, wenn sie in der gleichen Situation wie du
gewesen wäre. Der Unterschied ist, deine Mom wäre niemals
in diese Situation geraten, denn trotz der großen Ähnlichkeiten
zwischen euch, seid ihr doch vom Wesen her sehr verschieden. Das
wurde mir erst jetzt so richtig bewusst, als ich erkannte, wie stark
du schon bist.«
»Aber wie soll mir das denn
helfen?«
»Es hat dir geholfen, Renesmee. Sehr sogar.
Gabriel lebt.«
»Ja Jazz, ich weiß und ich bin
auch überglücklich, dass ihm nicht mehr passiert ist, aber
wie kann ich denn verhindern, dass das noch mal geschieht? Ich
verstehe nicht, was du mir sagen willst.«
»Schau,
Kleines. Deine Mom kann Emotionen abblocken, die sie als sehr
schmerzhaft empfindet, oder die ihr sozusagen im Wege stehen. Das ist
nicht direkt eine Gabe, sondern sie erreicht das durch ihren Willen.
Das macht sie natürlich nur dann, wenn sie denkt, dass sie das
muss. Sie verteidigt sich, verstehst du? Wenn sie etwas will, dann
setzt sie alles daran, es in die Tat umzusetzen, egal welche Gefühle
dagegen sprechen, sie tut, was sie für richtig hält. Sie
war trotz aller Angst und dem Wissen, was sie dadurch verlieren
würde, mehr als einmal bereit, sich selbst zu Opfern. Für
ihre Mutter, für Edward, für dich. Es spielte für sie
noch nicht einmal eine Rolle, ob die Gefahr real war, oder nicht. Ich
könnte ihr im Training noch so viel Furcht einflößen,
oder andere Emotionen verursachen, sie würde nicht aufhören
zu kämpfen, weil sie das will. Sie wehrt einfach alles ab, was
sie aufhalten könnte und so ist auch ihre Gabe. Ein
Schutzschild. Der stärkste mentale Schild, den man sich
vorstellen kann. Alles kann sie abblocken, das in ihren Kopf
eindringen will, bis auf eine Ausnahme.«
»Welche?«
»Dich,
Schatz. Auch wenn sie das gar nicht will, sie könnte es auch
nicht, wenn sie es wollte. Aber Bellas zusätzliche Fähigkeit,
ihre Gefühle zu verdrängen hat auch einen gewaltigen
Haken.«
»Was meinst du?«
»Gefühle
füllen uns aus, Nessie. Sie geben uns Kraft und sind die Quelle
unserer größten Leistungen. Deine Mom ist sich dessen
nicht wirklich bewusst, aber wenn sie die extremen Emotionen zulässt,
empfindet sie diese genauso stark wie du und wächst über
sich selbst hinaus. Ihre Fortschritte beim Training hängen damit
zusammen, denn wenn es um dich geht, schafft sie es nicht, ihre
Gefühle zu unterdrücken. Deshalb ist es so schlimm für
sie, aber deshalb schöpft sie auch nur dann ihr Potenzial voll
aus. Wenn Bella die unangenehmen Gefühle wegschiebt, dann tritt
eine Leere an ihre Stelle, mit der man kaum leben kann. Du erinnerst
dich doch bestimmt daran, wie sie damals in das Koma gefallen ist,
oder?«
Oh ja. Wie könnte ich das jemals vergessen. Das waren die schrecklichsten Wochen meines Lebens. Ich nickte Jasper zu.
»Sie hatte mir einmal
davon erzählt, wie sie es empfunden hatte. Ohne, dass sie es
wusste, hat sie instinktiv alle schmerzhaften Emotionen, die sie zu
diesem Zeitpunkt empfand, von sich geschoben und dann nur noch eine
gewaltige Leere in sich gespürt, in die sie praktisch gestürzt
ist. Sie hat einfach alles abgeblockt und nichts konnte zu ihr durch
dringen. Außer dir natürlich. Deine Gabe ist stärker
und sie steht für dein Wesen. Du blockst überhaupt nichts
ab, Nessie und nicht nur das. Du bist auch außergewöhnlich
einfühlsam und du teilst dich den Anderen mit und lässt sie
wissen, wie es dir geht. Durch deine Gabe kannst du das auf eine Art
und Weise, wie kein Anderer.«
»Ja schon, das war
natürlich super toll, dass ich ihr damit helfen konnte, aber
ansonsten ist meine Gabe doch ziemlich nutzlos.«
»Da
liegst du aber vollkommen falsch, Nessie. Dein einnehmendes Wesen
hatte es damals erst überhaupt ermöglicht, dass uns nach
deiner Geburt so viele Verbündeten und Zeugen unterstützt
hatten, um die Volturi dazu zu bringen, umzukehren. Das hast du
alleine möglich gemacht. Wildfremde haben sich für dich in
Gefahr begeben, nur um dich zu beschützen, weil sie dich vom
ersten Augenblick an mochten und dabei warst du noch ein Baby, das
alle für ein unsterbliches Kind halten mussten. Oder betrachte
doch mal deine Situation jetzt in der Schule. Du bist erst wenige
Monate dort und hast schon einen Freundeskreis, denn andere nie
bekommen. Deine Mom schafft es noch nicht mal, sich auch nur mit
einem Menschen anzufreunden, doch du nimmst so viele einfach so für
dich ein. Du könntest eine große Anführerin werden,
wenn du das wolltest.«
Ȁhm, das ist ja alles
schön und gut, doch wie kann mir das jetzt bei meinem Problem
helfen?«
»Nun, wie mir jetzt klar geworden ist, kannst
du keine Emotionen unterdrücken oder ignorieren, weil es einfach
Teil deines Wesens ist, alles aufzunehmen und zu zeigen. Deshalb
funktioniert der Weg nicht, den wir bisher gegangen sind. Wir müssen
also eine andere Lösung finden. Etwas, bei dem du lernst, die
Emotionen wahrzunehmen, aber dich nicht von ihnen steuern zu lassen.
Es sind deine Gefühle, die immer wieder die Kontrolle über
dich ergreifen. Du musst lernen, deinen Willen über deine
Gefühle zu stellen, denn das kannst du noch nicht. Du spielst
immer Gefühle gegen Gefühle aus und versuchst der Emotion,
die du für die Richtige hältst, zu folgen. Es ist immer die
gleiche Taktik, die du anwendest und sie funktioniert auch, doch so
gewinnst du nicht wirklich die Kontrolle über dich zurück.
Ich habe es auch in deiner Übertragung gesehen. Du hast auf der
einen Seite Lust empfunden, der du dich hingegeben hast. So lange
dieses Gefühl vorherrschend war, hast du dich davon steuern
lassen und Gabriel gebissen und sein Blut getrunken. Erst als du auf
der anderen Seite Wut empfunden hast, weil er sich plötzlich
gewehrt hatte, wurdest du abgelenkt. Das hat dir dann geholfen, das
Trinken zu unterbrechen. Dennoch war der Durst noch immer da, doch
nun hast du auch die Liebe zu ihm wieder bewusst wahrgenommen und den
innigen Wunsch, dass es ihm gut geht. Der Emotion bist du gefolgt und
so konntest du dich lösen und auf Abstand gehen, um ihn zu
retten.«
»Aber Jasper, wie soll ich denn meine Gefühle
sonst kontrollieren? In der Theorie hört sich das so einfach an,
aber in der Praxis?«
»Nicht kontrollieren, Nessie. Ich
glaube nicht, dass du das schaffen kannst. Ich sagte doch, unser
bisheriger Weg war verkehrt. Es geht auch nicht darum, dass du deine
Gefühle unter Kontrolle hast, das ist mir jetzt klar, sondern
darum, dass du verhinderst, dass sie über dich Kontrolle haben.
Das ist ein großer Unterschied. Akzeptiere die Emotionen so,
wie sie sind und lasse sie zu, aber behalte sie im Blick.«
Nach einer kurzen Pause ergänzte
er noch:
»Weißt du was Mut ist?«
Ȁhm,
keine Angst zu haben?«
»Falsch. Mut bedeutet, die
Angst zu überwinden, sich nicht von ihr steuern zu lassen. Das
musst du lernen, Nessie. Nicht nur in Bezug auf die Angst, sondern
bei jedem anderen Gefühl auch.«
»Aber Jasper, ich
hasse es, wenn du mir Angst machst. Das ist immer so
schrecklich.«
»Ich weiß es ja, Kleines, glaubst
du mir macht das Spaß? Ich erlebe es nicht gerne, wenn du dich
der Angst beugst und darauf wartest, dass sie vorbei geht. Du würdest
dann alles tun, damit sie aufhört. Das ist das Gegenteil von
Mut, Nessie. Du ergibst dich der Angst und solange du das tust, wirst
du immer wieder von Gefühlen beherrscht werden. Du kannst die
Angst nicht ausschalten oder verdrängen wie deine Mom, aber du
kannst sie wahrnehmen und trotzdem so handeln, wie du es für
richtig hältst, auch wenn es dich quält. Du hast die
Willensstärke, du musst aber noch lernen, sie dafür
einzusetzen. Das musst du schaffen, oder du wirst mit Gabriel nie das
haben können, was du dir wünschst. Nämlich die Gefühle
zuzulassen, ohne ihn zu gefährden.«
Das war es also? Ich musste meine Angst akzeptieren, trotzdem das tun, was ich tun wollte und dann würde mir auch alles andere gelingen können? Und wenn ich es nicht schaffte, dann gab es keine Hoffnung? Alleine die Vorstellung, dass Jasper das Angsttraining intensivieren könnte, machte mir Angst. Ich hatte Angst vor der Angst. Total verunsichert blickte ich ihn an.
»Du wirst das schaffen,
Nessie. Wir werden einen Weg für dich finden.«
»Bist
du dir sicher?«
»Absolut. Ich glaube an dich.«
»Danke
Jasper.«
»Ich helfe dir gerne, kleine Schwester. Du
hast mir schon so viel Freude in meinem Leben geschenkt und ich werde
alles in meiner Macht stehende tun, um dir den Weg zu deinem Ziel zu
zeigen. Nur beschreiten, musst du ihn selbst.«
Dann küsste er mich auf die Stirn und ging. Ich stand noch ein wenig unschlüssig in meinem Zimmer herum und entschloss mich dann, zu Bett zu gehen. Nachdem ich mich umgezogen hatte, und meinen Blick noch mal über den Raum wandern ließ, fielen mir wieder Jacobs Figuren auf. Oh Jacob, was wird er jetzt nur von mir denken? Jetzt, da ich tatsächlich einen Menschen angegriffen hatte. Würde er nur noch den Vampir in mir sehen, den er nicht leiden konnte? Könnte er mir vergeben? Ich hatte das Blut eines Menschen getrunken und ich freundete mich mit einem Vampir an, der sich von nichts anderem ernährte.
“Lennox”, schoss es mir durch das Gehirn. Oh nein, den hatte ich ja total vergessen. Ich hatte ihm ja versprochen, mich morgen mit ihm zu treffen. Sollte ich vielleicht lieber nicht hingehen? Aber ich hatte es ihm doch versprochen. Ich könnte auch keinen Anderen hinschicken, denn auch das hatte ich im zugesagt. Seufzend musste ich einsehen, dass ich keine andere Wahl hatte, aber ich hoffte, dass er wenigstens ein kleines bisschen Verständnis für mich haben würde, auch wenn ich nicht wirklich damit rechnete.
Mein Blick fiel noch auf
Gabriels Pullover und ich schnappte ihn mir spontan und ging zu Bett.
Ich roch an seinem Kleidungsstück und freute mich, dass es nur
nach ihm und nicht nach Blut roch. Ich kuschelte mich ein und bat
mein Unterbewusstsein inständig, dass es mir doch bitte, bitte,
bitte, einen netten Traum schenken sollte und mich das Ganze nicht
noch mal durchmachen ließ.
Als ich am nächsten Morgen mit Gabriels Pullover in meinem Mund aufwachte, sprang ich vor Schreck aus dem Bett. Meine Träume waren entsetzlich gewesen. Immer und immer wieder musste ich mit ansehen, wie ich auf seinem Schoß saß und ihm meine Zähne in die Schulter schlug. Jedes Mal sah ich seine weit aufgerissenen Augen und das schmerzverzerrte Gesicht. Ich weiß noch, wie ich bei meinem eigenen Anblick gewimmert habe, dass ich doch aufhören sollte, doch ich konnte mich nicht stoppen. Im Hintergrund stand Lennox, der mich breit angrinste und so einen “Ich hab’ es dir doch gesagt” Blick aufgesetzt hatte. Neben ihm war Jacob, der sich angewidert weggedreht hatte und nur ein verächtliches “Sieh, was aus dir geworden ist” von sich gab. Dann rannte ich mit wahnsinniger Geschwindigkeit zu meinem geheimen Platz und spürte die unbändige Kraft in mir. Dort saß dann wieder Gabriel auf dem Baumstamm und das Drama ging von vorne los. Immer und immer wieder. Hin und her. Mein Zimmer, mein Platz, mein Zimmer, mein Platz.
Jetzt stand ich im schwachen Licht des frühen morgens vor meinem Bett und betrachtete das Kleidungsstück, dass ich gerade aus meinem Mund geholt hatte. Es hatte viele kleine Druckstellen, die von meinen Zähnen stammen musste und war auch an einigen stellen eingerissen. Es sah tatsächlich so aus, als hätte er dieses Stück bei einem Raubtierangriff getragen. Wie sollte ich ihm das nur erklären können, wenn er den Pullover zurück haben wollte? Es war einfach grauenhaft.
Deprimiert ging ich ins Bad und nahm eine heiße Dusche. Sie schenkte mir ein wenig Entspannung, doch war das nicht genug, um meine trüben Gedanken zu zerstreuen. Danach ging ich hinunter zum Frühstück und nahm mein übliches Müsli zu mir. Unerwarteter Weise kam Esme plötzlich herein und lächelte mich etwas merkwürdig an. Es war ein echtes Lächeln, aber nicht so, wie ich es von ihr gewohnt war und das irritierte mich sehr.
»Wie geht es dir, Liebes?
Du hattest eine unschöne Nacht, oder?«
»Woher
weißt du das?«
»Na ja, ich habe dich gehört.
Du hast dich ziemlich hin und her gewälzt und manchmal geknurrt
und dann wieder gewimmert.«
»Es war schrecklich Esme.
Ich habe es immer und immer wieder erlebt. Aber das schlimmste ist,
ich hatte Gabriels Pullover mit im Bett und habe ihn kaputt gemacht.
Oh Esme, ich habe in seinen Pullover gebissen.«
Schnell huschte sie um den Tisch herum an meine Seite und drückte mich.
»Ach mein Schatz, das tut
mir leid, aber vielleicht ist das ja gar nicht so schlimm. Ich habe
mich ohnehin gefragt, ob du es erlauben würdest, wenn ich diese
beiden Stücke entsprechend bearbeiten würde, um sie Gabriel
als Beweis seiner Geschichte zurückzugeben. Aber ich war mir
nicht sicher, ob du sie nicht vielleicht lieber behalten
möchtest.«
»Ich hätte sie eigentlich schon
gerne behalten, aber jetzt will ich sie nicht mehr. Nicht nach dieser
Nacht.«
»Weißt du, Liebes, deine Mom saß
praktisch die ganze Nacht vor deiner Tür und hat darauf
gewartet, dass du sie vielleicht rufst.«
»Wirklich?«
»Oh
ja. Ich hätte dir das vielleicht nicht erzählen dürfen,
aber ich finde, du solltest es wissen. Es war sehr schlimm für
sie, dass du weggelaufen bist. Es war für uns alle schlimm, aber
für deine Mom ganz besonders, wie auch für deinen Dad. Er
kann es vielleicht nicht so zeigen, aber ich kenne ihn schon so
lange, dass ich ganz genau weiß, wie viel du ihm bedeutest.«
Für Esmes Verhältnisse war das eine ziemliche Standpauke. Ich konnte mich nicht daran erinnern, dass sie mir jemals so ins Gewissen geredet hätte, dabei tat mir doch auch so schon alles schrecklich leid, was ich angerichtet hatte. Jetzt schämte ich mich noch mehr dafür, dass ich weggelaufen war, anstatt mich meinen Eltern und der Familie anzuvertrauen. Traurig blickte ich stumm in meine Müslischüssel, während Esme mir über das Haar streichelte.
»Du kannst nicht ungeschehen machen, was passiert ist, Liebes, aber du solltest deine Lehren daraus ziehen. Eine davon lautet, weglaufen ist keine Lösung. Hast du das verstanden?«
Obwohl sie es mit sehr sanfter Stimme sagte, fühlte ich mich furchtbar schlecht deswegen. Esme war von mir enttäuscht und das schmerzte nicht weniger, als die Sorgen, die ich der Familie gemacht hatte. Eine kleine Träne stahl sich aus meinem Augenwinkel und ich wischte sie schnell weg.
»Es tut mir leid Esme.
Wirklich. Bitte verzeih’ mir.«
»Natürlich
verzeihe ich dir. Wir sind eine Familie und halten zusammen. Wir
freuen uns miteinander und leiden miteinander. Vor allem aber
verzeihen wir einander.«
Dann löste sie sich von mir
und meinte noch, dass sie Gabriels Sachen holen würde, um sie zu
präparieren. Sie ging, ohne mir vorher noch einen Kuss zu geben,
wie sie es sonst immer tat und das ließ eine weitere Träne
aus meinen Augen kullern.
Ich brauchte ziemlich lange, um mich nach diesem Gespräch mit Esme wieder zu beruhigen. Es war kaum vorstellbar, was ich ihr mit meinem Verhalten wohl angetan hatte, dass sie es für nötig hielt, so mit mir zu reden. Ich nahm mir fest vor, dass das nie wieder passieren sollte.
Zwischenzeitlich war es draußen recht hell geworden, obwohl es wieder ein bewölkter
Tag war und es sicherlich noch regnen würde. Allmählich sollte ich mich wohl auf den Weg zu Lennox machen. Also ging ich ins Wohnzimmer, um von dort wie üblich über die Terrasse nach draußen zu gehen. Überrascht stellte ich fest, dass Jasper vor der mittleren der drei Türen stand und anscheinend auf mich wartete.
»Guten Morgen Renesmee«,
begrüßte er mich, kaum, dass ich den Raum betreten hatte.
Er klang merkwürdig und auch ein bisschen unheimlich. Ich ging
ein paar Schritte auf ihn zu doch plötzlich verspürte ich
Angst, mich ihm noch weiter zu nähern und blieb unsicher
stehen.
»Dein neues Training beginnt jetzt sofort«,
sagte er in strengem Ton und ich nickte wie ferngesteuert. »Du
willst in den Wald, das ist O.K. Dazu musst du nur durch eine der
beiden Türen links oder rechts von mir gehen. Ich werde einfach
hier stehen bleiben.«
Ich wusste sofort, dass das nicht so einfach war, wie er es sagte. Er hatte seine Angst einflößende Aura zwischen mir und den Türen ausgebreitet, denn ich spürte sie überdeutlich, als ich mich ihm näherte.
»Worauf wartest du?«,
fragte er harsch.
»Ich … will … ja«, gab
ich mit zittriger Stimme von mir.
»Nessie, du spürst
die Angst, obwohl keine Gefahr droht, das musst du erkennen und dich
ihr stellen. Gehe durch eine der Türen und du hast es
geschafft.«
»Können wir das bitte nicht ein
anderes Mal machen?«, fragte ich schon fast flehend, doch er
schüttelte einfach nur den Kopf.
»Wenn du aufgeben
willst, dann gehe durch die Vordertür nach draußen, aber
dann ist unser Training beendet, bevor es angefangen hat.«
Das war gemein von Jasper. Ich wollte doch nicht aufgeben. Ich wollte das doch machen, um richtig mit Gabriel zusammen sein zu können. Unruhig lief ich um hin herum und wich immer zurück, sobald ich seiner Aura zu nahe kam. Ich fühlte mich wie ein Tiger im Käfig, der immer auf und ab ging und auf seine Gelegenheit zur Flucht wartete. Doch vor mir war die Tür geöffnet. Ich traute mich nur nicht, hindurch zu gehen.
»Bitte Jasper, ich schaffe
das nicht.«
»Wenn du es willst, dann kannst du es
auch. Ich habe dir gesagt, ich kann dir den Weg zeigen, doch du musst
ihn selbst gehen. Jetzt bis du am Zug. Gehe den Weg, Nessie. Das ist
dein erster Schritt.«
Mein erster Schritt, mein erster Schritt, mein erster Schritt. Verdammt noch mal, warum konnte ich das einfach nicht? Da war doch gar keine Gefahr, wie er gesagt hatte. Nur ein gemeines Gefühl, das mich kontrollieren wollte. Lennox wartete doch auf mich. Wenn ich ihm erzählen würde, dass ich nicht kommen konnte, weil ich Angst hatte durch eine Tür zu gehen, würde er mich sicherlich auslachen. Jacob wäre sicherlich total enttäuscht von mir, wenn ich so ein Feigling wäre. Und Gabriel? Wie sollte ich ihm denn erklären können, dass es für uns keine Zukunft gab, weil ich vor einer Tür Angst hatte? Nein, das durfte einfach nicht wahr sein. Ich lief noch mehrmals auf und ab und konnte mich nicht entscheiden, bei welcher Tür ich es versuchen wollte. Gab es eine, bei der es einfacher war? Vermutlich nicht. Was sollte also das hin und her Gewackel? Ich entschied mich für eine Tür und machte einen Schritt darauf zu.
»Für Gabriel«, sagte ich und gleich im nächsten Moment zogen sich meine Eingeweide in mir zusammen.
Himmel, war das ein furchtbares Gefühl, obwohl ich mich gut erinnern konnte, dass Jasper mir schon sehr viel größere Angst gemacht hatte. Mein Herz raste und meine Knie fingen an zu wackeln. Es schien fast so, als würde der Raum zwischen mir und der Tür größer werden, doch das war doch gar nicht möglich. So eine Gabe hatte Jasper nicht. Ich machte noch einen Schritt, der mir sehr schwer fiel, doch die Angst blieb gleich. Das war sogar ein wenig beruhigend, denn ich hatte befürchtet, dass sie schlimmer werden würde. Ich fasste Mut und machte noch einen Schritt. Jetzt wurde es schlimmer, aber nicht viel. Es war hart, doch ich wollte da durch. Der Klumpen Eingeweide in meinem Bauch hielt mich auf wie ein Bremsklotz, doch ich wollte mich davon nicht stoppen lassen. Das durfte ich einfach nicht.
»Für Gabriel«, sagte ich noch mal zu mir selbst, denn ich war fest entschlossen, das für ihn zu schaffen.
Dann noch ein Schritt und noch einer und noch einer und endlich war ich an der Tür, öffnete sie und trat hinaus auf die Terrasse. Im gleichen Augenblick fiel die Angst vollständig von mir ab und mein Bauch fühlte sich kurz darauf wieder halbwegs normal an, obwohl ich die Nachwirkungen noch wahrnehmen konnte.
»Gut gemacht, Nessie. Ich habe endlich gespürt, wie du versucht hast, deinen eigenen Willen über die Emotion zu stellen und es ist dir gelungen. Das war ein erster Erfolg.«
Befreit, ein wenig erschöpft aber glücklich, schaute ich ihn an.
»Du kannst dir sicherlich schon denken, dass wir so etwas jetzt öfters machen werden, oder?«
Ich nickte. Das war mir sofort
klar, aber wenigstens würde ich mit einem Erfolgserlebnis
starten und das war ein gutes Gefühl. Natürlich wusste ich,
dass er es mir recht einfach gemacht hatte und dass es noch sehr viel
schwieriger werden würde, bevor ich wirklich von Erfolg reden
konnte. Dennoch war ich erleichtert, dass ich geschafft hatte und
bedankte mich mit einem Lächeln bei ihm. Dann drehte ich mich
dem Wald zu und rannte los zu meinem Platz.
Ich war schon später dran, als ich eigentlich vorhatte. Das unerwartete Training mit Jasper hatte mich ziemlich lange aufgehalten und so beeilte ich mich besonders. Auf dem Weg dachte ich angestrengt darüber nach, wie ich Lennox klarmachen könnte, dass ich heute nicht für eine stürmische Verabschiedung in der Stimmung war. Oder würde er mich womöglich genau so begrüßen? Das letzte Mal war seine Begrüßung auch so wie der Abschied davor. Unwillkürlich verlangsamte ich mein Tempo. Was sollte ich denn dann machen? Ihn zurückweisen? Würde er es verstehen oder wäre er vielleicht sauer auf mich, wo er mich doch so lange nicht gesehen hatte. Das wollte ich auch wieder nicht, aber nach dem, was gestern passiert war, wollte ich Lennox wirklich nicht so küssen. Ich hoffte sehr, dass er Verständnis dafür haben würde.
An meinem Platz angekommen schaute ich mich um, doch Lennox war nicht da. Allerdings musste er da gewesen sein, denn ich konnte seinen Geruch noch wahrnehmen. Verdammt. War ich denn so viel zu spät, dass er dachte, ich komme nicht? Oh bitte nein. Nicht das auch noch. Ich hatte ihn doch gerade erst kennen gelernt und ich mochte ihn doch. Das durfte einfach nicht wahr sein. Wieso nur enttäuschte ich denn gerade alle? Gabriel, Mom, Dad, Esme und jetzt auch Lennox.
“Das ist nicht fair”, dachte ich und ein Träne glitt meine Wange herunter.
Plötzlich spürte ich einen Lufthauch, als ob etwas vom Baum hinter mir heruntergefallen wäre und im selben Moment wurde ich auch schon von zwei kühlen Armen umschlossen. Sein Duft schoss mir sofort in die Nase und dann spürte ich auch schon seine Lippen an meinem Nacken, die mir viele kleine stürmische Küsse gaben und ein unerwartetes Kribbeln in mir auslösten.
»Da bist du ja endlich, meine Hübsche. Ich habe dich ja so vermisst«, hauchte er mir mit seiner verführerischen Stimme ins Ohr und gab mir gleich darauf noch weitere Küsse auf die Wange.
Dann kam er auf einmal blitzschnell um mich herum, stellte sich vor mich und sah mich prüfend und leicht besorgt an.
»Nessie? Habe ich dich so
erschreckt? Warum weinst du denn?«
»N-Nein, Lennox. …
ich dachte nur, dass du schon weg bist, weil ich mich verspätet
habe.«
»Also bitte«, sagte er fast beleidigt.
»Ich warte doch nicht tagelang auf dich, um dann wegen ein paar
Minuten die Flucht zu ergreifen. Wie kannst du das nur von mir
denken?«
So ein Mist. Jetzt hatte ich ihn doch verärgert. Das wollte ich doch nicht. Warum nur ging an diesem Wochenende denn alles schief. Ich war schon wieder total aufgewühlt und eine weitere Träne machte sich auf den Weg.
»Was ist denn los mit dir?
Da stimmt doch etwas nicht. Was hast du? Habe ich etwas falsch
gemacht?«
»Du kannst nichts dafür. … Ich
bin nur ziemlich fertig und ich wollte dich nicht auch noch
enttäuschen. Es tut mir leid.«
»Leid?
Enttäuschen? Wovon redest du überhaupt?«
»Ich
… ich … ich … ich hab’ gestern meinen
Freund gebissen«, gestand ich ihm und die Erinnerung ließ
mich endgültig in Tränen ausbrechen und ich fing an, laut
zu schluchzen.
»Oh. Ich verstehe«, sagte er jetzt sehr
sanft und nahm mich in die Arme.
Es fühlte sich gut an und ich kuschelte mich sehr gerne an die Brust, die mir angeboten wurde. Seine Hände streichelten mir zärtlich über den Rücken und den Kopf und beruhigten mich allmählich. Dann hörte ich wieder seine sanfte Stimme, wenn auch etwas ernster.
»Ich verstehe wirklich
sehr gut, wie du dich jetzt fühlst. Du musst wissen, mir ist vor
vielen Jahren etwas ähnliches passiert.«
»Wirklich?«,
fragte ich überrascht, denn damit hatte ich absolut nicht
gerechnet.
»Ja, wirklich. Ich denke nicht sehr oft daran,
aber manchmal holen mich die Erinnerungen ein. Ich war damals noch
recht jung und unerfahren. Verrückt und naiv wie ich war, ließ
ich mich auf ein Menschenmädchen ein. Ich hatte mich tatsächlich
verliebt und viel Zeit mit ihr verbracht, nur ich konnte ihr nicht so
nahe sein, wie ich wollte, denn der Durst war mir im Wege.
Irgendwann, wurde ich ungeduldig und wollte endlich richtig mit ihr
zusammen sein und sie auch mit mir. Also dachte ich, die einfachste
Lösung wäre es, sie zu verwandeln. Ich konnte mich daran
erinnern, wie ich verwandelt wurde. Mein Schöpfer hatte mich in
den Hals gebissen und dann nach wenigen Schlucken von meinem Blut
fallen lassen. Obwohl ich damals ziemlich betrunken war, hatte sich
die Erinnerung in mein Gedächtnis gebrannt. Ich wusste also,
dass ich sie nur beißen musste und schon würde sie für
immer mein sein. Mir war klar, dass ich ihr Blut nicht vollständig
trinken durfte, denn meine Opfer hatten sich schließlich alle
nicht verwandelt. Also nahm ich mir vor, nur einen Schluck von ihrem
Blut zu trinken. So ging ich zu ihr und schlug meine Zähne in
ihren Hals. Ich trank einen Schluck und war vollkommen berauscht von
dem Geschmack und dem belebenden Gefühl. Ich wusste, ich musste
aufhören, doch ich wollte mehr. Ich nahm noch einen Schluck und
noch einen. Mein Schöpfer hatte schließlich auch mehr als
einen Schluck genommen und es hatte mir nicht geschadet. Außerdem
war ihr Blut so unglaublich köstlich. Ich trank weiter und
weiter und als ich mich dann endlich von ihr lösen konnte,
musste ich mit entsetzen feststellen, dass ich sie getötet
hatte. Es war ein schwerer Schlag für mich und ich schwor mir,
das nie wieder zu versuchen. Du siehst also, ich weiß sehr wohl
wie es ist, wenn man einen geliebten Menschen versehentlich
tötet.«
»Oh Lennox. Das tut mir ja so leid für
dich«, sagte ich und gab ihm einen Kuss auf die Wange. »Aber
bei mir war es nicht ganz so schlimm. Mein Freund lebt noch.«
»Was?
Er lebt? … Dann verwandelt er sich gerade?«
Lennox wirkte sehr überrascht und schien sogar ein wenig verärgert zu sein.
»Nein, ich habe keine
Gift. Er wird ein Mensch bleiben und wieder gesund werden. Nur eine
Narbe wird ihn daran erinnern, was ich ihm angetan habe.«
»Aber
das könnt ihr doch nicht zulassen. Ein Mensch, der unser
Geheimnis kennt, wird früher oder später die Volturi
hierher locken«, sagte er jetzt mit besorgter Stimme doch ich
schüttelte energisch den Kopf.
»Sei unbesorgt Lennox.
Er weiß nichts von Vampiren. Er hält mich für einen
Menschen. Für ihn war es ein Unfall. … Er glaubt, dass
ich eine Krankheit habe.«
»Nun, das ist ein wenig
beruhigend. Bitte verzeihe mir meine Worte.«
»Natürlich
verzeihe ich dir. Die Erinnerung an dein Erlebnis, von dem du mir
gerade erzählt hast, war bestimmt sehr schmerzhaft für
dich.«
Er tat mir sehr leid, denn so aufgewühlt hatte ich ihn noch nicht erlebt. Sanft streichelte ich seine Wange und hoffte, ihm auch etwas Trost spenden zu können.
»Nun ja, es ist ja schon lange her. Es geht schon. Mit dir fühle ich mich jedenfalls gleich wieder besser.«
Er schenkte mir wieder so ein
charmantes Lächeln und auch ich stellte fest, dass ich mich bei
ihm auch schon besser fühlte. Es war doch die richtige
Entscheidung gewesen, hierher zu kommen, um ihn wieder zu sehen.
Wir gingen eine Weile spazieren, redeten aber kaum. Er hatte seinen Arm um meine Schulter gelegt und ich meinen um seine Taille. Es war sehr angenehm, so mit ihm durch den Wald zu gehen. Ich hatte das Gefühl, ihm heute etwas näher gekommen zu sein. Als ich ihm von meinem Unfall berichtete, hatte er viel liebevoller reagiert, als ich es erwartet hatte und dann hatte er mir sogar ein traumatisches Erlebnis von sich erzählt. Wir spendeten uns gegenseitig Trost und es war schön. Ich stellte sogar fest, dass ich mehrmals erleichtert seufzte und das war sehr befreiend.
Gegen Mittag war es schließlich Zeit, sich wieder zu verabschieden und wir verabredeten uns für morgen Abend. Allerdings sagte ich ihm noch, dass ich nicht wüsste, wann ich kommen könnte, da ich einiges erledigen musste, aber ich würde auf jeden Fall kommen, auch wenn es mir nur für wenige Minuten möglich wäre. Er lächelte mich dann sehr liebevoll an, als er mir sagte, dass eine Minute mit mir jede noch so lange Wartezeit wert wäre. Dann schaute er mir tief in die Augen und zum ersten Mal fragte er mich, ob er mir einen Abschiedskuss geben dürfte und tat es nicht einfach. Es gefiel mir so gut, dass er so rücksichtsvoll war, dass ich ihn tatsächlich auch küssen wollte. Ich nickte und dann gab er mir einen sehr zärtlichen Kuss auf die Lippen, der genau so sanft und liebevoll war, wie er sich den ganzen Vormittag über verhalten hatte. Außerdem verschwand er nicht einfach danach, sondern wartete, bis ich gegangen war. Ich blickte noch ein paar mal lächelnd zurück und rannte erst los, nachdem ich außer Sichtweite war.
In gewisser Weise war das das
schönste Treffen mit Lennox, das ich bisher hatte, denn er hatte
mir eine unerwartete Seite von sich gezeigt, die mir gut gefiel und
ich mochte ihn plötzlich mehr als vorher. Nicht so sehr wie
Gabriel, das war mir klar, denn ich liebte Gabriel. An ihn zu denken,
ließ mich wieder seufzen. Wie konnte es denn überhaupt
jetzt weitergehen? Dad war sich ja sicher, dass sich an Gabriels
Gefühlen zu mir nicht geändert hatte, aber wie lange würde
es wohl dauern, bis es wieder so sein würde, wie es vor dem
Unfall war? Jasper meinte ja, dass es viel Zeit brauchen würde,
bis ich soweit war, dass wir den nächsten Schritt ohne Gefahr
für Gabriel gehen könnten. Würde er so lange warten?
Ich hoffte es sehr.
Zuhause angekommen, lief ich gleich zu Mom und ging mit ihr in mein Zimmer. Wir legten uns aufs Bett und ich erzählte ihr davon, dass es heute sehr nett mit Lennox gewesen wäre. Ich berichtete auch von dem Gespräch mit Jasper, das ich gestern Abend geführt hatte und von der neuen Trainingseinheit heute morgen. Das machte sie allerdings etwas wütend, dass er mich schon einen Tag nach meinem Unfall wieder zu einer Übung gezwungen hatte, doch ich sagte ihr, dass er es mir nicht sehr schwer gemacht hatte und dass es für mich in Ordnung gewesen sei. Dann zeigte ich noch mein Gespräch mit Esme, denn ich konnte nicht so recht in Worte fassen, wie ich es erlebt hatte. Die Erinnerung daran für die Übertragung aufzurufen tat wieder genau so weh, wie das eigentliche Gespräch. Mom nahm mich liebevoll in den Arm und streichelte mich. Sie sagte nichts dazu, doch ich spürte, dass sie in ihrem Herzen Esme recht gegeben hatte. Ich wusste das ja auch und gerade deshalb tat es ja auch so weh. Ich bat auch Mom noch mal um Verzeihung dafür, dass ich weggelaufen war und versprach ihr, das nie wieder zu tun. Dann nahm sie mich noch fester in den Arm, als ob sie mich ganz in ihre Brust drücken wollte und es war einfach schön. Ich schmiegte mich in ihr Umarmung und seufzte erleichtert.
Kurz darauf klopfte es an die Tür.
»Nessie? Du bekommst
Besuch«, hörte ich meinen Dad sagen.
»Besuch? Von
wem denn?«
»Von Gabriel, wenn er es sich nicht noch
anders überlegt. Er ist auf dem Weg hierher, etwa zwei Meilen
entfernt. Er will mit dir reden, ist aber unsicher, ob er einfach
herkommen kann.«
»Gabriel kommt heute zu mir?«,
rief ich aus und sprang aus dem Bett. »Was mache ich denn
jetzt, Mom? Was soll ich ihm denn sagen?«
»Beruhige
dich, Sternchen. Du weißt doch, welche Geschichte Carlisle ihm
erzählt hat, was mit dir los ist. Bleibe dabei und sprich dich
ansonsten einfach mit ihm aus. Es wird euch beiden gut tun.«
»Also
bevor ihr zwei darin allzu große Pläne schmiedet, ich bin
mir nicht sicher, ob er überhaupt kommt. Er zögert und ist
sehr unschlüssig.«
Ich riss die Tür auf.
»Daddy, kannst du nicht
etwas tun? Bitte, bitte, ich will ihn sehen. Ich muss mich doch bei
ihm entschuldigen.«
Er seufzte.
»Also gut Nessie.
Bella? Lust auf eine kleine Spazierfahrt?«
»Spazierfahrt?
Aber wir haben doch keine Führerscheine?«
»Das
weiß ich auch. Willst du oder nicht?«
»Na
gut.«
»Jazz! Wir brauchen einen Chauffeur!«
»Was
ist denn los?«, fragte Jasper verwirrt, der gerade die Treppe
hochgeschossen kam.
»Gabriel steht vorne an der Hauptstraße.
Er will eigentlich mit Nessie reden aber traut sich nicht so recht
hierher.«
»Ich verstehe. Fahren wir ihm entgegen und
geben ihm einen kleinen Schubs.«
»Ihr wollt ihn von
der Straße schubsen? Seid ihr wahnsinnig? Er ist doch
verletzt«, rief ich entsetzt aus und alle lachten. Sogar Emmett
und Rosalie kamen gerade aus ihrem Zimmer und lachten mit.
»Was
ist denn daran so lustig?«, sagte ich leicht angesäuert.
»Wir
schubsen ihn doch nicht wirklich«, sagte Jasper schmunzelnd.
»Ich wollte damit nur sagen, dass ich ihm etwas Mut machen
werde und dass wir ihn wissen lassen, dass er zu dir darf.«
»Oh.
Ach so. Wie dumm von mir. Tut mir leid.«
»Schon gut,
Kleines.«
Sie gingen blitzschnell hinunter in die Garage. Allerdings schaute Dad wohl noch kurz bei Esme und Carlisle vorbei, um sie über den bevorstehenden Besuch zu informieren. Dann waren sie auch schon weg.
Etwa zehn endlos lange Minuten später klingelte es an der Tür und Esme gab mir ein Zeichen, dass ich in meinem Zimmer bleiben sollte. Ich folgte ihrer Anweisung, denn ich wollte sie heute auf keinen Fall noch mal verärgern. Unruhig ging ich in meinem Zimmer auf und ab und zählte die Sekunden. Dann klopfte es an der Tür.
»165! … Ähm …
Himmel … Ja bitte?«
»Besuch für dich,
Liebes«, sagte Esme und ich war mir sicher, ein leichtes
Schmunzeln herauszuhören.
Sollte ich jetzt die Tür öffnen? Ich wartet noch vier Sekunden, ob Esme es machte, doch dann hielt ich es nicht mehr aus und öffnete sie selbst.
»Hallo Nessie«,
sagte Gabriel mit sanfter, aber auch etwas unsicherer
Stimme.
»Ha-Hallo Gabriel«, erwiderte ich und klang
dabei nicht wirklich sicherer. »Magst du herein
kommen?«
»Gerne.«
Er trat ein und Esme lächelte mir zu. Es war ein schönes, gütiges Esme-Lächeln, das mir Wärme schenkte. Sie gab mir das Gefühl, dass zwischen uns alles wieder in Ordnung war. Ich lächelte dankbar zurück und schloss die Tür, nachdem sie sich zum Weggehen umgedreht hatte. Dann wandte ich mich Gabriel zu, der in meinem Zimmer stand und wohl genauso wenig wie ich wusste, was er jetzt sagen sollte. Schließlich sagten wir fast gleichzeitig »Wie geht es dir?« und gleich darauf lächelten wir uns unsicher an. Ich trat näher an ihn heran und blieb einen Schritt vor ihm stehen. Flehend schaute ich ihm in die Augen.
»Gabriel. Es tut mir so leid, was da gestern passiert ist.«
Er sah mich einfach nur an und ich wurde total nervös. Ich kaute auf meiner Unterlippe herum und jammerte innerlich, dass er doch bitte etwas sagen sollte, doch er spannte mich auf die Folter und ich traute mich nicht, noch etwas zu sagen. So vergingen weitere endlose Sekunden.
»Ich kapier’ es nicht, Nessie«, sagte er mit ernster und auch enttäuschter Stimme.
Halb verzweifelt ließ ich den Kopf hängen und schaute auf den Boden zwischen uns.
»Warum Nessie?
Warum?«
»I-Ich habe das noch nicht gewollt«, kam
es fast wimmernd über meine Lippen.
»Das glaube ich dir
ja, aber warum hast du denn vorher nichts gesagt? Vertraust du mir so
wenig?«
»Oh bitte glaub das nicht von mir. Ich wusste
nur nicht, wie ich das sagen sollte. Außerdem dachte ich, ich
hätte es unter Kontrolle. Carlisle hat dir doch erzählt,
dass ich eine Therapie mache, um das in den Griff zu bekommen. Ich
dachte wirklich, ich wäre schon soweit.«
»Jedenfalls
weiß ich jetzt, warum es dir so schwer gefallen ist, mich zu
küssen. Dabei dachte ich immer, dass es an mir liegt und ich
irgendetwas falsch gemacht habe.«
»Bitte verzeih mir,
Gabriel. Das ist alles meine Schuld. Du warst immer toll zu
mir.«
»Und warum läufst du dann weg? Wie konntest
du das nur machen? Kletterst aus dem Badezimmerfenster und rennst
alleine in den Wald? Bist du denn lebensmüde? Du hättest
umkommen können.«
Nein, hätte ich nicht, doch das konnte er natürlich nicht wissen und ich konnte es ihm nicht sagen. Also sagte ich gar nichts und schwieg einfach. Es spielte aber auch gar keine Rolle, ob er mit der Gefahr recht hatte oder nicht. Er war sauer und verletzt und das spürte ich überdeutlich. Auch ihn hatte ich mit meinem Verhalten enttäuscht, so wie meine ganze Familie. Es war eine einzige große Katastrophe und furchtbar deprimierend.
»Es tut mir leid, Gabriel«, sagte ich leise und mit zittriger Stimme.
Schon wieder hatte sich eine Träne aus meinen Augen gestohlen und glitt die Nase herunter, um von dort zu Boden zu tropfen. Dann spürte ich seine Hand an meinem Kinn, wie sie mich mit sanften Druck dazu brachte, meinen Kopf wieder zu heben und ihn anzusehen. Er schaute mich voller Mitgefühl an und es war keine Spur mehr von Verärgerung in seinem Gesicht zu sehen.
»Nicht weinen, Nessie.
Bitte nicht. Ich will doch nicht, dass du unglücklich bist. Ich
liebe dich doch.«
»Oh Gabriel!«, rief ich mit
einem Schluchzen aus und warf mich ihm um den Hals.
»Ah!«,
presste er durch die Zähne und zuckte unter mir
zusammen.
»Wa-Wa-Was hab’ ich denn jetzt
angerichtet?«, sagte ich erschrocken und wich von ihm
zurück.
»Au, meine Schulter. Du musst vorsichtig sein«,
sagte er und griff sich an die Stelle, in die ich einen Tag zuvor
meine Zähne geschlagen hatte.
»Ich bin so eine blöde
Kuh. … Ich mache einfach alles falsch.«
Gabriel lächelte wieder leicht und schüttelte den Kopf. Dann nahm ich plötzlich den Geruch von seinem Blut wahr und ich wusste sofort, dass ich schuld daran war, dass seine Wunde aufgerissen sein musste. Ich ging ein paar Schritte zurück, um den Blutduft nicht so stark wahrnehmen zu müssen, denn er hatte sofort angefangen, mich zu verwirren. Meine Kehle fing an zu brennen und ich verspürte einen Anflug von Panik, der von meinen stärker werdenden Instinkten ausgelöst wurde.
“Alles, nur nicht noch einen Unfall”, war das Einzige, das ich im Moment denken konnte. Ich drehte mich um und ging zur Tür.
»Wo gehst du ihn?«,
fragte Gabriel irritiert.
»Ich … ähm …
Carlisle soll sich deine Wunde lieber noch mal ansehen.«
»Ach
was, das geht schon. Ist nicht so schlimm.«
»Nein,
bitte Gabriel. Er soll es sich ansehen«, sagte ich, öffnete
die Tür und rief nach ihm.
Es dauerte nur wenige Augenblicke und Carlisle kam schon den Gang herunter.
»Stimmt etwas nicht,
Liebes?«
»Könntest du dir bitte Gabriels Schulter
ansehen? Er hat Schmerzen.«
»Natürlich …
Komm bitte mit mir Gabriel. In meinem Arbeitszimmer habe ich alles
Notwendige.«
Etwas widerwillig ging Gabriel mit ihm und ich wartete erneut endlose Minuten darauf, dass er wieder zurückkommen würde. In der Zwischenzeit hatte ich kurz gelüftet, um den Blutgeruch wieder los zu werden. Schließlich war es soweit und Carlisle kam mit ihm zurück.
»Seine Schulter braucht
Schonung, Liebes. Du solltest darauf achten.«
»Ja,
mach' ich … danke.«
»Und was dich betrifft, Gabriel. Es war sehr unbesonnen, mit dem Fahrrad hierher zu kommen. Bitte lasse dich nachher von Jasper nach Hause fahren. In seinem Range Rover hat dein Fahrrad auch Platz.«
Gabriel nickte ihm zu und kam herein. Carlisle schenkte mir noch ein kleines Lächeln und schloss die Tür. Unsicher stand ich vor Gabriel und knetet meine Finger. Sein Blutduft war weg und stattdessen nahm ich den Geruch von frischen Verbänden und Desinfektionsmittel wahr.
»Tut es sehr weh?«,
fragte ich vorsichtig.
»Hm, nein, eigentlich nicht. Er hat
mir ein Schmerzmittel gegeben. Ist ganz O.K.«
Erleichtert lächelte ich ihn an. Wie gerne hätte ich ihn jetzt gestreichelt, in den Arm genommen und geküsst, doch ich traute mich einfach nicht. Auch Gabriel war sehr zurückhaltend. Ob es ihm wohl ähnlich ging?
»Was machen wir jetzt,
Nessie?«
»Ich weiß es nicht, Gabriel. Was
möchtest du denn?«
»Na ja, ich möchte, dass
es wieder so wird, wie es vor dem … Unfall war. Und du?«
»Ich
auch, Gabriel. Ich auch.«
»Dann lass’ es uns
langsam angehen und sehen … wann du soweit bist. Ich werde
dich jedenfalls nicht noch mal zu etwas drängen, das du nicht
willst. Das verspreche ich dir.«
»Ach Gabriel. Ich
wollte das doch auch. Es war so schön, bis…«
»Ja
genau«, sagte er leicht lachend. »Biss! … Meine
kleine duftende Blüte ist wohl ein Fleisch fressendes Pflänzchen
was?«
Ich erschrak bei diesen Worten. Ich wollte nicht, dass er so über mich dachte, auch wenn sein blumiger Vergleich sehr viel näher an der Wahrheit dran war, als ihm bewusst sein konnte. Mir war zwar klar, dass er es scherzhaft gemeint hatte, doch es verunsicherte mich nur noch mehr.
»Nessie? Es tut mir leid. Ich hab’ das eben nicht so gemeint. Du weißt doch, wie gern ich dich habe, oder?«
Ich nickte, doch ich konnte nicht verbergen, dass es hart für mich war, was er gesagt hatte. Aber nicht nur das. Bisher sagte er doch immer, dass er mich liebte. Warum hatte er dann gerade gesagt, dass er mich gern hatte? Liebte er mich etwa nicht mehr? Langsam kam er auf mich zu und streichelte mir über das Gesicht. Dann gab er mir einen zärtlichen Kuss auf die Wange, der mir sehr gut tat. Auch ich streichelte ihn und küsste ebenfalls seine Wange. Ich nahm seinen Geruch wieder so intensiv wahr und jeder Atemzug rief die Erinnerung an mein Versagen von Gestern wieder auf. Einen Kuss auf den Mund konnte ich ihm im Moment einfach nicht geben und auch das schmerzte in meiner Brust. Allerdings unternahm er auch keinen Versuch, meine Lippen mit den seinen zu berühren.
Irgendwann fing Gabriel an, über die bevorstehende Schulwoche zu sprechen und wir unterhielten uns eine ganze Weile. Die angespannte Stimmung löste sich und es wurde allmählich angenehmer. Als Jasper mit Mom und Dad später zurückkamen, wollte auch Gabriel schon bald gehen. Esme gab ihm noch sein bearbeitetes T-Shirt und den Pullover zurück und erzählte ihm, was sie sich dabei gedacht hatte. Er fand das gut und nahm seine Kleidungsstücke dankbar zurück. Dann verabschiedete er sich bei mir mit einem weiteren Kuss auf die Wange und fuhr mit Jasper nach Hause.
War es das jetzt? Gab es nur noch Wangenküsse zwischen uns? Ich fühlte mich elend, denn ich hatte gehofft, dass es wieder wie vorher sein könnte, doch nun befürchtete ich, dass weitaus mehr kaputt gegangen war. Das Gespräch mit Gabriel war sicherlich wichtig gewesen und hatte zur Klärung beigetragen, aber jetzt war ich deprimiert. Ein wichtiger Teil meines neuen Lebens hier schien beschädigt zu sein und ich hatte große Sorge, ob ich das jemals reparieren konnte.
An diesem Abend seufzte ich noch sehr viel und keiner aus meiner Familie konnte mich wirklich aufheitern, obwohl sie es versucht hatten. Es lag ja auch nicht an ihnen, sondern an mir. Irgendwie wollte ich nicht aufgeheitert werden, denn das fühlte sich nicht richtig an. Da überließ ich mich lieber meinem Schmerz.
Nach einem langen und recht quälenden Abend ging ich schließlich zu Bett. Morgen würde eine neue Schulwoche beginnen. Die letzte Schulwoche in diesem Jahr und in diesem Trimester. Die letzte Gelegenheit vor den Ferien, noch mal mit Gabriel zusammen zu sein und zu retten, was zu retten war, doch Zuversicht fühlte sich anders an.
Am nächsten Morgen waren alle übertrieben nett und rücksichtsvoll zu mir. Sie behandelten mich wie ein rohes Ei und ich fühlte mich etwas unwohl deswegen. Andererseits wusste ich auch nicht, was ich denn dagegen tun könnte, denn ich war noch immer deprimiert und sehr unsicher, wie der heutige Tag verlaufen würde. Ich freute mich auf die Schule und darauf, meine Freunde wieder zu sehen, doch wie wird sich Gabriel mir gegenüber verhalten? Diese lähmende Nervosität war einfach schrecklich.
Ich war fast erleichtert, als es
Zeit zum Aufbruch wurde und wir losfuhren. Auf der Fahrt fiel mir
allerdings auf, dass Jasper merkwürdig angespannt zu sein
schien.
»Jasper? Stimmt etwas nicht? Liegt es an mir?«,
fragte ich ihn vorsichtig.
»Nein Nessie, nicht an dir. Ich
gehe zur Zeit nur nicht so gerne zur Schule. Der Prüfungsstress
ist echt anstrengend.«
Ȁh was? Du hast
Prüfungsstress?«
Jasper lachte leise.
»Nein,
aber die halbe Schule. Überall diese Angst und Nervosität
und gelegentlich auch regelrechte Panik zu spüren, ist alles
andere als angenehm.«
»Ach so. Ich verstehe.«
»Am
liebsten würde ich sie manchmal anschreien, dass sie sich
zusammenreißen sollen und dass es doch totaler Blödsinn
ist, sich wegen ein paar Klausuren zum Trimesterende so fertig zu
machen. Das Schuljahr ist schließlich noch lange nicht
vorbei.«
»Ja, so was ähnliches habe ich zu Lissie
auch gemeint, weil sie sich auch so fertig macht. Ich hoffe nur, sie
wird nächstes Jahr die Kurve kriegen.«
»So wie du
dich für sie ins Zeug legst, wird das bestimmt klappen«,
sage Jasper noch, lächelte mich dabei an und schenkte mir damit
etwas Zuversicht, auch ohne seine Gabe einzusetzen.
Kaum an der Schule angekommen, ging ich auch schon schnell zu unserem üblichen Treffpunkt und wartete auf die Anderen. Es dauerte auch nicht lange und natürlich lief ich auch gleich Gabriel und Lissie entgegen. Beide lächelten mich an und das tat mir unheimlich gut. Liebevoll nahm mich mein Freund in seine Arme, ließ mich einen tiefen Atemzug seines Duftes in mich aufnehmen und küsste mich zur Begrüßung … auf die Wange. Es war ihm überhaupt nicht in den Sinn gekommen, mich wie sonst auch auf den Mund zu küssen und mir wurde schlagartig das Herz wieder schwer. Oh Himmel, warum nur konnte es nicht wie vorher sein? Er hatte doch gesagt, dass er das wollte, aber er verhielt sich ganz anders. Es war eher so, wie in unserer allerersten Woche.
Auch Lissie schaute etwas
merkwürdig zu uns und ich begrüßte sie erst einmal
mit einer innigen Umarmung.
»Wie war dein Wochenende?«,
fragte ich sie, um das Thema zu wechseln, beziehungsweise um zu
verhindern, dass sie jetzt eine unangenehme Frage stellte.
»Ganz
O.K. Ich habe mich strikt an deinen Lehrplan gehalten. Ich hoffe
wirklich, dass es ausreichen wird.«
»Nur Mut, Lissie.
Wir haben noch den Großteil des Schuljahres vor uns. Wir
bekommen das ihn.«
»Ja, das hoffe ich auch. Aber wie
war denn dein Wochenende?«
Oh Mist. Der Versuch das Thema zu wechseln ging ja mal total nach hinten los. Lissie bemerkte natürlich den unsicheren kurzen Blickwechsel zwischen Gabriel und mir und ahnte sicherlich, dass etwas passiert sein musste.
Ȁhm, ich habe mir
die Schulter verletzt, als ich bei Nessie war«, sagte Gabriel
plötzlich, um ihr eine Antwort zu geben.
»Das tut mir
aber leid. Ist es schlimm?«
»Nein, geht schon. Ich
muss den Arm halt eine Weile schonen. Ist schon praktisch, wenn man
einen Arzt im Haus hat«, meinte er mit einem etwas aufgesetzt
wirkendem leisen Lachen.
»Wie ist das denn passiert?«,
wollte Lissie wissen.
»Irgend ein Tier hat mich beim
Spaziergang angefallen. Ist einfach vom Baum auf mich gestürzt
und hat mich gebissen.«
»Was? Das ist ja schrecklich.
Es hatte doch hoffentlich nicht die Tollwut.«
Gabriel sah mich plötzlich wieder an und ich wäre am liebsten im Boden versunken. Ich hatte doch nicht die Tollwut. Es tat mir unglaublich weh, wie er mich ansah. Es war kein böser Blick und auch keine Verachtung oder Furcht. Es war Bedauern und Mitleid und ich hatte nicht die leiseste Ahnung, was ich dagegen tun konnte. Ich wollte doch geliebt und nicht bemitleidet werden.
»Das glaube ich nicht«,
sagte er zu Lissie. »Nessies Vater schien unbesorgt zu sein und
es heilt ja auch gut.«
»Dann ist ja gut«, meinte
sie erleichtert und wir gingen allmählich hinein.
Am Vormittag schrieben wir eine Englischarbeit und ich schaute dabei mehrmals nach Lissie. Sie tat sich wieder sehr schwer und wirkte nervös. Allerdings sah es nicht ganz so schlimm aus, was sie gemacht hatte. Einiges war richtig und ich war sicher, dass es für das angestrebte D reichen würde. Lissie wirkte da allerdings weniger optimistisch und ich war schon besorgt, dass sie aus lauter Unsicherheit ihre richtigen Antworten falsch ändern könnte.
»Miss Masen«, sprach
mich Mr. Bennett plötzlich an und ich schrak auf. »Sollten
sie ihre Augen nicht vielleicht lieber auf ihr eigenes Blatt
richten?«
»Ich bin bereits fertig Mr. Bennett.
Entschuldigung, ich war nur neugierig. Es kommt nicht wieder
vor.«
»Nun, es würde mich auch wundern, wenn sie
das Abschreiben nötig hätten, Miss Masen«, sagte er,
während er zu mir kam und das Arbeitsblatt an sich nahm.
»…
sehr wundern«, ergänzte er noch lächelnd mit einem
Blick auf das Blatt.
Lissie sah mich vorsichtig an und ich zwinkerte ihr kurz zu, was sie anscheinend beruhigte. Danach verließ ich lieber das Klassenzimmer, um nicht noch mehr Aufsehen zu erregen.
Zur nächsten Stunde sagte ich ihr dann, dass es gar nicht so schlecht bei ihr gelaufen wäre und dass sie sich keine Sorgen zu machen brauchte, wofür sie mich gleich wieder liebevoll in den Arm nahm.
In der Mittagspause waren die Prüfungen natürlich wieder Gesprächsthema Nummer 1, dicht gefolgt von den bevorstehenden Weihnachtsferien und den Dingen, die man sich so als Geschenk wünschte. Bei dem Thema winkte Gabriel aber nur ab und es schien fast so, als ob es ihm unangenehm wäre. Das verstand ich nun gar nicht. Was war denn an Geschenken so falsch? Wer freute sich denn nicht über so etwas? Jedenfalls dachte ich mir, dass wir auch gleich nach draußen gehen könnten, wenn ihm die Unterhaltung nicht gefiel. Hunger schien er nämlich auch nicht zu haben.
»Wollen wir raus gehen?«,
fragte ich ihn und versuchte dabei aufmunternd zu lächeln.
»Wenn
du magst«, antwortete er mit einem Schulterzucken.
Was hatte denn das jetzt zu bedeuten? Wollte er noch nicht einmal mehr in der Mittagspause mit mir alleine sein? Meine Eingeweide klumpten sich zusammen und wir wurde fast schlecht, als ich mit ihm aufstand und in Richtung Tür ging. Es fiel mir schwer zu laufen, denn meine Knie waren irgendwie wackelig. Er nahm noch nicht einmal meine Hand und wir gingen schweigend nebeneinander nach draußen. Wenigstens führte unser Weg zu einem unserer üblichen Plätze und er lehnte sich wieder mit dem Rücken an die Säule. Unsicher stand ich vor ihm und wartete darauf, dass er mich in seine Arme zog, doch er tat es nicht und ich spürte, wie ich allmählich den Tränen nah war.
»Gabriel, bitte. Ich halte
das nicht aus.«
»Aber Nessie. Noch mehr zurückhalten
kann ich mich nicht. Was erwartest du denn von mir?«
»Zurückhalten?
Du sollst dich nicht zurückhalten. Ich will doch nur von dir in
den Arm genommen und geküsst werden. Warum magst du das denn
nicht mehr?«
»Ich? Wieso ich? Ich denke, du brauchst
Zeit. Wir haben doch darüber gesprochen, dass ich dich nicht
mehr bedrängen werden und dir den nächsten Schritt
überlasse.«
»Ja schon, aber du bist ganz weit
zurück gegangen. Du bist so weit weg von mir und es tut so
schrecklich weh.«
Eine Träne, die ich einfach nicht aufhalten konnte, lief mir über die Wange.
»Nicht weinen. Nessie, bitte nicht weinen«, sagte er und nahm mich nun doch endlich in den Arm und ich schluchzte und seufzte gleichzeitig leicht auf. Er streichelte mir wieder über den Rücken und das Haar und küsste mich auf den Kopf. Es tat so gut und ich beruhigte mich sehr schnell.
»Ich tue doch alles was du willst, meine Blume«, hauchte er mir sanft ins Ohr.
Ich reckte mich ihm entgegen und bekam endlich den so lang ersehnten Kuss. Sehr vorsichtig griff ich mit einer Hand um seine Taille und mit der anderen zu seinen Nacken. Ich legte sie dort sanft ab, denn ich wusste ja, dass ich auf seine Schulter acht geben musste. Der Geschmack seines Kusses war toll, auch wenn er viel von den Ravioli vom Mittagessen an sich hatte, doch ich ließ mich davon nicht stören.
Der Kuss weckte ein paar der Schmetterlinge in meinem Bauch aus ihrem Dornröschenschlaf auf. Es war schön, sie wieder zu spüren, auch wenn es nur zaghafte Flügelschläge waren. Genau so zaghaft, wie sein Kuss. Ich blickte in seine Augen und sah, dass er immer noch etwas verunsichert wirkte, auch wenn er ein Lächeln aufgesetzt hatte.
»Gabriel, bitte zieh dich
nicht weiter zurück vor mir.«
»Das will ich doch
gar nicht, Nessie.«
Etwas erleichtert kuschelte ich
mich wieder an seine Brust, atmete seinen Duft ein, lauschte seinem
Herzschlag und seiner Atmung und genoss die Pause, bis die
Schulglocke ertönte.
Am Nachmittag schrieben wir dann gleich zu Beginn des Musikunterrichts die erwartete Klausur, die wirklich sehr einfach war und sogar Lissie lächeln ließ und danach wurden noch ein paar Weihnachtslieder gesungen. Die Stimmung war eigentlich sehr schön, doch Gabriel wirkte dabei irgendwie bedrückt. Hatte er ein Problem mit Weihnachten? Mochte er das Fest etwa nicht?
Als wir nach dem Unterrichtsende
zum Ausgang gingen, zog mich Gabriel plötzlich kurz zur
Seite.
»Nessie, ich muss da noch was mit dir
besprechen.«
Fragend schaute ich ihn an.
»Ja,
Gabriel?«
»Hast du vor … ich meine …
wegen Weihnachten … willst du … mir etwas schenken?«
Wieso stellte er nur so eine Frage? War es nicht logisch, dass ich ihm etwas schenken wollte? Ich hatte es ja auch schon längst besorgt, so wie alle anderen Geschenke für meine Familie.
Ȁh ja, eigentlich
schon. Warum?«
»Na ja, … also wenn es dir
nichts ausmacht, dann wäre es mir lieber, wenn wir uns nichts
schenken würden.«
»Du musst mir nichts schenken,
Gabriel. Das habe ich dir doch schon an meinem Geburtstag gesagt. Das
macht mir nichts aus.«
»Aber mir macht es was
aus.«
»Ich verstehe nicht, Gabriel. Warum darf ich dir
denn nicht…«
»WEIL ICH DAS NICHT WILL! Kapier’
das endlich.«
Ich war wie erstarrt. Gabriel hatte mich angeschrien und ich verstand nicht, warum. Darauf konnte ich einfach nichts erwidern und nickte nur mechanisch.
»Gut. Dann bis morgen«, sagte er rau und ging ohne einen Abschiedskuss.
Was hatte ich nur falsch gemacht? Sagte er nicht gerade erst in der Mittagspause, dass er alles für mich tun wollte? Warum gehörte das Annehmen eines Geschenkes denn nicht dazu? Wie passte das denn zusammen? Wieder standen mir die Tränen in den Augen, wie schon so oft in den letzten Tagen. Ich hatte einfach gar nichts mehr unter Kontrolle.
»Nessie? Alles in
Ordnung?«, sagte Lissie zu mir und legte mir sanft den Arm um
die Schulter.
»Was hat er nur? Warum will er denn kein
Weihnachtsgeschenk von mir? Liebt er mich denn nicht mehr?«
Lissie sagte nichts, sondern streichelte sanft meine Schulter und lehnte ihren Kopf gegen meinen. Ihre Nähe tat mir immer gut und war so beruhigend. Vielleicht auch deshalb, weil ihr Geruch so neutral zu sein schien. Bei ihr konnte ich mich einfach entspannen.
»Wenn du lieber nach Hause
willst, dann lassen wir die Nachhilfe heute ausfallen.«
»Kommt
nicht in Frage, Lissie. Wir haben das ausgemacht und das ziehen wir
auch durch. Wir haben noch einiges vor uns für Chemie am
Mittwoch.«
»Wie du willst«, sagte sie seufzend.
Jasper fuhr uns wieder zu ihr und mir fiel auf, dass hier wohl am Wochenende die Weihnachtsdekoration ausgepackt worden war. Es sah nett bei ihr aus, wobei ihr Zimmer nach wie vor chaotisch war. Ihre Mom brachte uns auch gleich wieder Getränke und auch eine Schale mit Weihnachtsgebäck. Der Duft war einfach wahnsinnig lecker, also der von ihrer Mom, nicht der von dem Gebäck. Ich war immer wieder fasziniert, wie unterschiedlich hier Mutter und Tochter rochen.
Der Nachhilfeunterricht verlief nicht anders als in der Woche zuvor. Lissie hatte immer noch große Probleme, sich zu konzentrieren und wirke immer müde und erschöpft. Ich konnte mir kaum vorstellen, unter was für einem Stress sie stehen musste, dass sie so fertig war. Wir machten mehrmals Pausen und ich gab ihr sogar eine Schultermassage, doch obwohl ich versuchte sehr vorsichtig zu sein, meinte sie, dass es ihr weh tat und da ließ ich es lieber bleiben. Sie bot mir auch ein paar Mal die Kekse an, doch daran hatte ich kein Interesse. Gegen Abend dann hatten wir zwar nicht ganz das erreicht, was ich mir eigentlich für heute vorgenommen hatte, doch es würde hoffentlich trotzdem genug sein. Vielleicht war morgen ein besserer Tag.
Als Jasper kam, um mich abzuholen, verabschiedete mich bei Lissie und ihre Mutter an der Tür. Auf halbem Weg zu Jazz’ Auto musste ich plötzlich abrupt stehen bleiben. Eine deutliches Angstgefühl hatte mich ergriffen und ich war mir sicher, dass es seine Aura war.
»Stimmt etwas nicht,
Vanessa?«, hörte ich Mrs. Miller fragen.
»N-Nein,
alles in Ordnung. Ich dachte nur…«
Hilfesuchend schaute ich Jasper an und flehte mit meinem Blick darum, dass er damit aufhören sollte. Das konnte er doch jetzt nicht mit mir machen. Nicht vor Zeugen. Jaspers Mine blieb jedoch unbewegt.
»Hast du etwas
vergessen?«
»Ich … glaube nicht, Mrs. Miller.
Ich gehe dann mal. Auf Wiedersehen.«
»Ja, bis Morgen
dann.«
Jasper war gemein. Er ließ mir keine andere Wahl und ich ging langsam auf ihn zu. Es fühlte sich wie gestern an und war einfach äußerst unangenehm. Ich rief mir immer wieder ins Bewusstsein, dass es keine Gefahr gab und dass ich da durch musste. Wie sollten das Lissie und ihre Mutter denn deuten, wenn ich mich nicht traute, zu Jasper ins Auto zu steigen. Womöglich würden sie denken, dass ich Angst vor ihm hätte. Das hatte ich natürlich tatsächlich, doch aus einem ganz anderen Grund, als sie jemals vermuten würden.
Ich zwang mich dazu, mit normalem Tempo zum Auto zu gehen. Es war so schrecklich. Alles in mir zog sich zusammen und wollte in die andere Richtung, doch ich wusste genau, dass ich dem nicht nachgeben durfte. Das Atmen fiel mir schwer und meine Hände fingen an zu zittern. Ich jammerte innerlich und hoffte, dass er damit aufhören würde, wenn ich eingestiegen war. Eine vergebliche Hoffnung, wie ich gleich darauf feststellen musste.
Er fuhr los und lächelte mich an. Es war so grotesk, dass er mich nett anlächelte und mir dabei solche Angst machte. Die Fahrt nach Hause dauerte ewig und ich war schon total verkrampft. Selbst als er das Auto in der Garage parkte, löste er die Aura noch immer nicht von mir. Stattdessen saß er einfach nur da und schaute mich an. Auf was wartete er denn? Dass ich ausstieg und weglief? Das wollte ich wirklich, aber sagte er nicht, dass ich mich der Angst stellen müsste? Selbst Esme hatte mir unmissverständlich klar gemacht, dass Weglaufen keinen Lösung sei, auch wenn sie dabei sicherlich nicht solch eine Situation gemeint hat. Die Botschaft war aber bei mir hängen geblieben.
Die Sekunden vergingen quälend langsam und er tat überhaupt nichts und sah mich nur an. Sein Blick war dabei inzwischen etwas kritischer geworden. Auf was wartete er nur? Allmählich hatte ich Sorge, dass meine verklumpten Organe sich davon nicht mehr erholen würden, denn mein Bauch fing regelrecht an zu schmerzen. Wie lange sollte das noch so weitergehen? Ich wollte ihn fragen, doch es fiel mir so schwer, mich drauf zu konzentrieren, vor Angst nicht zusammenzubrechen und gleichzeitig zu reden.
»Jazz. Wie lange noch?«, presste ich durch die Zähne und sah ihn halb verzweifelt an.
Auf einmal ließ er die Furcht von mir abfallen und lächelte zufrieden.
»Bis du mich das fragst«, sagte er grinsend.
Puh! Die Erleichterung, diese Angst los zu sein, war enorm und mein Bauch fühlte sich auch gleich wieder besser an.
»Du hättest mir ja
einen Tipp geben können.«
»Na, na, na. Du wirst
doch meine Trainingsmethoden nicht in Frage stellen wollen,
oder?«
»Und wenn doch? Willst du mir dann Angst
einjagen?«, sagte ich schelmisch, wobei ich mir nicht sicher
war, ob ich ihn damit nicht vielleicht zu sehr provozieren würde.
Jasper lachte laut auf und ich fühlte mich gleich noch besser.
»Oh Nessie. Du warst gut
heute. Ich bin stolz auf dich.«
»Danke Jazz. Aber du
warst echt gemein.«
»Ja, ich hatte befürchtet,
dass du so von mir denken wirst, aber es war eine wichtige Lektion
für dich. Eine unerwartete Angst, der du dich stellen
musstest.«
»Und warum dann noch das Warten in der
Garage?«
»Das war so einen spontane Idee. Du warst so
gefasst, dass ich gleich noch einen Schritt weiter gehen wollte. Ich
war sehr gespannt, wie du reagieren würdest. Ich hatte damit
gerechnet, dass du aussteigst und versuchst, ruhig wegzugehen. Damit
wäre ich auch zufrieden gewesen. Dass du allerdings sitzen
geblieben bist, hatte mir zunächst nicht gefallen, denn ich
befürchtete, dass du aufgegeben hast und dich nicht traust. Dann
hast du aber mit mir geredet und das war noch beeindruckender. Ich
bin wirklich stolz auf dich.«
Ich hatte so lange darauf gewartet, dass Jasper nach einer Trainingseinheit einmal zu mir sagen würde, dass er stolz auf mich sei, dass ich jetzt eine große Freude verspürte. Eine echte eigene Freude.
Ich sprang aus dem Auto und lief zu meinen Eltern, um ihnen von meinem Erfolg zu erzählen. Natürlich bekamen auch die Anderen das mit und freuten sich mit mir. Sie schienen alle erleichtert zu sein, dass ich wieder ein echtes Lächeln im Gesicht hatte.
Doch nicht alles war heute gut
gelaufen und auch das wollte ich mit meiner Familie teilen.
»Mom,
Dad, ich weiß nicht, was ich wegen Gabriel machen soll. Er ist
so komisch seit … ihr wisst schon. Daddy, du hast doch gesagt,
er liebt mich noch. Warum ist er dann heute so abweisend gewesen? Er
ist so merkwürdig, so anders. Das ist nicht mein Gabriel. Er hat
mich sogar angeschrien, weil ich ihm etwas zu Weihnachten schenken
will und er das ablehnt. Ich versteh’ das einfach nicht.«
Sie sahen sich gegenseitig kurz an und seufzten leicht. Dann sprach Mom zu mir.
»Schatz, kannst du dir denn gar nicht vorstellen, was einen Jungen davon abhalten könnte, dem Mädchen das er liebt ein Geschenk zu kaufen?«
Was könnte denn der Grund sein? Er hatte mir doch auch zu meinem Geburtstag etwas geschenkt. Warum also nicht auch zu Weihnachten?
»Vielleicht aus religiösen
Gründen?«, fragte ich, doch beide schüttelten den
Kopf.
»Keine Zeit? … Keine Idee? … Keine
Lust?«
Meine Eltern kamen mir mit ihrem ständigen
Kopfschütteln schon vor wie zwei Wackeldackel.
»Wenn
ihr es wisst, dann sagt es mir doch einfach«, sagte ich leicht
genervt.
»Liebling«, sprach Dad mich an. »Willst
du das wirklich von uns erfahren? Wäre es dir nicht lieber, er
würde es dir sagen, wenn du schon nicht selbst darauf
kommst?«
»Aber ihr seid doch auch darauf
gekommen.«
»Nun ja, für mich ist das ja auch ein
bisschen einfacher. Ich höre schließlich was er
denkt.«
»Ich aber nicht. Bitte Daddy, gib mir
wenigstens einen Tipp.«
»Also gut«, seufzte er.
»Dein Gabriel hat einfach nicht genug Geld für ein schönes
Geschenk.«
»Was? Das soll der Grund sein? Das glaube
ich jetzt nicht.«
»Ist es aber, Kleines«, sagte
Mom. »Es ist ihm peinlich.«
»Aber das ist doch
totaler Blödsinn. Was hat das denn mit Liebe zu tun? Warum darf
ich ihm nichts schenken? Ich erwarte doch gar kein Geschenk von
ihm.«
»Es belastet ihn eben, Schatz«, fuhr mein
Dad fort. »Und mehr als das, aber bitte verlange nicht von mir,
dass ich dir alles aus seinen Gedanken erzähle. Das wäre
nicht fair ihm gegenüber. Auf sein Geld-Problem hättest du
ja auch so kommen können und alles Andere soll er dir selbst
sagen, wenn er dazu bereit ist.«
Da hatte er natürlich recht. Ich wusste ja, dass er nicht viel Geld haben konnte. Das war mir schon klar, als wir damals ins Kino gegangen waren. Aber das spielte für mich doch noch nie eine Rolle und bisher hatte uns das doch auch nicht gestört. Warum denn jetzt auf einmal? Ich hoffte sehr, dass er sich mir irgendwann anvertrauen würde und offen mit mir darüber sprechen könnte. Dann wäre dieses blöde Problem zwischen uns sicherlich bald aus der Welt geschafft.
Als Dankeschön für das Gespräch gab ich meinen Eltern noch einen Kuss und ging dann hinaus in den Wald, um meine Verabredung mit Lennox einzuhalten.
Deutlich konnte ich spüren, dass ich mich darauf freute. Unser letztes Treffen war sehr schön gewesen und seine Nähe tat mir gut. Mir war schon klar, dass ich Gabriel damit unrecht tat, doch das machte er mit seinem Verhalten ja auch. O.K. das machte es jetzt auch nicht besser und ein Teil von mir wollte auch, dass ich Lennox wegen Gabriel nicht mehr sehen sollte, doch ein anderer Teil war damit ganz und gar nicht einverstanden. Dieser Teil mochte Lennox und war seit gestern noch stärker geworden.
Als ich dann endlich vor ihm
stand und er mich mit einem zärtlichen Kuss begrüßte,
zog sich der ablehnende Teil in mir schmollend zurück und
überließ dem anderen die Bühne. Es war wie immer sehr
schön und er erkundigte sich auch danach, wie es meinen Freund
ging und hörte aufmerksam zu, als ich ihm von meinen Problemen
berichtete. Lennox war wirklich ein guter Zuhörer und er gab mir
das Gefühl, dass ich immer zu ihm kommen könnte, um mir
mein Herz auszuschütten. Auch wenn das unnötig war, da ich
zu Hause mehr als genug Herzausschüttdeponien hatte, fand ich es
wirklich nett von ihm. Seine charmante Art und die gelegentlichen
zärtlichen Berührungen stimmten mich glücklich. Lennox
war einfach unkompliziert. Er wartete auf mich, freute sich, wenn ich
zu ihm kam und verbrachte eine paar schöne Stunden mit mir. Es
gefiel mir einfach gut, auch wenn es mich ein wenig irritierte, dass
er einerseits meine Beziehung zu Gabriel akzeptierte und mich
andererseits trotzdem so liebevoll Küssen wollte und konnte. Für
ihn schien das jedenfalls überhaupt kein Problem zu sein. Er
genoss den Augenblick und das übertrug sich auf mich.
Am nächsten Tag ging ich mit eher ungutem Gefühl in die Schule. Meine Träume in der Nacht waren mal wieder sehr verwirrend gewesen. Ich war mit Gabriel auf einem Einkaufsbummel und sah überall schöne Sachen, die ich ihm schenken könnte, doch er stand nur mit verschränkten Armen neben mir und schrie mich immer wieder an, dass ich das lassen sollte. Lennox war auch dort und meinte, dass ich ihm ja die Sachen kaufen könnte, wenn ich wollte und natürlich tauchte auch Jacob auf und sagte, dass man Liebe nicht kaufen könnte und dass mir das doch klar sein müsste. Selbstverständlich war es das, doch was hatte das denn mit Geschenken zu Weihnachten zu tun? Außerdem fuhr ich Jacob an, dass er mir schließlich noch nicht mal etwas zum Geburtstag geschenkt hätte und dass er ja wohl ganz ruhig sein sollte. Daraufhin verwandelte er sich wieder in einen Wolf und lief weg und ich stand da, schaute ihm verzweifelt und um Verzeihung flehend hinterher und war furchtbar traurig. Es schmerzte regelrecht in der Brust und darüber wachte ich schließlich auf und blickte sehnsuchtsvoll auf meine Wolfsfiguren. Der Freund meiner frühesten Kindheit fehlte mir einfach noch immer.
In der Schule dann fiel die Begrüßung von Gabriel sehr spartanisch aus. Ein halbes Lächeln, ein Küsschen auf die Wange, fertig. Seufzend musste ich einsehen, dass nicht nur ich Zeit brauchen würde, um für die nächste Stufe unserer Beziehung bereit zu sein.
Am Vormittag passierte nichts besonderes, außer, dass wir die erwartete Geographiearbeit nicht schrieben. Dieses Vergnügen wollte sich Mrs. MacLeish wohl noch für den letzten Schultag aufheben. So gingen wir alle etwas genervt in die Mittagspause.
Lissie und Gabriel saßen schon in der Mensa und unterhielten sich, als ich durch die Tür kam. Ihr Gespräch schien etwas angestrengt zu sein und ich stoppte instinktiv. Ich war so neugierig, worüber sie sprachen und hatte sofort ein schlechtes Gewissen, dass ich sie belauschen wollte. Durch die Geräuschkulisse war es nicht einfach, ihre Stimmen herauszuhören, doch ein paar deutliche Brocken konnte ich aufschnappen. Lissie meinte zu ihm, dass er sich nicht wie ein Arsch verhalten und mit mir reden sollte und er meinte nur, dass sie sich gefälligst da raus halten sollte und dass sie das nichts angehen würde.
Es gefiel mir ganz und gar nicht, dass sich meine beiden wichtigsten Freunde wegen mir stritten und so ging ich doch lieber schnell zu ihnen, um es zu beenden. Das Gespräch verstummte auch schlagartig, als sie mich bemerkten. Ich setzte mich wie immer zwischen die beiden und gab ihnen jeweils einen Kuss auf die Wange. Lissie schien sich darüber allerdings mehr zu freuen als Gabriel, der sich mürrisch daran machte, sein Schnitzel zu zerstückeln. Ich sah ihm aus dem Augenwinkel beim Essen zu und löffelte ab und zu etwas von meiner Gemüsesuppe.
Plötzlich hörte ich einen spitzen Aufschrei von Susi, gefolgt von einem »Igitt, Lissie, du blutest aus der Nase.«
Erschrocken blickte ich zu ihr und sah, wie ein Tropfen Blut sich von ihrer Nase löste und in ihrem Teller aufklatschte. Ein kurzer Moment der Panik ergriff mich und ich schaute zu meiner Familie, die angespannt zu mir sah. “Ganz ruhig bleiben, Nessie, ganz ruhig bleiben”, sagte ich im Gedanken zu mir selbst und stellte überrascht fest, dass es tatsächlich funktionierte. Ich roch ihr Blut, doch ich empfand es nicht als lecker. Es war genauso wenig anziehend, wie ihr Körpergeruch. Es war mir ein absolutes Rätsel, doch ich war dankbar dafür, dass ich keine Probleme damit hatte.
Lissie holte sich ein
Taschentuch heraus und hielt es sich an die Nase.
»Tut mir
leid«, sagte sie peinlich berührt und legte die Serviette
über das Essen, damit man die Bluttropfen nicht mehr sehen
konnte.
»Komm Lissie«, sprach ich sie an. »Wir
gehen vielleicht besser raus.«
Dann nahm ich sie schützend
in den Arm und wir verließen die Kantine.
Zielstrebig führte ich sie zur Mädchentoilette an das Waschbecken. Ich hatte mal darüber gelesen, dass man bei Nasenbluten den Kopf nicht in den Nacken legen, sondern sich nach vorne beugen sollte, damit das Blut nicht durch den Hals in den Magen läuft, was bei Menschen zu erbrechen führen kann. Deshalb brachte ich sie mit sanftem Druck in die richtige Position.
»Drücke oben mit
Daumen und Zeigefinger auf die Nasenwurzel, Lissie«, sagte ich
zu ihr und befeuchtete dabei ein paar Einweghandtücher, die ich
ihr in den Nacken legte.
»Hast du auch öfter
Nasenbluten?«, fragte sich mich mit sehr nasaler Stimme.
Ȁh..
Nein. Aber einen Arzt in der Familie. Da lernt man so einiges.«
»Ach
so.«
Wir standen ziemlich lange dort und ich beobachtete, wie ein Tropfen nach dem anderen in das Waschbecken fiel und eine rote Spur hinter sich her zog. Die meisten Mädchen, die herein kamen, drehten sich bei unserem Anblick angewidert um und suchten vermutlich lieber eine andere Toilette auf. Ich fand das sehr amüsant, denn eigentlich müsste ich es sein, die hier die Flucht ergriff, doch dem war nicht so. Ich hatte kein Problem damit und war sehr glücklich, Lissie helfen zu können.
Nach gut einer viertel Stunde
war die Blutung endlich gestoppt und sie wusch sich das Gesicht und
die Hände.
»Danke Nessie. Das war sehr lieb von
dir.«
»Für dich doch immer Lissie«, sagte
ich und streichelte ihr blasses Gesicht. »Magst du wieder
zurück und noch etwas essen?«
»Hm. Vielleicht
etwas trinken.«
»O.K.«
Wir gingen wieder zu unserem Tisch und setzten uns zu Susi, Paulina und Simon. Die Anderen waren schon weg und ich fragte mich, ob Gabriel wohl draußen auf mich warten würde. Paulina erkundigte sich gleich nach Lissies befinden und ich verabschiedete mich, um nach Gabriel zu sehen.
Ich lief zu unseren üblichen Plätzen, doch er war nicht da. “Wo ist er nur hin?”, fragte ich mich selbst. Enttäuscht ging ich zurück und sah Mom und Dad, die mir entgegen kamen.
»Er ist schon in euer Spanisch-Klassenzimmer gegangen und liest sich noch mal ein paar Seiten für die Klausur durch«, informierte mich Dad und sah mich mitfühlend dabei an. Ihm war natürlich klar, dass ich traurig war, doch dagegen konnte er nichts machen. Wenigstens hatte es einen guten Grund, dass er nicht hier bei mir war.
»Wie hast du das
geschafft, Nessie?«, wollte Mom wissen.
»Was
denn?«
»Na, dass du Lissie bei ihrem Nasenbluten
helfen konntest. Hattest du denn keinen Durst?«
Ich
schüttelte den Kopf.
»Ich verstehe das auch nicht, aber
ich finde sie nicht lecker. Keine Ahnung warum. Habt ihr denn etwas
gemerkt?«
»Nein, wir haben nicht wirklich etwas
gerochen, aber wir sitzen ja auch ziemlich weit weg und es war ja nur
sehr wenig Blut. Es wurde wohl auch von den vielen Essens- und
Körpergerüchen in der Mensa überdeckt. Bei uns kam
nicht viel an.«
»Na ja, ich bin jedenfalls froh, dass
ich eine Freundin habe, für die ich keine Gefahr bin«,
sagte ich lächelnd und da stimmten mir meine Eltern auch gerne
zu.
Die Spanischprüfung war sehr umfangreich und wir hatten die ganze Doppelstunde Zeit dafür. Wer fertig war, hatte dementsprechend Schulschluss, aber warum sollte ich denn alleine draußen herumstehen wollen? Ich blieb einfach sitzen und tat so, als ob ich meine Arbeit noch mal überprüfen würden und wiederholte dies ein paar mal. Dabei trank ich mein Wasser und wunderte mich selbst wieder darüber, wie viel anregender Gabriels Duft war. Er roch immer wahnsinnig lecker und seit ich auch wusste, wie sein Blut schmeckte, schien es mir sogar noch etwas stärker geworden zu sein. Als ich dann so vor mich hin träumte und mir dabei vorstellte, ihn beim Küssen versehentlich auf die Lippe zu beißen, brannte meine Kehle leicht auf. Ich wurde plötzlich sehr nervös und gab lieber doch gleich die Blätter ab und ging nach draußen, um in der frischen, kalten Luft tief durchzuatmen.
Gabriel kam erst kurz vor Ende der zweiten Stunde heraus, aber wenigstens lächelte er auf dem Weg zu mir.
»Ich muss mich bei dir
bedanken, Nessie. Du hast mir mit der Nachhilfe wirklich sehr
geholfen. Es ist richtig gut gelaufen.«
»Das habe ich
sehr gerne getan, Gabriel und ich würde es gerne auch weiterhin
tun, wenn du das noch willst.«
»Nessie …
natürlich will ich … es tut mir leid, dass ich dich
gestern angeschrien habe. Ich fühle mich richtig mies
deswegen.«
»Ach Gabriel, ich liebe dich doch. Es ist
schon O.K. für mich, wenn du willst, das wir uns nichts zu
Weihnachten schenken, auch wenn ich es nicht verstehe.«
»Ich
… kann dir das nicht erklären, Nessie. Ich mag
Weihnachten einfach nicht.«
»Dann lass’ uns
nicht mehr darüber reden. Ich möchte die letzte Schulwoche
mit dir nicht im Streit verbringen.«
Gabriel nahm mich endlich wieder in die Arme und küsste mich zärtlich. Ich hatte das ja so vermisst. So standen wir dann noch zusammen, bis er sich schließlich von mir trennen musste und mit dem Bus nach Hause fuhr. Mein Weg führte wieder mit Lissie zu ihr nach Hause. Sie fragte mich noch nach meiner Versöhnung mit Gabriel aus, doch da gab es zu ihrer Enttäuschung nicht viel zu erzählen. Außer, dass ich froh war, wieder umarmt und geküsst zu werden und darum beneidete sie mich offensichtlich sehr. Das Lernen fiel ihr wie immer schwer und wir mussten einfach häufig Pausen einlegen. Allmählich gewöhnte ich mich daran und nahm mir nur noch kleine Abschnitte vor, auf die wir dann immer kurze Unterbrechungen folgen ließen. Sie sah auch ziemlich blass aus und ich vermutete, dass das etwas mit dem Nasenbluten zu tun haben könnte. Ich fragte sie auch, ob sie das denn öfters hätte und sie meinte, dass es in letzter Zeit ein paar Mal passiert sei, dass ihre Mutter aber meinte, das hätte sicherlich etwas mit der Pubertät und dem Wachstum zu tun. Sie schien eigentlich unbesorgt zu sein und für mich klang das auch recht plausibel. Jedenfalls hatten wir bis zum frühen Abend unser Ziel weitestgehend erreicht und waren guter Dinge, dass sie die nächste Klausur halbwegs zufriedenstellend überstehen müsste.
Danach holte mich Jasper wieder ab und trieb erneut sein grausames Spiel mit mir. Diesmal war ich jedoch darauf vorbereitet und ließ mir vor Mrs. Miller nichts anmerken. Das war auch besser so, denn sie sah mir genau zu, als ob sie überprüfen wollte, ob vielleicht doch etwas nicht in Ordnung sei. Auch wenn ihr Misstrauen unangebracht und auch etwas ärgerlich war, so fand ich es doch auch rührend und schön, dass sie sich um mich sorgte. Das ermöglichte es mir sogar, ihr ein Lächeln zu schenken, bevor ich einstieg und mich meinen verkrampften Organen widmete.
Meine Reaktion auf Lissies Nasenbluten war natürlich das Gesprächsthema am Abend und besonders Carlisle fand das faszinierend. Er meinte, dass er sehr gerne einmal ihr Blut untersuchen würde, ob etwas besonderes daran wäre. Emmett schlug vor, dass ich Lissie ja um das blutige Taschentuch bitten könnte. Dafür erhielt er wieder eine menge Kopfschütteln und von Rose einen Ellenbogenstoß in die Rippen. Die Vorstellung, wie sie mich dabei wohl ansehen würde, fand ich aber schon witzig und ich konnte mir ein Schmunzeln nicht verkneifen.
Am Abend traf ich mich dann
wieder mit Lennox und erzählte auch ihm von dem Erlebnis. Er
schaute mich allerdings ziemlich ungläubig an, da er von so
etwas noch nie gehört hätte. Allerdings stimmte er zu, dass
es schon Menschen gab, die mehr oder weniger lecker rochen, dass er
sich darüber aber noch nie so richtig Gedanken gemacht hätte.
Dass ich mich mit Gabriel wieder versöhnt hatte, nahm er
interessiert zur Kenntnis, ließ sich aber dadurch nicht davon
abhalten, mir trotzdem einen liebevollen Abschiedskuss zu geben.
Vermutlich war das einfach seine Art und die faszinierte mich sehr.
Der Rest der Woche verlief ohne besondere Erlebnisse. Mit Gabriel lief es wieder fast normal, aber unsere Umarmungen und Küsse waren immer noch recht zurückhaltend und nicht so wie vor dem Unfall. Ob das jetzt an dem Unfall oder an Gabriels Problem mit dem Weihnachtsfest lag, konnte ich nicht sagen. Er sagte dazu einfach nichts und ich wollte weder nachbohren, noch Daddy danach fragen. Vielleicht war ja auch alles nach den Ferien wieder in Ordnung.
Am Mittwoch schrieben wir dann unsere Chemieklausur und Lissie war einigermaßen zufrieden und hoffte auf das angestrebte D. Am Freitag gab es noch die Geographieprüfung und damit war auch die letzte in diesem Trimester erledigt.
Bevor wir dann endgültig auseinander gingen, gab ich Lissie noch ein Weihnachtsgeschenk, das sie natürlich erst am 25. öffnen durfte. Sie sah mich sehr überrascht an und wollte es eigentlich nicht annehmen, weil sie doch nichts für mich hatte, doch ich versicherte ihr, dass es mir sehr am Herzen lag, dass sie es annehmen würde und dass ich keine Gegenleistung haben wollte. Ich hatte ihr eine Goldkette mit einem Anhänger gekauft, auf dessen Rückseite “für meine beste Freundin” eingraviert war. Ich hätte natürlich gerne ihr Gesicht gesehen, wenn sie es auspackt, aber ich war mir auch so ziemlich sicher, dass es ihr gefallen wird.
Jasper machte auch weiterhin täglich sein neues Training mit mir und es lief auch immer besser, wobei er die Intensität seiner Angstaura noch nicht verstärkt hatte. Bislang wollte er wohl nur erreichen, dass ich mich auf diesem Niveau sicher fühlte. Er machte das auch während des Kampftrainings, bei dem Mom mich mal wieder vor ihm schützen sollte. Das machte es gleich ungemein anstrengender für mich, da ich ja auch so alle Konzentration brauchte, um auf die beiden reagieren zu können und mich jetzt zusätzlich auch gegenüber der Angst behaupten musste. Leider schaffte es Jasper zwei mal Mom auszutricksen und ich war dann jedes Mal von einer verstärken Angstwelle wie gelähmt und danach sehr frustriert. Jazz meinte aber, dass ich gar nicht so schlecht gewesen wäre und dass er eher versehentlich seine Aura zu sehr verstärkt hatte, als er sich so auf Mom konzentrierte. Das beruhigte mich wieder etwas. Die anschließende Kuschelstunde mit meiner Momma war jedenfalls wieder wundervoll.
Ich traf mich auch jeden Abend mit Lennox und verbrachte viele schöne Stunden mit ihm. Er wusste inzwischen auch, dass ich über die Weihnachtsferien wegfliegen würde und informierte mich darüber, dass er sich schon zu beschäftigen wüsste und wünschte mir jedenfalls eine schöne Zeit. Am Samstag den 24. traf ich ihn dann zum letzten Mal für dieses Jahr und gab auch ihm ein Geschenk. Obwohl ich ihm gesagt hatte, dass er es erst morgen auspacken dürfte, machte er es doch gleich auf und betrachtete die dunkelrot-schwarz marmorierte Lederjacke, die ich ihm gekauft hatte. Er zog sie auch gleich an und ich war sehr erleichtert, dass sie ihm gut passte und ihm auch gefiel. Sie gefiel ihm sogar so gut, dass er mich spontan so intensiv wie noch nie küsste und ich vollkommen überwältigt von ihm war. Ein Wirrwarr von Gefühlen rotierte in mir und verwirrte mich total. Danach lächelte er mich wieder so faszinierend und charmant an und meinte nur, dass er einen kleinen Vorrat für die nächsten zwei Wochen gebraucht hätte und dass ich ihm deswegen hoffentlich nicht böse wäre. Das war ich auch nicht, denn ich konnte nicht mehr klar denken und wenn ich es gekonnt hätte, wäre ich es vermutlich trotzdem nicht gewesen. In dem Moment wollte ich nur eines, dass er mich noch mal so küsste und er tat mir den Gefallen.
Auf dem Heimweg dann versuchte
ich die aufgewühlten Gefühle wieder zu beruhigen und zu
sortieren. Mir wurde bewusst, dass ich für Lennox doch mehr
empfand als nur Freundschaft oder ein unbekanntes Verlangen, das mich
zu ihm hin zog. Wenn ich jetzt an ihn dachte, dann empfand ich
ähnlich, wie am Anfang für Gabriel. Hatte ich mich in
Lennox verliebt? Wenn ich an Gabriel dachte, dann hatte ich vor allem
Schuldgefühle, wegen des Unfalls und Sorge, wie es weitergehen
würde. Auch wenn diese Emotionen stärker waren, so war ich
mir meiner Sache doch nicht mehr sicher. Irgendwie musste ich
herausfinden, was ich wirklich für Lennox empfand, doch das
musste jetzt erst einmal zwei Wochen warten.
Am Abend des 24. brachte mir Lissie doch tatsächlich auch noch ein Geschenk vorbei. Es hatte ihr einfach keine Ruhe gelassen, dass sie von mir etwas bekam und ich nichts von ihr. Ihre Mutter, die sie gefahren hatte, meinte dazu, dass dieses Geschenk auch ein Dankeschön für den Nachhilfeunterricht wäre und wünschte uns allen noch ein schönes Weihnachtsfest, was wir natürlich erwiderten.
Weihnachtlich war bei uns nur ein Teil des Wohnzimmers geschmückt, wobei die Dekoration sehr dezent war und zum Stil des Hauses passte. Lediglich der gewaltige Tannenbaum, der wegen der hohen Decke im Vorraum stand, schien nicht so ganz hierher zu passen, doch Alice hatte mit Jaspers Hilfe die Familie dazu gebracht, dass sie diesen Wahnsinns Baum hier aufstellen durfte. Er sah ja auch wirklich schön aus, auch wenn der Kronleuchter dagegen wie ein zu groß geratene Weihnachtskugel wirkte.
Unter dem Baum waren diverse Geschenke gestapelt und auch ich hatte meine für die Familie dort platziert. Traditionell durfte ich ja ein Geschenk gleich öffnen und entschied mich ohne zu zögern sofort für Lissies Geschenk. Als ich das große Paket öffnete, kam eine todschicke Winterjacke zum Vorschein und selbst Alice und Rosalie waren begeistert von dem Modegeschmack der Millers.
Wir verbrachten dann noch einen
schönen Abend zusammen, bis mich die Müdigkeit eingeholt
hatte und ich zu Bett ging. Dort streichelte ich noch mal seufzend
über Gabriels Geburtstagsgeschenk und dachte noch ein wenig über
die vergangenen Monate nach, die ich nun hier verbracht hatte. Morgen
würden wir gegen Nachmittag wegfliegen und erst im neuen Jahr
wieder zurückkehren. Am meisten freute ich mich aber darauf,
bald die Amazonen wieder zu sehen.
Am nächsten Morgen versammelte sich die Familie um den Baum und dann ging die Bescherung auch schon los. Überall wurden Päckchen aufgerissen, dankbare Blicke ausgetauscht und hier und da Küsschen gegeben. Wie meistens waren es überwiegend Kleidungsstücke und Schuhe, dekorative Gegenstände, Bilder und natürlich Schmuck und Accessoires, die verschenkt wurden. Obwohl die Stimmung sehr festlich war, so war sie doch nicht so besinnlich, wie in den letzten Jahren. Ob das an der neuen Heimat lag? Nein, vermutlich lag es einfach daran, dass wir all schon in Kürze in die Ferien aufbrechen würden. Alice, Jasper, Rosalie und Emmett hatten vereinbart, dass sie nach Afrika auf eine spezielle Safari gehen würden. Auch wenn es dort keine Bären gab, würde sich Emmett schon eine andere Entschädigung für die karge Kost hier in Schottland gönnen. Esme und Carlisle wollten nach Alaska und die Denalis besuchen und vorher noch einen Abstecher beim irischen Zirkel machen. Wir wollten erst nach Forks fliegen, um Opa einen Besuch abzustatten und zwei Tage später nach Südamerika zu Kachiri, Senna und Zafrina.
Für meinen Opa hatte ich auch schon ein besonderes Geschenk. Ich wollte ihm das Bild schenken, das ich seit meiner Ankunft hier malte und Mom fand das eine super Idee. Für die Amazonen wusste ich jedoch beim besten Willen nicht, was denen gefallen könnte, beziehungsweise, was sie brauchen könnten. Abgesehen davon feierten sie ja auch kein Weihnachten und so war das ohnehin unsinnig. Wir würden einfach ein paar schöne Tage miteinander verbringen und auf die freute ich mich wahnsinnig.
Gegen Mittag schnappten wir uns die gepackten großen Rucksäcke, denn die würden im Amazonas sehr viel praktischer sein als Koffer und fuhren dann zum Flughafen. Wir verabschiedeten uns von unserer Familie mit zahlreichen Umarmungen und Küssen und checkten schließlich ein. Der Flug mit zwei Zwischenstopps verlief völlig problemlos und dauerte über 20 Stunden, wobei ich die letzten zehn Stunden geschlafen oder vor mich hin gedöst hatte. Es war diesmal viel angenehmer als bei unserem letzten Flug. Die Zwischenstopps nutzte ich dazu, mir etwas die Beine zu vertreten und das tat mir sehr gut.
Es war etwa sechs Uhr morgens Ortszeit, als wir ankamen und noch vor Sonnenaufgang, wobei wir bei der dicken Wolkendecke ohnehin nicht viel von der Sonne zu befürchten hatten. Daddy grinste vergnügt vor sich hin, was aber vermutlich daran lag, dass er hier als offiziell 16-jähriger Auto fahren durfte und natürlich hatte er sich speziell dafür einen Führerschein besorgt. Etwas übertrieben, wie ich fand, nur um einen Tag lang wieder Auto fahren zu dürfen, aber wenn es ihn so glücklich machte, warum nicht? Mom freute sich schließlich auch mit ihm und wir alle waren so unglaublich guter Stimmung, dass der Urlaub einfach toll werden musste.
Wir besorgten uns einen Mietwagen und fuhren zu meinem Opa. Die vertraute Landschaft weckte in mir so ein intensives Nachhausekommen-Gefühl. Vor allem den Schnee hatte ich vermisst und ich bestand darauf, dass wir gleich einen kurzen Abstecher in den Olympic National Park machten. Erstens, weil ich mich ein wenig im Schnee wälzen wollte und zweitens, weil ich Hunger hatte und nur ein Wapiti mich jetzt satt machen könnte. Dem Argument hatten sie natürlich nichts entgegenzusetzen und abgesehen davon, hatte sie auch Jagdglück und erwischten zwei Pumas. Der Urlaub wurde besser und besser.
Gegen Mittag kamen wir dann in Forks an und es folgte eine herzliche Begrüßung durch Opa und Sue.
»Da sind ja meine Mädchen«, meinte er freudestrahlend und breitete seine Arme aus.
Mom drängelte sich rücksichtslos vor und beanspruchte ihren Dad zuerst. Ich ließ sie gewähren. Zunächst jedenfalls. Ich musste aber nicht lange warten, denn auch Opa wollte mich endlich auch an sich drücken. Es war schön, diesen vertrauten Geruch wieder aufzunehmen und seine Nähe zu spüren. Meine Brust füllte sich mit Glück und nach der Begrüßung grinste ich einfach vor mich hin, weil ich sowieso nicht anders konnte und auch nicht anders wollte.
»Schön, dich wieder
zu sehen, Edward.«
»Die Freude ist ganz auf meiner
Seite, Charlie.«
Dann umarmten auch sie sich kurz.
Auch Sue begrüßte uns mit kurzen Umarmungen und dann gingen wir hinein. Wir erzählten uns stundenlang, was in der Zwischenzeit allen passiert war. Opa berichtete meiner Mom noch, dass es in Forks letzten Monat einen kleinen Skandal gegeben hätte, da Jessica Stanley von Mike Newton schwanger wäre und er sie nicht heiraten wollte. Mom und Dad nahm das amüsiert und kopfschüttelnd zur Kenntnis.
Ich erzählte Opa von meiner Schule und auch davon, dass ich Freunde gefunden hatte, dass wir in einem fantastischen Haus lebten und dass die Landschaft wunderschön sei. Allerdings auch, dass ich den Schnee vermisste, wobei er nicht ganz nachvollziehen konnte, wie man das weiße Zeug überhaupt vermissen konnte. Da ich das Thema “Landschaft” gerade angesprochen hatte, überreichte ich ihm auch gleich sein Weihnachtsgeschenk. Er betrachtete es ungläubig und konnte kaum fassen, dass ich es selbst gemalt hatte. Sofort holte er sich Hammer und Nagel und suchte einen Platz im Wohnzimmer, wo er es immer sehen konnte und hängte es gleich auf.
Es gab allerdings noch etwas,
das ich unbedingt wissen wollte und ich fragte einfach danach.
»Opa?
Weißt du, wie es Jacob geht?«
Er und Sue wechselten
ein paar Blicke, bevor er mir antwortete.
»Ja, mein Engel.
Soweit ich weiß, geht es ihm recht gut, aber ich sehe ihn
kaum.«
Fragend schaute ich Sue an, ob sie mir vielleicht mehr verraten würde. Sie zögerte erst, doch dann sagte auch sie etwas dazu.
»Nun ja, er und Seth sind
oft zusammen unterwegs, wenn er Zeit hat.«
»Weiß
er, dass wir hier sind?«
Sie schluckte und sah etwas nervös
aus.
»Ja, schon, aber du weißt doch, dass er …
nicht kommen darf, oder?«
»Natürlich weiß
ich das. Ich war nur neugierig. Wie geht es ihm denn so?«
»Er
arbeitet in einer Werkstatt in Port Angeles und lebt ansonsten noch
bei seinem Vater.«
»Hat er … eine
Freundin?«
Erneut schluckte sie und sah noch nervöser
aus.
»Das weiß ich nicht mit Sicherheit, aber ich
glaube nicht.«
Merkwürdigerweise war ich erleichtert und traurig zu gleich, denn eigentlich tat es mir leid und war mir auch unbegreiflich, wie so ein toller Junge ohne Freundin sein konnte. Warum ich dabei auch Erleichterung verspürte, konnte ich nicht wirklich verstehen und fand es auch sehr irritierend. Irgendwie waren mir meine Gefühle mal wieder ein Rätsel.
Unter dem Vorwand, mir ein
bisschen die Beine vertreten und den Schnee genießen zu wollen,
ging ich nach draußen und lief etwas herum. Tatsächlich
ging es mir eigentlich darum, vielleicht einen Blick auf zwei
Wolfsaugen erhaschen zu können, die mich womöglich aus
größerer Entfernung beobachten würden. Jedoch
entdeckte ich keine, obwohl ich immer wieder den Waldrand danach
absuchte. Andererseits musste das ja auch nicht bedeuten, dass er
nicht da war, denn ich hatte das merkwürdige Gefühl, dass
er in meiner Nähe war. Wahrscheinlich war es aber nur
Einbildung, weil wir gerade von ihm gesprochen hatten und er in
meinen Gedanken war.
Wir saßen dann noch bis spät in der Nacht zusammen, bis ich mich gegen die Müdigkeit einfach nicht mehr wehren konnte. Dann fuhren wir zu unserem altes Zuhause und gingen in unser kleines Häuschen. Es war alles noch so, wie wir es zurückgelassen hatten. Wir zogen vorsichtig ein paar Bettlaken weg, um den Staub nicht zu sehr aufzuwirbeln und Daddy machte ein Feuer im Kamin. Ich kam mit der Kälte zwar gut klar, aber es war wahrhaftig saukalt in diesem Haus und das Feuer tat mir gut. Mom bestand darauf, dass ich bei ihnen ihm Bett schlafen sollte, weil es in meinem alten Zimmer keinen Ofen gab und es dort viel zu kalt war und es zu lange dauern würde, biss das Feuer im Kamin das ganze Haus erwärmt hätte. Ich fügte mich ihrer Anweisung, denn ich war viel zu müde, um mit ihr zu diskutieren und außerdem war es mir auch sehr recht. Ich schenkte meinen Eltern noch mit einer letzten Kraftanstrengung eine Übertragung des heutigen Tages, was sie beide wahnsinnig freute, weil ich das schon so lange nicht mehr gemacht hatte. Danach fiel ich sehr schnell in einen tiefen Schlaf.
Ich träumte in der Nacht von Jacob und nur von Jacob. Es war komisch, aber ich war mir dessen bewusst, dass es ein Traum war. Ich ging mit Jacob durch die Winterlandschaft und fühlte mich so richtig zuhause. Ich erzählte ihm alles aus meinem Leben der letzten vier Monate und er hörte interessiert zu. Wir gingen Hand in Hand spazieren und es war wunderschön. Dann verwandelte er sich in einen Wolf und ich kletterte auf seinen Rücken, wie ich es als kleines Mädchen immer gerne getan hatte und ritt auf ihm schneller und schneller. Es war ein so befreiendes und schönes Gefühl, dass ich wünschte, der Traum würde ewig weitergehen. Dann, nach einem langen ritt, verwandelte sich Jacob zurück und stand dicht vor mir. Er sagte nur »Jeder Traum muss irgendwann enden«, gab mir einen Kuss auf die Stirn und ich wachte auf.
Ich blinzelte, um mich zu orientieren und erkannte, dass es schon später am Morgen sein musste, denn es war trotz Wolkendecke schon recht hell.
»Hast du gut geschlafen,
Sternchen?«
»Ja Mom. Sehr gut und interessant
geträumt.«
»Interessant?«, fragte Dad.
»Ja,
es war … anders. Ich habe von Jacob geträumt und es war
wie früher. Durch den Wald laufen und auf ihm reiten und so,
doch ich wusste immer, dass es nur ein Traum war.«
»Das
ist wirklich interessant.«
»Wollt ihr ihn sehen?«
»Du
willst uns deinen Traum zeigen?«, meinte Mom überrascht.
»Ja, sehr gerne.«
Ich zeigte ihnen den Traum und beide lächelten mich an, denn sie fühlten dadurch wie ich das Glück und die Zufriedenheit.
»Ein wirklich schöner Traum, Liebling. Danke, dass du ihn uns gezeigt hast.«
Wir umarmten uns gegenseitig und dann standen wir auf, versetzten das Haus wieder in den vorherigen Zustand und machten uns wieder auf den Weg zu Opa. Gegen Nachmittag würden wir weiterfliegen und vorher wollten wir noch ein paar Stunden mit ihm verbringen.
Der Abschied fiel uns dieses Mal
nicht so schwer, wie damals, als wir nach Schottland aufgebrochen
waren. Ich konnte nicht sagen, warum es so war. Vielleicht, weil auch
dieser Besuch einfach wie ein schöner Traum endete und man
aufwachte und sich auf den Tag freute. So verabschiedeten wir uns
ohne Tränen und fuhren wieder zum Flughafen.
Der nächste Flug dauerte wieder über 20 Stunden und hatte erneut zwei Zwischenstopps, die ich zum Beine vertreten nutzte. Durch die Zeitverschiebung kamen wir ebenfalls gegen Nachmittag in Manaus an. Dort hatte es schwüle 30 Grad und es regnete, wie es sich für einen Regenwald gehörte. Es war wirklich extrem, vom verschneiten Forks in das immerheiße Manaus zu reisen. Noch im Flugzeug zogen wir uns Sommerkleidung an und ich war richtig glücklich, endlich mal wieder Rock, T-Shirt und Sneakers zu tragen.
Dad besorgte sich einen Jeep und wir fuhren los. Wir wollten mit dem Auto natürlich nicht bis tief in den Amazonas hinein fahren, sondern nur soweit, bis wir unentdeckt zu Fuß weiterreisen konnten, da wir so viel schneller waren. An einer guten Stelle versteckten wir den Geländewagen, schnappten uns die Rucksäcke und rannten immer tiefer in den Urwald hinein.
Wie mein Daddy sich hier orientieren konnte, war mir echt unbegreiflich. Ich sah nur Bäume und Büsche und zahlreiche Tiere, von denen ich noch nie gehörte hatte. Gut, an vieles konnte ich mich noch von meinem letzten Besuch hier erinnern, denn das war ja erst gut zwei Jahre her, doch ich war wieder wie damals vollkommen überwältigt von der atemberaubenden Schönheit der wilden Natur des Urwalds.
Nach etwa fünf Stunden, die Nacht war schon über uns hereingebrochen, entdeckten wir drei rote Augenpaar in der Dunkelheit. Wir waren an unserem Ziel und begrüßten ausgiebig unsere Freundinnen, die Amazonen.
Zafrina war geradezu außer sich vor Freude und es war so schön, sie wieder zu sehen.
Leider war ich schon ziemlich
müde von der doch recht anstrengenden Wanderschaft oder besser
gesagten, dem Querfeldeinmarathon in Vampirgeschwindigkeit. Daher
führte sie mich schon bald zu dem Schlafplatz, den sie für
mich gemacht hatte. Dazu hatte sie in den Bäumen mehrere Äste
zusammengebunden und eine Art Wiege daraus gebastelt. Das Ganze hatte
sie mit Moos und anderen weichen Pflanzen ausgelegt und mit einem
dichten Blätterdach versehen, so dass es vollkommen geschützt
vom Regen war. Dort legte ich mich hinein und ließ mich vom
leichten Wind in den Schlaf wiegen.
Der nächste Morgen war der Beginn einer tollen Woche in Brasilien. Zafrina zeigte mir immer wieder verschiedene Illusionen und ich ihr viele meiner Erinnerungen. Wir hatten unglaublichen Spaß zusammen. Wir liefen jeden Tag in eine andere Region ihres geliebten Regenwaldes und ich war mehr als einmal beeindruckt von dessen Schönheit. Sie zeigte mir riesige uralte Bäume, Wasserfälle, Ruinen längst vergangener Zivilisationen und eine Vielzahl der hier lebenden Tiere. Natürlich bestand sie auch darauf, dass ich das eine oder andere auch mal “probierte”. So jagte ich einen Ameisenbär, der wirklich gar nichts mit einem Bären zu tun hatte, weder vom Aussehen, noch vom Geschmack, der eher unangenehm war. Dann noch einen Tapir, was schon eher akzeptabel war und auch einen Alligator, der auch einen sehr merkwürdigen Geschmack hatte. Scherzhaft meinte ich, dass es nach Damenhandtasche schmecken würde, doch das verstand Zafrina leider nicht. Was hingegen schon mehr meinen Gaumen erfreute, war der Sumpfhirsch, der allerdings auch nicht wie das gewöhnliches Rotwild schmeckte.
Für Mom und Dad gab es hingegen besonders leckere Beute. Hier gab es Jaguare und schwarze Panther und beides wollten sie unbedingt probieren. So verschwand sie manchmal den ganzen Tag auf die Jagd, was mich allerdings nicht weiter störte, denn schließlich war das auch ihr Urlaub und ich wurde bestens von den drei Amazonen unterhalten.
Es gab allerdings auch ein unschönes Erlebnis. Zafrina führte mich zu einer Stelle, an der die Menschen den Regenwald abholzten und ich konnte ihr deutlich ansehen, wie sehr sie darunter litt. Schon von weitem konnte ich die Kettensägen hören und die Motoren schwerer Maschinen. Der Anblick des kilometerlangen zerstörten Regenwalds war auch für mich sehr unangenehm. Vor allem, als sie mir dann noch die Illusion davon schickte, wie es hier nur fünf Jahre vorher ausgesehen hatte. Das einzig Gute daran wäre, meinte sie mit bitterer Ironie, dass sie sich so wenigstens keine Gedanken machen müssten, wo sie und ihre Schwestern die nächste Mahlzeit herbekommen sollten. Ein Thema, auf das ich lieber nicht näher eingehen wollte.
Kurz vor Ende unseres Urlaubs besuchten uns auch noch Huilen und Nahuel. Es war Kachiris Idee gewesen, sie einzuladen und ich freute mich sehr, die beiden wieder zu sehen, denn schließlich hatten wir ihnen viel zu verdanken, da sie uns damals so eine große Hilfe gewesen waren. Dementsprechend herzlich begrüßte sie auch Daddy, wobei Mom eher zurückhaltend wirkte, aber das war nun auch nicht wirklich ungewöhnlich für sie.
Ich unterhielt mich auch länger
mit Nahuel, denn ich war sehr neugierig darauf, mich mit einem
anderen Halbvampir zu unterhalten. Allerdings war mir das auch ein
wenig unangenehm, denn er war schließlich der einzige männliche
Halbvampir, von dem wir wussten und die weiblichen waren alles seine
Halbschwestern. Als ich mich dann gedanklich mit einem Pandabär
Weibchen verglich, dass zur Arterhaltung mit einem Männchen in
ein Gehege zusammengesperrt wurde, musste ich urplötzlich laut
auflachen, was er sehr irritiert zur Kenntnis nahm. Ich versuchte es
ihm zu erklären, aber er verstand meinen Humor wohl nicht.
Abgesehen davon hatten wir auch so keinen wirklichen Draht
zueinander. Wir lebten in völlig verschiedenen Welten und alles
andere als eine lose Freundschaft war undenkbar.
Nach gut einer Woche, die viel zu schnell vorbeigegangen war, wurde es für uns Zeit, uns wieder zu verabschieden. Diesmal konnte ich ein paar Tränen nicht zurückhalten und ich musste Zafrina versprechen, sie spätestens in ein paar Jahren wieder zu besuchen. Ein Versprechen, das ich definitiv einhalten wollte. Dann liefen wir wieder stundenlang durch den wunderschönen Amazonas. Dad, der wohl den Orientierungssinn einer Brieftaube haben musste, fand zielsicher wieder unser Auto. Lediglich eine Boa hatte sich dort zwischenzeitlich vorübergehend häuslich niedergelassen, was ziemlich dumm von ihr war, denn ich hatte noch nie Boa gekostet. Der Versuchung konnte ich nicht widerstehen und sie schmeckte besser, als ich gedacht hatte.
Der Heimflug dauerte erneut über 20 Stunden, was irgendwie witzig war, da wir praktisch in einem großen, fast gleichseitigen Dreieck geflogen waren. Auch diesmal hatten wir zwei Zwischenstopps die ich wie gewohnt nutzte, um meinem Bewegungsdrang nachzugeben. Schließlich kamen wir am Abend des 6. Januars wieder in Glasgow an. Ein Samstag und am Montag würde die Schule wieder beginnen. Carlisle und Esme waren auch schon zu Hause und holten uns am Flughafen ab. Die anderen vier würden etwas später zurückkehren, aber Jasper hatte ja seinen Wagen am Flughafen untergebracht und so brauchten sie keinen Chauffeur.
Auf der Heimfahrt dachte ich noch an den tollen Urlaub zurück, freute mich aber auch auf das Wiedersehen mit meinen Freunden. Ich zeigte dann noch Carlisle und Esme ein paar der schönsten Urlaubserinnerungen, was sie beide sehr freute und ging dann zeitig zu Bett. Diesmal hatte ich die ganze Reiserei ziemlich gut ohne Jetlag hinbekommen, was mich sehr erleichterte.
In meinem Zimmer streichelte ich
noch meine Wolfsfiguren und erinnerte mich dabei an den schönen
Traum mit Jacob. Gerne hätte ich einfach eine der Figuren mit
ins Bett genommen, doch die Gefahr, dass sie dabei kaputtgehen
könnte, war mir viel zu groß. Da ließ ich sie lieber
sicher auf der Kommode stehen und nahm sie nur im Gedanken mit. Auch
eine gute Lösung, um schnell einschlafen zu können.
Am nächsten Morgen hörte ich schon die ganze Familie, die sich im Wohnzimmer recht laut unterhielt. Insbesondere Emmetts brummiges Lachen drang unaufhaltsam in mein Zimmer. Ich machte mich schnell fertig und lief hinunter um alle zu begrüßen. Emmett strahlte über das ganze Gesicht. Es musste wohl ein sehr leckerer Urlaub für ihn gewesen sein.
»Da ist ja meine süße
Kleine«, meinte er und kam auf mich zu und schloss mich mit
seinen gewaltigen Pranken in die Arme.
»Ahrg! Emmett. Gleich
bin ich deine süße Zermatschte.«
Oh wie sehr
liebte ich doch sein Lachen, das einem kleinen Erdbeben gleich alles
zum vibrieren brachte.
»Wie war dein Urlaub, Süße?«,
wollte er wissen.
»Klasse, auch wenn der einzige Bär
auf der Speisekarte ein Ameisenbär war.«
»Echt?
Wie schmeckt der denn?«
»Nicht gut, hier probier'
mal.«
Ich schickte ihm einen Übertragung mit allem was
dazu gehörte, Aussehen, Geruch, Geschmack.
»Igitt,
macht das weg«, sagte er und schüttelte sich und mich
gleich mit.
»He, ich bin doch kein Milchshake.«
»Ach
Nessie, wenn ich etwas vermisst habe in Afrika, dann dich«,
sagte er und gab mir einen dicken Kuss auf die Wange.
Er musste mich tatsächlich sehr vermisst haben, denn er küsste mich eher selten. Das gehörte nicht unbedingt zu seiner bevorzugten Art seine Zuneigung zu zeigen. Dann schon eher das wie ein Milchshake Durchgeschüttelt werden.«
Auch die Anderen begrüßten mich freudig und dann lauschte ich eine ganze Weile ihren Erzählungen, die sich allerdings hauptsächlich darum drehten, was Emmett so alles angestellt hatte. So ist er auf eine Giraffe geklettert, um ihr oben in den Hals beißen zu können, hat sich mit Krokodilen und Nilpferden Unterwasserkämpfe geliefert, Geparden in vollem Tempo über die Savanne gejagt und sich zu guter Letzt auch noch einem heranstürmenden Nashorn in den Weg gestellt. Zu seiner großen Überraschung hat ihn das Ungetüm 50 Meter weit weggeschleudert und Rosalie meinte, er wäre dann wieder zu dem Nashorn gerannt und hätte wie ein kleines Kind »noch mal, noch mal«, gerufen.
»Nashorn schmeckt klasse«,
meinte er noch dazu.
Offensichtlich hatten sie einen Riesenspaß
gehabt, doch den hatten wir ja auch. Es waren für uns alle tolle
Ferien gewesen.
Danach machte ich mich noch auf den Weg zu meiner Lichtung. Ich hatte zwar keine Verabredung mit Lennox, aber ich war neugierig, ob er auch wieder da war. Allerdings war er das leider nicht und so ging ich wieder zurück.
Zuhause rief ich dann Lissie an, die mich wegen meines Geschenkes sofort für verrückt erklärte, bevor ich sie überhaupt richtig begrüßt hatte. Allerdings tat sie das auf eine sehr nette Art, so dass ich mit gutem Gefühl davon ausging, dass es ihr wohl gefallen hatte und natürlich bestätigte ich ihr sofort, dass die Winterjacke auch ein super Geschenk war. Ich erzählte ihr dann noch von meiner Urlaubsreise, was sie mit Ausdrücken wie “cool”, “Wahnsinn” und “geil” kommentierte. So wortkarg war sie sonst eigentlich nicht, wenn wir telefonierten. Sie musste wohl wirklich sehr beeindruckt sein.
Ich rief danach auch Gabriel an, doch das Gespräch mit ihm war schwieriger. Er schien sich zwar darüber zu freuen, dass ich wieder da war und fragte mich auch, ob ich einen schönen Urlaub hatte, an meinen Erzählungen schien er aber nicht sonderlich interessiert zu sein. Somit dauerte das Gespräch nicht wirklich lange, da er auch nicht viel zu erzählen hatte oder es mir einfach nicht mitteilen wollte. Nun ja, telefonieren war ja ohnehin nicht seine Lieblingsbeschäftigung.
Wirklich unschön war an diesem Sonntag eigentlich nur, dass ich dann noch meine Periode bekommen hatte, die aber wenigstens nicht so schlimme Bauchschmerzen auslöste wie sonst. Im Grunde ging es mir recht gut damit und sie war auch nicht sonderlich stark. Also nichts, das meinen morgigen Schulbesuch zu gefährden schien. Wie üblich gab ich auch Carlisle Bescheid, da er darüber ja immer informiert werden wollte. Knapp zwei Monate war das letzte Mal her, wie er zufrieden feststellte. Mein körperliche Entwicklung verzögerte sich also weiterhin.
Trotz der von mir ausgehenden leichten Geruchsbelästigung wollte Emmett mit mir Musik machen. Er war einfach super gut gelaunt und verströmte so eine positive Stimmung, dass auch Jasper häufig lachte, was bei Emmetts Scherzen sonst nicht so häufig der Fall war. Ich machte auch wieder ein Kampftraining mit Jasper, wobei Mom sich diesmal nicht beteiligen wollte. Für mich war das O.K., denn ich hatte einfach Lust zu trainieren und so brachte mir Jazz eben neue Kampftechniken bei. Natürlich muss ich die dann auch unter seiner Angstaura durchführen, was sehr anstrengend war, mir aber trotzdem recht gut gelang, weshalb ich erneut ein Lob von ihm erhielt. Außerdem fühlte ich mich richtig fit, nachdem ich letzte Woche mit den Amazonen jeden Tag stundenlang durch die Gegend gerannt war. Die meisten Übungen fielen mir heute irgendwie leichter als sonst und ich rannte danach noch zwei Stunden durch den Wald.
Gegen Abend war wieder
hauptsächlich Spaßhaben angesagt und so ging ich erst
recht spät aber dafür unheimlich gut gelaunt ins Bett.
Am nächsten Morgen erwachte ich mit einem leichten Ziehen im Unterleib, aber zu meiner großen Erleichterung war es erträglich und nicht schlimmer als gestern. Damit konnte man leben und ich freute mich ja auch auf das Wiedersehen mit meinen Freunden in der Schule. Mir fiel allerdings selbst auf, dass ich mich am meisten auf Lissie freute. Das Telefonat mit Gabriel hatte mir das Gefühl gegeben, dass zwischen uns noch lange nicht wieder alles so war, wie es eigentlich sein sollte und ich war etwas besorgt deswegen. Ich erzählte auch Mom davon, weil sie mich gefragte hatte, warum ich so bedrückt aussehen würde. Danach nahm sie mich tröstend in den Arm, hatte aber nicht wirklich eine gute Antwort für mich. Irgendwie hatte ich das Gefühl, dass sie meine Besorgnis teilte und das verunsicherte mich noch mehr. Dann verhielt sich Rosalie auch noch ähnlich und Dads Gesicht wirkte auch nicht gerade zuversichtlich bei dem, was er in ihren Gedanken gehört hatte. Außerdem wusste er ja ohnehin mehr als ich darüber, was in Gabriel vorging. Das war alles wenig aufbauend.
Als wir in der Schule ankamen
waren meine Freunde schon alle da. Lissie kam mir gleich
entgegengelaufen und fiel mir um den Hals, sagte mir, wie sehr sie
mich vermisst hatte und drückte mich fest. Gabriel gab mir zur
Begrüßung einen kurzen Kuss, aber den wenigstens auf den
Mund. War das jetzt ein gutes Zeichen? Er wirkte noch immer etwas
verkrampft und nicht so glücklich wie früher. Weihnachten
konnte also doch nicht alleine Schuld daran gewesen sein. Ich fragte
ihn noch, wie es denn seiner Schulter ginge und er meinte nur, dass
sie wieder O.K. wäre. Dann gingen wir auch schon zügig in
das Schulgebäude.
Der Unterricht am Vormittag war hauptsächlich davon geprägt, dass uns die Schwerpunkte für dieses Trimester vorgestellt wurden und dann fingen wir auch gleich damit an. Außerdem erhielten wir ein paar korrigierte Arbeiten zurück. In Mathe und Geschichte war Lissie glücklich, obwohl es ihr auch peinlich war, denn das waren die beiden Klausuren gewesen, in denen ich ihr mit einer Übertragung geholfen hatte. Dementsprechend gut waren ihre Noten.
In der Mittagspause unterhielten sich fast alle am Tisch über die Geschenke, die sie zu Weihnachten bekommen hatten. Nur Gabriel beteiligte sich nicht daran und stopfte sich lieber den Mund mit Essen voll. Ich hätte am liebsten das Thema gewechselt, doch es wollte mir einfach nicht gelingen. Dann entdeckte Susi zu allem Überfluss auch noch Lissies Goldkette und sah sie bewundernd an.
»Wow, Lissie. Das ist ja
eine tolle Kette. Darf ich die mal sehen?«
»Klar«,
sagte sie grinsend, beugte sich nach vorne und holte den Anhänger
aus ihrer Bluse heraus.
Susi nahm ihn vorsichtig in die Hand und sah sich die Kette genauer an.
»Die muss ja ein Vermögen
gekostet haben«, sagte sie und drehte den Anhänger dabei
um und las die Gravur.
»Hast du ihr die geschenkt?«,
fragte sie mich ungläubig.
Lissie grinste dabei über das
ganze Gesicht und ich nickte nur. Irgendwie war mir das
unangenehm.
»Wahnsinn«, meinte Susi. »Meine
Eltern würden mir nie erlauben, einer Freundin so etwas Teures
zu schenken.«
Sie klang etwas neidisch und ich bekam ein richtig schlechtes Gefühl dabei. Hatte sie vielleicht auch ein Geschenk von mir erwartet?
Ȁhm, Susi. Du bist
mir doch nicht böse, weil ich Lissie etwas geschenkt habe,
oder?«
»Was? Ne, quatsch. Das ist doch nur nicht
üblich. Ich war einfach überrascht und zugegeben etwas
neidisch, weil dir deine Eltern so etwas erlauben.«
Dann
schaute sie zu Gabriel und meinte: »Was hast du denn von Nessie
bekommen?«
Gabriel sah sie finster an und
dann stand er auf und ging einfach weg. Ich sprang sofort auf und
eilte ihm nach.
»Was hat er denn?«, hörte ich
hinter mir noch Susi fragen.
»Gabriel, bitte warte«, rief ich ihm hinterher, doch er hörte nicht und ging einfach weiter.
Ich folgte ihm nach draußen und er ging zu einem der abgelegenen Plätze die wir auch sonst gerne aufsuchten, obwohl das heute alles andere als schön war.
»Gabriel, was ist denn?
Sag’ es mir doch bitte.«
»Ach, das verstehst du
eh nicht«, gab er schnaubend von sich.
»Dann erkläre
es mir. Ich möchte dich verstehen«, bat ich ihn
inständig.
»Wie solltest du denn verstehen können,
wie es ist, wenn man kein Geld hat, hä? Glaubst du, ich laufe
gerne mit der Schuluniform von letztem Jahr herum, die mir inzwischen
eigentlich zu klein ist? Glaubst du, es hat mir gefallen, dass ich
dir zum Geburtstag nur billigen Schrott schenken konnte?«
»Aber
Gabriel, dein Geschenk hatte mir gefallen und abgesehen davon, musst
du mir doch nichts schenken.«
»Du kapierst es einfach
nicht. Weißt du, wie Kevin mich gerne nennt? Aschenblödel!
Er macht sich lustig über mich und sagt das, was die halbe
Schule denkt. Dass ich ein armer Schlucker bin, der sich zum Narren
macht und nur wegen dem Geld mit dir zusammen sein will.«
»Aber
das ist doch Blödsinn, oder?«
»Oder? Hast du
tatsächlich eben “oder” gesagt? Glaubst du es auch,
oder was?«
Gabriel klang furchtbar aggressiv und ich wurde
immer nervöser.
»Nein, natürlich nicht. Wieso
sagst du das?«, antwortete ich verunsichert.
»Warum
warst du denn so versessen darauf, mir etwas zu schenken? Was
wolltest du mir denn schenken?«
»Wenn du es nicht
willst, wieso ist es dann wichtig, was ich für dich gekauft
habe?«
»Was du gekauft hast? Du hast echt ein Geschenk
für mich gekauft, obwohl ich sagte, dass ich nichts will?«
»Ich
hatte es schon vorher gekauft. Woher sollte ich denn wissen…«
»Was!
Sag’ es mir. Was hast du gekauft.«
»Gabriel
bitte.«
»Ich will es wissen, Nessie. Was ist es.«
»Ein
Fahrrad.«
»Ein Fahrrad?«
»Ja. Eines,
das wie meines aussieht. Ich dachte, es gefällt dir, wenn wir
die gleichen Räder haben.«
»Was? Ich kenne dein
Fahrrad. Die Dinger sind doch sauteuer. Was hat es
gekostet?«
»Gabriel, was soll das denn bringen?«
»Sag’
es mir einfach.«
»Ungefähr 5.000 Pfund«,
sagte ich zögerlich.
»5.000? Hast du eine Ahnung, was
meine Mutter und ich mit 5.000 Pfund machen könnten? Wir könnten
ein Jahre lang unseren Kühlschrank füllen und sie müsste
sich nicht ständig Sorgen machen, wie wir unsere Rechnungen
bezahlen sollen. Und du haust so viel Geld einfach für ein
Fahrrad raus. Aber klar, wenn man so ein perfektes Leben hat wie du,
dann versteht man das natürlich nicht.«
Das war so unfair von ihm, dass mir kurz die Sprache wegblieb. Soviel er wusste, war ich eine Waise und trotzdem bezeichnete er mein Leben als perfekt. Das machte mich richtig wütend.
»Du hast ja so recht, Gabriel. Was hab’ ich nur für ein Glück, dass ich ein Pflegekind bin. Was wäre denn, wenn mich die Cullens nicht mehr haben wollten? Wäre es dir lieber, ich wäre in New Orleans in einem Waisenhaus? Dann hätte ich gar nichts mehr. Kein Geld, keine Familie, aber immer noch so ein beschissenes Problem, das verhindert, dass ich mit meinem Freund so zusammen sein kann, wie ich will.«
Gabriel sah mich nachdenklich an. Ich konnte förmlich spüren, wie es in seinem hochroten Kopf ratterte und allmählich bekam ich das Gefühl, dass ihm seine Worte leid taten. Er atmete tief durch und versuchte sich selbst zu beruhigen.
»Es tut mir leid, dass
deine Eltern tot sind, Nessie. Ich habe wenigstens noch meine
Mom.«
»Und … dein Vater?«, fragte ich
ganz vorsichtig.
Er zuckte mit den Schultern.
»Ich weiß
es nicht. Er ist einfach so vor einem Jahr kurz vor Weihnachten
verschwunden. Keine Nachricht, kein Lebenszeichen, nichts. Er ist
einfach weg. Mom glaubt, dass er uns verlassen hat, denn sie hatten
so ihre Probleme. Ich weiß gar nichts. Wir haben nie wieder von
ihm gehört.«
»Das ist schrecklich Gabriel. Es tut
mir leid.«
»Weißt du, wenn er tot wäre,
könnte man wenigstens trauern und wenn er uns verlassen hätte,
dann könnte man wenigstens wütend sein, aber so? Wir
bekommen keinen Unterhalt, keine Hinterbliebenenrente, keine
Antworten. Jetzt versucht Mom uns mit ihrem mickrigen
Krankenschwesterngehalt über Wasser zu halten.«
»Gabriel,
auch wenn du das nicht hören willst, aber wenn es um Geld geht,
dann…«
»Nein Nessie, verdammt, ich will das
nicht. Glaubst du, das wäre mir nicht durch den Kopf gegangen?
Seit ich gesehen habe, wie du lebst, muss ich darüber
nachdenken. Warum will ich dich wohl nicht beim shoppen begleiten?
Weil du mir dann etwas kaufen willst und das ertrage ich nicht, weil
ich es nicht kann. Es ist auch so schon schlimm genug, wie mich alle
ansehen und hinter meinem Rücken tuscheln. Wenn ich zulassen
würde, dass du Geld für mich ausgibst, dann hätten
alle recht.«
»Nein, hätten sie nicht, weil du mit
mir aus Liebe zusammen sein willst. Wenn ich mein Geld mit dir teilen
will, weil ich dich liebe, dann ist das doch gut so. Ich will, dass
es dir genauso gut geht wir mir und ich finde es schrecklich, dass du
das nicht zulassen willst. Wenn man zusammen ist, sollte man auch
alles miteinander teilen.«
»Dann Nessie, sollten wir
vielleicht besser nicht zusammen sein.«
Entsetzt blickte ich ihn an. Was hatte er gerade gesagt? Das hatte er doch nicht so gemeint, oder?
»Es tut mir leid, Nessie.
Ich kann so nicht weitermachen. Lebewohl.«
Dann drehte er
sich von mir weg und ging.
»Gabriel, nein! Bitte, geh’
nicht weg«, rief ich ihm noch flehend hinterher, doch er ging
einfach weiter ohne sich noch mal nach mir umzudrehen. Ich wollte ihm
hinterher laufen, doch meine Beine verweigerten den Befehl.
Stattdessen fingen sie an zu zittern und knickten ein. Ich fiel auf
die Knie und versuchte mich mit den Händen abzufangen. Die
Tränen schossen mir aus den Augen und ich verstand die Welt
nicht mehr. “Er hat mit mir Schluss gemacht”, dachte ich
immer und immer wieder.
Ich saß einfach auf dem Boden und ergab mich meiner Trauer, bis ich plötzlich einen vertrauten Geruch wahrnahm.
»Es tut mir so leid, Sternchen«, sagte Mom und kniete sich neben mich.
Ich ließ mich einfach in ihre Umarmung fallen und schluchzte vor mich hin.
»Warum nur, Mom? Ich liebe
ihn doch und ich dachte er liebt mich auch?«
»Das tut
er auch, Engel«, sagte mein Daddy, der ebenfalls mitgekommen
war. »Nur leidet er mehr unter der Situation, als dir bewusst
ist. Er sieht im Moment keinen anderen Weg.«
»Aber was
soll ich denn jetzt machen?«
»Du kannst leider gar
nichts machen, Liebling. Wenn du ihm nachläufst und ihn
bedrängst, wird er sich noch mehr dagegen wehren.«
»Ich
will ihn aber wieder haben.«
»Vielleicht wird er
seinen Fehler irgendwann einsehen, Schatz und er bittet dich um eine
zweite Chance, aber das kann niemand wissen.«
Ich fühlte mich hilflos und
verloren und als dann noch die Schulglocke läutete, wollte ich
nur noch weg.
»Momma? Darf ich bitte nach Hause
gehen?«
Seufzend half sie mir hoch.
»Sicher Schatz.
Dann gehen wir mal ins Sekretariat und melden dich ab.«
Auf dem Weg zur Tür kam uns Jasper entgegen. Zuerst dachte ich, er wollte mir vielleicht ein wenig Trost schenken, doch sein Gesichtsausdruck passte irgendwie nicht dazu.
»Halt dich zurück,
Jasper«, knurrte Dad ihn an und Mom drückte mich gleich
schützend fester an sich.
»Das werde ich nicht. …
Edward, Bella, ihr müsst endlich kapieren, dass ihr sie nicht
vor ihren eigenen Gefühlen schützen könnt. Das muss
sie selbst lernen. … Nessie, hör’ mir zu. Ich spüre
deine Trauer und sie ist entsetzlich. Es tut mir sehr leid, was dir
gerade widerfahren ist, aber du darfst dich nicht von deinen Gefühlen
kontrollieren lassen. Das hier ist nicht anders als unser
Angsttraining. Stelle dich dem Gefühl und höre auf deinen
Verstand.«
»Mein Verstand will nach Hause, Jasper«,
sagte ich mit schwacher, gebrochener Stimme.
»Glaubst du das
wirklich? Du musst in dich hinein hören und unterscheiden, wozu
die Trauer dich drängt und was dein Verstand für das
Richtige hält.«
Warum konnte Jasper mich nicht einfach gehen lassen? Er hatte doch gesagt, dass er wusste, wie ich mich fühlte. Das hier war viel schlimmer als das Angsttraining. Das hier war echt.
Ich versuchte über seine Worte nachzudenken, doch es fiel mir schwer. Ich wollte nach Hause, ich wollte weg von hier, ich wollte … weglaufen. “Aber weglaufen ist doch keine Lösung”, sagte ich im Gedanken zu mir selbst. War es das, worauf Jasper hinaus wollte? Würde es denn zu Hause weniger weh tun? Zumindest müsste ich Gabriel nicht sehen und er mich nicht. War es vielleicht besser, wenn er sehen würde, wie es mir ging? Könnte ihn das womöglich umstimmen oder würde es mir nur noch mehr wehtun?
»Jasper, ich will ja gar
nicht weglaufen, aber es ist so schrecklich und es könnte noch
schlimmer werden. Willst du wirklich, dass ich hier bleibe?«
»Nein
Nessie. Ich will, dass du bewusst selbst entscheidest und danach
handelst.«
Ich brauchte noch einen Moment, um mich etwas zu beruhigen, doch dann wurde mir bewusst, was er meinte. Ich konnte vor meiner Trauer nicht weglaufen und würde sie immer mit mir nehmen.
»Also gut. Ich
bleibe.«
»Bist du dir sicher, Schatz?«, fragte
Mom überrascht und ich nickte ihr leicht zu.
Ich löste mich aus Moms Umarmung, gab ihr und Daddy einen Kuss auf die Wange und auch Jasper, als ich an ihm vorbei ins Schulhaus ging. Mein Weg führte noch kurz auf die Toilette, um mir das Gesicht kurz abzuwaschen und dann ging ich zum Musikunterricht.
Es waren schon alle da und es versetzte mir einen kleinen Stich in die Brust, Gabriel dort zu sehen. Er sah unglücklich aus und schaute sofort weg, als sich unsere Blicke kurz trafen. Mrs. Peebles hatte bereits begonnen und fragte mich, ob alles mit mir in Ordnung sei. Ich nickte ihr zu und entschuldigte mich mit zittriger Stimme für meine Verspätung und war ihr dankbar, dass sie es darauf beruhen ließ.
Lissie wusste wohl, was mit mir los war und sah mich voller Mitgefühl an. Am liebsten wäre ich ihr schluchzend um den Hals gefallen, doch so weit wollte ich es nicht kommen lassen. Stattdessen ließ ich den Unterricht über mich ergehen und Mrs. Peebles sah großzügig über meine mangelnde Beteiligung hinweg.
Nach Unterrichtsschluss ging Gabriel schnell ohne ein Wort oder einen weiteren Blick an mir vorbei nach draußen. Lissie hingegen kam zu mir und umarmte mich. Sie sagte nichts, sondern ging einfach stumm mit mir hinaus. Erst als wir das Schuldgebäude verlassen hatten, sprach sie mich an.
»Gabriel hat mir dir
Schluss gemacht, oder?«
Ich nickte stumm und war ziemlich
stolz auf mich, dass ich meine Tränen zurückhalten konnte,
obwohl meine Augen kurz vor dem Überlaufen standen.
»Kann
ich irgendetwas für dich tun?«
»Nein Lissie, ich
glaube nicht. Lass’ uns fahren.«
»Ihr müsst
mich nicht nach Hause fahren, ich kann auch den Bus nehmen.«
»Warum
sollten wir denn getrennt zu dir fahren?«, fragte ich
verwirrt.
»Ähm, du willst mit zu mir kommen?«
Wollte ich das? Ich war mir nicht sicher, aber wir hatten das doch ausgemacht. Ich hatte ihr versprochen zu helfen und meine Versprechen wollte ich doch immer einhalten, egal was kommt. Allerdings war ich mir nicht sicher, ob ich ihr heute eine große Hilfe sein würde.
»Wenn du mich ertragen
kannst?«
»Ach Nessie, wenn du magst, dann komm mit zu
mir«, sagte sie und nahm mich noch mal in den Arm.
Jasper fuhr uns zu ihr und war wohl recht zufrieden mit mir, dass ich mich so entschieden hatte, denn er lächelte mich an, was mich zumindest ein kleines Bisschen tröstete. Als Lissies Mom mich sah, schien sie gleich sehr besorgt zu sein und Lissie erzählte ihr kurz, was los war. Dann ging sie mit mir in ihr Zimmer, setzte sich mit mir auf ihr Bett und legte mir den Arm tröstend um die Schulter. Ich berichtete ihr genau, was passiert war und sie hörte sich alles in Ruhe an. Ab und zu drückte sie mir die Hand oder rubbelte mir über den Rücken. Es war sehr wohltuend, ihr mein Herz auszuschütten und ich fühlte mich danach auch etwas besser. Wir machten uns dann auch an die Hausaufgaben, wobei wir beide nicht so ganz bei der Sache waren. Dennoch bekamen wir sie gut hin und ich schaffte es auch, ihr das Eine oder Andere zu erklären. Im Grunde fand ich die Ablenkung sogar hilfreich. Wir machten auch wieder mehrere Unterbrechungen in denen wir einfach schweigend auf dem Bett oder dem Boden lagen.
Gegen Abend holte mich Jasper dann ab und ich war erleichtert, dass er mich nicht mit seiner Angstaura empfing. Stattdessen streichelte er mir kurz über die Wange und fuhr mich dann nach Hause. Dort wurde ich auch gleich von allen Seiten mit Mitleid überhäuft, doch das war mir echt zu viel. Ich fand eigentlich, dass ich es recht gut im Griff hatte, denn zumindest hatte ich seit zwei Stunden nicht mehr geweint. Im Moment wollte ich eigentlich lieber alleine sein und ging hinaus.
Wie von selbst führten mich meinen Beine durch den verregneten Wald zu meinem Platz. Erst als ich dort war, wurde mir bewusst, dass ich eigentlich gehofft hatte, dass Lennox hier sein würde, doch er war es nicht. Gut, wir hatten wirklich nicht ausgemacht, wann wir uns wieder sehen würden, doch im Grunde war ich davon ausgegangen, dass er nach meinem Urlaub wieder hier sein würde. Hatten wir nicht von zwei Wochen gesprochen? Jetzt hatte die Schule wieder angefangen, doch von Lennox keine Spur. Für einen Moment hatte ich das ungute Gefühl, dass er mich vielleicht auch verlassen hatte, doch daran wollte ich jetzt nicht denken. Das würde er doch nicht tun, oder? Nicht nach der Art und Weise, wie wir uns verabschiedet hatten.
Eigentlich wollte ich noch ein Weilchen hier bleiben, doch die unruhigen Gedanken wegen Lennox trieben mich weg von diesem Ort. Hatte ich mich heute nicht schon genug Gefühlen gestellt? Vor diesem wollte ich jetzt wirklich weglaufen. Außerdem war es ja sowieso unsinnig, denn dagegen konnte ich beim besten Willen nichts tun.
Zuhause ging ich dann recht früh in mein Zimmer und packte als erstes Gabriels Geburtstagsgeschenk in meine Schultasche. Erstens wollte ich es nicht mehr auf meinem Nachttisch haben und zweitens dachte ich kurz daran, es ihm zurückzugeben. Ich war mir aber nicht sicher, ob ich das wirklich tun konnte aber wenn, sollte ich es schon dabei haben.
Als mein Blick auf meine
Skulpturen fiel, überkam mich ein merkwürdiger Gedanke.
Irgendwie hatte ich das Gefühl, dass der Abschied aus Forks und
damit der Abschied von Jacob, den ich doch schon seit über drei
Jahren nicht mehr gesehen hatte, viel schmerzhafter war, als die
Trennung von Gabriel. Ob das etwas mit Jaspers Training zu tun hatte?
Der Gedanke an Jacob und insbesondere an den Traum, den ich im Urlaub
hatte, war sehr entspannend. Ich empfand ihn als tröstend und
ließ ihn noch mal vor meinem inneren Auge ablaufen, als ob ich
ihn mir mit meiner Gabe selbst schicken würde. Die schöne
Erinnerung entlockte mir ein Seufzen und wenig später ging ich
ins Bett und schlief recht schnell ein.
In meinen Träumen hatte mich Jacob wieder besucht und getröstet. Ich war wieder ein kleines Mädchen, das er auf seinem Arm trug und liebevoll streichelte. Es hatte sich so gut angefühlt und ich war richtig gelöst, als ich aufwachte. Selbst der geträumte Jacob verstand es mich aufzumuntern und so krabbelte ich aus meinem Bett und war recht gefasst. Auch wenn ich heute zwei Stunden in Spanisch neben Gabriel sitzen musste, war ich mir doch ziemlich sicher, dass ich das überstehen würde.
Meine Familie war ziemlich überrascht, dass ich recht gut gelaunt war, oder zumindest nicht so deprimiert, wie man es hätte erwarten müssen, aber keiner traute sich nach dem Grund zu fragen und das fand ich äußerst amüsant, was sie nur noch mehr verwirrte.
Auch Lissie war sehr überrascht, als wir uns in der Schule begrüßten. Ihr sagte ich natürlich, dass sie mir sehr geholfen hätte und dass es mir deshalb schon besser ging. Das war zwar nur die halbe Wahrheit, aber auf jeden Fall die Hälfte, die ein Lächeln auf ihr Gesicht zauberte.
Gabriel war nicht da, um mich zu begrüßen, aber das hatte ich auch nicht erwartet. Im Klassenzimmer schaute er auch gleich wieder weg, als er mich kommen sah. Ihn wieder zu sehen war schon etwas schmerzhaft, doch ich wollte dem auf keinen Fall nachgeben. Ich vermisste ihn, doch es lag nicht in meiner Macht, dies zu ändern. Also versuchte ich, so wie Jasper es mir geraten hatte, das zu tun, was ich für richtig hielt und das war im Moment die Konzentration auf den Unterricht zu lenken.
In der Mittagspause setzte sich Gabriel auch nicht mehr an unseren Tisch, doch damit hatte ich gerechnet. Susi wirkte sehr bedrückt und entschuldigte sich aufrichtig bei mir, da sie sich selbst Vorwürfe machte und glaubte, sie sei schuld dran, dass sich Gabriel von mir getrennt hatte. Ich sagte ihr natürlich, dass sie nichts dafür konnte und dass das früher oder später wahrscheinlich trotzdem passiert wäre. Ich erzählte ihnen auch von Gabriels Begründung und da machte Susi schon wieder ein betroffenes Gesicht und sie gestand mir, dass sie das auch schon von ihm gedacht hätte und entschuldigte sich erneut mehrmals dafür. Auch wenn mich das ein wenig wütend machte, fand ich es doch gut, dass sie so ehrlich zu mir war, denn das überraschte mich eigentlich. Also schluckte ich meinen Ärger runter, sagte ihr, dass sie sich deshalb keine Gedanken machen müsste und ging ein wenig draußen spazieren.
In Spanisch setzte ich mich dann seufzend neben Gabriel. Sein Geruch stieg mir sofort in die Nase und ich vermisste ihn schrecklich in diesem Moment. Am liebsten hätte ich mich ihm um den Hals geworfen und gebettelt, dass er doch wieder mein Freund sein sollte, doch ich wusste, dass ich das nicht durfte, denn es würde jetzt nichts nützen. Wenigstens sah er genauso unglücklich aus, wie ich mich fühlte. Es schien ihn auch zu belasten, neben mir zu sitzen und so wunderte es mich eigentlich nicht, dass er Mrs. Molinero darum bat, den Platz zu wechseln. Dennoch tat es mir weh, obwohl es für uns beide wohl einfacher wäre, wenn er wo anders sitzen würde. Mrs. Molinero lehnte aber ab und begründete es damit, dass sich seine Spanischleistungen doch deutlich verbessert hätten, seit er neben mir sitzen würde und sie keine Veranlassung hätte, das jetzt zu ändern.
Nachdem die Stunde zu Ende war, nahm ich meinen ganzen Mut zusammen und holte das kleine Schmuckschächtelchen aus meiner Tasche und legte es kommentarlos vor ihn auf den Schreibtisch. Mit großen Augen sah er mich an und machte es auf.
»Was soll das, Nessie? Ich
habe dir die Kette doch geschenkt. Ich will sie nicht zurück«,
sagte er und hielt mir die Schachtel hin.
»Nein Gabriel, du
willst keine Geschenke von mir und ich will mein liebstes
Geburtstagsgeschenk dann auch nicht mehr haben. Nimm es bitte zurück.
Wenn du irgendwann wieder mein Freund sein willst, dann würde
ich mich freuen, wenn du es mir wieder gibst.«
Mein Herz schlug bis zum Hals,
als ich das sagte und ich stand kurz davor, in Tränen
auszubrechen. Unter großer Anstrengung behielt ich die Fassung,
stand auf und ging schnell hinaus. Mein Weg führte mich direkt
auf die nächste Mädchentoilette, auf der ich erst mal fünf
Minuten lang meine Trauer aus mir heraus ließ. Dann ging es mir
wieder etwas besser und ich machte mich auf zum Parkplatz, wo meine
Familie mit Lissie bereits auf mich warteten.
Das Lernen mit Lissie war für uns beide ähnlich anstrengend wie am Montag, doch irgendwie erreichten wir das kleine Ziel, das wir uns gesteckt hatten. Jasper verschonte mich erneut auf der Heimfahrt und auch in meiner Familie bot mir jeder wieder seine Unterstützung an, wobei sie mich ansonsten in Ruhe ließen, was mir im Augenblick auch am liebsten war. Ich lief wieder in den Wald und wurde erneut enttäuscht, denn Lennox war noch immer nicht da. Ich vermisste ihn und fühlte mich irgendwie alleine gelassen, obwohl ich eine große Familie hatte, die für mich da war. Nur die Erinnerungen an Jacob schienen mir im Moment Trost zu spenden und halfen mir in der kommenden Nacht erneut in den Schlaf.
Auch an den darauf folgenden Tagen, gab es nur wenig erfreuliches für mich. Jede neue Begegnung mit Gabriel schmerzte, doch wenigsten versuchte er mir aus dem Weg zu gehen. Mir war nicht klar, ob ich mich darüber freuen oder deswegen weinen sollte. Einerseits war es weniger schlimm, wenn ich ihm nicht sah. Andererseits schwand so auch mehr und mehr die Hoffnung, dass unsere Trennung nur von kurzer Dauer sein könnte. In der Doppelstunde Naturwissenschaften wurde in diesem Trimester der Schwerpunkt von Chemie zu Physik verlagert. Gabriel nutzte die Gelegenheit, um sich einer anderen Arbeitsgruppe anzuschließen. Dafür gesellte sich Lissie zu Martin und mir. Überhaupt war Martin noch zuvorkommender und hilfsbereiter als sonst. Ich schätzte seine Aufmerksamkeiten, obwohl ich befürchtete, dass er mir nicht nur einfach etwas Gutes tun wollte, sondern sich insgeheim erhoffte, vielleicht doch eine Chance auf eine Beziehung zu haben, jetzt wo ich von Gabriel getrennt war. Doch das war ausgeschlossen und ich vermied alles, was er als Ermutigung verstehen könnte.
Am Freitag erhielten wir unsere Geographie-Trimesterarbeit zurück und Mrs. MacLeish hatte mir doch tatsächlich ein A- gegeben. Das Minus war die “Strafe” dafür, dass ich bei einer Antwort einen amerikanischen und keinen englischen Ausdruck verwendet hatte. Irgendwie amüsierte mich das Ganze aber, denn jetzt hatte ich wenigstens ein Fach, in dem ich schlechter war, als in den Anderen.
An den Nachhilfestunden mit Lissie hatten sich im Grunde nichts geändert. Mit jedem Tag, an dem ich etwas besser mit der Trennung von Gabriel klar kam, wurde mir bewusster, dass Lissie die gleichen Probleme hatte, wie vor Weihnachten. Allerdings war mir bei ihr auch aufgefallen, dass sie in der Mittagspause häufig einfach so vor sich hin starrte. Hatte sie das schon immer gemacht, ohne dass mir etwas aufgefallen war? Zunächst vermutet ich, dass sie einfach ihren Gedanken nachhing, doch dann folgte ich einmal ihrem Blick und bemerkte, dass sie Kevin ansah. Sie war wohl tatsächlich in den Blödmann verliebt und vielleicht auch deshalb beim Lernen nie richtig konzentriert. In unseren Lernpausen lagen wir daher meistens nur seufzend und ansonsten schweigend herum. Ihre Gedanken waren wohl bei Kevin und meine viel zu oft bei Gabriel, aber auch bei Lennox, der sich die ganze Woche über nicht blicken ließ.
Im Grunde war ich ziemlich froh, dass diese Schulwoche zu Ende war und ich hoffte, dass das Wochenende schöner werden würde.
Der Samstag begann wie üblich mit einem Jagdausflug. Ich war mit Rosalie und Emmett unterwegs, denn trotz der trüben Beuteaussichten war Em immer noch super drauf und Rosalie auch bester Laune. Die beiden gaben sich auch alle Mühe, mich auf andere Gedanken zu bringen und das tat mir richtig gut. Die Zeit verging wie im Fluge und so war es schon später Nachmittag, als wir zurück kamen.
Danach machte ich mich noch auf den Weg zu meinem Platz im Wald. Ich hoffte sehr, dass Lennox wieder da wäre, denn ich vermisste ihn. Leider war noch immer keine Spur von ihm zu sehen, als ich ankam und das war sehr frustrierend. Ich setzte mich auf meinen Baustamm und kratzte gedankenverloren mit dem Fingernagel in dem Holz herum. Irgendwann wurde mir bewusst, dass ich “Lennox” in den Stamm geritzt hatte. Ich dachte kurz darüber nach, das betroffene Stück Holz heraus zu brechen, doch irgendwie passte der Schriftzug genau dorthin. Mein Platz war schon seit geraumer Zeit mit Lennox verbunden und der Gedanke gefiel mir. Also beließ ich es dabei.
Ich lief noch eine Weile durch den Wald und dachte an die schönen Tage mit Zafrina und wie ich mit ihr den Amazonas erkundet hatte. Zuhause dann hatte ich die Idee für ein neues Gemälde und ich fing an, aus meinen Erinnerungen heraus, ein Bild zu malen. Das Motiv war ein Wasserfall im Regenwald. Irgendwie war es wie ein kleiner Kurzurlaub, das Bild zu malen und ich lächelte im Gedanken an die wilden Amazonen vor mich hin. Es machte mir Spaß und ich beschäftigte mich damit, bis ich müde wurde und zu Bett ging.
Am Sonntag morgen hatten wir ausgesprochen schönes Wetter und ich nahm mir ein Buch und ging wieder frühzeitig zu meinem Platz. Ich hatte schon lange nicht mehr auf meinem Baumstamm gesessen und ein Buch gelesen und das Wetter war so einladend, dass ich das für eine gute Idee hielt. Eine Idee, die ich aber sofort verwarf, als ich Lennox auf meinem Baumstamm sitzen sah. Sein Gesicht funkelte im Sonnenlicht und er grinste mich an, denn offensichtlich hatte er mich schon viel früher entdeckt und wohl darauf gewartet, dass ich ihn bemerken würde.
»Lennox!«, rief ich
voller Freude aus und rannte auf ihn zu.
Er stand auf und breitete
die Arme aus und ich fühlte mich unglaublich glücklich,
lies das Buch fallen und sprang in seine Umarmung. Sicher fing er
mich auf und ich drückte mich an ihn.
»Na, das ich ja
mal eine stürmische Begrüßung«, sagte er
lachend.
»Oh Lennox, ich habe dich ja so vermisst. Wo warst
du denn so lange?«
»Es tut mir schrecklich leid, meine
Hübsche, ich wollte schon vor einer Woche wieder hier sein, doch
meine Rückreise verlief nicht wie geplant.«
»Was
ist denn passiert?«
»Ach, nicht Schlimmes. Ich war nur
in Spanien, denn ab und zu jage ich dort sehr gerne. Du musst wissen,
dass ich die Spanier seit meiner Piratenzeit nicht gerade gut leiden
kann und da tut so ein Jagdausflug ab und zu sehr gut. Dann habe ich
noch ein paar alte Bekannte getroffen und schließlich hat das
sonnige Wetter meine Rückreise zusätzlich behindert, da ich
mich kaum in der Öffentlichkeit bewegen konnte. Das war eine
ganz schöne Quälerei, wo ich doch unbedingt so schnell wie
möglich zu dir zurück wollte.«
»Aber jetzt
bist du ja wieder da. Ich freu’ mich ja so.«
»Und
ich erst«, sagte er und dann küsste er mich genauso
intensiv, wie bei unserem letzten Abschied. Zum Glück hielt er
mich immer noch fest im Arm, sonst wäre ich vermutlich mit
meinen wackeligen Beinen umgekippt. Sein inniger Kuss belebte mich
und ich fühlte mich einfach gut. Es kribbelte wieder in meinem
Bauch und die lange vermisste Gänsehaut war auch wieder da.
»Und
wie ist es dir ergangen, meine Hübsche?«
Während er das fragte setzte er mich vorsichtig ab, jedoch ohne mich ganz loszulassen. Natürlich bemerkte er auch sofort, dass seine Frage eine Veränderung meiner Stimmung zur Folge hatte. Augenblicklich war sein Blick besorgter.
»Meine Ferien waren toll,
Lennox. Nur das danach nicht.«
»Was war denn danach?«,
fragte er sehr sanft und einfühlsam.
»Ich hatte streit
mit meinem Freund und er hat mit mir Schluss gemacht.«
»Oh
Nessie, das tut mir ja so leid für dich. Was für ein Idiot
verlässt denn ein Mädchen wie dich?«
Ich lächelte
leicht, weil er mich so verteidigte, obwohl es mir irgendwie
missfiel, dass er Gabriel so nannte.
»Gabriel ist kein
Idiot, er ist nur …«
»Nur?«
»Ach,
ich weiß auch nicht. Er will nicht mit mir zusammen sein, weil
andere glauben, er wäre es nur deswegen, weil meine Familie
reich ist.«
»Also doch ein Idiot.«
»Jetzt
nenn’ ihn doch nicht so. Nur weil ich seine Probleme nicht
richtig verstehe, ist er doch nicht automatisch ein Idiot.«
»Hmm
… du liebst ihn immer noch, oder?«
»Ja«,
gab ich zögernd zu.
»Kopf hoch, Kleines. Entweder er
besinnt sich und kommt zu dir zurück gekrochen, oder er ist es
nicht wert, dass du dich mit ihm abgibst. Wenn er mehr darauf gibt,
was andere denken, als auf das, was er an dir hat, dann ist er wohl
nicht der Richtige für dich.«
»Vielleicht hast du
recht, Lennox. Es tut aber trotzdem weh.«
»Das
verstehe ich Nessie. Das braucht Zeit. Ich bin jedenfalls wieder für
dich da, wenn du mich brauchst.«
»Das ist toll, Lennox
und das bedeutet mir viel.«, sagte ich lächelnd und gab
ihm einen Kuss auf die Wange.
Wie so oft spazierten wir
einfach durch den Wald und unterhielten uns. Ich erzählte ihm
von meinem Urlaub und was ich alles erlebt hatte und er hörte
mir aufmerksam zu. Anders als sonst hielten wir aber des Öfteren
mal an und dann zog er mich zärtlich ganz nah an sich und küsste
mich wieder. Überhaupt küssten wir uns viel mehr als wir es
bisher getan hatten und auch viel intensiver, aber es war einfach
schön. Jetzt musste ich ja auch kein schlechtes Gewissen mehr
wegen Gabriel haben und wenn er das nun mal nicht mehr wollte, dann
eben Lennox.
Gegen Mittag verabschiedete ich mich von ihm und ging sehr gut gelaunt nach Hause. Dort wartete auch schon Jasper wegen des Kampftrainings auf mich und bemerkte natürlich sofort meine positive Gefühlslage. Ich erzählte ihm, dass Lennox wieder da war und ich einen sehr schönen Vormittag mit ihm verbracht hatte. Jasper freute sich natürlich für mich, ermahnte mich allerdings, dass ich meinen positiven Emotionen genauso wenig die Kontrolle überlassen dürfte, wie den negativen. Das war zwar etwas irritierend, aber irgendwie verstand ich, was er meinte. Lennox hatte mich mehr als einmal quasi überrumpelt und ich konnte Nachvollziehen, warum Jasper darin eine Gefahr sah. Dennoch entschied ich doch jeden Tag aufs Neue, zu ihm zu gehen und bislang hatte ich es noch nie bereut. Lennox war für mich ein Freund und vielleicht inzwischen sogar mehr als das.
Ich ging ins Haus um Mom zum Training abzuholen und stelle auch gleich das Buch zurück. Sie saß auf dem Sofa und hörte Daddy beim Klavierspielen zu.
»Mom? Kommst du zum
Training?«
Ȁhm, Liebling, muss das sein? Du
warst doch schon die ganze Woche so traurig und es war für mich
kaum auszuhalten, dich immer so deprimiert zu sehen. Bitte, ich will
dich jetzt nicht auch noch verängstigt auf dem Boden sitzen
sehen.«
Dad hörte auf zu spielen und drehte sich uns
zu.
»Ach komm schon, Momma. Das ist nicht so schlimm und ich
will das Training doch. Außerdem geht es mir heute richtig gut.
Ich habe Lennox wieder gesehen und es war sehr schön mit ihm.
Gabriel will mich vielleicht nicht mehr haben, aber Lennox ganz
bestimmt.«
Mom und Dad wirkten beide etwas bedrückt und ihre Gesichter sagten mir deutlich, dass ihnen das nicht wirklich gefiel. Bei Daddy wunderte mich das ja nicht, denn er war Lennox gegenüber sehr misstrauisch, aber Mom schien das auch nicht zu gefallen.
»Sternchen, ich weiß
nicht, ob das so eine gute Idee ist, wenn du dich so kurz nach einer
Trennung gleich in die nächste Beziehung stürzt. Lennox
will dich sicher, aber…«
»Ich weiß Mom.
Das hat mir Jasper vor fünf Minuten auch schon zu verstehen
gegeben. Ich bin nicht blöd.«
»Das habe ich doch
gar nicht gesagt Liebling. Ich bin doch nur um dich besorgt.«
»Und
darum habe ich dich ja auch so lieb«, sagte ich, setzte mich
auf ihren Schoß und gab ihr einen dicken Kuss. »Aber
jetzt will ich mit dir trainieren. Also komm schon. Ich habe mich
schon eine ganze Woche meiner echten Trauer wegen Gabriel gestellt,
da wird mich ein bisschen falsche Angst von Jasper schon nicht
umbringen.«
Sie seufzte, doch dann stand sie auf und ging mit mir in den Garten. Sie wirkte wirklich ziemlich unglücklich, doch sie erfüllte mir meinen Wunsch und machte das Training mit mir.
Zunächst absolvierten wir wie üblich verschiedene Übungen für Kraft, Schnelligkeit, und Körperbeherrschung. Das Akrobatiktraining machte mir dabei besonders viel Spaß. Danach waren die Kampftechniken dran und zum Abschluss wieder der gemeinsame Übungskampf. Mom sollte mich wieder aus Jaspers Gewalt befreien und er machte es ihr diesmal besonders schwer. Ich musste mich mit dem Rücken an die Hauswand setzten und Mom hatte dadurch sehr viel weniger Spielraum, um an Jasper vorbeizukommen. Sie wirkte deswegen schon besorgt, noch bevor wir überhaupt angefangen hatten. Dann spürte ich auch schon, wie sich die Angst schleichend um mich legte, in mich eindrang und mich wie ein riesiger Felsbrocken zu Boden drückte. Es war schlimmer als sonst und ich war mir sicher, dass Jasper die Intensität erhöht haben musste. Ich versuchte mir selbst klar zu machen, dass das nicht echt war, doch im Grunde konnte ich nur darauf hoffen, dass Mom schnell zum Erfolg kommen würde. Wenigstens schaffte ich es ihr zuzusehen, auch wenn ich mir sicher war, dass ich ein ziemlich jämmerliches Bild abgab.
Mom kämpfte verbissen gegen Jasper, doch er wehrte sie immer und immer wieder ab. Was sie auch versuchte, er durchschaute es und machte ihre Bemühungen zunichte. Minute um Minute verging und mit jeder weiteren schien Mom immer verzweifelter zu werden. Es wirkte schon so, als würde sie inzwischen weitaus mehr leiden als ich und doch wollte sie nicht aufgeben. Ich bewunderte sie so sehr dafür und es tat mir leid, dass ich sie dazu gebracht hatte, sich dieser Qual auszusetzen.
»Jasper bitte, lass’
uns aufhören«, sagte sie und klang sehr erschöpft
dabei.
»Wenn du aufgeben willst, nur zu. Aber Nessie bleibt
hier. Ihr Training ist dann noch nicht beendet.«
Seine Stimmer war hart, rücksichtslos und grausam. Ich hatte nicht den geringsten Zweifel, dass er mich noch eine ganze Weile mit der Angst peinigen würde.
»Du Arsch!«, brüllte Mom und griff ihn voller Wut erneut an. Etwas plump, was auch mir auffiel und Jasper hatte nicht die geringsten Schwierigkeiten damit, sie zu Boden zu werfen und sie dort festzuhalten.
Sie so hilflos und verzweifelt zu sehen war furchtbar. Es war viel schlimmer als die Angst, die ich empfand und ich wollte ihr unbedingt helfen. Ich stemmte mich mit aller Kraft gegen die Furcht und zwang mich aufzustehen, obwohl sich alles in mir an den Boden kauern wollte. Ich durfte dem einfach nicht nachgeben, wenn ich Mom helfen wollte und so kämpfte ich mich auf meine Beine. Ich wollte zu ihr. Ich wollte ihr helfen und sie befreien und ich schaffte es loszulaufen. Es war, als würde ich auf direktem Wege auf die Hölle zu rennen, so furchterregend war seine Gestalt selbst von hinten. Ich nahm allen Mut zusammen und sprang Jasper in den Rücken, schlang ihm einen Arm um den Hals und drückte mit dem anderen gegen seinen Hinterkopf. In dem Moment, da ich ihn mit einer Hand berührte, hatte ich eine Idee. Ich wollte ihm eine Übertragung schickten, um ihn abzulenken. Es musste eine starke und grausame Erinnerung sein, damit ich die benötigte Wirkung erzielen konnte. Ich zeigte ihm die Schlimmste meines Lebens. Der Tag, an dem ich mich so unsagbar schwach und hilflos fühlte, weil Jacob sich von mir verabschieden musste und ich ihn nie wieder sehen durfte. Dieses Erlebnis aus meinem Gedächtnis aufzurufen erfüllte mich mit Trauer, doch es durchbrach auch für einen Moment seine Konzentration und Mom konnte sich befreien. Wir warfen ihn auf den Bauch und Mom fixierte seine Beine mit einem geschickten Hebelgriff. Ich beendete die Übertragung sofort, denn ich wollte das selbst nicht eine Sekunde länger sehen.
»Ich gebe auf, ich gebe auf«, rief Jasper gequält und augenblicklich fiel die Angst wieder von mir ab. Befreit von der Furcht und der traurigen Erinnerung füllte sich meine Brust schlagartig mit großer Freude, denn ich hatte es geschafft, meine Mom zu retten. Ich ließ ihn los und drehte mich zu ihr um. Sie hielt ihn noch immer fest im Griff und wirkte sehr wütend und angestrengt.
»Du kannst ihn jetzt loslassen Momma. Wir haben gewonnen.«
Als sie in mein glückliches Gesicht sah, entspannte sie sich allmählich und löste langsam die Umklammerung seiner Beine. Dann streckte sie die Arme nach mir aus und ich nahm freudestrahlend das Angebot an, warf mich ihr um den Hals und küsste sie.
»Man Bella, du hättest
mir ja fast ein Bein ausgerissen«, jammerte Jasper etwas.
»Das
hättest du auch verdient«, knurrte sie ihn an.
»Ach
Momma. Unglaublich wie verbissen du kämpfen
kannst.«
»Allerdings«, brummte Jasper, der sich
gerade mit beiden Händen sein linkes Knie rieb. »Nur ihr
letzter Angriff war desaströs. Dafür warst du aber
sensationell, Renesmee. Alle Achtung, ich hätte nie erwartet,
dass du dich gegen diese Angst so behaupten kannst. Dann noch der
geniale Einfall mit der Übertragung. Respekt Nessie. Ich bin
wahnsinnig beeindruckt von dir. Du hast mich vollkommen
überrascht.«
Ich platzte fast voller Stolz und
Freude.
»Weißt du, Jazz. Als du Mom da so hilflos am
Boden festgehalten hattest, da wollte ich ihr unbedingt helfen. Das
mit anzusehen war schlimmer, als die Angst, die ich vor dir hatte.«
Während ich das sagte, drückte mich meine Momma ganz fest an sich und küsste mich mehrmals. Auch Jasper lächelte jetzt wieder.
»Also in dem Punkt seid
ihr euch wohl auch ziemlich ähnlich«, meinte er, stand auf
und rieb sich noch mal über die Beine.
»Bella, ich
hoffe du vergibst mir meine harte Vorgehensweise. Heute ging es mir
nicht so sehr um dich, sondern darum, deine Tochter weiterzubringen.
Ich wollte erreichten, dass sie auch gegen eine so starke Angst
ankämpft. Dass sie die Furcht sogar besiegen kann, ist äußerst
bemerkenswert.«
»Ja Jasper. Ich verstehe schon. Deine
Methoden sind eben manchmal etwas extrem und sie gefallen mir nicht,
auch wenn der Erfolg dir recht gibt. Doch wenn du mir so zusetzt,
dann darfst du dich nicht wundern, wenn ich dir ein Bein ausreißen
will.«
»Ach, im Grunde ist das sogar ein Kompliment«,
sagte er lächelnd und rieb sich dabei noch immer über die
Knie.
Mom und ich gingen wie üblich nach dem Training in mein Zimmer um ein Stündchen zu kuscheln. Allerdings hatte ich das Gefühl, dass sie es diesmal mehr brauchte als ich. Sie hielt mich eng umschlungen in ihren Arm, streichelte mir immer wieder über den Kopf und den Rücken und gab mir unzählige kleine Küsschen. Ich fühlte mich so geborgen, dass mein zufriedenes Seufzen mehr einem schnurren glich.
»Habe ich dir heute schon
gesagt, wie sehr ich dich Liebe?«, fragte sich mich
sanft.
»Nein, aber gezeigt«, antwortete ich und
drückte sie fest.
»War das Training sehr schlimm für
dich, Sternchen?«
»Hmm. Ich glaube, für dich war
es heute schlimmer. Eigentlich war es ein tolles Training. Hast du
gehört, wie Jasper mich gelobt hat?«
»Das hast du
dir auch verdient. … Wie hast du ihn eigentlich dazu gebracht,
mich loszulassen?«
»Ich habe ihm eine Erinnerung
geschickt um ihn abzulenken.«
»Welche denn?«
»Die
allerschlimmste die ich habe.«
Mom schluckte und schwieg. Ich fragte mich, ob sie sich nur nicht traute, mich danach zu fragen, oder ob sie es lieber nicht wissen wollte, doch dann sprach sie mich doch noch mal an.
»War es die Erinnerung an Gabriel, als er mit dir Schluss gemacht hat?«
Ich war überrascht. Das war natürlich furchtbar gewesen, aber glaubte sie wirklich, dass das die schlimmste Erinnerung in meinem Leben war? Darauf konnte ich nur mit dem Kopf schütteln.
»Nein Momma. Ich habe
schon viel grausameres erlebt. Dein Koma zum Beispiel.«
»Ach
Sternchen. Wenn ich das doch nur wiedergutmachen könnte. …
Hast du ihm das gezeigt?«
»Nein, denn damals hatte ich
die Hoffnung, dass ich dich zurückholen konnte. Ich wollte ihm
etwas Schlimmes ohne Hoffnung zeigen.«
Sie schluckte
wieder.
»Was war es denn?«, fragte sie
vorsichtig.
»Der Tag, an dem ich Jacob zum letzten Mal
umarmen durfte und mich dann für immer von ihm verabschieden
musste.«
Obwohl diese Erinnerung so alt war, ließ sie mir wieder die Tränen in die Augen steigen, was vorhin wohl die Angst und die Anstrengung verhindert hatten. Doch ich wollte jetzt nicht traurig sein und versuchte ruhig zu atmen.
»Ach Kleines. Vermisst du
ihn denn immer noch so sehr?«
»Ja Momma, auch wenn ich
nicht verstehe warum. Ich habe ihn schon so lange nicht mehr gesehen
und doch besucht er mich immer wieder in meinen Träumen.«
Mom drückte, streichelte und küsste mich immer und immer wieder und überhäufte mich mit Trost und Liebe. Sie gab mir viel mehr, als ich im Moment benötigte. Diese Erinnerung trug ich schon seit vielen Jahren tief in mir versteckt und dorthin schob ich sie nun auch wieder zurück. Ich konzentrierte mich lieber wieder auf die schönen Dinge, die ich jetzt hatte, wie ihre liebevolle Umarmung und das Erfolgserlebnis im Training. Das funktionierte gut und ich lächelte sie auch wieder zufrieden an.
»Liebling, ich will dir ja wirklich nicht damit auf die Nerven gehen, aber ich muss das einfach loswerden. Glaubst du wirklich, dass Lennox der Richtige für dich ist?«
Warum musste sie denn in diesem schönen Moment jetzt ausgerechnet das ansprechen?
»Aber Momma, ich mag
Lennox, auch wenn ihr ihm nicht so richtig trauen wollt. Ich kenne
ihn jetzt ja auch schon eine Weile und er hat mir nie wehgetan. Ganz
im Gegenteil. Er gibt mir das, was mir Gabriel nicht mehr geben
will.«
»Liebe?«
“Liebe?”,
wiederholte ich die Frage für mich im Gedanken. Nein, Lennox gab
mir nicht wirklich liebe, zumindest nicht so, wie ich sie für
Gabriel empfunden hatte oder auch nur annähernd so, wie sie mir
meine Familie schenkte. Aber wie sollte ich denn beschreiben, was er
mir gab?
»Mom, es ist anders. Seine
Küsse und seine Nähe geben mir einfach ein tolles Gefühl
und ich bin sehr gerne bei ihm.«
»Das verstehe ich ja,
Schatz. Ich will doch nur, dass du vorsichtig bist.«
»Ja
Mom, das bin ich auch. Glaube mir, er ist wirklich immer sehr nett zu
mir. Mit ihm ist es schön und aufregend. Außerdem, na ja,
muss ich keine Angst haben, ihm weh zu tun.«
»Ach
Kleines, ich will dir das doch auch gar nicht ausreden. Du darfst
dich ja mit ihm treffen, nur überstürze bitte
nichts.«
»Momma, ich glaube, ich weiß ziemlich
gut, was ich will und was nicht.«
Mom seufzte kurz
auf.
»O.K. Schatz. Aber versprich mir bitte, wenn etwas ist,
dann kommst du zu mir, ja?«
»Klar Mom, versprochen.«
Wir blieben noch eine ganze Weile in meinem Zimmer auf meinem Bett liegen. Mom schien heute irgendwie nicht genug davon zu bekommen, mich in ihrem Arm zu halten, während mir allmählich doch ein bisschen langweilig wurde. Ich fragte sie dann einfach, ob wir nicht nach unten zu den Anderen gehen wollten und sie stimmte dem schließlich seufzend zu.
Im Wohnzimmer dann wurde ausgiebig über meinen Trainingserfolg gesprochen und Jasper war natürlich wieder das bevorzugte Ziel von Emmett Scherzen. Alice kümmerte sich währenddessen liebevoll um seine Knie und streichelte sie immer wieder sehr zärtlich, was ihm sichtlich gefiel. Irgendwann meinte Jasper dann zu ihr, dass sie sicherlich auch eine gute Krankenschwester abgeben würde und die beschloss daraufhin, dass der Patient eigentlich etwas Bettruhe bräuchte. Dann nahm sie seine Hand und zog ihm mit sich nach oben in ihr Zimmer. Emmett sagte dann zu Rosalie, dass seine Rippen von dem Nashornangriff auch noch ein wenig weh tun würden, doch sie ließ sich nicht darauf ein und meinte nur grinsend, dass er dann wohl warten müsste, bis Alice Zeit für den nächsten Patienten hätte. Das gefiel Emmett wiederum überhaupt nicht und er erwiderte, dass er sich da schon lieber von einem Bären verarzten lassen würde. Da aber kein Bär verfügbar war, wollte er lieber mit mir eine Runde Musiktherapie machen. Ich schmollte natürlich etwas, weil ich nur die allerletzte Notlösung für ihn war, ließ mich dann aber doch dazu überreden, nachdem er mich auf Knien angefleht hatte, sein Leben mit etwas Gitarrespielen zu retten. Das war ja nun nicht gerade zu viel verlangt und so gingen wir lachend in den Musikkeller.
Später am Abend dann ging
ich wieder in mein Zimmer und malte noch etwas an dem neuen
Urwald-Bild, bis ich dann schließlich zu Bett ging.
Der Start in die neue Schulwoche fiel mir leichter, als zu erwarten gewesen wäre. Es schmerzte noch immer, Gabriel jeden Tag zu sehen, doch es war auch sehr schön, Lissie immer wieder in der Nähe zu habe. In den Mittagspausen aß ich nur noch wenig, da mich der leere Platz neben mir besonders an Gabriel erinnerte. Als er sich zum ersten Mal dorthin setzte, begann unsere Beziehung und sie endete, als er zum letzten Mal von dort aufgestanden war. Mit Lissie war in der Mensa auch nicht viel anzufangen, weil sie immer heimlich Kevin beobachtete und mit ihr kaum ein vernünftiges Gespräch geführt werden konnte. So ging ich den Großteil der Pause meistens draußen spazieren, vermied aber die Plätze, die ich vorher gerne mit Gabriel aufgesucht hatte.
Ich ging auch jeden Tag nach Schulschluss mit zu Lissie und wir zogen unser Lernprogramm eisern durch. Es gelang mir ganz gut, die Nachhilfe auf Lissies Pausenbedürfnis anzupassen und allmählich gewann sie mehr und mehr Zuversicht. Ich war sehr glücklich, dass ich einen Weg gefunden hatte, ihr effektiv helfen zu können und ich verbrachte sehr gerne die Zeit mit ihr. Das half mir auch ungemein bei Jaspers Angsttraining, das immer während der Autofahrt durchgeführt wurde.
Jeden Abend dann traf ich mich mit Lennox und genoss die Zweisamkeit mit ihm. Wir alberten auch viel herum und hatten großen Spaß dabei, fangen zu spielen. Ich rannte sowieso gerne durch den Wald und es war ja auch gleichzeitig ein gutes Flucht-Training, wie es auch Jasper mit mir machte. Lennox war allerdings kein so guter Jäger wie Jazz und obwohl er eigentlich schneller war als ich, war es für ihn nicht einfach, mich einzufangen. Wenn er es dann schaffte, bekam er natürlich einen langen und intensiven Kuss. Im Grund ließ ich mich deshalb auch immer wieder gerne fangen, denn wenn ich ihn so belohnte, war das ja nicht ganz uneigennützig.
So verging die Woche wie im Flug und schnell war der Freitag gekommen. Der Vormittag verlief dabei noch ziemlich ereignislos und ich begnügte mich in der Kantine wie so oft lediglich mit einem Schüsselchen Salat, in dem ich lustlos herumstocherte. Allerdings war heute etwas anders als sonst, denn Susi und Connie tuschelten miteinander und obwohl sie flüsterten, konnte ich natürlich deutlich hören, dass es um mich ging und darum, dass ich so wenig esse. Ich schaute zu den beiden auf und ihr Gespräch verstummte sofort. Beide machten betretene Minen, da sie wohl ahnten, dass ich etwas gemerkt hatte.
»Ist etwas?«, fragte
ich recht unschuldig.
»Äh, nein«, sagte Susi so
unsicher, dass es auch so jeglichen Zweifel ausgeräumt hätte,
selbst wenn ich es nicht schon vorher wüste.
»Jetzt
sagt schon, was ist los?«
Die beiden blickten zu Lissie und
die bekam einen roten Kopf.
»Verdammt, ihr sollt das doch
lassen«, sagte sie angespannt.
»Lissie? Was ist
los?«
»Nessie bitte, du darfst mir nicht böse
sein. Versprich es mir.«
»Lissie?«
»Das
ist nur so ein dummes Gerücht. Ich hab’ denen schon
gesagt, dass das Blödsinn ist.«
»Raus mit der
Sprache, Lissie.«
»I-I-Ich habe davon kein Wort
geglaubt. Ehrlich.«
»Um Himmels willen, sag es
endlich.«
»Also gut. Es ist so. Es wird darüber
geredet, dass du eine Essstörung hast.«
»Eine
Essstörung?«, fragte ich irritiert.
»Bulimie«,
sagte Susi dazwischen und wurde sofort dafür von Lissie böse
angefunkelt.
»Nessie, ich glaube das wirklich nicht. Du
könntest bestimmt nicht so Leistungsstark in der Schule sein,
wenn du diese Krankheit hättest.«
Oh man. Meine ganze Familie isst hier überhaupt nichts und wird von keinem verdächtigt. Ich esse wenigstens immer eine Kleinigkeit und trotzdem entsteht über mich so ein Gerücht.
»Von wem kommt das
denn?«
»Das weiß niemand«, meinte Paulina,
»aber würde mich nicht wundern, wenn Lou dahinter
steckt.«
»Und wieso glaubt ihr das dann? Sehe ich
vielleicht krank aus?«
»Ach komm schon, Nessie. Du
isst wirklich fast nichts und bist so schlank. Na ja und Liebeskummer
kommt auch noch dazu, oder?«
»Ihr glaubt das echt?
Lissie, du auch?«
»N-Nein, ich hab’ doch schon
gesagt, dass ich das nicht glaube, auch wenn …«
»Wenn
was?«
»Wenn … bitte Nessie, ich meine das echt
nicht böse, aber bei mir isst du doch auch nie etwas.«
»Oh
Lissie. Ich esse eben morgens und Abends zu Hause. Mein Familie isst
traditionell immer gerne zusammen und dann schlagen wir uns richtig
den Bauch voll.«
Das stimmte ja auch. Wenn wir auf die Jagd gingen, dann tranken wir ja wirklich fast bis zum Platzen. Wie wir uns ernährten, müssen sie ja nicht so genau erfahren.
»Mag ja sein«, fuhr
Susi fort, »aber du machst ja auch keinen Sport mit. Es weiß
ja keiner, ob du wirklich fit und gesund bist.«
»Bin
ich aber. Ich mache zu Hause mit der Familie Sport. Ich laufe
praktisch jeden Tag durch den Wald und trainiere auch Kraft und
Geschicklichkeit.«
Diesmal war es jetzt aber eine wirklich vollkommen wahre Aussage und trotzdem schauten mich alle ungläubig an. Außer Lissie, die schaute total unsicher und schien hin und her gerissen zu sein.
»Ihr glaubt mir nicht, oder?«
Außer einem Schulterzucken ließ sich keiner am Tisch zu einer echten Aussage hinreißen. Das war allerdings auch schon mehr als deutlich, denn wenn sie mir glauben würden, hätten sie es wohl auch gesagt. Man, das war doch echt zu dämlich. Wieso nur dieses hirnrissige Gerücht? Ich wollte nicht diese Art von Aufmerksamkeit erregen und musste einfach etwas dagegen zu. Jetzt sofort.
»Ich beweise es euch«, sagte ich und stand auf.
Ich schob meinen Stuhl ein Stückchen zur Seite und näher an den Tisch heran. Dann bog ich meinen Rücken durch, ließ ich mich rückwärts in die Brücke fallen und drückte mich kurz darauf mit den Füßen ab und machte einen Handstand. Ein leises Raunen ging durch den Saal und ich hörte einige Stimmen die »Schau mal«, oder »Sieh dir das an« sagten.
Ich lief auf den Händen zu meinem Stuhl und stieg auf ihn. Von dort ging es dann auf den Tisch. Danach balancierte ich kurz auf einer Hand, was die Geräuschkulisse in dem Saal kurz nach oben schießen ließ, trank einen Schluck Wasser aus meinem Glas und bewegte mich dann zur Tischkante. Dort ließ ich mich leicht vorwärts herunterkippen, drückte mich dann kräftig mit den Armen ab und kam nach einem Rückwärtssalto sicher auf meinen Beinen zu stehen.
Unter regem Beifall um uns herum setzte ich mich wieder zu meinen ungläubig dreinblickenden Freunden. Ich warf auch einen Blick auf meine Familie, die nicht weniger überrascht aussah. Das Grinsen und Kopfschütteln meines Vaters beruhigte mich aber ungemein. Trotz meiner auffälligen Show, hatte das wohl niemand für “unmenschlich” gehalten. Ich hatte das gute Gefühl, mein Ziel erreicht zu haben und lächelte zufrieden.
»Und? Überzeugt?«
»Boah,
Nessie. Was hast du denn drauf?«, meinte Nathan bewundernd. »Wo
hast du das denn gelernt?«
»Na, zu Hause. Habt ihr mir
denn nicht zugehört? Ich mache täglich Sport.«
»Aber
wenn du so sportbegeistert bis, warum machst du dann keinen
Schulsport mit?«
»Weil ich erstens zum Lernen in die
Schule gehe, zweitens, weil Sport eine Freizeitbeschäftigung ist
und drittens, weil ich den Schulsport langweilig finde.«
»Jedenfalls
war das echt cool«, meinte Paulina.
»Und? Zweifelt
jetzt noch jemand?«
Alle schüttelten sehr überzeugend
den Kopf, nur Lissie wirkte bedrückt.
»Stimmt etwas
nicht, Lissie?«
»Nein … doch … es tut
mir wirklich, wirklich leid, dass ich das tatsächlich in
Erwägung gezogen habe. Echt Nessie, bitte verzeih’ mir.
Ich wollte das eigentlich nicht glauben, aber ich hatte Angst, dass
da etwas dran sein könnte.«
»Ach Lissie. Da gibt
es nichts zu verzeihen. Du bist meine beste Freundin. Wenn du dich
nicht um mich sorgst, wer dann?«
Sie lächelte mich dankbar an, ich gab ihr einen Kuss auf die Wange und dann ging ich nach draußen, um meinen üblichen Spaziergang zu machen. Diesmal allerdings folgten mir weitaus mehr Augen als sonst.
Kurze Zeit später hatte Daddy, der mir überraschender Weise nachgelaufen war, zu mir aufgeschlossen und ging ein Stück mit mir.
»Hallo Liebling, das war
ja mal wieder eine interessante und überraschende Vorstellung
von dir.«
»Äh, ja. … Bist du jetzt böse
auf mich?«
»Ich? Nein, wieso? Es war nur wieder einmal
so typisch für dich, dass du nicht einfach das Naheliegendste
gemacht hast, sondern einen kleinen Event veranstaltet hast.«
»Was
wäre denn die Alternative gewesen?«
»Na, dass du
jeden Mittag normal essen würdest.«
»Oh!? …
Das ist mir nun wirklich nicht in den Sinn gekommen.«
»Das
meinte ich«, sagte er schmunzelnd. »Jedenfalls wollte ich
dir nur sagen, dass du eine menge Schüler heute beeindruckt
hast. Diese Fitness hatte dir keiner zugetraut und du hast das sehr
überzeugend gemacht.«
»Das ist gut. Danke
Daddy.«
»Gern geschehen. Ach ja, einige Jungs waren
allerdings ziemlich enttäuscht.«
»Aber warum
denn?«, fragte ich überrascht und leicht besorgt.
»Nun«,
begann er grinsend, »die hätten es lieber gesehen, wenn du
einen Rock und keine Hose getragen hättest.«
»Daddy!«
»Entschuldige
Schatz«, sagte er jetzt lachend. »Aber das musste ich dir
einfach sagen. Du hast ja keine Ahnung, wie viele das gedacht haben.«
Er gab mir noch einen Kuss auf
die heiße Wange und dann ging er und ließ mich mit
hochrotem Kopf draußen stehen.
Bis zum Nachmittagsunterricht hatte ich mich allerdings wieder beruhigt und quälte mich dann die letzten zwei Stunden durch IT. Warum nur wurde das langweiligste Fach hier auf den Freitagnachmittag gelegt? Das war mir einfach unbegreiflich.
Danach ging es wieder zu Lissie, die natürlich sofort ihrer Mom von meinem Auftritt in der Mensa erzählte. Auch sie schien merkwürdig überrascht zu sein und ich hatte den Verdacht, dass Lissie mit ihr über mein vermutetes Bulimie-Problem gesprochen hatte. Ich fragte sie danach und sie gab es mit großer Verlegenheit zu. Um jeglichen Verdacht auch bei Mrs. Miller endgültig zu beseitigen, stieg ich zum Beweis auf den Händen laufend die Treppe zu Lissies Zimmer hinauf, was von den beiden mit Applaus gewürdigt wurde. Danach konzentrierten wir uns aber wieder auf die Nachhilfe, beziehungsweise versuchten es zumindest. Lissie war das Ganze noch immer furchtbar unangenehm und sie war dadurch noch unaufmerksamer als sonst und wirkte auch wieder sehr müde und erschöpft von der Woche. Im Grunde machte ich mir auch Sorgen um sie, denn irgendwie konnte das doch nicht normal sein.
Am Abend dann traf ich mich
wieder mit Lennox und erzählte auch ihm von meiner Showeinlage.
Er fand das sehr amüsant, wenn auch verwunderlich, dass ich so
einen Aufwand trieb, um ein unbedeutendes Gerücht unter Menschen
zu widerlegen. Nun ja, unser Wunsch, mit den Menschen in Harmonie zu
leben, war ihm sowieso suspekt. Dann zeigte er mir, dass er auch auf
den Händen laufen konnte, was mich nun nicht gerade verwunderte.
Natürlich machte ich gleich mit und dann versuchten wir uns im
Handstand zu küssen. Das war allerdings gar nicht so einfach und
außerdem wollte ich ihn beim Küssen umarmen und so
plumpsten wir schon nach kurzer Zeit lachend auf den Waldboden und
küssten eben im Liegen weiter, was auch sehr schön war. Das
hatten wir sicherlich nicht zum letzten Mal gemacht.
Das folgende Wochenende verlief wieder sehr harmonisch mit einem schönen und erfolgreichen Jagdausflug am Samstag und einem anschließenden Einkaufsbummel mit Alice und Rosalie, da die beiden meinten, dass ich dringend neue Klamotten bräuchte. Da sagte ich natürlich nicht nein, denn das war immer eine tolle Ablenkung. Ansonsten holten mich gerade an Samstagen immer die Erinnerungen an die Nachhilfestunden mit Gabriel und den Unfall ein und da war ich dankbar für alles, was mich auf andere Gedanken brachte.
Auch der Sonntag verlief
ziemlich perfekt mit ausgelassenem Herumtoben mit Lennox,
erfolgreichem Kampftraining mit Jasper und Mom, tollem Musizieren mit
Emmett und lustigem Beisammensein am Abend mit der ganzen Familie.
Ich war wieder richtig gut drauf und die Trennung von Gabriel tat
fast nicht mehr weh.
In den folgenden Wochen kam ich mit meiner aktuellen Situation immer besser zu recht. Die Schule verlief problemlos und Gabriel ging mir nach wie vor aus dem Weg. Nur in Spanisch war das unmöglich, doch ich versuchte mich ihm gegenüber ganz normal zu verhalten und half ihm auch, wenn er Probleme hatte. Ich dachte mir, dass ich so ein kleines Band der Freundschaft zwischen uns aufrecht erhalten konnte und dass das vielleicht irgendwann eine Brücke werden könnte, auf der wir wieder zueinander finden, wenn er bereit dazu war.
Die täglichen Nachhilfestunden mit Lissie brachten mich ihr auch immer näher. Sie erzählte in den Pausen auch öfters davon, wie sehr sie für Kevin schwärmte und wie blöd sie das selbst fand, weil sie ohnehin keine Chance darin sah. Trotzdem konnte sie ihn einfach nicht aus ihrem Kopf bringen. Da konnte ich ihr nun aber wirklich nicht helfen, denn schließlich hatte Gabriel ja mit mir Schluss gemacht und ich brachte ihn auch nicht wirklich aus meinen Gedanken, sondern hegte immer noch die Hoffnung, dass wir wieder zusammenkommen würden. So trösteten wir uns häufig gegenseitig über den Liebeskummer hinweg. Nun ja, bei mir war es aber auch nicht mehr ganz so schlimm, denn schließlich hatte ich Lennox, der es meisterlich verstand, mich abzulenken.
Ich machte auch häufiger mit Lissie und unseren Freunden etwas für die Samstagnachmittage aus, oder wir gingen am Abend ins Kino. Solange es kein 3D-Film sein musste, war ich immer gerne dabei.
Das Training mit Jasper wurde allmählich immer anspruchsvoller, aber er übertrieb es nie, sondern ging nur so weit, wie ich es aushalten konnte. Alleine die Tatsache, dass er immer stärkere Emotionen auslösen konnte, ohne dass ich mich ihnen ergab, erfreute ihn sehr und er lobte mich auch des Öfteren wegen meiner Fortschritte.
Meine praktisch täglichen kleinen Rendezvous mit Lennox nahmen allerdings auch an Intensität zu. Inzwischen wurde das Spiel unserer Zungen beim Küssen durch verstärktes Streicheln ergänzt. Seine Hände fanden jetzt regelmäßig ihren Weg zu meinem Po und er war mal sehr zärtlich und dann wieder wild und drängend. Auch dass seine Hände unter mein T-Shirt fuhren, ließ ich gerne zu, denn die Gefühle, die er dabei in mir auslöste, waren einfach unbeschreiblich aufregend. Von diesem kribbeln konnte ich einfach nicht genug bekommen. Ich liebte es, wenn wir wild küssend auf dem Waldboden lagen, er mit einer Hand unter meinem T-Shirt bis hoch zu meinem Nacken fuhr und mich dort festhielt und die andere Hand meinen Hintern streichelte und mich fest an ihn drückte. Es war atemberaubend und wenn wir uns dann umdrehten und er auf mir lag, dann traute ich mich inzwischen auch, das Gleiche bei ihm zu machen. Seine glatte weiche Haut am Rücken und der feste Po, den ich durch den Stoff der Hose deutlich ertasten konnte, fühlten sich einfach toll an.
Nachts, in meinen Träumen, ging ich sogar noch weiter, aber in der Realität traute ich mich das noch nicht. Etwas in mir hielt mich zurück, doch ich wusste nicht, was es war. Vielleicht ein unterdrückter Wunsch, das lieber mit Gabriel zu haben, oder die Vorstellung, dass es Jacob missfallen könnte? Ich wusste es einfach nicht und meine Träume gaben mir keine Antwort darauf. Mir war nur eines klar. Lennox wollte mehr und das zeigte er deutlich. Ein kleiner Teil von mir wollte das auch, aber irgendwie konnte oder wollte ich dem nicht nachgeben, was mich mehr und mehr verunsicherte, denn unterschwellig befürchtete ich, dass Lennox nicht ewig warten würde.
Obwohl Dad inzwischen mehr als
ein mal meine aufgewühlten Gedanken wegen Lennox aufgeschnappt
hatte, ließ er mich trotzdem in Ruhe. Natürlich sah ich
ihm an, dass es ihm nicht gefiel, was er mitbekam, doch andererseits
war er auch froh, dass ich mich dazu entschlossen hatte, es nicht
länger vor ihm verbergen zu wollen. Im Gegenzug erwartete ich
von ihm, dass er mir vertraute, es für sich behielt und nicht
versuchte, mich zu beeinflussen. Dem stimmte er zähneknirschend
zu, bat mich allerdings nur um eine Sache, nämlich dass ich doch
bitte nur das tun sollte, was ich wirklich wollte. Das versprach ich
ihm natürlich.
Mitte Februar war es dann für Daddy soweit, dass er seinen offiziell 17 Geburtstag feierte und endlich ein Auto und einen Führerschein bekam. Er entschied sich in alter Tradition natürlich für einen Volvo. Das Sportcoupés Volvo C70 T5 hatte es ihm dabei besonders angetan und das musste es dann auch sein. Es war dunkelrot metallic und sah mit den farblich angepassten Ledersitzen einfach toll aus. In den letzten Wochen hatte er mit Emmett und Rosalie zusammen auch angefangen, unsere Zufahrt zu richten, da er die unebene Straße mit den vielen kleinen Schlaglöchern seinem Auto nun wirklich nicht zumuten wollte. Jasper weigerte sich zu helfen, denn ihm machte die Straße mit seinem Geländewagen schließlich mehr Spaß, wenn sie so blieb, wie sie war. Emmett hätte das vermutlich auch so gesehen, doch Rosalie hatte dafür nicht den Hauch von Verständnis, zumal sie in drei Monaten auch endlich wieder ein eigenes Auto bekommen würde. Überhaupt schien Rosalie voller Vorfreude zu sein und so gab es auch keine Widerstände oder Diskussionen, als sie gleich damit anfing, Dads Auto hier und da ein wenig zu verbessern.
Es war ein Mittwoch, als er zum ersten Mal mit seinem neuen Auto zur Schule fahren durfte und ich fuhr natürlich mit ihm und Mom mit. Dad schien deshalb voller Freude zu sein und lächelte ständig. Dieses Coupés war aber auch wirklich toll und alle Blicke waren auf uns gerichtet, als wir auf dem Parkplatz vor der Schule ankamen. Dad streichelte fast verliebt über den Lack seines sportlichen Wagens, als er ausgestiegen war und Mom und ich konnten uns ein Kichern nicht verkneifen. Mom streichelte er dann allerdings noch weitaus liebevoller und auch ich bekam einen zärtlichen Kuss, als wollte er mir beweisen, dass er mich lieber hatte, als sein neues Auto.
In meiner Klasse wurde ich auch von ein paar Jungs darauf angesprochen, was das denn für ein Wagen sei, den mein Bruder fuhr und ich erzählte es ihnen. Von Rose hatte ich auch einige technische Details mitbekommen und konnte vor meinen Klassenkameraden mit etwas Fachwissen prahlen, was die tatsächlich sehr zu beeindrucken schien. Nur Gabriel war wohl alles andere als beeindruckt, denn er sah nur kurz zu mir auf und wirkte dabei verärgert oder sogar enttäuscht. Ich ahnte, dass es ihm dabei mal wieder um den Umgang meiner Familie mit Geld ging, doch was hätte ich dagegen tun können? Ich war doch Teil dieser Familie und das war mein Leben. Wenn er das nicht irgendwann akzeptieren konnte und Teil davon werden wollte, dann würde es wohl nie eine zweite Chance für uns geben. Ich fand das sehr deprimierend und ärgerte mich darüber, dass so etwas dämliches einfach hartnäckig zwischen uns stand. Gut fünf Wochen waren wir deswegen schon getrennt und ich vermisste ihn immer noch. Genauso hatte ich immer noch das Gefühl, dass es ihm ähnlich ging, doch er wollte einfach nicht den nötigen Schritt auf mich zu machen und ich durfte es nicht, sondern musste warten. Es war so frustrierend.
In meiner Freistunde vor der Mittagspause ging ich hinaus, in der Hoffnung, dass die frische, kalte Luft mir etwas innere Ruhe schenken würde. So richtig wollte das aber nicht klappen. Ich verzichtete auch auf das Mittagessen und blieb einfach gleich draußen. Da das Bulimie-Gerücht aus der Welt geschafft war, störten sich meine Tischgenossen nicht mehr daran, wenn ich das Essen hin und wieder ganz ausfallen ließ.
Als ich gerade nach meinem Spaziergang auf dem Weg zurück das Schulgebäude betrat, vernahm ich plötzlich Lous aggressive Stimme.
»Ich warne dich, Blondi. Wenn du nicht aufhörst ihn anzustarren, kratze ich dir die Augen aus.«
Hatte sie den gleichen Spruch nicht auch bei mir abgelassen? Sehr innovativ schien sie mir ja nicht zu sein.
»Lass’ mich in Ruhe Lou. Du hast mir gar nichts zu sagen.«
Verdammt. Das war Lissies Stimme. Ich lief schnell in die Richtung, aus der ich sie gehört hatte und bog gerade um die Ecke, als ich sah, wie Lou Lissie kräftig gegen die Wand schubste und die sich den Kopf anschlug, schmerzhaft »Au!« rief und dann zu Boden rutschte.
Wie konnte das Miststück das nur wagen? Lissie war viel schwächer als sie und Lou hatte auch noch ihre beiden Tussis als Unterstützung dabei. Aller drei hatten ein fieses Grinsen im Gesicht und in mir wuchs eine unbändige Wut heran. Alles um mich herum war in rotes Licht getaucht.
Ich rannte zu ihnen und es fiel mir schwer, mich zu bremsen, um nicht zu schnell zu rennen, denn auch ein paar andere Schüler standen dort herum und gafften. Sekunden später war ich dort, stellte mich vor Lissie und knurrte Lou voller Hass an. Ihre beiden Schoßhündchen liefen geradezu panisch weg. In ihrer spontanen Flucht hatten sie aber versehentlich unterschiedliche Richtungen eingeschlagen und so blieben sie dann in etwa zehn Meter Entfernung links und rechts von mir im Korridor stehen, sahen sich gegenseitig an und zitterten ängstlich. Ich roch ihr Adrenalin und auch das von Lou, die jedoch versuchte, sich ihre Angst nicht anmerken zu lassen. Ihre erhöhte Herzfrequenz, die beschleunigte Atmung und die geweiteten Pupillen zeigten mir aber deutlich, dass sie eine Heidenangst hatte. Meine Instinkte waren sehr geschärft und ich nahm alles in Bruchteilen einer Sekunde war. Lissie wimmerte leicht hinter mir und das fachte meinen Zorn noch mehr an.
Ich bemerkte auch meine Familie, die wohl gerade von Dad alarmiert aus der Kantine gekommen waren. “Bleibt wo ihr seid, Dad”, dachte ich intensiv und er hielt sofort Mom und Jasper am Arm und so blieben sie noch ein gutes Stück entfernt stehen und beobachteten mich. Ich wollte mich jetzt von ihnen auf keinen Fall aufhalten lassen und es war besser so, dass sie sich zurückhielten.
»Lou! Du miese Kröte. … Lass’ meine Freundin in Ruhe oder ich verpasse dir eine Ohrfeige, nach der du nicht mehr aufstehst. … Hast du mich verstanden?«
Sie versuchte ihre Angst zu überspielen und funkelte mich an, war aber nicht in der Lage zu reden. Das leichte zittern ihrer Lippen blieb mir nicht verborgen. Ich sah mein eigenes wütendes Gesicht, das sich in ihren feuchten, glänzenden Augen spiegelte. Es war mir egal, dass man mir meine Wut so deutlich ansehen konnte, denn ich war nicht bereit, Lou diese niederträchtige Tat durchgehen zu lassen. Ich packte sie mit beiden Händen vorne am Kragen ihrer Jacke und drückte sie mit spielender Leichtigkeit nach hinten an die Wand. Sie versuchte sich dagegenzustemmen und griff nach meinem Armen, doch sie war ohne Chance. Ich fletschte meine Zähne und ein weiteres Knurren drang aus meiner Kehle. Ihr Gesichtsausdruck veränderte sich und konnte nicht länger ihre Mutlosigkeit verbergen. Schweißtropfen bildeten sich an ihren Schläfen und verstärkten den Gestank ihrer Furcht.
»Ich sage das ein letztes Mal, Lou. …Lass’ Lissie in Ruhe oder du bereust es. … Ist das klar!«
Unfähig sich mir zu widersetzen, nahm sie die Hände von meinen Armen und hielt sie so, als ob sie mit einer Waffe bedroht wurde und sie sich ergeben wollte. Oh ja, ich fühlte mich wie eine Waffe und das ließ ich sie spüren. Dann nickte sie mir leicht zu. In ihrem Gesicht sah ich deutlich, dass sie aufgegeben hatte und das schwächte meinen Zorn wieder ab. Ich ließ sie los und ging einen Schritt zurück.
»Noch so eine Aktion, Lou und ich schwöre dir, es wird deine letzte sein. … Und jetzt verschwinde.«
Sie sah mich noch eine Sekunde lang fassungslos an und ging dann zügig den Korridor entlang, zu einer ihrer Begleiterinnen. “Mit dir habe ich auch noch ein Hühnchen zu rupfen”, dachte ich mir und sah diese böse an, was ihr das blanke Entsetzen ins Gesicht trieb.
»Du! Herkommen!«, sagte ich laut und aggressiv, ohne jedoch wirklich zu schreien. Total verängstigt und unfähig sich zu widersetzten kam sie wie ferngesteuert auf mich zu.
»Du auch«, sagte ich
zu der Anderen und die reagierte auf die gleiche Weise.
»Wartet
hier«, lautete mein letzter Befehl, den ich mit einem
Fingerzeig auf den Boden unterstrich, bevor ich mich zu Lissie
umdrehte, um mich erst einmal um sie zu kümmern. Sie saß
noch mit dem Rücken an der Wand auf dem Fußboden und hielt
sich den Hinterkopf. Die Spuren von ein paar Tränen waren noch
auf ihren Wangen zu sehen, doch sie schien schon etwas gefasster zu
sein.
»Wie geht es dir,
Lissie?«, fragte ich sanft und besorgt.
»Geht schon«,
sagte sie etwas zittrig. »Das gibt bestimmt eine fette Beule.«
Ich warf Lou, die stehen geblieben war und wohl auf ihr Gefolge wartete, noch einen finsteren Blick zu und die zuckte sogar leicht zusammen.
»Kannst du aufstehen?«,
fragte ich behutsam.
»Ich glaub’ schon.«
Vorsichtig half ich ihr hoch und vergewisserte mich, dass sie sicher stand, bevor ich mich wieder zu den anderen beiden umdrehte. Ich machte zwei Schritte auf sie zu und sie schienen immer kleiner zu werden.
»Im Grunde habe ich mit euch kein Problem, aber wenn ihr nicht aufhört, Lou bei diesen rücksichtslosen und gemeinen Aktivitäten zu unterstützen, gilt das Gleiche, was ich zu ihr gesagt habe, auch für euch. … Habt ihr das verstanden, oder muss ich es noch mal wiederholen?«
Ich sagte es mit ruhigem und eindringlichem Ton, denn ich wollte keinen Zweifel an der Ernsthaftigkeit meiner Worte aufkommen lassen. Daraufhin nickte die Eine und schüttelte die Andere den Kopf. Das verwirrte die beiden so sehr, dass sie gleich darauf das Selbe noch mal entgegengesetzt machten.
»Was jetzt?«, fragte
ich aufgesetzt zornig, denn die Situation war auch ein wenig witzig
und mein Zorn dadurch schon ziemlich verraucht.
»Wir haben
verstanden«, jammerten sie fast im Chor.
»Dann
verschwindet«, sagte ich und zeigte mit dem Daumen in die
andere Richtung, denn ich wollte nicht, dass sie jetzt zu Lou gehen
würden. Die beiden zogen auch schnell ab und wagten es nicht
sich umzudrehen, obwohl ich genau wusste, dass sie eigentlich in die
entgegengesetzte Richtung zum Unterricht mussten. Ich blickte noch
mal zu Lou und auch die drehte sich sofort um und ging.
Nachdem die Situation nun endgültig geklärt war und ich schützend meinen Arm um Lissie gelegt hatte, kam auch meine Familie näher. Die meisten Schüler waren inzwischen auch schon wieder auf dem Weg zu ihren Klassenzimmer, denn hier gab es jetzt ja nicht mehr viel zu sehen.
Ich blickte in die Gesichter meiner Familie und war absolut darauf gefasst, dass sie meine Aktion ziemlich missbilligend würdigten, doch ich wurde überrascht. Rose und Em grinsten mich breit an während Mom und Dad schon eher einen tadelnden Blick aufgesetzt hatten. Alice lächelte unbeschwert und Jasper sah ziemlich gelassen aus. Eigentlich schon fast entspannt, obwohl das in der Schule bei den vielen menschlichen Gerüchen nicht so oft vorkam.
»Denen hast du’s aber gegeben, Süße«, meinte Emmett mit seiner brummigen Stimme und legte seine Hand lobend auf meine Schulter. Zum Glück hielt er sich zurück, sonst wäre ich vermutlich eingeknickt, was nicht gerade hilfreich gewesen wäre, wo ich doch selbst meine Freundin stützen wollte. Dad stellte sich vor Lissie und sah sie prüfend an.
»Wie geht es dir?«,
fragte er sie einfühlsam.
Ȁhm, danke. Geht
schon«, sie sah nur kurz zu ihm auf und ich spürte, wie
sich ihr Herzschlag beschleunigte. Eine Reaktion, die mein gut
aussehender großer Bruder bei vielen Mädchen hervorrief.
Dass das auch bei Lissie der Fall war, ließ mich
schmunzeln.
»Du solltest vielleicht auf die Krankenstation
gehen. Nur für den Fall, dass du vielleicht eine
Gehirnerschütterung hast. Wenigstens kannst du dort eine
Kopfschmerztablette bekommen.«
»Ja, O.K.«, sagte
sie und ich begleitete sie natürlich.
Mom und Dad kamen auch mit, während sich die Anderen schon mal auf den Weg in ihre Klassenzimmer machten.
»Lissie?«, fragte
ich vorsichtig auf dem Weg zur Krankenstation. »Willst du Lou
vielleicht auch gleich beim Rektor melden?«
»Nee,
Nessie. Dann kriegst du bestimmt auch Ärger. Das will ich
nicht.«
»Ach was, ich habe dich doch nur beschützt.
Und wenn, macht mir das auch nichts aus.«
»Aber mir
macht das was aus. Außerdem hast du schon ein bisschen mehr
gemacht, als mich nur zu beschützen. … Woher nimmst du
nur das Selbstbewusstsein, für so eine Aktion? Du hast die total
eingeschüchtert.«
Ich zuckte mit den Schultern.
»Hmm,
das liegt mir wohl im Blut«, sagte ich lapidar und konnte
deutlich ein Grinsen bei Dad erkennen.
Während Lissie dann untersucht wurde, wartete ich draußen vor der Tür mit meinen Eltern.
»Das war sehr riskant,
Sternchen«, meinte Mom besorgt.
»Ich weiß, aber
ich konnte nicht anders. Lou ist immer so gemein und rücksichtslos.
Da konnte ich einfach nicht mehr zusehen und ich hoffe wirklich, dass
das jetzt ein Ende hat.«
»Nun ja«, erwiderte
Dad, »zumindest ist sie eingeschüchtert und ihre
Begleiterinnen ist sie auch erst mal los.«
»Daddy? Das
haben doch auch Andere gesehen. Was denken die jetzt von mir? Hast du
da etwas mitbekommen?«
»Sicher habe ich das. Aber ich
wäre nicht so ruhig, wenn es ein Problem geben würde. Nach
deiner Vorstellung in der Mensa kürzlich, waren die meisten
nicht sehr überrascht, dass da noch mehr in dir steckt. Du hast
einige Bewunderer hier, zumal Lou ja auch nicht gerade sehr beliebt
ist. Es war sehr beeindruckend für die anderen Schüler, wie
du dich für deine Freundin eingesetzt hast und viele wünschten
sich auch mit dir befreundet zu sein.«
»Echt? Das ist
ja geil.«
»Es war trotzdem sehr leichtsinnig,
Liebling, aber Jasper hat es gut gefallen, dass du trotz deiner Wut
nur das gemacht hast, was du wirklich wolltest. Er hat den Erfolg
seines Trainings mit dir darin gesehen und war ziemlich stolz. Auf
sich und auf dich, wohlgemerkt.«
Ich lächelte. Irgendwie bedeutete es mir immer viel, wenn Jasper stolz auf mich war und wenn er meinetwegen auch auf sich selbst stolz war, dass er so ein guter Lehrer ist, um so besser.
Als Lissie wieder herauskam, hatte sie einen Eisbeutel in der Hand, den sie sanft gegen ihre Beule hielt. Sie meinte zu uns, dass es nichts ernstes wäre. Dann ging ich mit ihr in unsere Klasse. Natürlich kamen wir viel zu spät zum Physik-Unterricht und entschuldigten uns für unsere Verspätung. Lissie sagte zu Mr. Wattson, dass sie gestürzt wäre und sich den Kopf angeschlagen hätte. Da ging ein leichtes Raunen durch die Klasse, denn offensichtlich war hier schon über die wahre Geschichte geredet worden. Lou schien allerdings ein wenig erleichtert zu sein, dass diese Erklärung verwendet wurde. Ich sah sie jedenfalls noch mal eindringlich und finster an, damit sie sich ja keine falschen Hoffnungen deswegen machte. Die anderen beiden trauten sich jedenfalls nicht mich anzusehen, was im Grunde so auch besser war.
Nach der Schule fuhr ich natürlich wieder mit zu Lissie nach Hause und sie erzählte ihrer Mutter auch gleich, was wirklich zu der Beule geführt hatte und vor allem, wie ich sie verteidigt hatte. Dafür schenkte mir Mrs. Miller ein bewunderndes und herzliches Lächeln, streichelte mein Gesicht, was mir die Hitze in die Wangen trieb und nahm mich dann auch noch in den Arm. Es war nicht nur ihre liebevolle Art, die mich erröten ließ, sondern auch die Anstrengung, die es mich immer kostete, ihrem berauschenden Duft zu widerstehen. Wenn sie mich berührte, war es immer besonders intensiv. Gott, ich war so froh, dass Lissie nicht so roch.
Beim Lernen tat sich Lissie wie immer schwer und wirkte einfach schlapp. Dann bekam sie auch schon wieder Nasenbluten und sah danach so blass und fertig aus, dass ich mir große Sorgen um sie machte. Sie meinte aber nur, dass das ja nicht das erste Mal für sie wäre und dass es ihr schon bald wieder besser gehen würde.
Als mich Jasper später abholte, schickte er mir zur Abwechslung mal keine Angst, sondern große Freude. Damit hatte er mich total überrumpelt und Mrs. Miller sah mir verwundert hinterher, warum ich auf dem Weg zum Auto plötzlich laut loslachte. Ich winkte ihr und Lissie noch grinsend zum Abschied und stieg ein. Jasper meinte, ich hätte mir das heute mal verdient, aber ich sollte mich trotzdem darauf konzentrieren, ruhig zu bleiben. Das wäre schließlich auch Training und wenn ich nicht richtig mitmachte, würde es kein zweites Mal geben. Das hörte sich zwar alles unheimlich lustig an, aber ich verstand und unterdrückte den Drang zu Lachen, so gut es nur ging.
Am Abend war mein Verhalten Lou und ihren Schoßhündchen gegenüber natürlich das Hauptgesprächsthema, wobei ich nicht wirklich dafür getadelt wurde. Sogar Carlisle und Esme fanden eher anerkennende Worte für mich und meinten, dass Zivilcourage immer bewundernswert ist und dass sie stolz auf mich sind. Nicht nur, weil ich so gehandelt hätte, sondern auch, weil ich sehr beherrscht gewesen wäre. Ich freute mich sehr über ihr Lob und küsste und drückte die beiden.
Mit Carlisle führte ich dann noch ein kurzes Gespräch und berichtete ihm von Lissies gesundheitlichen Problemen und dass ich mir große Sorgen um sie machte. Er meinte zwar, dass es viele harmlose Ursachen für Nasenbluten und Abgeschlagenheit gäbe, aber er würde sie natürlich auch gerne untersuchen, wenn sie dem zustimmen würde. Wir vereinbarten, dass ich Lissie einlade, an einem Samstag zu mir zu kommen und dann würde sich vielleicht eine Gelegenheit ergeben.
Ich traf mich später dann
wie üblich mit Lennox und erzählte auch ihm davon. Er fand
dafür jetzt nicht unbedingt lobende Worte, sondern beurteilte es
eher als leichtsinnig, das Geheimnis zu riskieren. Er konnte einfach
nicht verstehen, wie man sich als Vampir so wegen eines Menschen in
Gefahr bringen konnte. Nun ja, ich wusste ja, dass er Menschen anders
betrachtete als ich. Das war eben seine Natur. Also beließ ich
es dabei, denn es gab sehr viel schöneres, das wir tun konnten,
als über so etwas zu diskutieren. Zumindest in dem Punkt waren
wir einer Meinung.
Am Donnerstag hatte sich die Geschichte zwischen mir und Lou wohl bereits ziemlich herumgesprochen, denn ich spürte viele bewundernde Blicke auf mir ruhen. Weit aus mehr, als Daddys Auto bekommen hatte. Lissie sah noch immer ziemlich mitgenommen aus und hatte eine wahrhaft große Beule. Paulina meinte lachend zu mir, dass sie ja anfangs alle gedacht hätten, sie müssten mich vor Lou beschützen, aber jetzt müssten sie sich wohl überlegen, Lou vor mir zu beschützen. Ich sagte zu Paulina, dass nur Lou selbst sich vor mir schützen könnte, in dem sie einfach diesen Schwachsinn bleiben lässt. Dem hatte keiner etwas entgegenzusetzen und wir gingen dann auch bald in unsere Klassenzimmer.
Während des Unterrichts bemerkte ich häufiger, dass Gabriel kurz zu mir sah. Das hatte er schon lange nicht mehr gemacht und ich war sehr unsicher, ob ich jetzt den Blickkontakt zu ihm suchen sollte, oder ob ich einfach so tun sollte, als ob ich nicht bemerkt hätte, damit er mich in Ruhe und ungestört ansehen konnte. Vielleicht sehnte er sich ja nach mir und da wollte ich ihn nicht durch etwas unüberlegtes zurückschrecken lassen. Womöglich war das ja ein kleiner Schritt von ihm auf mich zu und dann wäre meine Hoffnung auf eine zweite Chance womöglich doch nicht vergebens. Also tat ich nichts und wartete einfach ab, was passierte. Dennoch gelang es mir nicht ganz, vollkommen ruhig zu bleiben, denn alleine die Tatsache, dass er mich wieder beobachtete, ließ mein Herz schneller schlagen.
In der Mittagspause ging ich wie üblich nach einer kleinen Zwischenmahlzeit spazieren und genoss die kalte Luft. Obwohl es eigentlich immer recht angenehm hier draußen war, kamen nur wenige Schüler auf die Idee, die Mittagspause wenigstens teilweise im Freien zu verbringen. Vielleicht lag es ja auch an den Temperaturen, denn als das Schuljahr im August begonnen hatte, war hier noch mehr los. Jetzt musste man nicht lange suchen, um ein ruhiges Plätzchen zu finden, denn davon gab es viele und nur wenige wurden zur Zeit von verliebten Pärchen zum Schmusen genutzt. Paulina und Simon waren auch gelegentlich hier. Sie zu sehen war immer etwas unangenehm, denn es erinnerte mich daran, dass Gabriel und ich diese Orte auch gerne so genutzt hatten.
Seufzend ging ich langsam weiter und bemerkte dann die Geräusche von Schritten, die sich mir näherten. Dann war da plötzlich auch noch ein Duft in der Luft, denn ich nur zu gut kannte. Es war Gabriels Geruch. Ich war kurz wie erstarrt, doch zwang ich mich, unauffällig weiterzugehen. Was führte ihn hier her? Er hatte doch hoffentlich keine neue Freundin, mit der er sich hier vergnügen wollte? Oder kam er vielleicht doch wegen mir?
Ich ertrug die Ungewissheit einfach nicht länger und drehte mich wie zufällig um. Gabriel war alleine, wie ich erleichtert feststellte und er kam auf mich zu. Sein Tempo hatte er allerdings sofort verlangsamt, als ich mich ihm zugewandt hatte. Als er schließlich vor mir stand und mich ansah, wurde ich furchtbar nervös und wartete ungeduldig darauf, dass er etwas sagen würde.
»Hallo Nessie, wie geht es
dir?«
»Danke gut, Gabriel. Und dir?«
»Ja,
geht so. … Ich wollte dir nur sagen, dass ich gehört
habe, wie du Lissie gegen Lou geholfen hast. Ich bewundere das. Du
bist einfach ein guter Mensch.«
»D-Danke Gabriel. Es
bedeutet mir viel, dass du so über mich denkst.«
Ȁhm,
ja. … Und sonst? Ist bei dir alles in Ordnung?«
»Eigentlich
schon. Meine … Therapie macht Fortschritte.«
»Das
ist toll, Nessie. Das freut mich für dich.«
Wir sahen uns noch ein paar Augenblicke schweigend an. Ich hatte keine Idee, was ich zu ihm sagen sollte und er wohl auch nicht.
»Ja, das wollte ich
eigentlich nur sagen. Ich geh’ dann mal wieder. Mach’s
gut, Nessie.«
»Du auch. … Hat mich gefreut.«
Er nickte, lächelte leicht
und dann drehte er sich um und ging zügig wieder in das Gebäude.
Ich stand verwirrt da und schaute ihm hinterher. Was hatte das jetzt
zu bedeuten? War das ein erster Schritt zu mir zurück? Ich
hoffte es sehr, denn ich wünschte mir nichts mehr als das.
Am Nachmittag bei Lissie erzählte ich ihr davon und wir versuchten sein Verhalten zu analysieren. Im Ergebnis kamen wir dazu, dass Gabriel wohl noch immer etwas für mich empfand, mit der Situation aber nach wie vor noch nicht abgeschlossen hatte. Mir würde wohl nichts anderes übrig bleiben, als weiter abzuwarten.
Sie selbst war beim Lernen wieder furchtbar unkonzentriert und als sie vom Boden aufstand, klagte sie auch noch über Schmerzen in den Beinen und legte sich kurz hin. Ich fand das so schrecklich und ich musste sie einfach jetzt fragen, ob sie sich von Carlisle untersuchen lassen würde.
»Lissie? Ich mache mir
wirklich Sorgen um dich.«
»Ach was. Mir geht’s
gleich wieder besser.«
»Nein, Lissie. Jetzt sei doch
mal ehrlich zu dir selbst. Du bist immer so angespannt und müde
und jetzt auch noch die Schmerzen in den Beinen und dann noch das
Nasenbluten. Ich bitte dich, Lissie. Würdest du dich bitte,
bitte, bitte, von meinem Vater untersuchen lassen? Er ist ein sehr
guter Arzt.«
»Ich war doch schon beim Arzt. Der hat
doch gesagt, dass das nichts Ernstes ist.«
Warum nur wehrte sie sich dagegen? Carlisle würde sie viel gründlicher untersuchen als irgend ein anderer Arzt. Ich sah sie flehend an und suchte händeringend nach den richtigen Argumenten, um sie davon zu überzeugen, sich richtig untersuchen zu lassen.
»Jetzt schau doch nicht
so, Nessie. Mir geht’s gut.«
Ich schüttelte mit
dem Kopf. Ich hatte einfach Angst um sie.
»Bitte tu es für
mich. Ich erfülle dir auch jeden Wunsch, nur bitte lass’
dich von meinem Vater nur ein einziges Mal untersuchen.«
»Und
wie hast du dir das vorgestellt?«, fragte sie leicht
genervt.
»Du brauchst nur zu mir kommen. Vielleicht am
Samstag? Dann verbringen wir einen schönen Tag zusammen und
Carlisle untersucht dich kurz.«
»Und dann gibst du
Ruhe?«
»Heißt das, du sagst ja?«
»Ja.«
»Oh
danke, Lissie«, sagte ich und nahm sie auf dem Bett liegend in
den Arm.
»Ist ja gut, Nessie. Du verrückte Nudel, geh’
runter von mir.«
»Dein Wunsch ist mir Befehl«,
sagte ich fröhlich und auch sie lächelte mich an.
Bevor Jasper mich abholte, fragte ich noch Mrs. Miller, ob es in Ordnung wäre, wenn Lissie am Samstagnachmittag zu mir kommen würde. Sie hatte nichts dagegen und wollte Lissie dann gegen 14 Uhr zu uns bringen.
Zu Hause informierte ich Carlisle und die Familie darüber. Sie alle fanden das gut, zum Einen, weil es ihnen gefiel, wie ich mich für meine Freundin einsetzte und zum Anderen, weil sie auch alle ziemlich neugierig waren, ob es denn eine medizinische Erklärung dafür gäbe, warum Lissies Blut bei mir keinen Durst auslöste.
Bei meinem Treffen mit Lennox erzählte ich nichts davon. Es würde ihn ohnehin nicht interessieren und außerdem waren seine Lippen in letzter Zeit lieber mit Küssen als mit Reden beschäftigt.
In der Nacht begegnete mir dann Jacob wieder einmal im Traum und lobte mich dafür, dass ich mich so um meine Freundin kümmerte. Ich hatte ihn schon eine Weile nicht mehr gesehen und meckerte mit ihm, weil er sich so selten blicken ließ, doch er meinte dann, dass ich ja immer mit dem Blutsauger rumhängen würde und da wollte er nicht zusehen. Das irritierte mich dermaßen, dass ich darüber aufwachte und es fiel mir schwer, wieder einzuschlafen.
Am Morgen dann war ich noch ziemlich müde, versuchte aber, es mir nicht so sehr anmerken zu lassen. So recht wollte es mir aber nicht gelingen, da ich ständig gähnen musste. Für meine Familie war das aber sehr amüsant. Obwohl sie seit meinem ersten Tag wussten, dass ich schlafen konnte, schien das für sie einfach faszinierend zu sein. Für mich war es genau anders herum. Es war nicht so, dass ich nicht schlafen wollte, denn dann könnte ich ja auch nicht mehr träumen, vielmehr war es mir rätselhaft, wie man so ganz ohne Schlaf auskommen konnte, ohne dabei verrückt zu werden.
Etwas übermüdet wie ich war, schleppte ich mich durch den Freitagsunterricht. Selbst ausgeschlafen ist dieser Tag nicht wirklich angenehm. Das verhinderten Mrs. MacLeish mit ihrer merkwürdigen Vorstellung von Geographie und Mr. Rutherford mit seinen beispiellos langweiligen IT-Unterricht. Das einzig gute am Freitag war, dass es der letzte Schultag der Woche war und dann das Wochenende auf einen wartete. Ich ging zwar gerne zur Schule, aber Samstag und Sonntag hatten auch ihren besonderen Reiz.
Ich fuhr natürlich wieder mit zu Lissie, die wieder einmal unheimlich erschöpft und fertig wirkte. Ich war so froh, dass sie sich bereiterklärt hatte, dass Carlisle sie untersuchen durfte und ich hoffte sehr, dass er die Ursache schnell finden und beheben konnte.
Am Abend gab ich noch Lennox
Bescheid, dass ich morgen vielleicht nicht, oder erst spät und
nur für kurze Zeit kommen könnte. Daraufhin meinte er,
ohnehin auch mal wieder einen kleinen Jagdausflug machen zu wollen
und dass wir uns dann eben am Sonntag wieder sehen würden.
Natürlich, bräuchte er für einen ganzen Tag dann schon
einen kleinen Vorschuss und den gab ich ihm selbstverständlich
sehr gerne.
Am Samstag dann gingen wir wie üblich am Vormittag auf die Jagd. So richtig Spaß hatte ich dabei aber nicht wie sonst. Die Anderen waren zwar alle recht gut drauf, nur ich war mit den Gedanken immer bei Lissie. Carlisle sagte mir noch, dass er erst später bei mir vorbeikommen würde. Einerseits wollt er Lissie ja nicht gleich überfallen und andererseits hatte er tatsächlich noch etwas in der Klinik zu erledigen. Im Grunde war mir das auch sehr recht, denn ich wollte mit Lissie ja auch einfach zusammen sein. Daher war ich auch richtig ungeduldig und konnte es kaum erwarten, dass es endlich 14 Uhr werden würde. Als es schließlich so weit war, stürmte ich aufgeregt fast zu schnell zur Tür und schloss sie zur Begrüßung erst mal liebevoll in meine Arme. Ihre Mutter nahm das sehr vergnügt zur Kenntnis, meinte dann nur, dass ihre Elizabeth hier wohl in den besten Händen wäre und ging wieder. Ich zog Lissie gleich mit in mein Zimmer.
»Und Nessie? Wann fangen
wir an, mit den Doktorspielen?«, sagte sie grinsend.
»Carlisle
kommt später vorbei. Er muss noch etwas in der Klinik erledigen.
… Hast du es deiner Mom gesagt?«
»Nee, wieso
auch? Ich glaube ja sowieso, dass du übertreibst und dass da
nichts dabei heraus kommt, was ich nicht schon weiß.«
»Ich
finde es aber trotzdem wichtig.«
»Ist ja gut, ich bin
ja da, oder?«
»Ja und ich bin sehr froh deswegen«,
sagte ich und nahm sie noch mal in den Arm.
»Und was machen
wir jetzt?«, wollte Lissie wissen.
»Worauf hast du
Lust?«
»Hmm… Mach’ doch mal Musik an.«
Ich legte eine CD von meiner Geburtstagsparty ein und drehte die Lautstärke auf. Dann tanzten wir zur Musik, alberten herum und hatten einfach nur Spaß. Später kam Esme vorbei und brachte uns Getränke. Lissie war durch die Tanzerei ziemlich verschwitzt und nahm das Angebot gerne an, dann wechselte ich zu etwas ruhigerer Musik und wir legten uns aufs Bett und quatschten.
»Kathrin und Sandra sind
ja ziemlich verstört wegen dir. Die ziehen jetzt sogar das
Genick ein, wenn sie bei mir vorbeilaufen.«
»Wer?«
»Kathrin
und Sandra?! So heißen die beiden Mädchen, die immer
hinter Lou herlaufen.«
»Ach so.«
Komisch, dass ich die nie so richtig wahrgenommen hatte. Für mich war das immer nur Lous Begleittruppe und es hatte mich nie interessiert, wie sie hießen.
»Meinst du, ich sollte
etwas tun, um denen die Angst zu nehmen?«, fragte ich.
»Also
im Moment finde ich, dass die das verdient haben. Außerdem
haben die sich echt von Lou distanziert. Ich habe die drei seither
nicht mehr zusammen gesehen. Ich glaube das ist gut so«, meinte
Lissie ziemlich sachlich.
»Aber wenn die sich von Lou
fernhalten, dann hätten sie doch eine kleine Belohnung verdient,
oder?«
»Au ja, wir bringen ihnen Leckerli mit. Die
fressen mir bestimmt aus der Hand wenn ich mit dir drohe.«
»Boah,
bist du fies.«
Wir lachten herzhaft, aber ich
machte mir schon ein wenig Gedanken darüber, ob ich die zwei
nicht vielleicht wirklich noch mal ansprechen sollte. Im Grunde
gefiel es mir nicht, dass sie ständig Angst vor mir hatten. Ich
wusste zu gut, wie sich richtige Angst anfühlte und das wünschte
ich niemandem.
Inzwischen hatte ich auch gehört, dass Carlisle wieder da war, was Lissie offensichtlich nicht bemerkt hatte. Wenig später klopfte es auch an der Tür und ich rief gleich »herein«. Er öffnete die Tür und wir erhoben uns schnell vom Bett. Als ob ich einen Beweis für die Notwendigkeit dieser Untersuchung gebraucht hätte, wurde Lissie dabei auch noch schwindlig und sie musste sich hinsetzen, was ihr richtig peinlich war.
»Langsam, meine Liebe. Nur
keine Hektik«, sagte Carlisle sehr einfühlsam, setzte
dabei sofort sein beruhigendes Lächeln auf, zog meinen
Schreibtischstuhl heran und setzte sich vor sie hin.
»Passiert
dir das öfters?«, fragte er und schaute sich dabei genau
ihre Augen an.
Sie zuckte mit den Schultern.
»Manchmal.«
»Nun,
ich hoffe du verzeihst Nessie, dass sie ein wenig indiskret war und
mir von deinen gesundheitlichen Problemen erzählt hat. Ich würde
es aber gerne von dir hören, wenn es dir recht ist,
Elizabeth.«
»Bitte Dr. Cullen. Ich werde lieber Lissie
genannt.«
»Wie du wünschst, Lissie. Also, was
fehlt dir.«
»Na ja, ich habe manchmal Nasenbluten und
bin ziemlich oft Müde. Mein Hausarzt meinte, dass würde mit
der Pubertät und dem Wachstum zusammenhängen.«
»Das
ist gut möglich. Hast du sonst noch Beschwerden?«
»Manchmal
tun mir einfach so die Beine weh, aber das soll wohl auch am Wachstum
liegen.«
»Ja, das ist alles sehr wahrscheinlich. …
Treibst du Sport?«
»Nur in der Schule. Ich weiß,
ich sollte mehr Sport treiben, aber ich habe immer so viel zu
lernen.«
»Macht dir der Schulsport Spaß?«
»Geht
so. Die Lauferei immer ist langweilig und anstrengend.«
»Das
kann ich gut verstehen. … Hat dein Hausarzt eigentlich auch
eine Blutuntersuchung gemacht?«
»Nein, nicht dass ich
wüsste.«
»Wärst du einverstanden, wenn ich
dir eine kleine Blutprobe abnehmen? Ich verspreche dir, du wirst kaum
etwas spüren. Dauert nur einen Augenblick.«
»Hier?«
»Ich
habe in meinem Arbeitszimmer ein kleines Labor und sterile
Instrumente und so weiter. Kommst du mit hinunter? Es geht ganz
schnell.«
»Ja, O.K.«
Lissie stand auf und Carlisle stützte sie und führte sie nach unten. Ich lief den beiden hinterher, sollte aber vor der Tür warten. Ich hörte hier und da ein leises Klappern und wie Carlisle mit ruhiger Stimme auf sie einredete. 15 Minuten später kam sie wieder heraus.
»Gut Lissie. Ich danke dir
für dein Vertrauen. Ich werde mir deine Werte jetzt einmal
genauer ansehen und dir dann später Bescheid geben.«
»In
Ordnung, Dr. Cullen.«
Ich ging mit Lissie wieder in mein Zimmer und sie trank erst einmal etwas.
»Dein Vater hat gemeint,
ich soll viel trinken«, sagte sie lächelnd. »Er ist
echt nett.«
»Wie war das Blutabnehmen?«
»Oh,
ich hab’ kaum etwas gemerkt. Der kann das echt toll. Dann hat
er mir noch so den Kiefer, den Hals und die Arme abgetastet und mich
abgehört, Blutdruck und Temperatur gemessen und noch so ein paar
andere Sachen. … Ich hoffe du bist zufrieden. So gründlich
wurde ich glaube ich noch nie untersucht.«
Ich nahm sie wieder in den Arm.
»Danke Lissie. Das war mir
echt wichtig, dass du das gemacht hast. Jetzt darfst du dir wie
versprochen etwas wünschen.«
»Hmm…«,
meinte sie grinsend und rieb sich das Kinn. »Ich wünsche
mir … dass du mir etwas Schönes mit deiner Fähigkeit
zeigst.«
»Wirklich?«, fragte ich
überrascht.
»Ja, wirklich. Also wenn du magst. Ich will
dich dazu nicht zwingen oder so. Ich fand es nur toll, wie damals
dieses Bild von deinem Arbeitsblatt plötzlich in meinem Kopf
aufgetaucht ist. Das kannst du doch auch mit anderen Dingen,
oder?«
»Klar kann ich das. Was willst du denn
sehen?«
»Vielleicht etwas von deinem tollen Urlaub,
von dem du mir erzählt hast.«
»Ja, das geht.
Etwas aus dem Urwald?«
Sie nickte freudestrahlend und wir legten und wieder auf mein Bett. Dann schloss sie die Augen und ich legte meine Hand an ihre Wange.
Als erstes zeigte ich ihr das Bild von dem Wasserfall, der auch das Motiv für mein aktuelles Gemälde war.
»Wow, wie cool ist das
denn?«
»Hast du den Wasserfall gesehen?«
»Ja,
der ist ja gewaltig.«
»Gut, dann würde ich gerne
mal etwas mehr versuchen.«
»Etwas mehr?«
»Ja,
ich weiß nicht, ob es bei dir funktioniert. Ich will dir einen
kurzen Film zeigen.«
»Na, da bin ich ja mal gespannt.«
Ich schickte ihr zwei Sekunden, in denen das Wasser den Wasserfall hinunterlief.
»Wahnsinn, Nessie. Ich
hab’ das ganz genau gesehen. Einfach super.«
»O.K.
das geht auch. Dann noch ein bisschen mehr.«
Noch einmal schickte ich ihr die gleichen zwei Sekunden, doch jetzt mit allem, an das ich mich erinnerte.
»Das ist ja unglaublich.
Ich habe das Wasser rauschen hören und auf meinem Gesicht
gespürt. Man, das war ja echt so, als wäre ich selbst dort
gewesen.«
»Dann hat es dir gefallen?«
»Gefallen?
Das ist ja wohl die Untertreibung des Jahrhunderts. Bekomme ich noch
mehr?«
»Hmm. Mal überlegen.«
Ich zeigte ihr auch noch einen kurzen Ausschnitt von der Besichtigung der alten Ruinen und wie ich exotische Tiere beobachtete und mir die riesigen Bäume genauer angesehen hatte. Natürlich achtete ich darauf, dass es keine Erinnerungen waren, auf denen eine der Amazonen zu sehen gewesen wäre oder bei denen ich etwas vampirisches empfunden oder getan hätte.
»Oh man, Nessie. Ich hätte
nicht erwartet, dass es so schön ist, was du mir zeigen
kannst.«
»Ich freue mich, dass es dir gefällt,
aber du musst das für dich behalten, Lissie.«
»Das
weiß ich doch. Kein Wort zu niemandem, versprochen. Zeigst du
mir noch mehr?«
»Hast du einen bestimmten Wunsch?«
Vor sich hin lächelnd überlegte sie, doch dann veränderte sich unerwartet ihr Gesichtsausdruck und sie wirkte plötzlich nervös.
»Ähm, ja. …
Aber das ist mir peinlich.«
»Was ist es
denn?«
»Wurdest du mir vielleicht zeigen … wie
es war … Gabriel zu küssen?«
»Du willst
was?«, kam es fast hysterisch aus meinem Mund.
»Bitte
nicht böse sein. Ich hab’ doch noch nie geküsst. Ich
wüsste gerne, wie das ist.«
Ich war vollkommen entsetzt, über das, was sie sich da gewünscht hatte. Wie sollte ich das denn machen? Ich konnte ihr das nicht zeigen, ohne dass sie auch meinen Durst spüren würde. Außerdem war das ja auch etwas sehr, sehr persönliches und noch dazu etwas, an das ich mich wegen der Trennung nicht erinnern wollte.
»Das kann ich nicht. Bitte
verlange das nicht von mir.«
»Ja, ich verstehe schon«,
sagte sie seufzend. »Tut mir leid, ich hätte das nicht
fragen dürfen.«
Wir lagen schweigend nebeneinander und die bedrückte Stimmung lastete auf uns wie flüssiger Zement. So sollte das nicht sein. Ich wollte doch einen schönen Tag mit ihr verbringen und nicht, dass wir uns peinlich berührt anschwiegen. Irgendetwas musste ich doch tun können, damit sie wieder fröhlich wurde.
»Darf ich dir einen
Vorschlag machen?«, fragte ich vorsichtig.
»Einen
Vorschlag?«, erwiderte sie und klang sehr interessiert, denn
die unangenehme Atmosphäre schien ihr auch zu missfallen.
»Ich
hatte vor nicht allzu langer Zeit einen sehr schönen Traum.
Daraus könnte ich dir etwas zeigen.«
»Du kannst
mir auch deine Träume zeigen?«
»Ja, der war zwar
etwas merkwürdig, trotzdem aber richtig schön.«
»Was
hast du denn geträumt?«
»Soll ich es dir vorher
erzählen, oder willst du dich überraschen lassen?«
»Hmm
… überrasch’ mich.«
Grinsend schloss sie ihre Augen und legte sich ruhig hin. Sanft berührte ich ihr Gesicht und zeigte ihr, wie ich auf dem Rücken eines riesigen starken Wolfes mit rotbraunem Fell durch einen verschneiten Wald ritt. Ich ließ sie spüren, wie der Wind durch mein Haar fuhr und kleine Schneeflocken mein Gesicht streiften. Sie durfte seinen schweren gleichmäßigen Atem hören und die rhythmischen Schritte seiner Pfoten. Sie fühlte das Fell in meinen Händen und den kräftigen Herzschlag, der in dem Brustkorb des Wolfes hämmerte. Auch erlebte sie, wie wundervoll sein erdiger Geruch war und wie glücklich ich mich fühlte.
Ich zeigte ihr eine ganze Minute und ich spürte, wie sie hin und wieder leicht zuckte, wenn der Wolf schnell die Richtung änderte, um einem Baum auszuweichen, oder wenn er über einen umgestürzten Stamm sprang. Dann ließ ich die Übertragung enden und sie drehte sich zu mir um und schaute mich mit großen Augen an.
»Boah. Ich will auch mal so was träumen. Du hast ja eine tolle Fantasie.«
Ich freute mich sehr, dass es ihr gefallen hatte, aber das war ja auch einer meiner allerschönsten Träume überhaupt. Zum Glück konnte ich ihr den zeigen, denn ich hatte mich in dem Traum ja auch wie ein kleines Mädchen und nicht wie ein Vampir gefühlt.
»Weißt du, ich
glaube, das hängt mit meinen Wolfsfiguren zusammen. Ich sehe mir
die so gerne an und manchmal träume ich davon, wie das Mädchen
in der einen Skulptur auf dem Rücken des Wolfes zu
reiten.«
»Kannst du mir die mal ausleihen?«,
sagte sie grinsend, doch mir war da gar nicht zum Lachen zumute. Das
würde ich niemals können.
»Jetzt schau doch nicht
gleich so entsetzt. Das war doch nur Spaß. Ist mir schon klar,
dass du die nicht hergibst. Würde ich auch nicht, wenn ich
solche Träume hätte.«
Das war beruhigend und ich lächelte wieder und hatte das Bedürfnis, ihr über das Gesicht zu streicheln, was sie auch gerne zuließ.
»Was denn? Keine weiteren
Träume?«
Ich schüttelte den Kopf.
»Gib
mir mal eine Pause. Du bist ja unersättlich.«
»Schade«,
sagte sie gespielt enttäuscht, grinste aber gleich wieder und
legte mir ihrerseits eine Hand aufs Gesicht.
»Man, dein
Gesicht ist aber heiß. Strengt dich das so an?«
Ȁhm
ja, aber ich habe auch so immer etwas zu viel Hitze.«
»Bist
halt ‘ne echt heiße Braut«, sagte sie lachend und
dann fingen wir wieder an herumzualbern und hatten einfach Spaß.
Gegen Abend, Carlisle war noch immer nicht bei uns gewesen, was mich etwas beunruhigte, hörte ich schließlich das Auto von Lissies Mom vorfahren. Lissie konnte das natürlich nicht hören und so wartete ich auf ein Klingeln an der Tür, das aber nicht kam. Stattdessen wurde die Tür wohl schon vorher geöffnet und ich hörte Carlisles Stimme, die Mrs. Miller begrüßte. Dann, wie die Eingangstür geschlossen wurde, ein paar Schritte und schließlich, dass eine andere Tür zuging. Hatte Carlisle Mrs. Miller mit in sein Arbeitszimmer genommen? Warum? So konnte ich natürlich nichts mehr hören und ich wurde ganz angespannt vor innerer Unruhe.
Es dauerte noch eine viertel Stunde, bis ich wieder das Öffnen der Zimmertür hörte und anschließend Schritte auf der Treppe und auf dem Korridor, die immer näher kamen. Schließlich klopfte es an der Tür und ich machte sofort auf.
Carlisle wirkte ernsthaft und sehr mitfühlend, während Mrs. Miller nahezu aufgelöst wirkte und gerötete Augen hatte. Sie musste geweint haben und ich bekam Panik.
»Mom? Stimmt etwas nicht?«, sagte Lissie, die gerade ihre Mutter angesehen hatte.
Unfähig zu sprechen kam Mrs. Miller in mein Zimmer gestürmt und schloss ihre Tochter fest in ihre Arme. Sie schluchzte leise und ich sah wie Tränen über ihre Wangen glitten.
»Was ist denn, Mom?«, fragte Lissie sehr besorgt, doch sie bekam keine Antwort.
Ihre Mutter drückte sie nur an sich und ich bemerkte, wie es sie bei jedem Atemzug leicht durchzuckte. Ich blickte zu Carlisle, der ebenfalls bedrückt die beiden beobachtete. Offensichtlich wartete er darauf, dass sie sich etwas beruhigten und mir blieb nichts anderes übrig, als mich in Geduld zu üben, was furchtbar quälend war.
»Mom, jetzt sag schon. Was ist denn los?«, sagte Lissie jetzt ebenfalls deutlich nervöser.
Ihre Mom sah hilfesuchend zu Carlisle und war offensichtlich nicht in der Lage, ihrer Tochter zu sagen, was sie wissen wollte. Carlisle atmete kurz durch und trat dann zu den beiden hin.
»Bitte, setzt euch doch kurz«, sagte er und wies mit der Hand zu meinem Bett.
Zögerlich gingen sie hinüber, um sich zu setzen. Ich nahm ein Stückchen daneben platz und Carlisle holte sich meinen Stuhl und setzte sich vor meine Freundin.
»Lissie, ich habe mit
deiner Mutter darüber gesprochen, dass ich dich untersucht habe
und auch darüber, welche Erkenntnisse ich gewonnen habe. Es ist
nie leicht, über solche Dinge zu sprechen und ich überbringe
ungern solche Nachrichten, doch es ist wichtig, dass du es erfährst
und verstehst. … Lissie, deine Symptome und die Blutwerte
lassen kaum einen Zweifel daran, dass du Leukämie hast.«
»Ich
hab’ was?«, frage Lissie mit leiser Stimme.
“Oh nein, bitte nicht”, konnte ich nur denken. Das war entsetzlich. Warum nur? Warum musste meine beste Freundin so ein schlimme Krankheit haben? Mrs. Miller streichelte Lissie nervös über den Rücken und kämpfte schwer um ihre Fassung. Sie wollte ihrer Tochter doch sicherlich halt geben und wirke selbst unsagbar hilflos und verzweifelt. Der Anblick war grauenhaft und trieb mir die Feuchtigkeit in den Augen.
»Ich kann nicht mit Gewissheit sagen, welche Art von Leukämie du hast. Dafür sind weitere Untersuchungen und Tests erforderlich, die ich aber hier nicht durchführen kann. Dafür musst du ins Krankenhaus und erst danach kann über die richtige Therapie entschieden werden.«
»Du machst sie doch wieder
gesund, oder Carlisle?«, brach es aus mir heraus und ich war
unfähig, die Tränen länger zurückzuhalten.
»Nessie,
es gibt in Glasgow eine Klinik mit einer hervorragenden Abteilung für
Leukämiepatienten. Die sind darauf spezialisiert. Ich bin es
nicht. Ich habe bereits mit der Leiterin der Abteilung telefoniert
und sie hat mir zugesagt, dass Lissie gleich am Montagmorgen
vorbeikommen kann. Wenn die Testreihe abgeschlossen ist, wissen wir
mehr.«
»Ich will aber nicht ins
Krankenhaus«, sagte Lissie kleinlaut.
»Oh bitte mein
Engel, es muss sein. Du musst doch wieder gesund werden«, gab
ihre Mutter mit bebender Stimme von sich und drückte sie wieder
an sich.
Es war unbegreiflich für mich, wieso Lissie nicht weinte. War es der Schock, oder war sie tatsächlich so taff? Sie schien schon ängstlich und unsicher zu sein und ich konnte das nur zu gut verstehen. Ich wollte sie wirklich gerne in den Arm nehmen, doch dieser Platz war von ihrer Mutter besetzt und es war mir unmöglich, mich in dieser Situation aufzudrängen. Außerdem nahm ich natürlich den intensiven Duft von Lissies Mom wahr und wagte es nicht, mich ihr noch weiter zu nähern. Mir blieb nichts anderes übrig, als zu versuchen, die Trauer in mir zurückzuhalten, was mir sehr schwer fiel.
Als schließlich Mrs. Miller erklärte, dass sie jetzt besser gehen sollten, erwiderte Carlisle, dass es vielleicht nicht gut wäre, wenn sie sich im Augenblick hinter das Steuer setzten würde und entschied einfach, die beiden in seinem Wagen nach Hause zu bringen und dass Esme in dem Auto der Millers folgen würde. Er sagte dies in ruhigem aber sehr eindringlichen und überzeugenden Ton, so dass es auch keinen Widerstand gab. Dann standen alle auf und gingen aus meinem Zimmer und ließen mich alleine zurück.
Wenige Sekunden später hörte ich Lissie »Moment, Mom« mit zittriger Stimme sagen und dann kam sie zurück gerannt und fiel schluchzend um den Hals. In dem Augenblick, da ich ihre Nähe spürte und sie weinen hörte, gab es auch für meine Trauer kein Halten mehr.
Minutenlang lagen wir uns in den Armen und ließen die ganze Verzweiflung aus uns herausfließen. Schließlich schafften wir es, unsere Atmung wieder etwas zu beruhigen.
»Es tut mir so leid.
Lissie. Das habe ich nicht gewollt.«
»Du kannst doch
nichts dafür, Nessie. Mach’ dir bloß keine
Vorwürfe.«
Dann küssten wir uns
gegenseitig zum Abschied die nassen Wangen und sie verließ
endgültig mein Zimmer.
Kaum, dass sie das Haus verlassen hatten, kamen die übrigen sechs Familienmitglieder zu mir, um mir Trost zu spenden. Sie alle hatten im Wohnzimmer gewartet und sicherlich hatte Daddy sie über alles informiert. Sie blieben auch bei mir, bis Esme und Carlisle zurück waren und sich ebenfalls uns anschlossen.
Carlisle informierte vor allem mich, da es die anderen ja schon durch Dad erfahren hatten, was genau er bereits wusste. Zum Einen war jetzt offensichtlich, dass es tatsächlich an der akuten Erkrankung lag, dass ich ihren Blutgeruch als nicht anziehen empfunden hatte. Ihm war dies selbst nicht wirklich aufgefallen, da er es ohnehin gewohnt war, den Duft zu ignorieren. Als er jedoch versuchte, ihn bewusst wahrzunehmen, ging es ihm wie mir. Zum Anderen konnte oder wollte er nicht mehr sagen, als dass wir die Untersuchungen und Tests in der Klinik abwarten müssten. So wie Dad ihn jedoch ansah, war mir aber klar, dass in Carlisles Gedanken große Besorgnis vorherrschte.
Da mir immer wieder der in meinem Zimmer noch vorhandene leichte Duft von Lissies Mom in die Nase stieg, musste ich schließlich durchlüften und bat die Familie, wieder ins Wohnzimmer zu gehen und versicherte, dass ich gleich nachkommen würde. Sie kamen meiner Bitte nach und ich setzte mich ein paar Minuten schweigend aufs Bett. So viele Gedanken schwirrten mir durch den Kopf und quälten mich. Warum war ich nicht schon eher zu Carlisle gegangen, um ihn von Lissies Problemen zu erzählen? Warum war es mir denn nicht schon am ersten Tag aufgefallen, wie anders sie roch? Warum um Himmels Willen war ich nur immer so froh gewesen, dass sie nicht den gleichen Duft wie ihre Mutter hatte? Jetzt hasste ich mich selbst dafür, dass ich so gedacht hatte und dadurch schuld daran war, dass es Lissie immer schlechter ging und sie erst jetzt die Hilfe bekam, die sie doch so dringend bei dieser schlimmen Krankheit brauchte.
Von meinen schrecklichen Gedanken alarmiert, stand plötzlich Dad in meinem Zimmer, setzte sich zu mir und legte mir tröstend den Arm um. Er sagte mir, dass ich keine Schuld daran hätte und das niemand so etwas erwarten konnte. Selbst Carlisle nicht. Auch Lissies Mutter würde sich schwere Vorwürfe machen, da sie ihre Tochter nicht schon viel früher hatte gründlich untersuchen lassen. Selbst Lissie würde sich selbst dafür verantwortlich machen, dass sie nicht wirklich auf die immer stärkeren Warnsignale ihres Körpers geachtet hatte. Sie hoffte immer, dass es von selbst weggehen würde und dabei wurde es immer schlimmer. Ich wusste, was er mir sagen wollte, aber es half kaum.
Ich verbrachte noch ein paar
Stunden mit der Familie und ging dann zu Bett. Mom wollte gerne die
Nacht bei mir bleiben, doch ich lehnte das ab. Sicher hätte ihr
Trost mir gut getan, doch ich machte mir noch immer Vorwürfe und
fand, dass ich die Linderung, die Moms Nähe versprach, nicht
verdient hatte. Also ging ich alleine ins Bett. In meinem Traum
jedoch besuchte mich Jacob, um mich zu trösten. Ihn konnte ich
nicht wegschicken und ich war froh, dass er bei mir war.
Nach einer dennoch unruhigen Nacht, wachte ich erst recht spät auf. Natürlich wurde ich von jedem Familienmitglied liebevoll begrüßt. Wie immer war es selbstverständlich für alle, jederzeit für mich da zu sein. So schön das auch war, ich konnte es einfach nicht annehmen.
Unsicher, wie Lennox auf diese Neuigkeit reagieren würde, machte ich mich schließlich auf den Weg zu ihm. Das konnte ich ihm nicht verschweigen und ich hoffte sehr, dass er Verständnis dafür haben würde. Es war später als sonst, als ich bei der Lichtung ankam und Lennox wirkte auch leicht ungeduldig und verärgert. Es tat mir sehr leid und ich entschuldigte mich bei ihm und erzählte von den gestrigen Ereignissen. Er schluckte seinen Ärger herunter und setzte sich mit mir auf seinem Schoß auf den Baumstamm. Er fragte mich seufzend, warum ich mich denn nur so sehr auf diese schwachen Menschen einlassen würde, wenn sie mir doch nur immer wieder Kummer machten. Vampire würden schließlich nicht krank werden und ich müsste mir keine Sorgen machen, sie zu verletzen. Es machte mir deutlich, dass er mich nicht wirklich verstehen konnte, doch er schenkte mir trotzdem mit seiner charmanten und liebevollen Art seinen Trost. Er streichelte und küsste mich sehr viel zärtlicher, als er es sonst in den letzten Wochen getan hatte. Er tat mir gut und ich fühlte mich auch etwas besser, als ich mich wieder auf den Heimweg machte.
Jasper und Mom wollten das Kampftraining heute eigentlich ausfallen lassen, doch ich bestand darauf, es trotzdem zu machen. Ich hoffte, dass es mich ein wenig ablenken konnte und so machten wir ein Training, ohne dass Jasper seine Gabe einsetzte. Trotz meiner unkonzentrierten Beteiligung, war Jasper recht nachsichtig mit mir und ließ mir viele Fehler durchgehen. Auch bei dem abschließenden Übungskampf hatte ich schon den deutlichen Eindruck, dass er Mom fast absichtlich gewinnen ließ, damit sie mich endlich in ihre Arme schließen konnte. Darauf hatte sie wohl wirklich schon lange gewartet und so sagte ich auch nichts dagegen, dass sie trotzdem eine Kuschelstunde machen wollte, auch wenn das Training heute nicht so hart war.
Mom umfing mich wieder mit all ihrer Liebe und machte es mir unmöglich, mich mit meiner Trauer alleine auseinanderzusetzen. Im Grunde hatte ich inzwischen eingesehen, dass ich auch ihr weh tat, wenn ich nicht zuließ, dass sie in solchen Momenten bei mir war. Das wollte ich auch nicht und so erlaubte ich ihr, in der kommenden Nacht bei mir zu bleiben, wenn es ihr so viel bedeuten würde. Dafür war sie mir sogar richtiggehend dankbar und das zauberte mir das erste Lächeln an diesem Tag auf das Gesicht. Mit der Hoffnung, dass Lissies morgiger Untersuchungstermin uns Klarheit verschaffen würde und sie bald mit der richtigen Behandlung geheilt werden konnte, ging ich schließlich am späten Abend mit Mom an meiner Seite zu Bett.
Als ich am Morgen die Augen aufschlug, war es Moms fürsorgliches Gesicht, das ich als erstes erblickte. Es erfüllte mich mit einem warmen Gefühl der Geborgenheit und schenkte mir die Kraft, die ich jetzt brauchte. Ich wusste, dass sie auch genau deshalb bei mir war. Ich wusste auch, dass der Platz rechts neben mir heute in der Schule frei bleiben würde, aber ich hatte keine Ahnung, für wie lange. Schon jetzt vermisste ich sie schrecklich und wenn Mom jetzt nicht bei mir wäre, hätte ich vermutlich den Kampf gegen die Trauer schon verloren.
Sie streichelte, küsste und drückte mich noch mal liebevoll und dann standen wir wortlos auf. Ich machte mich für die Schule fertig, ging frühstücken und danach zu meiner Familie ins Wohnzimmer. Meine bedrückte Stimmung schien auf alle abzufärben und das bedauerte ich sehr. Es war doch mein Schmerz, nicht ihrer und sie sollten nicht immer wegen mir oder mit mir leiden. Ich versuchte gute Mine zum bösen Spiel zu machen, doch sie kauften es mir nicht wirklich ab. Dennoch schienen sie zu verstehen, worum es mir ging und so begannen nach und nach kleine Gespräche und hier und da war auch mal ein Lächeln zu sehen oder ein leises kurzes Lachen zu hören.
Ich zögerte die Fahrt in die Schule so lange hinaus, wie gerade noch möglich war, um nicht zu spät zu kommen. Heute morgen hätte ich meinen Freunden nicht sagen können, dass ich wusste, warum Lissies abwesend war und so wollte ich ihnen nicht vor der Schule begegnen. Mein Plan ging auf, denn sie waren wohl schon alle in ihren Klassenzimmern, als wir ankamen. Mit dem Klingeln der Schulglocke setzte ich mich an meinen Platz und warf einen wehmütigen Blick auf den leeren Stuhl an meiner Seite. Martin sah mich aufmerksam an und schien zu spüren, wie unglücklich ich war, doch ich konnte jetzt nicht mit ihm reden und war froh, dass ich den beginnenden Unterricht als Ausrede hatte. Eine Ausrede, die allerdings nur bis zur ersten Pause funktionierte.
»Nessie? Ist etwas nicht in Ordnung?«, fragte mich Martin, kaum, dass die Stunde um war.
Ich schluckte. Es fiel mir schwer, die richtigen Worte zu finden und ich spürte, wie meine Augen feucht wurden, doch ich wollte jetzt nicht weinen und kämpfte dagegen an.
»Lissie ist im
Krankenhaus«, lautete meine knappe Antwort.
»Was ist
denn passiert?«, fragte er interessiert und mitfühlend.
»Sie
hat … wohl eine schwere Krankheit und wird heute untersucht.«
Ich konnte einfach nicht den Namen dieser Krankheit nennen. Alles in mir sträubte sich dagegen, wollte das nicht wahrhaben, wollte es durch verschweigen in Nichts auflösen. Es funktionierte nicht.
»Das tut mir leid, Nessie.
Ich mag sie auch und hoffe, dass es ihr bald wieder besser
geht.«
»Danke Martin.«
»Wenn ich etwas
für dich tun kann, dann…«
»Nein Martin.
Ist schon gut. Ich komme damit klar.«
So wie ich mich anhörte, hätte ich mir das selbst nicht geglaubt, doch jetzt auch noch Martins Versuche abwehren zu müssen, mir näher zu kommen, hätten meinen schwachen Bemühungen, die Fassung zu bewahren, wohl den Rest gegeben. Da verzichtete ich lieber auf seine Unterstützung und war froh, dass er nicht nachsetzte.
Der Vormittag verging und ich
spürte auch mehrfach Gabriels Blick auf mir ruhen. Er hätte
mir jetzt sicherlich Trost spenden können, aber der Gedanke,
dass Lissie den entsetzlichen Preis dafür bezahlen musste, dass
ich meinen Freund vielleicht zurückgewinne, war grauenhaft.
Daher vermied ich jeglichen Augenkontakt und versuchte mich auf den
Unterricht zu konzentrieren.
In der Mittagspause dann überlegte ich kurz, ob ich mich vielleicht lieber zu meiner Familie an den Tisch setzen sollte, um der Konfrontation mit meinen Freunden zu entgehen, doch das erschien mir furchtbar feige und hätte Jasper sicherlich nicht gefallen. Außerdem fühlte sich dieser Gedanke wie weglaufen an und ich wollte doch nie wieder weglaufen. Es blieb mir also nichts anderes übrig, als mich an meinen gewohnten Platz zu begeben, der jetzt zwischen zwei unbesetzten Stühlen war. Die beiden wichtigsten Menschen hier fehlten mir einfach so sehr und ich spürte die Leere von links und rechts in mich hinein kriechen. Wie sollte ich mich dagegen nur wehren können? Wie diesen Mangel ausgleichen? Ich war ratlos und schüttete meinen Freunden unter vereinzelten Tränen, die ich einfach nicht aufhalten konnte, mein Herz aus. Ich erzählte ihnen, dass Lissie mit dem ernsten Verdacht auf Leukämie im Krankenhaus war und sah das gleiche Entsetzen in ihren Gesichtern, das auch mich erfüllte. Allerdings konnten sie wohl etwas besser damit umgehen als ich. Ohne zu zögern kamen Connie und Susi um den Tisch herum und setzen sich neben mich, um mir Trost zu spenden. Paulina selbst war dazu wohl nicht in der Lage. Soviel ich wusste, war sie eine der ältesten Freundinnen von Lissie und wohl selbst sehr betroffen. Wenigstens hatte sie Nathan und der ging mit ihr dann schon bald nach draußen an die frische Luft.
Mir fielen auch viele Blicke von anderen Mitschülern auf, die sich wohl fragten, was mit mir los war. Jetzt, da meine Freunde Bescheid wussten, würde es sicherlich nicht lange dauern, bis sich die Neuigkeit hier ausgebreitet hätte, doch im Grunde war mir das egal.
Ich quälte mich nach der Pause noch durch den Musikunterricht und erzählte schließlich auch Martin von den Hintergründen Lissies Abwesenheit. Auch er wirkte geschockt und unfähig, das ganze auf die Schnelle richtig zu begreifen und zu verarbeiten. Nach der Schule fuhr ich dann mit meinen Eltern nach Hause. Auch das war schlimm, denn ich wusste nur zu genau, dass ich jetzt eigentlich mit Jasper und Lissie zu ihr fahren würde, wenn sie nicht so krank wäre. Immer wieder füllten sich meine Gedanken mit dem Elementen des Nachhilfeunterrichts, den ich für heute geplant hatte. Immer wieder stellte ich mir vor, wie sie mit mir arbeiten würde. Immer wieder sah ich sie dann vor mir, wie sie erschöpft um eine Pause bat und sich fix und fertig aufs Bett legen musste. Immer wieder wurde mir bewusst, dass meine Tränen heute nicht so schnell versiegen würden.
Zu Hause erledigte ich meine Schulaufgaben und wartete ungeduldig auf Carlisles Heimkehr, in der Hoffnung, dass er vielleicht gute Nachrichten von Lissie hatte. Ich hätte sie gerne noch heute besucht, doch das wurde mir nicht erlaubt. Die Untersuchungen würden den ganzen Tag dauern und Besuch war noch nicht gestattet.
Als Carlisle dann endlich da war, konnte er mir leider noch nicht viel sagen. Die Tests waren noch nicht vollständig abgeschlossen, wie er mir mitteilte. Außerdem fehlten noch einige Laborergebnisse. Sicher war nur, dass seine Diagnose bestätigt wurde und Lissie für längere Zeit im Krankenhaus bleiben musste. Morgen sollte er mehr wissen und am Mittwoch würde ich vielleicht zu ihr dürfen.
Am Abend traf ich mich wieder mit Lennox. Ich spürte deutlich, dass er meine Trauer wegen Lissie eigentlich ablehnte und doch war er für mich da und behandelte mich liebevoll und zärtlich. Ich war ihm sehr dankbar dafür und versuchte auch, es ihm zu zeigen. Dennoch blieb mir eine gewisse unbestimmte Ungeduld bei ihm nicht verborgen, doch war mir nicht klar, was die Ursache war und ich war unfähig, im Moment danach zu fragen.
Mom bat mich, auch in dieser
Nacht bei mir schlafen zu dürfen und ich stimmte erneut zu. Ich
brauchte die innere Wärme, die sie mir trotz ihres kalten
Körpers schenkte und ich war froh, dass meine Momma bei mir
war.
Am Dienstag hatte sich dann wie erwartet die Neuigkeit bereits verbreitet. Viel Mitschüler hatten einen bedauernden Gesichtsausdruck, wenn sie mich ansahen uns selbst Mrs. MacLeish verzichtete heute auf ihre spitzen Bemerkungen und ließ mich in Ruhe. In der Mittagspause sprachen mich sogar einige Schüler an sagten mir, dass sie von der Sache mit Lissie gehört hätten und dass es ihnen sehr leid täte. Es waren nette Gesten und ich bedankte mich dafür, auch wenn ich meinen Schmerz nicht wirklich mit diesen Unbekannten teilen konnte.
Im Spanischunterricht am Nachmittag legte Gabriel überraschend seine weiche Hand auf meine und schaute mir mit sehr viel Mitgefühl in die Augen. Seine Berührung fühlte sich so unfassbar gut an, dass ich mich ihm am liebsten um den Hals geworfen hätte, doch ich hielt mich unter großer Anstrengung selbst davon ab. Ich wollte nicht auf diese Weise wieder mit ihm zusammenkommen und ich wusste auch nicht, ob es einfach nur Mitleid war, die ihn zu der Berührung meiner Hand gebracht hatte, oder ob es die Liebe zu mir war. Wenn er mich danach wieder zurückgewiesen hätte, wäre das für mich unerträglich geworden, das konnte ich nicht riskieren, also blieb mir nichts andere übrig, als mich zurückzuhalten.
Er fragte mich, ob ich wüsste, wie es Lissie gehen würde, doch diese Antwort hätte ich ja selbst zu gerne. Seine Anteilnahme tat mir gut und dennoch schmerzte sie auch gleichzeitig. Es war fast so, als ob eine Wunder noch weiter aufreißen würde, bei dem Versuch, eine andere ein bisschen zu verschließen. Ich konnte ihn jetzt nicht näher an mich heran lassen, oder ich würde riskieren, mich selbst im Leid zu verlieren.
Am Abend informierte mich Carlisle, dass es noch immer keine endgültige Klarheit bezüglich Lissie geben würde. Allerdings sollten morgen die letzten Testergebnisse vorliegen und die Therapie beginnen. Er würde sich dann gegen Abend mit der behandelnden Ärztin treffen und ich dürfte mitkommen, um Lissie währenddessen zu besuchen, wenn ich das wollte. Natürlich wollte ich das und sagte zu.
Ich fieberte dem Augenblick
entgegen, da ich Lissie endlich besuchen durfte und nahm nur wenig um
mich herum bewusst wahr. Lennox wirkte genervt deswegen doch ich
ignorierte das. Wenn er wirklich mein Freund war, dann würde er
das akzeptieren müssen und er schien sich auch zu bemühen.
Die Schule verging am Mittwoch quälend langsam und ich erzählte in der Pause kurz meinen Freunden, dass ich Lissie endlich besuchen durfte. Sie baten mich, ihr die besten Wünsche und gute Besserung auszurichten, was ich natürlich versprach.
Nach dem Ende des Schultages brachte mich Daddy dann zu der Klinik, in der Carlisle arbeitete. Ich wartete dort auf ihn und fuhr dann mit ihm in das andere Krankenhaus, in dem Lissie behandelt wurde. Mit jedem Meter, den ich ihr näher kam, wuchs meine Ungeduld, aber auch meine Sorge. Carlisle redete beruhigend auf mich ein, doch ich kannte die winzigen unscheinbaren Merkmale in seiner Stimme und seinem Gesichtsausdruck, die mir zeigten, dass er selbst besorgt war.
Als wir dann endlich dort waren und ich vor Lissies Zimmer stand, zögerte ich plötzlich, zu ihr zu gehen. Da war nur noch eine Tür zwischen uns, doch ich hatte Angst, sie zu öffnen. Eine total bescheuerte und verachtenswerte Angst, wie ich mir im nächsten Moment selbst vorwarf und dann kurz entschlossen anklopfte.
»Herein«, hörte
ich die schwache und zaghafte Stimme meiner Freundin, die so leise
war, dass sie ein Mensch vermutlich nicht gehört hätte.
Mit
einem mulmigen Gefühl im Magen öffnete ich die Tür und
trat ein.
Der Raum war mit drei Betten bestückt. Zwei davon standen links von mir und davon war eines leer. In dem zweiten Bett schlief jemand, wie ich an dem ruhigen Atem und den langsamen und gleichmäßigen Herzschlag erkannte. Lissie lag in dem Bett auf der rechten Seite und lächelte mich schwach an, sah aber wirklich erfreut aus, mich zu sehen. Ich eilte gleich zu ihr und sie hob einen Arm leicht an und streckte mir eine Hand entgegen. Sachte nahm ich die Hand in meine, küsste ihre Finger und setzte mich zu ihr auf die Bettkante. Sie sah furchtbar erschöpft und mitgenommen aus und sie tat mir so unsagbar leid.
»Wie geht es dir,
Lissie?«
»Geht so«, sagte sie zaghaft. »viele
anstrengende Tests.«
Selbst das Reden schien ihr schwer zu
fallen und ich streichelte ihr sanft über das Gesicht.
»Kein
Bild?«, fragte sie mit dem Hauch eines Lächelns auf dem
Gesicht.
Konnte ich das tun? Ich war mir nicht sicher, ob das nicht auch anstrengend für sie sein könnte, doch bei mir hatte es ihr ja anscheinend nichts ausgemacht. Ein Bild könnte sicherlich nicht schaden und so zeigte ich ihr unsere Freunde, wie sie mich baten, ihr Grüße auszurichten. Dankbar schenkte sie mir ein deutlicheres Lächeln.
»Ich soll dir von allen
gute Besserung wünschen. Du fehlst uns.«
»Ihr mir
auch.«
Während ich bei ihr saß, ließ ich kurz meinen Blick durch den Raum schweifen und bemerkte einen Stuhl neben ihrem Bett, über dessen Rückenlehne eine Jacke hing. Der Duft, den ich von dort aus wahrnahm, verriet mir sofort, wessen Jacke das war.
»Mom«, beantwortete Lissie meine nicht gestellte Frage, deren Antwort ich auch so schon wusste. Es war gut zu wissen, dass das Besuchsverbot der letzten Tage wohl nicht für ihre Eltern gegolten hatte.
Ich blieb eine ganze Weile einfach so bei ihr sitzen und fühlte eine Mischung aus Wiedersehensfreude und Trauer, weil es ihr nicht gut ging. Wir redeten nicht mehr, denn es war anstrengend für sie und ihr fielen auch immer wieder die Augen zu. Dennoch wollte sie die ganze Zeit meine Hand halten, was ich nur allzu gerne zuließ auch wenn ich befürchtete, dass sie ihr irgendwann zu heiß werden könnte.
Später kam Lissies Mom zu uns und schien freudig überrascht zu sein, mich hier zu sehen. Sie streichelte mein Gesicht und küsste mich aufs Haar und mir war klar, dass es ab sofort auch für mich sehr anstrengend hier werden würde, doch um nichts in der Welt, wollte ich jetzt gehen.
Da Lissie gerade eingeschlafen war, setzte sie sich leise hin und lächelte mich leicht an. Ich erwiderte ihr Lächeln gerne, aber ich traute mich nicht zu sprechen, denn ich wollte Lissie in ihrem Schlaf nicht stören. Ihrer Mutter schien es genau so zu gehen.
Es verging eine ganze Stunde, in
der Lissie tief und fest schlief, bis schließlich Carlisle
herein kam und mich nach draußen bat. Schweren Herzens trennte
ich mich von Lissie und folgte seiner Aufforderung. Er meinte, dass
wir jetzt gehen müssten und so winkte ich Mrs. Miller noch zum
Abschied und ging mit Carlisle hinaus.
Während der Heimfahrt fragte ich ihn schließlich, was mir auf der Seele brannte.
»Carlisle? Wie geht es
ihr? Wie schlimm ist es?«
Er atmete schwer durch und ich
wusste sofort, dass ich mit dem Schlimmsten rechnen musste.
»Sie
ist sehr krank, Renesmee. Sie hat eine seltene Variante der Leukämie
und die Behandlung ist schwierig.«
»Bitte Carlisle du
musst ihr helfen.«
»Liebes, wenn ich es könnte,
würde ich es natürlich tun, aber ich bin kein Spezialist
auf diesem Gebiet. Sie ist hier in den fähigsten Händen und
die Ärzte haben viel Erfahrung.«
»Warum ist sie
denn jetzt so viel schwächer als noch am Wochenende? Geht das so
schnell? Ich habe Angst um sie, Carlisle.«
»Sie ist
erschöpft von den Untersuchungen, Test und ersten
Therapiemaßnahmen. Sie wird sich wieder erholen. Ganz so
schnell ist diese Krankheit nicht, auch wenn sie schon sehr akut
ist.«
»Aber sie wird doch wieder gesund,
oder?«
»Renesmee, ich würde dir wirklich gerne
sagen, was du hören willst, doch ich kann das nicht. Natürlich
besteht eine Chance, aber dazu braucht sie eine Knochenmarkspende und
genau da liegt eines der Probleme. Ihre Eltern wurden gleich getestet
und kommen nicht in Frage. Geschwister hat sie nicht. Jetzt beginnt
die Suche und ihr läuft die Zeit davon. Aber auch wenn ein
Spender rechtzeitig gefunden wird, ist das keine Garantie. Es tut mir
furchtbar leid, Renesmee, sie braucht sehr viel Glück, aber es
besteht noch Hoffnung.«
»Aber was kann ich denn tun?
Kann ich ihr Knochenmark spenden?«
»Nein Liebes. Du
bist genetisch einzigartig und kommst nicht in Frage. Du kannst ihr
nur beistehen und Mut machen.«
Ihr Mut machen? Wie macht man
das, wenn man selbst der Verzweiflung nahe ist?
Das Gespräch mit Carlisle hatte meine schlimmsten Befürchtungen bestätigt. Natürlich würde ich die Hoffnung nicht aufgeben und sie so gut unterstützen, wie ich nur konnte, doch war mir auch bewusst, dass ihr Chancen schlecht standen, sonst hätte Carlisle nicht so bedrückt gewirkt.
Zu Hause wurden die Anderen gleich von Carlisle informiert, doch ich verzog mich zunächst in mein Zimmer und wollte alleine sein. Ich dachte über alles nach und war schon bald fest entschlossen, so viel Zeit wie möglich mit ihr zu verbringen, um ihr so gut es nur ging beizustehen. Natürlich sagte ich auch gleich meiner Familie, dass ich genau so, wie ich ihr jeden Tag Nachhilfe gegeben hatte, jetzt eben bei ihr im Krankenhaus sein wollte. Sie erlaubten es mir und wir vereinbarten, dass sie mich abwechselnd nach der Schule hinbringen und dass Carlisle mich zum Abend wieder mit nach Hause nehmen würde.
Danach ging ich wieder zu Lennox und informierte auch ihn darüber, denn schließlich würde ich dadurch wohl etwas weniger Zeit mit ihm verbringen können, was mir sehr leid tat, doch nicht zu ändern war. Ich hoffte sehr, dass er Verständnis dafür haben würde, doch war ich mir dessen keineswegs sicher. Ich fand ihn auch wie immer an unserem Platz und ich freute mich ihn zu sehen. Er war einfach immer hier und schien sich voll und ganz nach mir zu richten und mir war nicht wirklich klar, warum er das für mich tat. Ich wusste nur, dass ich ihn gleich enttäuschen musste und das belastete mich.
Wie jedes Mal kam er mir gleich entgegen und schlang mich in seine Arme. Mit fast gewohnter Präzision, spürte ich schon seine Lippen auf meinen und seine Hände an meiner Rückseite, die mich streichelten und dann auf meinem Hintern und in meinem Nacken landeten. Es fühlte sich wie immer einfach toll an und ich genoss diesen wundervollen kribbelnden Augenblick. Ich ließ mich in dieses schöne Gefühl fallen und verdrängte für den Moment meine Sorge um Lissie.
»Hallo meine Hübsche.
Endlich bist du da. Darauf habe ich mich schon den ganzen Tag
gefreut.«
»Ich mich auch Lennox. … Doch, ich
muss dir etwas sagen.«
Er ahnte wohl, worum es ging und sah
alles andere als begeistert aus.
»Es geht um dieses
Menschenmädchen, oder?«
»Ja, es geht um Lissie.
Sie ist schwer krank und ich möchte für sie da sein.«
»Und
was bedeutet das für uns?«
»Lennox, ich weiß,
dass ich dir viel abverlange, aber bitte versteh’ mich doch.
Ich kann nicht mehr so viel Zeit mit dir verbringen.«
»Nicht
mehr so viel Zeit? Empfindest du die wenigen Stunden, die wir
miteinander haben denn als viel Zeit? Ich sehe dich eine, maximal
zwei Stunden am Abend und warte dann 22 Stunden unentwegt auf unser
nächstes Treffen.«
»Es tut mir leid. Ich mache
das wieder gut, ich verspreche es.«
»Ach ja? Wie denn?
Ganz ehrlich Nessie, ich möchte mehr, nicht weniger Zeit mit dir
verbringen. Ich verstehe nicht, warum du das nicht auch so siehst.
Bist du denn nicht gerne mit mir zusammen? Möchtest du unsere
Beziehung nicht auch intensivieren? Du gibst mir das Gefühl,
dass du sie ausklingen lassen willst und ich weiß nicht wie ich
damit klarkommen soll. Willst du es beenden? Dann sage es mir lieber
gleich.«
»Nein Lennox, bitte. Ich will es nicht
beenden. Ganz im Gegenteil. Ich bin sehr gerne bei dir.«
»Wohl
nicht gerne genug«, sagte er enttäuscht, löste die
Umarmung und ging weg von mir.
»Bitte bleib, Lennox. Geh’
nicht weg«, rief ich schon fast panisch.
Er hielt inne und blieb endlose Sekunden regungslos stehen, in denen ich innerlich zum Himmel flehte, dass er mich nicht auch noch verlassen würde. Dann drehte er sich zu mir um und sah sehr unglücklich, fast gequält aus.
»Weißt du, was du da
von mir verlangst? Dich im Arm zu halten und zu küssen ist
wundervoll, doch die Zeit ohne dich ist grauenhaft. Ich will mehr,
Nessie. Mehr, nicht weniger. Ich biete dir alles, was ich dir bieten
kann, doch du tust das nicht.«
»Sag’ das doch
nicht, Lennox. Ich will ja, aber…«
»Nein
Nessie, kein aber. Du hast deine Entscheidung getroffen und mir lässt
du keine Wahl.«
»Nein! Bitte verlass’ mich
nicht. Bitte nicht.«
Meine Augen füllten sich mit Tränen. Warum nur musste alles so aussichtslos erscheinen? Es musste doch auch Hoffnung geben. Hoffnung für Lissie. Hoffnung für uns.
»Warum tust du das,
Nessie.«
»W-Was meinst du?«
»Macht es
dir Spaß mich zu quälen?«
»Ich will das
doch gar nicht.«
»Was willst du dann?«
»Ich
will für Lissie da sein, aber auch Zeit mit dir
verbringen.«
»Sie ist dir wichtiger als ich,
oder?«
»So darfst du das nicht sehen. Bitte Lennox.
Sie braucht mich jetzt.«
»Ja und ich brauche dich. Du
scheinst ihr alles zu geben, doch mir nicht.«
»Was
erwartest du denn von mir, Lennox?«
»Muss ich das
wirklich sagen? Ich will das nicht sagen. Nicht jetzt, nicht nach
diesem Gespräch. … Ich brauche Zeit zum Nachdenken, wir
sehen uns am Sonntag.«
Dann drehte er sich um und rannte
weg.
Alleine blieb ich zurück und ließ die Tränen über meine Wange laufen. “Bitte komm wieder zu mir”, dachte ich flehend, doch ich wusste, dass er jetzt nicht kommen würde. Er war gegangen und hatte nur einen Hauch seines Duftes und seinen Geschmack auf meinen Lippen zurückgelassen. Deprimiert setzte ich mich auf meinen Baumstamm und dachte darüber nach, was ich falsch gemacht hatte oder wie ich es hätte besser sagen können. Was konnte ich denn tun, um es wieder gerade zu biegen? Was meinte er mit “muss ich das wirklich sagen?”. Wollte er mehr Zeit? Wollte er, dass ich Lissie aufgebe? Wollte er mehr Nähe? Oder alles zusammen? Ich könnte versuchen, mehr Zeit mit ihm zu verbringen. An den Wochenenden vielleicht. Hoffentlich würde er das akzeptieren. Ich wollte nicht, dass es endete und er wohl auch nicht, sonst hätte er nicht gesagt, dass er sich am Sonntag wieder mit mir treffen wollte. Es musste einfach einen Weg für uns geben und ich war mir sicher, dass wir den auch finden könnten.
Nachdem ich mir selbst etwas Mut
gemachte hatte und meine Tränen weggewischt waren, ging ich
wieder nach Hause. Ich sagte Mom auch gleich, dass ich heute nicht
wollte, dass sie bei mir schlief und begründete es damit, dass
ich mich wieder allein mit meiner Situation auseinandersetzen wollte.
Im Grunde ging es aber darum, dass ich auch über mich und Lennox
nachdenken musste und die Vorstellung, das in ihren Armen zu tun, war
mir irgendwie unangenehm. Es gefiel mir auch nicht, dass Daddy meine
Gedanken hören konnte, doch ich wollte das Vertrauen, das ich
ihm geschenkt hatte und dass er nicht ein Mal enttäuscht hatte,
nicht wieder zurücknehmen, indem ich Mom wieder bat, mich
abzuschirmen. Das würde jetzt sicherlich ein Härtetest
werden, denn ihm gefiel meine Beziehung zu Lennox nach wie vor nicht
und ich würde viel darüber nachdenken müssen.
Meine Träume in der Nacht waren wieder einmal sehr lebhaft gewesen. Ich beobachtete eine ewiges Streitgespräch zwischen Jacob und Lennox. Jacob warf ihm immer wieder vor, dass er mich unter Druck setzen und meine Situation ausnutzen würde und Lennox erwiderte, dass er noch nie etwas mit mir gemacht hätte, dass mir geschadet oder wirklich missfallen hätte.
Ausnahmsweise war mir die Bedeutung ziemlich klar, denn genau diesen Konflikt spürte ich in meinem Innern.
Beim Frühstück besuchte mich ein eher seltener Gast. Eigentlich konnte ich mich überhaupt nicht daran erinnern, dass er mich jemals alleine in der Küche besucht hätte und dementsprechend überrascht sah ich ihn auch an, als er sich mir gegenüber auf einen Stuhl setzte.
»Guten Morgen, Schatz. Wie
fühlst du dich?«
»Danke Dad. Geht so. Auch dir
einen guten Morgen.«
»Liebling? … Ich weiß
nicht, ob du es mir erlaubst, aber ich muss dich das einfach fragen.
… Darf ich mit dir über deinen Traum sprechen?«
Ich musste erst einmal schlucken und das lag nicht nur an dem zerkauten Müslibrei in meinem Mund. Mir war nicht klar ob ich das wirklich wollte, aber wenn es ihm darum ging, mir seine Meinung mitzuteilen, dann sprach ja eigentlich nichts dagegen.
»Danke, dass du das so siehst. … Wie fange ich am besten an? … Ich habe deinen Traum miterlebt und deinen Konflikt gespürt, Renesmee. Ich weiß, dass du dich zu Lennox hingezogen, aber auch von ihm bedrängt fühlst. Das ist dir doch bewusst, oder?«
Ja, im Grunde war mir das bewusst. Das war ja das Dilemma. Ich mochte ihn und ich wollte die Beziehung retten und vermutlich bedeutete das, etwas zu tun, das ich eigentlich nicht oder noch nicht wollte, wobei mir nicht wirklich klar war, was er wollte.
»Ist dir das wirklich so
unklar? … Mir nicht. Er will Sex mit dir.«
»Dad!
Das kannst du mir doch nicht einfach so an den Kopf knallen. Das
weißt du doch gar nicht.«
»Doch Schatz, das weiß
ich. Du hast so oft an ihn Gedacht, dich an eure Treffen erinnert und
daran, was er getan und gesagt hat. Ich kenne vielleicht nicht seine
Beweggründe und weiß nicht, ob er aus aufrichtigen
Gefühlen heraus handelt oder nicht, aber was er will ist
offensichtlich.«
»Glaubst du er liebt mich,
Daddy?«
»Ach Liebling, wenn ich das wirklich glauben
könnte, würde ich mir nicht solche Sorgen um dich machen.
Ich verstehe seine Handlungsweise nicht. Seit Wochen und Monaten
bleibt er hier in der Nähe um dich zu treffen und ist nett zu
dir. Das spricht für ihn. Andererseits setzt er dich jetzt unter
Druck, in einer Phase, in der du dich kaum wehren kannst. Das macht
ihn für mich äußerst unsympathisch.«
»Ja
Dad, ich weiß was du meinst, aber kann es nicht sein, dass er
mich liebt und nur einfach ungeduldig ist?«
»Genau das
wüsste ich gerne, Nessie. Deswegen würde ich ihn am
liebsten einmal aufsuchen.«
»Nein Dad! Ich habe ihm
mein Wort gegeben. Kein Kontakt zu meiner Familie, so lange er es
nicht will. Das kannst du nicht machen.«
Er seufzte.
»Ich
verstehe dich ja, Schatz, aber…«
»Nein Dad. Da
gibt es kein aber. Das ist meine Sache. Ich entscheide, dass ich mich
mit ihm treffe. Ich entscheide, wie weit ich bereit bin zu gehen. Du
hast mir doch dein Wort gegeben, Dad.«
»Und das halte
ich auch, Liebling. Ich bin doch nur besorgt, dass er dir wehtun
könnte. Verstehst du das denn nicht?«
Er sah so leidend aus und ich spürte überdeutlich, wie sehr es ihn belastete. Schnell ging ich um den Tisch herum und setzte mich auf seinen Schoß. Dann schlang ich meine Arme um seinen Hals und küsste ihn auf die Wange.
»Doch Daddy und ich liebe
dich dafür, trotzdem ist das meine Sache. Bitte, akzeptiere das.
Ich will nicht wieder Geheimnisse vor dir haben müssen.«
»Oh
bitte, Liebling. Ich will nicht, dass sich das zwischen uns wieder
ändert. Ich will dir doch nur helfen und dich schützen. Du
bist ein kluges Mädchen, aber noch so unerfahren.«
»Ja
Dad, aber ich muss meine eigenen Erfahrungen machen. Vertrau mir
bitte.«
Er seufzte kurz und dann drückte er mich fest
an sich und gab mir einen Kuss.
»Ich liebe dich, mein Engel
und ich stehe immer hinter dir. Welche Entscheidungen du triffst ist
dabei unwesentlich.«
»Danke Daddy.«
Ich war sehr erleichtert, dass er mir sein O.K. dazu gegeben hatte, egal was ich tun wollte. Jetzt müsste ich das nur noch selbst herausfinden, was wohl etwas schwieriger werden dürfte.
Merkwürdiger Weise fühlte ich mich jetzt ziemlich gut. Das irritierte mich, denn Lissie lag ja noch immer schwer krank in der Klinik und meine Beziehung zu Lennox stand auf unsicheren Beinen. Durfte ich mich da überhaupt gut fühlen? War das nicht irgendwie falsch?
»Nein Schatz, ganz sicher
nicht. Außerdem kannst du Lissie am besten unterstützen,
wenn du ihr Mut machst und dazu brauchst du eine positive
Einstellung.«
»Danke Dad, aber jetzt hör’
auf, meine Gedanken zu beantworten.«
»Entschuldige
Schatz.«
»Schon gut.«
»Wir müssen
dann ohnehin bald los.«
»Na, dann esse ich noch
schnell auf und komme dann zu euch.«
Als wir zur Schule fuhren, war ich tatsächlich noch immer gut gelaunt. Es war nicht so, dass ich durch die Gegend grinsen würde. Nein, mir war nicht wirklich zum Lachen zumute, aber ich fühlte mich irgendwie optimistisch.
Meine Zuversicht hielt sogar noch an, als mich Martin danach fragte, wie es Lissie gehen würde und ich ihm sagen musste, dass sie sehr krank war. Trotzdem war ich so gefestigt in meinem Entschluss, ihr helfen zu wollen, dass ich einfach Vertrauen haben wollte, dass alles gut wird. Das half mir, meine gute Stimmung zu bewahren.
Auch in der Mittagspause schaffte ich es, als ich dann meinen Freunden berichtete, wie schwach sie gewesen war, aber wie sehr sie sich auch über ihre Genesungswünsche gefreut hatte. Das ließ auch sie alle lächeln und ich prägte mir ihren Anblick ein, falls Lissie noch mal ein Bild von ihnen sehen wollte.
Als ich von meinem anschließenden Spaziergang wieder auf dem Weg zum Unterricht war, begegnete mir Lous ehemaliges Gefolge. Die beiden drückten sich schon fast an die Wand, um mir Platz zu machen, was ich als total übertrieben empfand. Es war aber nicht so, dass sie es vielleicht mit einer merkwürdigen Art von Spaß machten, sondern ich nahm tatsächlich große Angst bei ihnen wahr. Ich konnte es riechen und ich sah deutlich die Symptome bei ihnen. Das war einfach nicht richtig und so ging ich auf die Mädchen zu, um sie anzusprechen. Die gerieten deshalb allerdings fast in Panik.
»Kathrin und Sandra,
oder?«
Wie zwei Kaninchen vor einer Riesenschlange wagten
sie es kaum mich anzusehen.
Ȁhm? Hallo? Das sind doch
eure Namen, oder nicht?«, fragte ich schon leicht ungehalten,
aber versuchte trotzdem freundlich zu bleiben.
Sie nickten eifrig,
sagten aber kein Wort.
»Hört mal, ihr zwei. Es ist
wirklich total übertrieben, wie ihr euch
verhaltet.«
»Entschuldige Vanessa«, sagten sie
fast im Chor mit nervös-zittriger Stimme und dann ergänzte
eine noch: »Wie sollen wir uns denn verhalten?«
Ich
stöhnte leicht auf. Das würde wohl schwieriger werden, als
ich dachte.
»Du bist?«, fragte ich das Mädchen,
das mich angesprochen hatte.
»Kathrin«, antwortete sie
zögerlich.
»Also Kathrin. Ich will nicht, dass ihr
ständig Angst vor mir habt. Ihr gebt mir das Gefühl,
schlimmer als Lou zu sein und das ist das Letzte, das ich sein will.«
Unsicher schauten sich die beiden an. Sie verstanden wohl wirklich nicht, was ich von ihnen wollte und schienen sogar zu befürchten, dass sie mich mit ihrem Verhalten verärgert hätten. Dabei sah ich doch überhaupt nicht wütend aus, was sie allerdings auch zu irritieren schien.
»Wie wäre es mit
einem Neuanfang«, verkündete ich diplomatisch.
»Ein
Neuanfang?«
»Genau. Wir tun einfach so, als währt
ihr nie daran beteiligt gewesen, als Lou und ich, nun ja, unsere
Konflikte hatten. Ich hege keinen Groll gegen euch und ihr müsst
euch nicht mehr vor mir fürchten. Wie klingt das für
euch.«
»Gut?«
»War das eine
Frage?«
»Nein, nein, entschuldige, das klingt wirklich
gut, Vanessa. Ganz wie du willst.«
“Himmel hilf. Die
zwei schaffen mich”, dachte ich spontan.
»Das war doch
keine Anweisung, Kathrin. Das war ein Angebot. Ein Friedensangebot,
wenn du so willst.«
»E-E-Einfach so?«, fragte
Sandra kleinlaut.
»Ja natürlich einfach so. Ich mag es
nicht, wenn man ständig Angst vor mir hat. Das liegt nicht in
meinem Interesse. Also bitte entspannt euch.«
Wieder sahen
sie sich gegenseitig unsicher an.
»Ganz ehrlich ihr zwei.
Ich tue euch nichts. Ihr wisst, was mich wütend gemacht hat. Das
war Lou. Ihre beide ward nur zur falschen Zeit am falschen Ort. Also?
Friede?«, fragte ich und hielt Kathrin die Hand hin.
Zögerlich nahm sie meine Hand und schüttelte sie kurz. Dann machte Sandra das Gleiche.
»Prima! Gut, dass wir das geklärt haben. Ich wünsche euch noch einen schönen Tag. Ach ja, wenn Lou euch vielleicht ärger machen sollte, dann kommt zu mir.«
Dann ging ich und ließ die
zwei verwirrten Friedenstauben erst mal wieder alleine, damit sie
sich darüber im Klaren werden konnten. Hinter mir hörte ich
dann Kathrin flüsternd zu Sandra »hat die das jetzt ernst
gemeint?« sagen und musste schmunzelnd den Kopf schütteln.
Am Nachmittag fuhren mich Mom und Dad dann direkt nach der Schule zu Lissie ins Krankenhaus und ich fing unterwegs schon mal mit meinen Hausaufgaben an. Meine Eltern kamen auch kurz mit hinein um Lissie hallo zu sagen und gute Besserung zu wünschen. Sie schien allerdings beim Anblick von meinem großen Bruder ein wenig nervös zu werden und bekam sogar ein bisschen rote Wangen, was sicherlich an seinem unheimlich netten Lächeln lag. Jedenfalls blieben sie daher lieber nicht so lange und verabschiedeten sich schon kurze Zeit später wieder.
Lissies Mutter hatte sogar einen zweiten Stuhl besorgt, der jetzt auf der anderen Seite neben dem Bett stand. Sie meinte zu mir, dass sie das Gefühl gehabt hätte, dass ich wohl öfters kommen wollte und da soll ich mich schließlich auch setzen können. Ich fand das unheimlich nett von ihr und es war auch eine große Hilfe, da ich so ein wenig weiter weg von ihr sitzen konnte und ihren leckeren Duft nicht pausenlos so intensiv wahrnehmen musste.
Meine Freundin schien jedenfalls überglücklich zu sein, dass ich schon wieder da war und ich sagte ihr, dass ihre Mom da vollkommen recht hatte und dass ich jeden Tag vorbeikommen wollte. Nur für die Wochenenden konnte ich ihr das nicht versprechen, was sie auch gar nicht so schlimm fand, da sie da ja sicherlich auch anderen Besuch bekommen würde. Das erleichterte mich sehr, denn ich wollte schließlich auch Lennox entgegenkommen können.
Lissie sah auch schon viel besser aus, als noch gestern und wirkte lebhafter und ausgeruhter. Ich erzählte ihr natürlich von meinem Gespräch mit Kathrin und Sandra, was sie im Grunde auch gut fand, obwohl sie die beiden lieber noch ein wenig länger hätte zappeln lassen. Außerdem wäre sie gerne dabei gewesen. Diesen Wunsch hätte ich ihr natürlich mit Vergnügen erfüllt, aber leider waren wir nicht ein mal wirklich alleine in dem Zimmer und vor Zeugen wollte ich meine Gabe nicht einsetzen. Sie ahnte das sicherlich und fragte auch nicht danach.
Bis zum Abend hin erzählte sie mir von den unterschiedlichen Untersuchungen und Test, die sie durchmachen musste und ich versuchte sie mit Erlebnissen aus der Schule ein wenig abzulenken. Dann holte mich wie vereinbart Carlisle ab und wir fuhren nach Hause.
Während der Rückfahrt erledigte ich die Hausaufgaben, die ich auf der Hinfahrt noch nicht geschafft hatte und zu Hause machte ich dann wieder ein Emotionstraining mit Jasper. Ich kam immer besser damit klar, wobei ich mir nicht sicher war, woran es eigentlich lag. War es das regelmäßige Üben, oder die schlimmen Erlebnisse der letzten Wochen und Monate? Oder war es vielleicht der besondere Erfolg beim Kampftraining, als ich Mom retten konnte? Jedenfalls fühlte ich mich sehr viel beherrschter, als noch zu beginn und Jasper bestätigte dies ohne Einschränkungen. Er meinte zwar, dass ich noch lange nicht Herr über meine Gefühle wäre, dass ich aber inzwischen verhindern könnte, aus einer Emotion heraus etwas zu tun, das ich wirklich nicht wollte und das wäre schließlich unser Ziel gewesen. Meine Selbstkontrolle bei dem Wutanfall wegen Lou letzte Woche wäre der beste Beweis gewesen. Er bot mir an, das Training wieder zu beenden, wenn ich es wünschte, doch ich machte es inzwischen eigentlich gerne mit ihm, auch wenn es meistens unangenehme Gefühle waren, die er mit seiner Gabe bei mir auslöste. Irgendwie fühlte ich mich ihm näher als jemals zuvor und das wollte ich erhalten.
Ich machte auch wieder Musik mit
Emmett und hatte etwas mehr Spaß am Abend mit der Familie. Mom
wirkte sehr erleichtert, dass ich wieder besser gelaunt war. Meiner
kleinen Stimmungsaufhellung am Morgen hatte sie ja noch nicht so
recht getraut und dass ich jetzt nach dem Krankenhausbesuch immer
noch optimistisch war, schien sie zu verwirren, aber auch sehr zu
freuen. Zumindest lächelte sie mich ständig an und fragte
auch nicht danach, ob sie vielleicht noch mal bei mir schlafen
dürfte. Das Thema hatte sich jetzt wohl erledigt und so ging ich
schließlich alleine zu Bett.
Der Freitag verlief ähnlich, doch je näher der Sonntag rückte, um so mehr schob sich Lennox wieder in meine Gedanken. Am Samstag schließlich konnte ich praktisch an nicht anderes mehr denken und ich wurde zunehmend nervöser. Was, wenn Dad recht hatte und Lennox tatsächlich eben das Eine von mir wollte? Könnte ich das tun? Wollte ich das überhaupt? War ich bereit dazu? War es vielleicht sogar gefährlich für mich? Ich war sehr verunsichert und rätselte herum, mit wem ich wohl am ehesten darüber sprechen könnte. Rose, die in solchen Dingen sehr direkt sein konnte, wäre sicherlich bereit dazu, doch war sie die Richtige, wenn es um das Thema “erstes Mal” ging? Ihr erstes Erlebnis war, soweit ich wusste, ja wohl das grauenhafteste, das man sich überhaupt vorstellen konnte und ich hatte bedenken, ob ich mit ihr darüber reden sollte. Alice wiederum hatte kaum Erinnerungen an ihre Jugend und mit Esme konnte ich unmöglich darüber reden. Bei Mom wusste ich auch so schon, was sie mir raten würde. Sie hatte sich schließlich ewig Zeit für ihr erstes Mal gelassen und Daddy hatte sie alles andere als unter Druck gesetzt. Wenn ich mit ihr reden würde, dann ginge es ohnehin nur um die Frage, ob ich das machen will oder nicht. Die Frage, ob ich als Halbvampir es machen kann oder es vielleicht nicht tun sollte, konnte sie mir unmöglich beantworten. Nein, da gab es wohl nur eine Person in der Familie, mit der ich darüber sprechen könnte und das war mein Gynäkologe. Die Vorstellung, mit ihm darüber zu reden, war mir natürlich sehr peinlich, doch ich hatte keine Zweifel, dass er es tun würde. Vielleicht wäre seine ruhige und sachliche Art auch von Vorteil. Ich nahm also meinen ganzen Mut zusammen und bat ihn nach unserem Jagdausflug um ein Gespräch unter vier Augen. Dann gingen wir zusammen in sein Arbeitszimmer.
»Nun Liebes, was kann ich
für dich tun?«
»Carlisle, es ist mir etwas
peinlich, aber ich muss dich das einfach fragen. … Bin ich
körperlich bereit für ein erstes Mal?«
Er lächelte
mich sehr sanft an und musterte mich dabei etwas.
»Das muss
dir doch nicht peinlich sein. Das ist doch etwas ganz Normales.«
Etwas ganz normales? Wie viele Halbvampire haben denn schon mit ihrem Vampirarzt über dieses Thema gesprochen? So normal war das ja wohl wirklich nicht.
»Vielleicht, aber ich bin
trotzdem unsicher.«
»Geht es dabei um Lennox?«,
wollte er wissen.
»Ist das wichtig?«
»In
gewisser Weise.«
»Nun ja, schon … aber ich habe
noch nichts entschieden.«
»Ich verstehe. … Also
rein medizinisch gesehen spricht nichts dagegen, Renesmee, aber das
ist nicht nur eine körperliche Sache.«
»Ja, ich
verstehe schon. Ich wollte nur wissen, ob es … gefährlich
für mich sein könnte.«
»Gefährlich?
Also der Vorgang an sich wohl nicht. Du warst auch noch nie krank, da
dein Immunsystem das verhindert. Die einzige Gefahr, wenn man das so
nennen mag, liegt eher in dem Verhütungsproblem.«
Ȁhm?
Verhütung?«
»Ja, oder willst du ein Baby
bekommen?«
»Nein, natürlich nicht.«
Die Idee von einer Schwangerschaft war ja so was von undenkbar. Das konnte ich mir beim besten Willen nicht vorstellen. Nein, ich wollte jetzt auf keinen Fall schon Mutter werden. Ausgeschlossen.
»Nun mein Kind, dann wird
es schwierig, wenn es um Lennox geht.«
»Ich verstehe
nicht ganz, Carlisle.«
»Es ist so. Ich kann dir keine
Antibabypille verabreichen, so wie man es bei menschlichen Mädchen
macht, um eine Schwangerschaft zu verhindern. Die Hormone würden
bei dir höchstwahrscheinlich nicht funktionieren oder könnten
womöglich schaden. Ich bin nicht bereit, mit dir hier
irgendwelche Experimente zu machen.«
»Dann werde ich
ein Kind bekommen, wenn ich es mit Lennox mache?«
»Nicht
zwangsläufig, Nessie. Das ist bei dir wie bei anderen Mädchen
auch. Du hast deinen Zyklus, eine Eizelle reift heran und wenn dann
eine Samenzelle da wäre, nun, ich denke, du kennst den Ablauf,
oder?«
»Ähm, ja, natürlich.«
»Bei
einem menschlichen Mann wäre das Risiko geringer. Ihr könntet
auf alternative Art und Weise verhüten, doch bei einem Vampir
ist das sehr riskant und keineswegs sicher. Außerdem glaube
ich, dass die Wahrscheinlichkeit, dass du von einem Menschen
schwanger werden könntest, ohnehin sehr gering
ist.«
»Warum?«
»Weil ich dir doch vor
knapp zwei Jahren mal eine Eizelle entnommen habe um sie zu
untersuchen. Erinnerst du dich nicht? Jedenfalls war ihre äußerliche
Beschaffenheit vampirisch. Eine menschliche Samenzelle kommt
vermutlich nicht hindurch.«
Ich erinnerte mich daran, wie wir das damals gemacht hatten. Die Entnahme war schon ziemlich unangenehm gewesen, doch das war mir jetzt nicht wichtig.
»Aber was kann ich denn
dann tun, wenn ich mit einem Vampir … du weist schon.«
»Da
bleibt nur die Möglichkeit, den richtigen Zeitpunkt zu wählen
und das mögliche Zeitfenster ist knapp. Die Samenzellen eines
Vampirs sind länger aktiv, als die eines Menschen und deine
Eizelle lebt, soweit ich das herausgefunden habe, auch ein paar Tage
lang. Vor allem jetzt, da dein Rhythmus immer länger geworden
ist, wird es zunehmend schwieriger, die unfruchtbaren Tage zu
bestimmen.«
»Und wann wäre der nächste
mögliche Zeitpunkt?«
Carlisle sah mich kurz prüfend an und dann stand er auf und warf noch einen Blick in seine Unterlagen.
»Ich würde dir raten, mindestens zwei Wochen zu warten, besser drei. Danach dürfte es bei deinem derzeitigen Zyklus für zwei Wochen relativ sicher sein, aber eine Garantie gibt es nicht. Die nächste halbwegs sichere Gelegenheit hast du etwa zehn Wochen danach.«
Zehn Wochen danach? Ich konnte mir kaum vorstellen, dass Lennox bereit war, so lange zu warten. Ich war mir ja noch nicht mal bei den ersten drei Wochen sicher.
»Und vorher gibt es keine
Möglichkeit?«
»Liebes, ich weiß, es ist
deine Sache, aber warum diese Eile?«
»Das spielt jetzt
keine Rolle, Carlisle. Bitte, ich möchte mich nur richtig
informieren.«
Er atmete kurz durch und dann fuhr er
fort.
»Nun, die einzige Möglichkeit wäre wohl, dir
jetzt die bereits ausgebildete Eizelle zu entnehmen, wenn du das
möchtest.«
Ich war mir nicht sicher, ob ich das wirklich wollte. Ich war mir nur sicher, dass ich nicht schwanger werden wollte. Jetzt auf keinen Fall. Aber ich wollte es auch nicht komplett ausschließen, dass es demnächst zu meinem ersten Mal kommen könnte. War ich wirklich bereit dazu? Ich wusste es nicht. Aber wäre es nicht einfach sicherer, auf alles vorbereitet zu sein?
»Ich glaube, wir sollten
das tun, Carlisle. Nur zur Sicherheit.«
»Nun, wenn du
das wirklich möchtest. Es ist deine Entscheidung.«
»Ja,
Carlisle. Ich möchte es.«
»Dann gehen wir mal in
das Untersuchungszimmer.«
Wir gingen nach nebenan und Carlisle checkte mich erst mal wie üblich gründlich durch. Dann stellte er fest, dass bereits zwei Eizellen ausgebildet waren, was mir natürlich sofort die undenkbare Vorstellung von Zwillingen in den Kopf presste. Dann ließ ich mit einem mulmigen Gefühl im Bauch den äußerst unangenehmen Eingriff über mich ergehen, war danach aber sehr erleichtert. Ich zog mich wieder an, während Carlisle seine medizinischen Instrumente aufräumte.
»Danke Carlisle. Du warst
mir wie immer eine große Hilfe.«
»Da bin ich mir
ausnahmsweise nicht so sicher, mein Kind.«
»Wie meinst
du das?«
»Renesmee, mir wäre es bedeutend lieber,
wenn du auf dein Herz hören würdest, als einen Weg zu
suchen, deinen Körper auszutricksen. Verstehst du, was ich
meine?«
»Ja, ich verstehe dich sehr gut. Ich danke dir
für alles.«
Dann gab ich ihm noch einen Kuss auf die
Wange und ging in mein Zimmer.
Unterwegs begegnete mir mein Dad und sah mich mit sehr besorgtem Gesicht an. Ich wusste genau, was in ihm vorging und dazu brauchte ich nicht seine Fähigkeit. Ich nahm ihn in den Arm und gab auch ihm einen Kuss auf die Wange. Dann setzte ich den Weg in mein Zimmer fort, stellte ruhige Musik an und legte mich aufs Bett um nachzudenken.
Morgen würde ich Lennox wieder sehen und wenn Dad recht hatte, dann würde er wohl erwarten, dass ich es mit ihm machte. Wenn ich ganz ehrlich zu mir selbst war, dann musste ich mir eingestehen, dass ich es noch nicht wollte. Wir hatten uns bisher doch nur geküsst und gestreichelt und es war ja auch wirklich toll aber ein erstes Mal? Das war etwas ganz anderes. Das ging mir einfach zu schnell und ich wusste nicht, wie ich Lennox dazu bringen konnte, mir mehr Zeit zu geben und trotzdem die Beziehung nicht zu beenden. Im Grunde erschien mir die Furcht vor dem ersten Mal aber etwas geringer, also die Angst, ihn jetzt zu verlieren. Es war so schön, was wir hatten. Ich hoffte wirklich sehr, dass er das auch so sehen würde und noch etwas länger warten könnte.
Da mir meine Gedanken ohnehin keine Antwort liefern konnten, ging ich gegen Abend wieder hinunter zu meiner Familie, um mich abzulenken. Emmett war mir dabei mal wieder eine große Hilfe und alberte mit mir herum. So spielten wir mal eine Runde Rodeo, wobei er auf allen Vieren wie verrückt durch den Garten rannte und versuchte, mich abzuwerfen. Ich wiederum hielt mich mit aller Kraft fest und blieb oben. Ich hatte das Reiten ja schließlich auch in frühester Kindheit mit Jacob gelernt und so schnell konnte mich nichts abwerfen.
Esme war weniger begeistert von unserem Spiel, weil Emmett bei seinen wilden Bewegungen einige tiefe Furchen in den schönen Rasen gezogen hatte. Die besserten wir danach aber wieder sorgfältig aus und Esme war auch gleich versöhnt.
So ging ich dann nach einem
vergnüglichen Abend zu Bett und hoffte für mich, dass
morgen alles gut laufen würde.
Als ich am nächsten Morgen erwachte, stellte ich überrascht fest, dass ich tatsächlich gut geschlafen hatte, auch wenn mein Traum ein wenig merkwürdig war. Vermutlich durch das Spiel mit Emmett inspiriert, schenkte mir mein Unterbewusstsein einen Ritt auf Jacobs Rücken. Er lief unheimlich schnell durch den Wald und ich hatte Mühe, mich auf ihm zu halten. Meine Hände hatte ich tief in sein Fell vergraben und mich ganz nah an ihn heran gekuschelt. Dabei fühlte ich mich unglaublich wohl. Lennox war auch in meinem Traum und rannte uns hinterher, doch Jacob war zu schnell für ihn. Irgendwann hatte er Lennox schließlich abgehängt und dann verwandelte er sich zurück. Er sah mir tief in die Augen und ich wusste noch genau, wie merkwürdig ich mich dabei in meinen Traum gefühlt hatte. Dann sagte er zu mir, dass ich mich nicht von Lennox unter Druck setzen lassen, sondern zu ihm kommen solle. Etwas, das ich nur zu gerne getan hätte, wenn es mehr als nur ein Traum gewesen wäre, doch nun war ich wach und in der Realität und hier wollte ich meinen Lennox nicht verlieren.
Ich stand auf, nahm eine erfrischende Dusche und machte mich nach einem schnellen Frühstück auf den Weg zu der Lichtung im Wald.
An meinem Platz angekommen, musste ich erschrocken feststellen, dass Lennox nicht da war. Eine große Unruhe machte sich in mir breit und ich wurde sehr nervös. Warum war er denn nicht da? Er hatte doch Sonntag gesagt. Er meinte doch diesen Sonntag, oder?
“Oh, hoffentlich kommt er noch und ich bin nur zu früh”, dachte ich bei mir und versuchte mir selbst Zuversicht einzuhauchen, doch je mehr Zeit verging, desto aussichtsloser wurde es.
Nein, das durfte einfach nicht wahr sein. Er hatte Sonntag gesagt. Ich wusste es ganz genau. Er wollte nachdenken und dann noch mal mit mir reden. Wohin hatten ihn seine Gedanken nur geführt? Warum war er denn nicht da?
Eine ganze Stunde lang saß ich auf meinem Baumstamm oder lief auf der Wiese umher. Die Ungewissheit war furchtbar und das Warten auf ihn raubte mir Minute um Minute den Mut.
Dann plötzlich hörte ich ein Knacken und richtete mich blitzschnell auf die Geräuschquelle aus. Dort stand er nun und sah mich an. Schlagartig machte sich Hoffnung in mir breit. Er war gekommen und auch wenn er bedrückt aussah, so war er doch da.
Unendliche Augenblicke blieb er regungslos stehen. Ich wünschte mir so sehr, dass er nun auch die letzten Meter zu mir zurücklegen würde, doch er tat es nicht. Wartete er darauf, dass ich es machte? Ich war einfach ratlos, kaute auf meiner Unterlippe und zupfte an meiner Bluse herum.
»Lennox?«, sagte ich mit unsicherer und fast flehender Stimme.
Dann, im Bruchteil einer Sekunde, stand er plötzlich ganz nah vor mir. Der Windstoß seiner abrupten Bewegung schlug mir seinen Duft ins Gesicht und ich nahm einen tiefen berauschenden Atemzug. Er stand einfach vor mir und ließ seine Arme seitlich herunterhängen. Ganz langsam hob ich meine Hand und berührte sein Gesicht. Ich mochte es, wie sich seine kalte glatte Haut unter meinen Fingern anfühlte und ihm schien die Berührung auch zu gefallen. Er schloss seine Augen und drehte den Kopf leicht zur Seite und schnupperte an meinem Handgelenk. Dann zog er mich überraschend in seine Arme und küsste mich so voller Leidenschaft, als hätte es nie einen Streit gegeben. Seine Hände fanden wie automatisch den Weg zu ihren gewohnten Plätzen an meinem Po und in meinem Nacken und es fühlte sich umwerfend an. Ich war so glücklich, dass er mich wieder so küsste und ergriff mit beiden Händen seinen Kopf um den Kuss so intensiv ich nur konnte zu erwidern.
Nach diesem minutenlangen, wundervollen Spiel unserer Lippen und Zungen löste er sich leicht von mir und sah mir mit seinen leuchtend roten Augen tief in meine. Vermutlich wäre ich in diesem Flammenmeer ertrunken, wenn er mich nicht angesprochen hätte.
»Ich habe dich sehr
vermisst, meine Hübsche.«
»Und ich dich erst,
Lennox. Ich bin ja so froh, dass du wieder da bist.«
Er fuhr mir scheinbar gedankenverloren mit den Fingern seiner rechten Hand durch das Haar und streichelte mit der Linken sanft über die Schläfe und dann hinunter bis zu meinem Hals, wo er die Hand dann ruhen ließ.
»Nessie, ich brauche dich.
Ich will dich so sehr, dass es weh tut.«
»Oh Lennox.
Ich brauche dich doch auch und will dich nicht verlieren.«
»Und
wie soll es mit uns weitergehen?«, fragte er mich sanft und
zärtlich.
»Das weiß ich nicht, aber ich will,
dass es weitergeht.«
Er seufzte schwer und richtete kurz
seinen Blick zum Himmel, bevor er seine Augen wieder auf meine
richtete.
»Ich kann nicht so weitermachen wie bisher. Es war
ein schönes Spiel, doch ich empfinde mehr für dich. Ich
will dir viel näher sein, als du mich lässt.«
»Lennox,
bitte. Ich verstehe, dass du … mich ganz haben willst …
aber ich bin noch nicht so weit. Bitte, gib mir etwas Zeit.«
Er
stöhnte leicht auf, doch ohne das zärtliche Streicheln
seiner Hände zu beenden.
»Wie viel Zeit, Geliebte.«
Geliebte? So hatte er mich noch nie genannt. Bedeutete das, dass er mich wirklich liebte? Was für eine wundervolle Neuigkeit.
Er blickte mich fragend an und ich besann mich, dass er ja eine Antwort erwartete. Was hatte Carlisle gesagt? In drei Wochen für zwei Wochen und dann in zehn Wochen wieder? Also drei bis vier Monate? Würde er so lange darauf warten?
»Lennox … wenn es
dir nicht zu lange ist … wären drei, vier Monate O.K. für
dich?«
»Drei, vier Monate?«, gab er ächzend
von sich.
»Bitte Lennox, bitte. Lass’ es uns langsam
angehen. Schritt für Schritt, ja?«
Noch einmal schaute er mir tief in die Augen und ich bettelte innerlich, dass er es doch akzeptieren möge.
»Einverstanden …
unter einer Bedingung.«
»Welche?«, frage ich
unsicher.
»Bitte, verkürze die Zeit, die du mit mir
verbringst nicht noch weiter.«
»Oh Lennox!«,
rief ich erleichtert aus und fiel ihm um den Hals. »Ich
verspreche es dir. Ich werde versuchen dich jeden Abend zu treffen.
Mindestens für eine Stunde und auch am Wochenende. Ich bin doch
auch gerne bei dir.«
Ich war so glücklich, dass
er bereit war, meiner Bitte nachzukommen. Wir küssten uns wieder
innig und genossen die gemeinsame Zeit an unserem Sonntagvormittag.
Auch er machte jetzt einen entspannten Eindruck und er fragte mich
sogar danach, wie es meiner Freundin ging. Wir spazierten auch wieder
ein wenig durch den Wald und ignorierten in unserer schönen
Zweisamkeit den einsetzenden Nieselregen. Ich fühlte mich so
befreit, als wäre eine tonnenschwere Last von mir genommen
worden und verbrachte an diesem Tag mehr Zeit mit ihm, als üblich.
Erst am frühen Nachmittag verabschiedete ich mich wieder, da
meine Familie sicherlich schon längst meine Heimkehr erwartete
und sich sonst womöglich Sorgen machte und mich suchen würde.
Das sah er natürlich ein und nach einem letzten intensiven Kuss
entließ er mich schließlich aus seinen Armen und ich lief
nach Hause.
Noch bevor ich den Waldrand hinter unserem Haus erreicht hatte, kam mir Mom entgegengelaufen.
»Ist alles in Ordnung,
Schatz? Bist du…«, fragte sie besorgt.
»Ja
Mom«, antwortete ich und nahm sie in den Arm.
»Alles
bestens und ich bin noch Jungfrau.«
Ȁhm, das
wollte ich doch gar nicht wissen.«
Ich ging ein Stückchen zurück, legte den Kopf schief und sah sie mit hochgezogenen Augenbrauen an. Ich glaubte ihr kein Wort.
»O.K., O.K. Ich wollte das
auch wissen, aber vor allem, ob du unversehrt bist. Du warst so lange
fort. Wie fühlst du dich jetzt?«
»Erleichtert
Mom. Er war verständnisvoller, als ich erwartet hatte und es war
wieder sehr schön mit ihm.«
»Da fällt mir ja
ein großer Stein vom Herzen«, sagte sie mit einem so
erlösten Seufzen, dass es für mich keinen Zweifel gab, dass
sie wohl ziemlich besorgt um mich gewesen war.
»Tut mir
leid, dass ich so spät bin. Wir hatten … etwas
Nachholbedarf.«
»Schon gut, Liebling. Hauptsache es
geht dir gut.«
Gemeinsam gingen wir zum Haus und ich sagte noch kurz bei der Familie hallo und umarmte natürlich noch meinen Dad, der nicht weniger erleichtert zu sein schien, als Mom. Ich gab ihm noch einen Kuss und dann ging ich auch gleich zum Training mit Jasper und Mom.
Nach dem für Jasper so unerwarteten Einsatz meiner Gabe beim letzten Übungskampf, bestand er darauf, dass ich das immer wieder einbauen sollte. Schließlich wäre es ein immenser Vorteil, das Überraschungsmoment auf seiner Seite zu haben und das musste seiner Meinung nach perfektioniert werden. Er meinte auch, dass es im Grunde egal wäre, was ich meinem Gegner zeigen würde, so lange es nur intensive Erinnerungen sind. Ein leidenschaftlicher Kuss wäre genauso geeignet wie Trauer und Mutlosigkeit. Ich sah das allerdings ein wenig anders, denn die Idee, einem möglichen Feind zu zeigen, wie ich Lennox oder Gabriel küsse, war mir so peinlich, dass ich das nie einsetzen könnte. Außerdem passte das so gar nicht in meine Vorstellung von Kampf, dem Gegner etwas schönes zu zeigen. Da konnte Jasper nur lächeln und meinte, dass es gerade deshalb so wirkungsvoll wäre. Dennoch wollte ich das nicht, da es mir einfach unangenehm war.
Nach mehreren Stunden Training war es inzwischen dunkel geworden und der abschließende Übungskampf stand an. Ich bat Jasper, mir diesmal wirklich extrem große Angst zu machen, damit ich dieses Gefühl vielleicht beim nächsten Mal mit meiner Gabe einsetzen könnte. Mom gefiel das gar nicht und selbst Jasper hatte vorbehalte dagegen, doch ich wollte es so und sie fügten sich wieder einmal meiner Bitte. Etwas, das ich schon Sekunden später furchtbar bereut hatte, denn die Angst war entsetzlich. Er ließ mich die ganze Stärke seiner Fähigkeit mit voller Wucht spüren und ich war chancenlos dagegen. Obwohl ich wusste, dass es nicht real war, konnte ich mich nicht behaupten. Er hatte eine grauenhafte Wirkung auf mich und so sehr ich mir auch wünschte, mich dagegen wehren zu können, so unfähig war ich, mich auch nur zu erheben. Dass Mom in der Lage war, unter dieser Aura auch noch mit ihm zu kämpfen, war unglaublich beeindruckend. Sie schrie Jasper an und fluchte und kämpfte wie besessen und schaffte es schließlich auch, ihn nach einem gut viertelstündigen Kampf mit einem gezielten Treffer wegzuschleudern, wodurch seine Aura um mich durchbrochen wurde. Dann rannte ich schnell zu ihr und die Übung war beendet.
Die Nachwirkungen der Angst spürte ich noch eine ganze Weile und ich war sehr froh, dass Mom wie immer auf die anschließende Kuschelstunde bestand. Nachdem ich gesehen hatte, wie unglaublich stark sie war und sich selbst gegen eine so entsetzliche Furcht stellen konnte, fühlte ich mich bei ihr noch sicherer und geborgener, als das ohnehin schon der Fall war. Als sie dann auch noch anfing ihr Schlaflied zu summen, während sie mich im Arm hielt und streichelte, war ich schon bald darauf total entspannt und spürte ein wohliges und wärmendes Gefühl in meinem Bauch. Vielleicht lag es daran, dass ich eine so tiefe Zufriedenheit empfand oder daran, dass der Tag so aufregend und anstrengend war. Jedenfalls überkam mich eine große Müdigkeit, der ich gerne ihn ihren Armen nachgab und einschlief.
In den nächsten Wochen hatte sich schon bald eine gewisse Routine eingespielt. Jeden Tag nach der Schule wurde ich zum Krankenhaus gefahren und abends von Carlisle wieder abgeholt. Die Hausaufgaben erledigte ich unterwegs und zu Hause absolvierte ich wieder das Emotionstraining mit Jasper. Dann rannte ich immer so schnell ich nur konnte zu Lennox und versuchte immer mindestens die versprochene Stunde mit ihm zu verbringen. Genauso verbrachte ich jeden Samstagnachmittag und Sonntagmorgen mit ihm und es war wieder sehr schön.
Das Schritt-für-Schritt-Weitergehen, forderte er allerdings mit sanftem Druck ein und ein erster Schritt bestand darin, dass er mich beim Küssen häufiger auch am Busen berührte. Als ich zum ersten Mal seine kalten Hände durch den dünnen Stoff meines T-Shirts und des BHs spürte, war ich ziemlich erschrocken. Es war nicht so, dass es unangenehm gewesen wäre, ich hatte nur nicht damit gerechnet und wurde von dem Gefühl völlig unvorbereitet überrascht. Ich bekam eine Gänsehaut am ganzen Körper und seine Berührungen lösten ein so durchdringendes Kribbeln aus, dass ich es fast nicht aushalten konnte. Es fühlte sich wie kleine Stromstöße an und ich spürte das Knistern bis in die Haarspitzen. Immer wieder raubten mir solche Berührungen den Atem, doch ich wollte ihn gewähren lassen. Wie sollte ich denn in drei Monaten zum ersten Mal bereit sein, wenn schon solch ein Kontakt zu viel für mich war? Es war ja eigentlich auch nicht wirklich zu viel, nur eben verwirrend intensiv. Ich war dort einfach sehr empfindsam, doch gerade das schien ihm zu gefallen. Er spielte regelrecht mit mir und war mal sehr sanft und dann wieder sehr heftig. Oft konnte ich nicht wirklich sagen, ob es mir gefiel oder nicht, weil die Empfindungen so stark waren. Aber zum Glück beschäftigten sich seine Hände nicht nur mit ihrem neuen Spielzeug, sondern taten auch weiterhin das, was mir so unendlich gut gefiel.
Im Grunde war es O.K. für mich, wie sich meine Beziehung mit Lennox entwickelte. Das, was er forderte, war ich bereit zu geben und er belohnte mich mit leidenschaftlichen Zärtlichkeiten, die einfach wundervoll waren.
In der Schule lief auch alles wieder halbwegs normal, auch wenn ich Lissie dort sehr vermisste, doch wenigstens durfte ich sie jeden Tag besuchen. Sie hatte sich nach den ersten Wochen auch schon ziemlich gut daran gewöhnt, im Krankenhaus zu sein und wenn es nicht regnete, machten wir hin und wieder kleine Spaziergänge durch einen angrenzenden Park. Dennoch blieb mir nicht verborgen, dass sie immer schwächer zu werden schien. Besonders litt sie selbst unter dem Haarausfall, der Folge ihrer Behandlung war. Sie wollte das nicht wirklich sagen oder zugeben, doch ich kannte sie inzwischen so gut, dass ich es auch so wusste.
Ich hatte deshalb auch eine Idee und fragte im Kunstunterricht Mrs. Stuard, ob wir denn nicht ein paar schöne Kopfbedeckungen für Lissie machen könnten, die ich ihr dann als Geschenk von der Klasse mitbringen könnte. Sie meinte, dass das eine wirklich schöne Anregung wäre und so stellten wir einige modische Tücher her, die ich Lissie dann überreichte. Sie hatte sich so sehr darüber gefreut, dass sie sogar weinen musste und ich heulte gleich mit.
Lissie wurde auch von den Anderen unserer Kantinen-Runde an einem Wochenende besucht und berichtete mir davon. Natürlich wusste ich das schon vorher, denn schließlich war ich dabei, als Paulina das vorgeschlagen hatte. Sie wollte das auch unbedingt machen, mit den Anderen oder ohne sie und natürlich stimmten auch alle zu. Ich behielt das aber für mich und hörte mir Lissies Schilderungen an. Sie hatte dabei einen so glücklichen Glanz in ihren Augen, dass ich mich einfach mit ihr freuen musste.
Sehr viel überraschender war für mich, dass Sie mir davon erzählte, dass sie eine Genesungskarte von Kathrin und Sandra bekommen hatte. Sie zeigte sie mir und ich las mit großer Verwunderung, dass sich die beiden wirklich aufrichtig bei ihr dafür entschuldigten, dass sie sich so falsch verhalten hätten. Lissie fragte mich dann, ob ich das veranlasst hätte und sah mich dabei sehr kritisch an. Ich schwor ihr, dass ich nichts damit zu tun hatte, dass ich das aber wirklich nett von den Mädels fand und dass ich ihnen das auch sagen würde. Das fand Lissie dann auch gut.
Gleich am nächsten Tag setzte ich mein Vorhaben in die Tat um und bedankte mich bei den beiden für ihre nette Geste und zum ersten mal lächelten sie mich ehrlich und erleichtert an.
Zwischen mir und Gabriel hatte sich hingegen praktisch nichts geändert. Ich spürte deutlich, dass er immer noch etwas für mich empfand. Die Art, wie er mich ansah und wie er immer um Worte ringen musste, wenn wir uns kurz im Spanischunterricht unterhielten, waren deutliche Beweise. Dennoch schien die Kluft zwischen uns zu groß für ihn zu sein, als dass er sie überwinden konnte oder wollte.
Kürzlich hatte ich auch mal
wieder ein Armdrücken mit Emmett gemacht und ihm dabei die Angst
aus meiner Trainingserfahrung geschickt. Das war für uns beide
ziemlich übel, da ich mich ja bewusst daran erinnern musste, um
sie ihm schicken zu können. Er hingegen verspürte nun zum
ersten Mal die Angst wie ich und schien wie gelähmt davon zu
sein. Ich schaffte es zwar nicht, ihn dann niederzudrücken, aber
er war dazu auch nicht fähig. So gesehen war es ein Teilerfolg.
Erst als ich mich nach einigen Minuten nicht mehr darauf
konzentrieren konnte, beendete er das Spiel. Er verzichtete
allerdings darauf, mich noch faktisch zu besiegen, sondern griff
einfach über den Tisch und hob mich auf seinen Schoß und
drückte mich innig. Ich war so verwirrt und dann sagte er mir
auch noch, dass er ja keine Ahnung hatte, wie hart Jasper mit mir
trainieren würde. Er war so mitfühlend, dass es mich total
überraschte, aber auch unheimlich freute. Natürlich sagte
ich ihm, dass Jasper das nur ein einziges Mal gemacht hatte und das
auch nur, weil ich ihn darum gebeten hatte, um diese Erfahrung machen
zu können. Er war jedenfalls schwer beeindruckt, bat mich aber,
bei unserem Spiel nicht noch mal diese Erinnerung zu benutzen. Er
wollte einfach nie wieder meine Angst so miterleben und natürlich
versprach ich es ihm. Dass diese Erinnerung eine so starke Wirkung
haben könnte, hätte ich nie für Möglich gehalten.
Vielleicht war das aber auch nur deshalb so, weil wir uns so nahe
standen.
Inzwischen war es Ende März und allmählich hielt der Frühling Einzug. Die Büsche und Blumen im Vorgarten fingen wieder an zu blühen und auch der Wald veränderte seine Farben. Die Tage wurden länger und teilweise hatten wir auch wieder gutes Wetter. Für meine Familie bedeutete das natürlich wieder, dass wir die Schule schwänzen mussten. Wir verwendeten dazu die altbewährte Ausrede mit dem Campingausflug und bekamen die Freistellungen genehmigt. Das machte mir im Grunde auch nicht viel aus. Ärgerlich war nur, dass ich dann auch nicht Lissie besuchen durfte.
Lennox freute sich jedenfalls sehr darüber, denn so hatte ich natürlich ein paar Tage lang sehr viel Zeit für ihn. Dann schlug er mir vor, tatsächlich einen Campingausflug zu machen und zwar mit ihm alleine. Sozusagen ein kleiner Urlaub zu zweit. Bei diesem Vorschlag wurde ich furchtbar nervös. Einerseits hatte es schon einen gewissen Reiz, einmal wirklich zwei komplette Tage mit ihm zu verbringen, aber andererseits war ich unsicher, ob ich das wirklich wollte und was er sich davon versprechen würde. Vermutlich ahnte er, welche Gedanken mich dabei beschäftigten und er meinte dazu, dass bei diesem Urlaub mit Sicherheit nichts passieren würde, wozu ich nicht bereit wäre und dass ich ihn inzwischen doch nun wirklich gut genug kennen müsste, um zu wissen, dass ich ihm vertrauen könnte. Da hatte er natürlich nicht unrecht und im Grunde konnte ich die Einladung auch nicht ablehnen, ohne seine Gefühle zu verletzen. Also sagte ich ihm, dass ich um Erlaubnis fragen müsste.
Dad war von der Idee wie erwartet alles andere als begeistert und Mom war auch nicht gerade unbesorgt. Dennoch mussten beide eingestehen, dass an einem Zweitagesausflug im Grunde auch nicht mehr passieren konnte, als bei meinen täglichen Rendezvous. Wenn ich davon überzeugt war, dass ich Lennox wirklich vertrauten konnte und den Ausflug auch wollte, dann hätte ich ihre Erlaubnis dazu. Damit durfte oder musste ich selbst entscheiden und das fiel mir nicht leicht. Letztendlich entschied ich mich dafür, denn im Grunde war ich immer gerne mit ihm zusammen und irgendwie war es ja auch ziemlich aufregend.
Natürlich hatten wir auch tatsächlich eine Campingausrüstung und so stattete ich mich mit Zelt, Schlafsack und Reservekleidung aus und machte mich mit Lennox auf einen Ausflug.
Wir wanderten etliche Stunden, in denen wir uns wirklich nett unterhielten. Lennox erzählte einige Piratengeschichten, bei denen ich mir allerdings ziemlich sicher war, dass er da relativ viel Seemannsgarn gesponnen hatte. Auf jeden Fall war es sehr lustig und schon nach kurzer Zeit war ich froh, dass ich mich für diesen Ausflug entschieden hatte. Ich war mir auch ziemlich sicher, dass sich Lennox und Emmett gut verstehen könnten, wenn sie es denn wollten.
Das Ziel unserer Wanderschaft war ein abgelegener Teil des Argyll Forest Park am Westufer des Loch Eck. Es war unheimlich schön dort. Eine teilweise bewaldete Hügellandschaft säumte den lang gezogenen Süßwassersee und ein saftiges Grün herrschte an dem Ufer vor. Hier waren wir vollkommen ungestört und schlugen am frühen Abend unser Zelt auf einer Anhöhe auf. Dann setzten wir uns ans Ufer und betrachteten das Farbspiel, das die hinter uns untergehende Sonne für uns geschaffen hatte.
»Was meinst du, Nessie.
Auf der anderen Seite hätten wir einen wundervollen Ausblick auf
den Sonnenuntergang. Findest du nicht?«
»Ja bestimmt,
aber bis wir herumgelaufen sind, ist die Sonne bestimmt schon
weg.«
»Herumlaufen? Wie wäre es mit
schwimmen?«
Ȁhm. Ich habe leider keine
Badesachen dabei.«
»Ich auch nicht«, sagte er
grinsend.
»Du willst nackt baden?«, fragte ich leicht
entsetzt.
»Ich hätte nichts dagegen, aber wenn du dich
wohler fühlst, können wir ja die Unterwäsche
anbehalten.«
Oh Gott. Die Vorstellung, dass er mich dann nur in BH und Höschen sehen könnte, trieb mir die Röte ins Gesicht.
»Ach komm schon, meine
Hübsche. Da ist doch nichts dabei.«
»I-I-Ich weiß
nicht, Lennox. Das ist mir peinlich.«
Er stöhnte leicht auf und ich spürte seine Enttäuschung, was mir überhaupt nicht gefiel.
»Wie kann dir das nur
peinlich sein. Das ist doch wie ein Bikini. Außerdem siehst du
toll aus.«
»Ja schon, aber … ich habe mich noch
nie so in Unterwäsche jemandem gezeigt.«
Das war zwar nur die halbe Wahrheit, den Gabriel hatte mich ja schon mal oben herum nur im BH gesehen, aber das musste ich Lennox ja nicht beichten.
»Und du willst nicht, dass
ich der Erste bin, der dich so sieht?«
»Nein, so meine
ich das doch nicht.«
»Ach Nessie. Du weißt dass
ich dich wirklich gerne so sehen würde. Das ändert auch
nichts daran, dass wir wie besprochen noch zwei Monate bis zum ersten
Mal warten. Warum vertraust du mir denn nicht?«
»Aber
das tue ich doch. Ich bin doch hier bei dir, oder nicht.«
»Bist
du das wirklich?«
Ich verstand nicht, was er damit sagen wollte und schaute ihn fragend an.
»Nessie, Geliebte. Ich will mit dir den Sonnenuntergang von der anderen Seite aus beobachten und schwimme jetzt hinüber. Wenn du das auch willst, dann folge mir.«
Er wartete keine Antwort von mir ab sondern stand auf und fing an, sich auszuziehen. Unsicher beobachtete ich ihn. Er legte die Jacke ab, die er von mir zu Weihnachten geschenkt bekommen und seither praktisch jeden Tag getragen hatte. Dann zog er sein Hemd aus und zum ersten Mal sah ich den nackten Rücken, den ich schon oft mit meinen Händen berührt hatte und schon bei dem Anblick kribbelten meine Finger. Dann entledigte er sich seiner Schuhe und Socken und schließlich auch seiner Hose. Dann stand er in seinem Slip vor mir und blieb noch ein paar Sekunden stehen. Er hatte eine tolle Rückenansicht. Seine Beine waren muskulös und ich konnte auch deutlich die Form seines Hinterns sehen, den ich ja auch schon oft berührt hatte, wenn auch immer nur mit einer Hose dazwischen. Das tollste war aber das unglaublich faszinierende Gefunkel seiner Haut. Wie eine mit Diamantenstaub überzogene Marmorstatue blinkte er bunt in dem Licht der untergehenden Sonne. Ihn so zu sehen, war ziemlich aufregend und mein Herz schlug mir bis zum Hals. Ich war fasziniert von der Schönheit seines Anblicks.
Er drehte sich nicht zu mir um, sondern ging so wie er war zum Wasser und stieg hinein. Dort wartete er noch mal kurz und dann schwamm er einfach los. Im Wasser dann hatte seine Haut einen etwas anderen, aber nicht weniger wunderbaren Glanz.
Er sah so gut aus, und ich war total verwirrt. Was sollte ich denn jetzt machen? War es wirklich so schlimm, wenn er mich genau so in Unterwäsche sehen könnte, wie ich ihn? Ich wollte doch mit ihm zusammen sein. Es war gerade so schön gewesen, doch jetzt war er schon fast auf der anderen Seite des Sees. Ich war furchtbar aufgeregt und in meinem Bauch ging es zu wie auf einem Jahrmarkt. Einige Organe fuhren offensichtlich Karussell oder Achterbahn und ich war vollkommen durcheinander. Ich hatte nicht wirklich Angst davor. Wie sich Furcht anfühlte, wusste ich ja nur zu genau. Das hier war anders. Es war die pure Aufregung und Nervosität und ich hatte wahnsinniges Herzklopfen. Ich fühlte mich wie bei einem seiner leidenschaftlichen Küsse und dabei war er inzwischen 400 Meter weit weg an dem anderen Ufer. Ein Teil von mir wollte jetzt bei ihm sein und war bereit, das dafür zu tun, was verlangt wurde. Ich entschloss, diesem Teil nachzugeben.
Ich zog mich bis auf die Unterwäsche aus und stieg in den See. Das Wasser war sehr kühl, doch das machte mir nichts aus. Die Gänsehaut an meinem Körper hatte eine andere Ursache. Ich schwamm hinüber ans andere Ufer und sah ihn funkelnd im Gras liegen, den Blick auf den Horizont gerichtet. Auch wenn er mich nicht ansah, so wusste ich doch, dass er mich bemerkt hatte. War er vielleicht sauer auf mich? Nein, das konnte nicht sein. Ich war ihm schließlich hinterher geschwommen, so wie er wollte. Aber was war es dann? Wollte er mir vielleicht einfach nur die Möglichkeit bieten, unbeobachtet aus dem Wasser zu steigen? Wollte er es mir leichter machen? Das erschien mir am wahrscheinlichsten und zeigte mir mal wieder den rücksichtsvollen Lennox, den ich so wahnsinnig gern hatte.
Langsam und unsicher stieg ich aus dem Wasser und ging zu ihm. Ich war wirklich sehr erleichtert, dass er mich nicht sofort von oben bis unten musterte sondern einfach weiterhin den Sonnenuntergang beobachtete. Ich legte mich neben ihn auf die Wiese und tat es ihm gleich. Der Anblick war wirklich sehr schön und allmählich entspannte ich mich wieder. Dann streckte Lennox eine Hand nach mir aus und ich ergriff sie. So blieben wir fast regungslos Hand in Hand am Ufer liegen und sahen der Sonne zu, wie sie langsam verschwand und dabei immer neue Farben erstrahlen ließ. Dann erhob sich die Dunkelheit und Lennox, der nun nicht mehr wie ein gewaltiger Edelstein glitzerte, drehte sich langsam zu mir um.
»Hat es dir gefallen,
meine Hübsche?«
»Ja es war sehr schön.«
»Das
fand ich auch und ich bin wirklich froh, dass du mitgekommen bist.«
Er rutschte näher an mich heran und ich spürte seinen makellos glatten Oberkörper an meinem Arm, der eng an meiner Seite lag. Er stützte seinen Kopf auf seinem aufgestellten Arm ab und betrachtete mich. Gleichzeitig streichelte er mit der anderen Hand mein Gesicht, was mir einen kribbelnden Schauer durch meinen Körper rauschen ließ und eine Gänsehaut verursachte. Ob es sein Blick oder seine Berührung war, die mich erschaudern ließ, konnte ich nicht sagen, doch die Folge konnte man nur allzu deutlich unter meinem BH sehen und das trieb mir die Schamröte in die Wangen. Er neigte sich charmant lächelnd zu mir und küsste mich sehr zärtlich und liebevoll und streichelte mit der Hand von meinem Gesicht über den Hals tiefer über meinen Busen. Er ließ die Finger unglaublich sanft über den noch leicht feuchten Stoff gleiten und wieder spürte ich die so intensiven kleinen Stromstöße, die mich um den Verstand bringen wollten. Seine Hand streichelte weiter zu meinem Bauch, doch sie schien noch immer nicht anhalten zu wollen. Schließlich berührte sie mein Höschen und ich zuckte zusammen und ergriff seine Hand. Schwer um Luft ringend schaute ich ihn flehend an.
»Bitte Lennox. Das noch
nicht.«
»Ich bin mir sicher, es wird dir gefallen,
Geliebte.«
»Bitte Lennox. Dräng’ mich noch
nicht dazu.«
Noch immer charmant lächelnd, zog die Hand ein Stückchen zurück und legte sie auf meine Taille.
»Ich bin mir wirklich sicher, dass es dir gefallen hätte«, sagte er und zog mich unerwartet mit einem Ruck auf sich und drehte sich dabei auf den Rücken.
Verwirrt und aufgewühlt fand ich mich noch immer um Luft ringend auf seinem Bauch liegend wieder. Ich spürte einen leichten Druck von ihm an meiner intimsten Stelle, was mich nur noch mehr durcheinander brachte. Überall spürte ich ihn. Seine Haut an meinem Bauch, seine Hände, die meinen Rücken streichelten, seine nackten Beine, welche die Innenseite meiner Schenkel berührten. Mein ganzer Körper war ein einziges Prickeln und ich wusste nicht, ob ich es genießen, oder davor weglaufen sollte. In meinem Kopf drehte sich alles und ich fürchtete zu ersticken, wenn ich mich nicht bewusst auf das Atmen konzentrierte. Ich versuchte mich möglichst wenig zu bewegen, um mich beruhigen zu können, doch das war unmöglich. Er zog mich an sich und küsste mich und seine Hände wanderten über meinen Rücken und streichelten meinen nackten Po. Plötzlich wurde mir schlagartig bewusst, dass ich ja nur einen String anhatte und in meinem Kopf schien es tausende von Kurzschlüssen zu geben, als ich diese Berührung dort spürte.
Was machte er nur mit mir? Ich wollte an ihm hoch rutschen, um dem leichten Druck zwischen meinen Beinen zu entgehen, doch für ihn war das eine Einladung, mein Dekolleté zu küssen und einen Busen in die Hand zu nehmen. Auch wenn er nicht fest zupackte, so war ich doch hilflos und gefangen und weitere Schauer, die durch meinen Körper jagten, ließen keinen Widerstand mehr zu. Dann fuhr er mit der Hand nach oben um meinen Hals herum und zog mich wieder zum Kuss hinunter und erneut spürte ich ihn einfach überall. Er bewegte sich unter mir und dirigierte meinen Körper mit seinen Händen. Immer wieder spürte ich seine Haut auf meiner reiben und fortwährend den leichten Druck an meinem Schoß, den er mal stärker, mal schwächer ausübte, doch nie wirklich verschwinden ließ. Diese intensiven Reize ließen mich wieder und wieder unwillkürlich schaudern und er gestattete mir keine Möglichkeit, ihnen zu entgehen. Sein unnachgiebiger Kuss raubte meiner armen Lunge die ohnehin schon knappe Luft und meine Atmung war nur noch ein ruckartiges Stöhnen und Keuchen, das er in sich aufsog. Ich konnte nicht mehr denken, nur noch fühlen. Mein Verstand schien sich ausgeschaltet zu haben. Meine kraftlosen und zittrigen Arme klammerten sich Halt suchend an seinen Schultern fest. Plötzlich überzog ein unglaubliches Kribbeln meinen Körper, als würden die Schmetterling explosionsartig aus meinem Bauch herauskrabbeln und auf jedem Zentimeter meiner Haut mit ihren tausend Füßchen herumwandern. Eine zuckende Welle rauschte durch mich hindurch und ich sah Lichtblitze vor meinen geschlossenen Augen. Dann sackte ich kraftlos auf seiner Brust zusammen.
Was hatte er da nur mit mir gemacht? Mein ganzer Körper schien wimmernd um eine Pause zu flehen doch er gewährte mir nur wenige Sekunden in denen er mir sanft über den Rücken und das Haar streichelte. Dann drehte er sich unvermittelt mit mir um und lag nun auf mir. Meine Beine hatten keine andere Wahl, als seine in ihre Mitte zu nehmen und schon wieder spürte ich den leichten Druck an meiner intimsten Stelle.
»Ich sagte doch, dass es dir gefallen wird, Geliebte.«
Unsicher lächelte ich ihn an. Ich konnte nicht wirklich sagen, ob es mir gefallen hatte oder nicht. Im Augenblick wünschte ich mir nur eine Atempause und etwas Ruhe, um das Erlebte zu begreifen, doch er schien sie mir nicht zugestehen zu wollen.
»Lennox…«,
setzte ich an, doch sofort versiegelte er meine Lippen wieder mit
einem leidenschaftlichen Kuss. “Himmel, lass’ mich doch
bitte atmen”, dachte ich nur.
»Du machst mich
verrückt, Nessie. Ich kann nicht mehr warten und ich fühle,
dass du bereit bist.«
“Was?” war das Einzige, das ich in diesem Augenblick denken konnte und dann ging es furchtbar schnell. Ich spürte, wie er in Sekundenbruchteilen mein Höschen zur Seite schob und er sich praktisch gleichzeitig auf und in mich schob. Kalt füllte er mich aus und ich spürte einen stechenden Schmerz in meinem Bauch und alle meine Muskeln schienen sich anzuspannen, obwohl ich doch noch so erschöpft war.
Ein »Au!«, drang
gepresst aus meine Kehle doch wieder drückte er seine Lippen auf
meine um den Schmerzenslaut zu unterdrücken.
»Das geht
schnell vorbei, Geliebte. Entspanne dich«, sagte er dann und
hielt kurz inne.
Viel zu kurz war die Pause, die er mir gestattete, bevor er erneut anfing sich zu bewegen. Es schmerzte noch immer und ich griff verzweifelt mit den Händen tief in die Erde neben mir.
Ich wollte seinem Drängen entgehen, doch eine Hand in meinem Nacken und eine zweite an meiner Schulter verhinderten es. Er küsste mich unentwegt, doch ich konnte das Lippenspiel nicht mehr erwidern. Alles in mir verkrampfte sich und wollte nur eines, dass er aufhörte. Da war kein Schmetterling mehr in mir. Kein schönes Kribbeln und keine Gänsehaut. Warum nur merkte er nicht, dass er mir weh tat? Warum machte er immer weiter und das auch noch immer heftiger? Glaubte er wirklich, das würde mir gefallen?
Ich suchte seinen Blick, doch seine Augen waren geschlossen. Er wirkte abwesend und ich fühlte mich nur hilflos.
»Lennox…«, keuchte ich, doch genauso schnell, wie der Laut über meine Lippen kam, schob sich auch schon wieder seine Zunge in meinen Mund.
Er ließ mir einfach keine Chance zu reden oder richtig zu atmen und ich wusste nicht, was ich tun sollte. Schließlich wartete ich nur noch darauf, dass es vorbei ging.
Nach wenigen aber schlimmen
Minuten war es endlich so weit und er bewegte sich noch ein paar mal
ruckartig, was erneut sehr weh tat. Dann rollte er sich von mir
herunter und seufzte zufrieden. Ihm hatte es offensichtlich gefallen,
doch ich war nur froh, dass es vorbei war.
Nach einem kurzen Moment des Durchatmens, richtete ich mich auf, was mit einem erneuten Schmerz im Bauch quittiert wurde und mich zischend Luft einatmen ließ.
Plötzlich war er an meiner Seite und legte sanft den Arm um meine Schulter.
»Mach’ dir keine Sorge. Es ist normal, dass das erste Mal weh tut. Das wird beim nächsten Mal besser und bald wird es dir richtig gut gefallen.«
“Beim nächsten Mal?”, dachte ich leicht entsetzt. Wollte er das etwa schon bald wiederholen? Erwartete er das jetzt immer von mir? Oh nein. Alles nur das nicht.
»Lennox. Ich glaube nicht,
dass ich das so schnell wieder will.«
»Ach was, meine
Geliebte. Das wird toll. Jetzt wo wir endlich richtig vereint
sind.«
»Richtig vereint? Wie meinst du das?«
»Wie
ich das meine? Nessie, wir gehören zusammen. Du und ich, wir
sind für einander bestimmt. Komm’ mit mir und ich lege dir
die Welt zu Füßen.«
»Was? Wovon redest du
denn?«
»Schicksal, Nessie. Es kann doch kein Zufall
sein, dass ich dich getroffen habe und dass wir uns jeden Tag sehen
wollen. Jetzt ist der richtige Zeitpunkt gekommen. Komm’ mit
mir, Geliebte. Die Welt und die Ewigkeit warten auf uns.«
»Du
willst, dass ich mit dir mitkomme? Aber wohin denn?«
»Egal
wohin. Nur weg von hier und in ein neues Leben. Lass’ alles
hinter dir, Nessie. Was hält dich denn noch? Das ist doch kein
Leben, immer unter Menschen und immer die Furcht vor Entdeckung. Was
bringt dir das? Menschen werden krank. Menschen sterben. Sie machen
nichts als Ärger.«
»Aber ich kann doch nicht
einfach so meine Familie verlassen.«
»Warum nicht? Wir
gründen jetzt unsere eigene Familie. Vielleicht bekommst du nun
auch ein Kind von mir. Lass’ uns gehen, jetzt sofort.«
Was? Ein Kind, das war doch nicht möglich, oder? Und ich wollte doch auch nicht weg von meiner Familie.
»D-Das kann ich
nicht.«
»Doch du kannst und du willst, das weiß
ich. Nessie, ich will nicht mehr hier bleiben. Ich will nicht mehr so
weiter machen wie bisher. Jetzt oder Nie.«
Was verlangte er denn da von mir? Ich konnte doch nicht so einfach mit ihm gehen.
Tief blickte ich ihm in die feurigen Augen, doch ich konnte sie nicht ergründen.
»Lennox, bitte nicht schon
wieder. Setz mich doch nicht ständig so unter Druck. Gib mir
doch bitte ein wenig Zeit um über alles nachzudenken.«
»Da
gibt es nichts nachzudenken. Wir gehören zusammen. Ich weiß
das ganz genau. Fühlst du das denn nicht auch?«
»Lennox,
ich kann das nicht. Bitte versteh’ das doch.«
»Jetzt?
Nach alle dem? Jetzt, wo du vielleicht ein Kind von mir bekommst?
Willst du etwa jetzt mit mir Schluss machen, Nessie?«
»Schlussmachen?
Nein! Lennox, warum denn gleich das? Bitte, ich will dich doch nicht
verlieren.«
»Dann vergiss dein altes Leben und bleibe
für immer bei mir und ich werde dich glücklicher machen,
als du dir erträumen kannst.«
»Um Himmels Willen,
was verlangst du da von mir?«
»Dass du dich
entscheidest. Ich ertrage es nicht länger so zu leben. Ich liebe
dich von ganzem Herzen und will dich ganz für mich und ich
schenke mich dir ganz und gar. Bleibe bei mir, wenn du mich nicht
verlassen willst.«
»Aber Lennox. Meine Familie. Sie
werden mir fehlen. Sie werden mich suchen.«
»Dich
suchen? … Dann geh’ eben kurz nach Hause und hinterlasse
ihnen einem Abschiedsbrief und teile ihnen mit, dass du jetzt zu mir
gehörst.«
»Bitte nicht. Bitte, bitte, bitte,
Lennox. Das kannst du doch nicht verlangen.«
»Nein
Nessie. Du kannst nicht von mir verlangen, noch länger auf dich
zu warten und noch länger dein Freund auf Abruf zu sein. Das
kann ich nicht mehr. Ich halte das nicht mehr aus. Geh’ jetzt
nach Hause und hole dir, was du mitnehmen willst. Wenn du bis morgen
Mittag wieder zu mir kommst, dann wählst du ein Leben an meiner
Seite und wirst es nie bereuen, das schwöre ich dir. Wenn du
nicht kommst, dann weiß ich, dass du mich verlassen hast und du
wirst mich nie wieder sehen.«
Fassungslos blickte ich in sein Gesicht. Seine Mimik ließ jetzt keinen Zweifel daran, dass es sein voller Ernst war und ich geriet mehr und mehr in Panik. Ich konnte doch meine Familie nicht verlassen, doch ich wollte auch Lennox nicht verlieren. Nicht ihn auch noch. Was sollte ich nur tun? Mechanisch stand ich auf und ging ins Wasser. Ich schwamm ans andere Ufer und zog mich dort wie in Trance wieder an. Mein Leben fühlte sich plötzlich furchtbar leer an. Ich wusste nicht, was ich jetzt tun sollte und war einfach nur niedergeschmettert. Ich ließ das Zelt und alles stehen und rannte laut schluchzend in die Dunkelheit. Ich rannte und rannte so schnell ich nur konnte. Tränen der Verzweiflung liefen pausenlos meine Wange herab und wurden von dem Wind, der mir ins Gesicht peitschte, getrocknet, noch ehe sie zu Boden fallen konnte.
Wieso verlangte er das nur von mir? Liebte er mich wirklich so sehr, dass er es nicht mehr ohne mich aushielt? Wie schrecklich würde ich ihm dann weh tun, wenn ich nicht mit ihm gehen würde? Aber ich konnte das doch nicht. Wie sollte ich meine Momma und meinen Daddy und all die Anderen verlassen können? Sie waren doch mein Leben. Warum wollte Lennox nur unbedingt ein anderes mit mir führen? Was war denn an meinem Leben so falsch, dass immer alles daran kaputt ging? Jacob durfte nicht Teil meines Lebens sein und Gabriel wollte es nicht. Lissie schien mir allmählich einfach zu entgleiten und Lennox wollte ein anderes Leben mit mir führen. Oh Gott, ich liebte mein Leben doch. Gab es denn niemanden, der dazu passte? Musste ich es wirklich aufgeben, um jemanden zu finden? Musste das wirklich jetzt sein? War das mein Schicksal, wie er sagte?
Ich verspürte eine elende
Hoffnungslosigkeit in mir und konnte keinen Ausweg sehen. Ich war so
müde und alles tat mir weh. Meine Muskeln brannten und das Atmen
fiel mir unendlich schwer. Wie ferngesteuerte trugen mich meine
schmerzenden Beine einfach immer weiter, ohne wirklich zu wissen,
warum oder wohin oder mit welchem Ziel. Ich wusste gar nichts mehr,
außer dass ich nach Hause rennen musste.
Nach etwa drei Stunden kam ich vollkommen erschöpft und völlig aufgelöst in die Nähe unseres Hauses. Ich war vielleicht noch zwei Meilen entfernt, als mir meine Eltern plötzlich entgegen kamen. In dem Moment, als ich sie sah, verspürte ich einen kurzen Moment, in dem die Trostlosigkeit von mir abfiel, doch gleichzeitig verließen mich auch meine letzten Kräfte, mir wurde schwarz vor Augen und ich brach zusammen.
Ein Summen drang zu meinen Ohren durch. Ein Summen, das mir so vertraut war. Ich erkannte die Klangfangfarbe sofort und die Melodie umspülte mich und glitt zärtlich in mich hinein und schenkte mir Wärme. Der süße liebliche Geruch meiner Mom zog mir in die Nase und ich nahm einen tiefen Atemzug. Der wunderbare Duft erfüllte meine Lunge und verlieh mir Kraft. Meine Augen waren geschlossen, doch es schimmerte rot durch die Lider. Es musste wohl sehr hell sein. Ich blinzelte leicht, doch das Licht brannte in meinen Augen. Sie mussten sich erst langsam daran gewöhnen und ich ließ ihnen Zeit. Wo war ich denn? Ich blinzelte noch mal und erkannte schemenhaft, dass ich in meinem Zimmer auf meinem Bett lag. Wie war ich denn hierher gekommen? Ich bewegte mich leicht und spürte, dass jemand an meinen Rücken gekuschelt war. Ein Arm diente mir als Kissen und ein anderer hatte sich um meinen Bauch gelegt. Oh, ich kannte diese Arme. Sie gehörten meiner Momma und hielten mich fest umschlossen. Sie hatten sich meiner Körpertemperatur angeglichen und waren fast warm. Offensichtlich lagen sie wohl schon eine ganze Weile an meinem Körper. Wie lange sie mich wohl schon umarmten? Ich griff nach dem Arm, auf dem mein Kopf lag, zog ihn näher zu mir heran und drückte ihn an meine Brust. Ganz automatisch schlang sich auch der andere Arm fester um mich und ich fühlte meine Momma jetzt ganz intensiv, wie sie sich dicht an mich kuschelte. Ein wohliges Seufzen entwich meiner Kehle.
Ein leises Klicken meiner Tür ließ mich erneut aufblicken und ich entdeckte das sanft lächelnde Gesicht meines Daddys.
»Sie ist aufgewacht, Liebste«, sagte er offensichtlich zu meiner Mom und streichelte mir dabei über mein Gesicht. Auch seinen Duft nahm ich jetzt richtig wahr und ich fühlte mich wohl und geborgen.
»Wie geht es dir, Sternchen?«, hörte ich die zärtliche Stimme meiner Mom fragen.
Wie es mir ging? Ich fühlte mich ziemlich gut, allerdings auch sehr verwirrt. Ich konnte mich überhaupt nicht erinnern, mit meiner Mom ins Bett gegangen zu sein.
»Sie hat dich nach Hause getragen, nachdem wir dich im Wald gefunden hatten und du vor uns zusammengebrochen bist.«
Im Wald? Zusammengebrochen? Plötzlich kamen alle Erinnerungen wieder in mir hoch. Lennox hatte mir ein Ultimatum gestellt und ich schreckte auf, um einen Blick auf meinen Wecker zu werfen. Ein dummer Fehler, wie ich sofort feststellte, denn Schmerzen durchzuckten mich und ich ließ mich sofort wieder in Moms Umarmung fallen.
»Au!«, stöhnte ich.
Mir tat einfach alles weh, als ob ich einen furchtbaren Muskelkater hätte.
»Vermutlich ist es auch so, Liebling. Was hast du nur gemacht? Was ist dir denn passiert? Und was für ein Ultimatum?«
»Ein Ultimatum?« wiederholte Mom Dads frage.
Meine Gedanken sprangen hin und her und Dad musterte mich kritisch. Bilder und Gefühle schossen mir wirr durch den Kopf.
»Ganz ruhig, Schatz. Der Reihe nach. Was ist passiert?«
»Bitte, Dad. Ich kann im Moment nicht klar denken, wenn du mir dabei zuhörst.«
»Schirm sie vor mir ab, Liebste. Ich will nicht, dass sie sich jetzt unwohl fühlt. Die Antworten können noch etwas warten.«
»Danke Daddy«, sagte ich schwach lächelnd und versuchte dann, meine Erinnerungen zu sortieren.
Es dauerte ein paar Minuten, bis ich wieder wusste, was passiert war. Alles war wieder da. Der ganze schöne Ausflug, bis zu seinem furchtbaren Ende. Der Schmerz, der mich unwillkürlich dazu brachte, gegen meinen Bauch zu drücken. Das Gespräch, das wieder die Verzweiflung in mir wachsen ließ. Seine Liebesbekundung, sein Ultimatum und wie ich anschließend nach Hause rannte. Es tat so schrecklich weh und es war nicht mein Körper, sondern die Qual in meinem Kopf, die mich weinen und leise schluchzen ließ. Nichts hatte sich geändert. Ich war immer noch entmutigt und ohne Hoffnung. Ich wusste noch immer nicht, was ich tun sollte und jetzt lief mir auch noch die Zeit davon.
»Was hat er nur mit dir gemacht, Kleines? Kannst du es mir nicht einfach zeigen?«
»Es wird dir nicht gefallen, Momma.«
»Das ist mir klar, Liebling. Nichts, das dich so leiden lässt, könnte mir jemals gefallen. Bitte zeig’ es mir trotzdem, damit ich dir besser helfen kann.«
Ich schaute in das angespannte und besorgte Gesicht meines Vaters, der noch immer vor meinem Bett kniete.
»Du willst es auch sehen, oder?«
Er nickte stumm.
Was sollte ich ihnen denn jetzt zeigen und wie sollte ich es ihnen zeigen? Nur einzelne Ausschnitte? Den ganzen Tag? Sie müssten alles sehen, um alles zu verstehen, doch ich hatte doch jetzt keinen ganzen Tag Zeit, um ihnen alles genau zu zeigen? Ich wurde furchtbar nervös und unruhig. Wie sollte ich mich für die richtigen Sequenzen entscheiden können? Panik machte sich wieder in mir breit. Ich musste ihnen doch alles zeigen aber wie sollte ich das denn schaffen? Ich hatte große Angst, jetzt eine falsche Entscheidung zu treffen und klammerte mich fest an Moms Arm. Ich versuchte mich auf meine Gabe zu konzentrieren und irgendwie alle Erinnerungen des ganzen Tages zusammenzupacken. Plötzlich hatte ich das Gefühl, sie alle auf einmal erfassen und zu einer kleinen, glühenden Kugel zusammenpressen zu können. Dann drückte ich sie aus mir heraus. Ich verspürte ein bebendes Zittern in mir, das auch leicht schmerzte. Dann hörte ich, wie Mom laut einatmete und dann die Luft anhielt. Dad blickte gebannt auf sie und ich drehte mich vorsichtig zu ihr um.
Ihre Augen waren weit aufgerissen und die Pupillen sprangen hin und her, als ob sie etwas schnelles beobachten würde. Es dauerte eine Minute, doch dann schien sie das, was ich ihr gezeigt hatte, zu verstehen. Allmählich wich die anfängliche Überraschung aus ihrem Gesicht und sie sah immer ernster und aggressiver aus. Schließlich hatte sie so einen gequälten wütenden Gesichtsausdruck, wie ich ihn nur von einem schlimmen Kampftraining her kannte. Dann richtete sie ihren Blick wieder auf mich und zog mich sogleich wieder fest in ihre Umarmung und drückte mich an sich. Ich hörte, wie schwer und wütend sie atmete.
»Was hat er dir nur angetan«, sagte sie voller Zorn. »Dafür wird er büßen.«
»Was? … NEIN!«, jammerte ich. »Bitte Mom, du darfst ihm nichts tun.«
Ich fühlte mich schon wieder hilflos und elend und wusste einfach nicht, was ich tun sollte. Verzweifelt klammerte ich mich fest an sie, damit sie bei mir bleiben musste. Es tat in meinen Armen weh, doch ich hielt sie mit aller Kraft.
»Oh Kleines, was hat er nur mit dir gemacht?«
»Bitte, Mom, bitte. Du musst hier bleiben. Geh’ nicht weg, ja?«
Sanft streichelte sie mir über das Haar und ich spürte, wie sie dabei versuchte, mich und sich selbst zu beruhigen.
»Ist ja gut, Sternchen, ist ja gut. Ganz ruhig.«
»Was ist passiert, Bella? Bitte lass’ es mich sehen«, sagte Dad und ich schreckte herum, was weitere schmerzhafte Zuckungen auslöste.
»Daddy, nein. Bitte, ihr müsst beide bei mir bleiben. Das könnt ihr mir nicht antun.«
»Was ist denn nur geschehen? Um Himmels Willen Schatz, zeige es mir.«
»Versprich mir, dass du hier bleibst, Daddy. Dann zeige ich es dir.«
Sein leidender Gesichtsausdruck sprach Bände, doch ich wusste, dass er sein Versprechen halten würde. Ich streckte ihm eine Hand entgegen und er ergriff sie fest. Ich zog sie an mich heran und umschloss sie mit beiden Händen. Ich konzentrierte mich noch mal auf meine Gabe und versuchte erneut alle Gedanken an den Tag auf einmal zu erfassen und schoss sie dann wieder wie einen Energieball aus meinem Kopf heraus.
Dad schien wie Mom ein paar Augenblicke zu brauchen, um das Übertragene verarbeiten zu können. Als es soweit war, sah er nicht weniger wütend als Mom aus, doch er blieb vor meinem Bett knien. Vorsichtshalber hielt ich seine Hand aber weiterhin fest umschlossen, auch wenn ich wusste, dass ich ihn unmöglich halten könnte, wenn er sich losreißen wollte.
Er schaute über mich hinweg und ich wusste, dass sein Blick auf Mom gerichtet war. Erneut bekam ich Panik, dass sie sich vielleicht irgendwie abstimmen könnten, um doch Lennox etwas anzutun.
»Bitte, ihr dürft ihm nichts tun. Bitte nicht.«
Ich war schon wieder so unglücklich, dass ich die Tränen nicht zurückhalten konnte.
»Oh Liebling. Wenn ich doch nur geahnt hätte, was der Bastard im Schilde führt. Niemals hätte ich das zugelassen.«
Er beugte sich zu mir, streichelte mein Haar und gab mir einen Kuss auf die Stirn. Er sah furchtbar gepeinigt aus und seine Selbstvorwürfe nagten schwer an ihm.
»Daddy«, sagte ich noch leicht schluchzend, versuchte aber meine Stimme wieder zu beruhigen. »Es war nicht dein Fehler. Ich habe das so gewollt.«
»Oh nein, mein Engel. Das hast du nie und nimmer gewollt. Er hat dich manipuliert und sich an dir vergangen und ich habe es zugelassen.«
Ich verstand nicht wirklich, was er da zu mir sagte, aber wenigsten blieb er bei mir und das beruhigte mich. Dann ging erneut die Tür auf und Rosalie und Emmett kamen herein.
»Wie geht es ihr?«, fragte Rosalie vorsichtig.
»Den Umständen entsprechend gut, aber sie ist sehr verwirrt«, antwortet Daddy.
»Den Umständen entsprechend? Weißt du endlich, was mit ihr passiert ist? Jetzt rede schon«, fragte Emmett besorgt.
»Das glaubst du nicht, wenn du es nicht selbst gesehen hast.«
Dad stand auf und trat zurück. Dafür kamen Rose und Em näher. Sie setzte sich auf die Bettkante und er kniete sich vor mich.
»Zeigst du es mir?«, fragte mich Emmett und mir wurde flau im Magen.
Ich schüttelte zaghaft den Kopf.
»Bitte, Nessie. Ich möchte wissen, was dir passiert ist.«
Rosalie nickte zustimmend und streichelte mich.
»Zeig’ es uns Süße«, sagte sie.
»Aber ihr werdet bestimmt genau so wütend wie Mom und Dad. Das will ich nicht.«
»Vermutlich, aber wir wollen es trotzdem wissen.«
»Ihr tut ihm aber nichts, ja? Ihr bleibt bei mir. Versprecht mir das.«
»Wenn du darauf bestehst. O.K.«
Ich atmete noch mal tief durch und dann zeigte ich es Emmett. Während er die übertragenen Erinnerungen verarbeitete, zeigte ich das Selbe Rosalie.
Emmett sah noch wütender aus als Mom und Dad. So hatte ich ihn noch nie gesehen.
»Dieses Schwein! Den bring ich um«, brüllte er und sekundenschnell waren auch alle anderen Familienmitglieder von seinem Aufschrei alarmiert und ins Zimmer gestürzt.
»Beruhige dich Bruder«, sagte Daddy und klang dabei selbst nicht annähernd ruhig.
»Beruhigen? Hast du noch alle Tassen im Schrank? Hast du nicht gesehen, wie er sie missbraucht hat? Diesem Dreckskerl reiße ich alle Gliedmaße einzeln ab. Wo war das? Ich habe den Ort schon mal gesehen. Das war Loch Eck, oder? Worauf warten wir?«
»Ich weiß Em. Ich würde nichts lieber tun als das, aber Nessie will das nicht.«
»Das Kind ist doch völlig durch den Wind«, mischte sich Rosalie plötzlich ein. »Sie kann nicht klar denken. Dieses Monster darf damit nicht durchkommen.«
Rose sprühte vor Zorn und ich bereute zutiefst, dass ich ihr und Emmett gezeigt hatte, was mit mir geschehen war.
»Hört bitte auf«, wimmerte ich und richtete mich dabei unter Schmerzen auf. »Ihr habt mir euer Wort gegeben. Ich würde es mir nie verzeihen, wenn ihr ihm etwas antut, weil ich euch das gezeigt habe.«
»Verdammt Nessie!«, brüllte Emmett mich an und ich zuckte schmerzhaft zusammen. »Warum schützt du dieses Stück Dreck? Er hat sein mieses Spiel mit dir gespielt und dich benutzt. Er hat dich gequält und dich erpresst. Wieso verteidigst du ihn?«
»Weil … weil … weil er mich doch liebt.«
»Das glaubst du? Kein Mann könnte einem Mädchen das er liebt so etwas antun.«
Rose nickte zustimmend und mir liefen wieder die Tränen über die Wangen.
»Bitte, tut mir das nicht an. Lasst ihn einfach gehen. Das ist auch so schon schlimm genug für mich.«
Mom setzte sich zu mir und legte sanft den Arm um mich und bettete meinen Kopf auf ihrer Schulter. Esme setzte sich auf die andere Seite und hielt meine Hand.
»Meine Kinder, hört mir zu«, sprach plötzlich Carlisle zu allen. »Überstürztes Handeln führt selten auf den richtigen Weg. So lösen wir unsere Probleme nicht.«
Dann drehte er sich mir zu und auch er kniete sich vor mich hin, wie zuvor Dad und Emmett.
»Liebes, ich sehe dir an, wie sehr dich das alles quält. Dennoch weißt du doch, dass wir immer und jederzeit für dich da sind. Wir wollen dir helfen und dich schützen. Darin haben wir wohl alle versagt und gerade deshalb sind wir so wütend. Er hat nicht nur dir weh getan, sondern der ganzen Familie. Jetzt müssen wir als Familie entscheiden, wie wir damit umgehen wollen. Bitte mein Kind. Zeige uns allen, was dir passiert ist und ich verspreche dir, wir werden als Familie zusammen beraten, entscheiden und handeln, so, wie wir es immer tun.«
Seine einfühlsame Stimme beruhigte mich und ich nickte ihm zu. Dann zeigte ich es nacheinander ihm und auch allen Übrigen, die es noch nicht gesehen hatten. Jedem war das Leid, die Trauer und die Wut deutlich anzusehen, doch sie hielten sich an Carlisles Anweisung.
Für Emmett schien es am schwersten zu sein und er ging kurze Zeit später aus dem Zimmer und dann hörte ich ein lautes poltern und dröhnen und mir war klar, dass er gerade eine Wand durchschlagen haben musste. Esme zuckte leicht zusammen, doch sie zeigte keine Anzeichen, dass sie deshalb aufgebracht sein könnte. Es tat mir in der Seele weh, dass Emmett so sehr litt, wegen dem, was mir widerfahren war. Das war einfach nicht richtig und ich stand auf und ging zu ihm. Alle schauten mir überrascht hinterher und Mom streckte die Arme nach mir aus, doch ich wollte jetzt zu Emmett.
Im Gang lagen die Trümmer der Wand eines Gästezimmers, doch von ihm war nichts zu sehen.
»Emmett?«, rief ich ihn zaghaft und leise und schon kam er aus seinem Zimmer geschossen und stand vor mir. Die Wut stand ihm immer noch deutlich ins Gesicht geschrieben, doch sah er mich vor allem sehr mitfühlend an. Ich streckte ihm die Arme entgegen und er hob mich vorsichtig hoch und wiegte mich, wie er es auch schon mit mir als kleinem Mädchen gemacht hatte. Ich lehnte meinen Kopf an seine breite Brust und streichelte sein Gesicht.
Ich wusste nicht, wie ich meine Trauer, meine Besorgnis, meine Dankbarkeit und meine Liebe zum Ausdruck bringen sollte. Also kuschelte ich mich einfach nur an meinen großen Teddybär und hoffte, es ihn so vielleicht spüren zu lassen. Nach einer Weile trug er mich zurück in mein Zimmer und brummte:
»Entschuldige Mom, ich bringe das wieder in Ordnung.«
Esme lächelte ihn dafür gütig an.
So wie Emmett schienen sich auch alle Anderen allmählich zu beruhigen und ich legte mich wieder ins Bett zu meiner Momma, die mich gleich wieder liebevoll in die Arme schloss. Sie schien sehr erleichtert zu sein, dass der Platz an ihrer Brust wieder von mir ausgefüllt wurde. Rose ging dann gleich zu Emmett und umarmte ihn. Auch wenn beiden nicht nach Lächeln oder Küssen zumute war, so war doch sehr viel Liebe in ihren Augen. Das war nicht nur bei ihnen zu sehen, sondern auch bei den Anderen, auch wenn alle sehr stark mit mir mitfühlten.
Alice schien besonders extrem betroffen zu sein. Sie war die Einzige, bei der ich keine Wut erkennen konnte, dafür aber eine umso stärkere Trauer. Ich ahnte, dass es etwas damit zu tun hatte, dass sie alle Anderen mit ihrer Gabe vor schlimmen Gefahren schützen konnte, doch dass ihr dies bei mir nicht möglich war. Das war wohl etwas, das sie hart traf, wofür sie aber keine Lösung hatte. Jasper war leider nicht in der Lage, ihr wirklich zu helfen, denn er schien so sehr mit der Kontrolle seiner eigenen Gefühle beschäftigt zu sein, dass er die von seiner Liebsten nicht richtig beeinflussen konnte. Daher setzte ich mich einfach eine kurze Weile auf Alice’ Schoß und zeigte ihr, wie furchtbar gern ich sie hatte und dass es nichts gab, das etwas daran ändern könnte. Sie war dann auch die Erste, die mich an diesem Tag anlächelte, obwohl sie wusste, was mir widerfahren war.
Carlisle und Esme waren sehr bemüht, der ganzen Familie Zuversicht zu schenken. Die Tatsache, dass ich hier bei ihnen nun in Sicherheit war, schien mehr und mehr auf alle eine beruhigende Wirkung zu haben, auch wenn ich hier und da immer wieder den Zorn und die Rachlust in den Augen aufblitzen sah. Dennoch blieben sie bei mir, ganz so, wie ich es mir von allen gewünscht hatte. Eine Frage lag mir aber noch brennend auf dem Herzen und ich stellte sie, obwohl ich befürchtete, dass die Stimmung dadurch wieder angespannter werden könnte.
»Carlisle? Glaubst du, dass ich jetzt ein Kind von ihm bekomme?«
Fast wie erwartet war Bestürzung in den Gesichtern meiner Familie zu sehen, doch er blieb ganz ruhig.
»Das ist sehr unwahrscheinlich, Liebes. Dein Zyklus ist inzwischen drei mal so lange wie der eines menschlichen Mädchens und er hat gerade erst neu angefangen. Warum … Lennox … das erwähnt hatte, ist mir nicht ganz klar. Wenn er erwartet hatte, dass du einen vierwöchigen Zyklus hast, wäre es sehr gut möglich gewesen, aber so nicht.«
Hatte Lennox das etwa geplant? Sicherlich hatte er meine Blutung noch bis vor wenigen Tagen gerochen. Dachte er etwa, er könnte mich so noch stärker an sich binden, oder hatte er sich einfach so sehr ein Kind gewünscht? Warum hatte er das nur gemacht? Das ergab doch alles keinen Sinn. Ich musste Emmett recht geben, denn das konnte doch keine Liebe sein. Auch wenn ich nach wie vor ratlos war, eines wusste ich jetzt mit absoluter Gewissheit. Lennox war nicht mein Schicksal. Egal wie aufregend und toll es oft mit ihm gewesen war, nie könnte ich meine Familie wegen ihm verlassen. Dafür liebte ich jeden Einzelnen viel zu sehr.
Meine Familie blieb praktisch den ganzen Tag bei mir, obwohl mit mir nicht gerade viel anzufangen war. Selbst als Esme mir eine frische Pizza brachte, weil mein nervendes Magenknurren unüberhörbar war, blieben alle da und ertrugen den Essensgeruch. Ich fand es wirklich lecker, denn ich hatte schon immer eine kleine Schwäche für italienisches Essen. Kein Vergleich zu einem Wapiti, aber als menschliches Nahrung ganz passabel. Ich zeigte auch jedem der wollte, wie ich das Essen wahrnahm und irgendwie wollten sie es auch alle wissen.
Die überraschende neue Variante meiner Gabe war dann eigentlich das erste angenehmere Thema, über das heute gesprochen wurde, auch wenn sich alle darüber einig waren, dass nur mein traumatisches Erlebnis diesen Sprung in der Anwendung meiner Fähigkeit ausgelöst hatte. Jedenfalls waren alle beeindruckt davon und im Grunde war ich das auch selbst.
Gegen Abend ging Emmett dann als Erster aus meinem Zimmer, um den angerichteten Schaden an der Wand wieder zu beheben. Etwas, das ihm wohl nicht so recht gelang, was an seinem Fluchen und dem gepolter deutlich zu hören war. Irgendwie fand ich das witzig und musste einfach grinsen, was auch den Anderen hier und da ein kleines Lachen entlockte. Nach einer Weile hatte Esme endlich erbarmen und ging ihm helfen.
Erst als es schon sehr spät am Abend war und ich ständig gähnen musste, bat ich meine Familie, mich wieder alleine zu lassen. Nur Mom und Dad bat ich, heute Nacht noch bei mir zu bleiben und vor allem Dad freute sich sehr darüber. Lennox war jetzt hoffentlich schon längst ohne mich gegangen und würde nie mehr zurückkehren. Ein Teil von mir bedauerte dies, war aber auch erleichtert, dass er nun wohl in Sicherheit war. Überwiegend war ich aber froh, dass ich mir zumindest soweit darüber im Klaren war, dass ich viel lieber bei meiner Familie als bei ihm sein wollte. Er hatte mich zu dieser Entscheidung gezwungen und ich hatte sie getroffen. Mein noch immer leicht schmerzender Bauch sagte mir, dass es die richtige Entscheidung war, auch wenn ich vieles noch nicht verstand.
Gut eingepackt in meine Decke und von der Liebe meiner Eltern umfangen gab ich schließlich der Müdigkeit nach und schlief ein.
In meinem Traum besuchte mich ein großer Wolf mit rotbraunem Fell, den ich nur zu gut kannte. Zuerst versteckte ich mich vor Jacob, da ich Angst hatte, er könnte von mir enttäuscht sein. Er hatte mir ja von Anfang an sehr deutlich gezeigt, wie wenig er von Lennox hielt, doch ich hatte ihn ignoriert. Jetzt schämte ich mich dafür und traute mich nicht zu ihm. Als er mich dann doch gefunden hatte, war er kein bisschen böse, sondern jaulte leise und stupste mich mit seiner nassen Nase an die Wange. Dann leckte er mir auch noch über das Gesicht und ich musste lachen, weil es so kitzelte. Es war so eine liebe, wenn auch etwas eklige Geste, dass ich gleich die Arme um seinen Hals schlingen musste. Sein warmes weiches Fell fühlte sich so gut an und ich kuschelte mich richtig hinein. Dann wachte ich auf und musste feststellen, dass es doch nur meine Decke war, in die ich mich gekuschelt hatte.
Ich schlug die Augen richtig auf und sah meinen Daddy vor mir liegen, der mich anlächelte.
»Guten Morgen Liebling. Sehr erfreulich, dass dein Traum so ein schönes Ende genommen hat. Ich hoffe, du bist deiner Mom nicht böse, dass sie mich zuschauen ließ, aber wir waren besorgt, dass du vielleicht einen Albtraum haben könntest.«
»Nein, Daddy, ich bin nicht böse«, sagte ich und küsste ihn auf die Nase, bevor ich mich zu Mom umdrehte und auch sie küsste. »Ich bin nur froh, dass ihr hier seid.«
»Nichts hätte uns hier wegbringen können, Sternchen.«
Ich reckte mich etwas und stellte fest, dass mir nichts mehr weh tat. Dennoch fühlte ich mich etwas schlapp.
»Dann sollten wir vielleicht jagen gehen, auch wenn erst Freitag ist«, meinte Daddy und Mom nickte zustimmend, auch wenn sie nur erahnen konnte, warum er das gesagt hatte.
»O.K., dann lasst uns jagen gehen.«
Ich stand auf und ging erst einmal duschen. Erst jetzt wurde mir bewusst, dass ich noch immer die Kleider trug, in denen sie mich im Wald gefunden hatten. Nur die Schuhe hatten sie mir ausgezogen. Ich legte die Sachen ab und bemerkte eine kleine leichte Blutkruste in meinem Höschen. Die Erinnerung an die Ursache war bedrückend und mir war sofort klar, dass ich diese Kleidungsstücke nie wieder anziehen würde. Also legte ich sie zur Seite, um sie nachher in den Müll zu werfen. Dann stieg ich unter die Dusche. Es war erfrischend, das heiße Wasser auf der Haut zu spüren, doch ich hatte auch ein mulmiges Gefühl im Bauch, als ich mich selbst wusch. Der Nachgeschmack seiner Berührungen war allgegenwärtig und ich fühlte das Echo von dem, was er mit mir gemacht hatte. Besonders vorsichtig wusch ich mich im Intimbereich, obwohl ich keine Schmerzen mehr hatte. Es war einfach die Erinnerung an das schmerzhafte Erlebnis, die mich hemmte. Obwohl ich beim Betasten keine Veränderung feststellen konnte, fühlte sich mein Bauch doch anders an und das verwirrte mich sehr.
Nach der Dusche betrachtete ich mich noch genau im Spiegel. Ich suchte nach Anzeichen, ob irgendetwas an mir anders sein könnte, doch ich fand keine. Ich war wohl immer noch ich und ich hoffte sehr, dass ich mich auch bald wieder so fühlen würde.
Frisch angezogen schnappte ich meine zur Entsorgung bestimmten Klamotten und warf sie in die Mülltonne. Dann gingen wir auf die Jagd und die ganze Familie ließ es sich nicht nehmen, mich zu begleiten. Es schien fast so, als wollten sie alle sicher gehen, dass ich mich richtig erholen und wieder ganz die Alte werden würde. Etwas, das ich auch hoffte.
Die Jagd dauerte ziemlich lange, da alle versessen darauf waren, dass ich auch ja einen möglichst großen und starken Hirsch als Beute bekäme. Schließlich war es Alice, die einen erwischte und K.O. schlug und ihn flugs zu mir brachte. Ich mochte meine Beute zwar nicht unbedingt betäubt, aber sie schien sich so zu freuen, dass sie mir etwas gutes tun konnte, dass ich mich einfach mit freute und das leckere Geschenk dankbar annahm. Danach fühlte ich mich wirklich besser und verspürte so etwas wie Zuversicht, dass doch alles wieder gut werden würde.
Auch an den übrigen Tagen des verlängerten Wochenendes waren alle immer sehr um mich besorgt, wobei es allmählich zunehmend unangenehm wurde. Ich wollte, dass wieder alles wie vorher wird und sie mich wieder ganz normal behandelten. Ich wollte wieder unbeschwert mit Emmett Musik machen und herumtoben. Ich vermisste sogar Rosalies anzügliche Bemerkungen, wobei mir natürlich klar war, warum sie die rigoros vermied.
Am Samstag bat ich die Familie dann zu einer Konferenz, um meine Situation zu besprechen. Ich war bereit, sozusagen alles auf den Tisch zu legen. Ich wollte von jedem eine ehrliche Meinung über Lennox hören, obwohl mir schon vorher klar war, wie die ausfallen würde. Dennoch hielt ich es für wichtig, dass es jeder sagte. Sie erfüllten meine Bitte und waren sehr offen zu mir. Alle waren sich darin einig, dass Lennox mich manipuliert, verführt und schließlich auch praktisch vergewaltigt hat. Das Wort gefiel mir nicht, denn ich meinte, dass er doch gar keine Gewalt angewandt, sondern mich wieder einmal überrumpelt hatte, auch wenn es dieses Mal sehr wehgetan hatte. Außerdem hatte ich mich schließlich auch nicht gewehrt und es war doch wirklich denkbar, dass er es nicht so empfunden hatte und dann aufgehört hätte. Ich musste aber auch einsehen, dass es gegen meinen Willen geschah und dass er keine Rücksicht auf mich genommen hatte. Mir blieb nichts anderes übrig, als ihnen in dem Punkt zuzustimmen und ich fing dadurch auch an, das Erlebte mit anderen Augen zu sehen. Nach und nach kam ich mir immer dämlicher vor, dass ich mir tatsächlich so oft Selbstvorwürfe gemacht hatte, mich falsch zu verhalten, oder dass ich mir die Schuld gab, wenn er verärgert reagiert hatte. Auch das sagte ich ihnen, denn ich wollte genauso offen sein.
Eine wirklich große Hilfe waren mir Esme und Rosalie. Beide hatten in ihrem früheren Leben schreckliche Erfahrungen gemacht, die weitaus schlimmer waren, als das, was mir widerfahren war. Trotzdem machten mir beide Mut denn schließlich hatte sich für sie letztendlich alles zum Guten gewendet und sie haben den richtigen Partner für sich gefunden. Rosalie meinte dann ganz direkt, dass sie sich ein Leben ohne Sex gar nicht mehr vorstellen könnte und dass es wirklich etwas wunderschönes wäre, wenn man es mit dem Richtigen machte. Etwas, wozu Emmett breit grinste und zu meiner Überraschung auch Esme zustimmend nickte. Irgendwie wusste ich das auch, denn schließlich saßen vier Pärchen mit mir an dem Tisch, auf die das zutraf, dennoch viel es mir schwer zu verstehen, wie so etwas schmerzhaftes als schön empfunden werden konnte. Dad, der meine Gedanken gehört hatte, meinte dazu, dass es nur deshalb für mich so schmerzhaft war, weil ich nicht bereit und er grob und rücksichtslos war. Das gab mir nun wirklich zu denken, machte mir aber auch Mut.
An diesem Abend ging ich wieder alleine schlafen und ich dachte darüber nach, wer wohl der Richtige für mich sein könnte. Dabei kam mir immer wieder Gabriel in den Sinn. Er hätte mich nie zu so etwas gezwungen. Natürlich könnte er das auch gar nicht, aber er würde es auch nicht tun, selbst wenn er es könnte. Er wusste es ja nicht und war immer so lieb und rücksichtsvoll gewesen und das schon, als es nur um einen Kuss ging. Etwas, das sich Lennox auch einfach geholt hatte. Außerdem wurde mir wieder richtig bewusst, dass ich schon von Anfang an viel mehr für Gabriel empfunden hatte. Wie es Lennox überhaupt schaffen konnte, dass ich mich auf ihn so stark einließ, wurde mir immer mehr zum Rätsel.
Auch am Sonntag wurde ich von meinen Gedanken an Gabriel beherrscht. Jetzt, da ich mich nicht mehr mit Lennox ablenken konnte, spürte ich wieder, dass ich meinen Gabriel doch wahnsinnig vermisste. Ich bedauerte so sehr, dass diese Kluft zwischen uns lag und es hatte sich nichts daran geändert, dass ich keinen Weg zu ihm fand. Nach wie vor blieb mir nichts anderes übrig, als auf ihn zu warten.
Gegen Mittag bestand ich auch darauf, dass wir wieder unser Kampftraining durchführten. Mom wollte das natürlich nicht, doch ich sagte ihr, dass es sehr wichtig für mich war und das aus mehreren Gründen. Erstens wollte ich, dass wieder alles wie vorher war, zweitens würde es mich ablenken und drittens musste sie mir ja wohl darin zustimmen, dass die Fähigkeit zur Selbstverteidigung wohl auch für ein Halbvampirmädchen äußerst sinnvoll war. Auch ohne das direkt auf mein unfreiwilliges erstes Mal zu beziehen, war die Botschaft klar und sie stimmte schließlich zu, unter der Bedingung, dass heute keine negativen Emotionen von Jasper eingesetzt wurde. Das war für mich akzeptabel und für Jasper überraschender Weise sogar eine Erleichterung.
Das Training war trotzdem richtig anstrengend und er zeigte mir wieder neue Kampftechniken. Der abschließende Übungskampf war erneut ein Fluchttraining, bei dem Mom mich schützen sollte. Irgendwie war ich dieses Mal aber richtig gut drauf, denn obwohl Jasper mehrmals an Mom vorbei kam, schaffte ich es ihm auszuweichen und mich gleich wieder hinter ihr in Sicherheit zu bringen. Ein echt cooles Training.
Danach wollte ich noch ein Weilchen durch den Wald rennen, doch Dad bestand darauf, mich begleiten zu dürfen. Nur für alle Fälle. Mir war klar, dass er befürchtete, Lennox könnte zurückkommen, um mich mit Gewalt zu holen, doch ich hielt das für absolut unwahrscheinlich. Dennoch stimmte ich ihm zu. Die ganze Familie wäre sicherlich beruhigt, wenn ich nicht alleine durch den Wald lief. Außerdem war es schön, mal etwas mit meinem Daddy zu unternehmen. Ich beschloss, das ab sofort öfters mit ihm zu machen, wenn er es auch wollte. Sein breites Grinsen bewertete ich mal als Zustimmung.
Die neue Schulwoche war mal wieder geprägt von Klausuren, was ein untrügliches Zeichen dafür war, dass das Trimesterende vor der Tür stand. Emmett freute sich schon wie verrückt darauf, denn diesmal wollte er nach Kanada zur Bärenjagd reisen und die Vierergruppe würde wieder zusammen aufbrechen. Außerdem gab es da noch einen besonderen Bonus. Er würde nämlich auch seinen offiziell siebzehnten Geburtstag feiern und damit auch sein heiß ersehntes Auto bekommen. Rosalie musste noch vier Wochen länger warten, freute sich aber mit Emmett, zumal sie dann ein Auto mehr zum basteln bekommen wird und außerdem wollte sie lieber von Emmett als von irgendjemand anderem gefahren werden. Ich hatte da aber das unbestimmte Gefühl, dass Emmett wohl nur einen Monat lang in diesen Genuss kommen dürfte. Dann hätte wohl bis auf weiteres Rose das Vergnügen.
Ich selbst wollte in den Ferien nicht verreisen. Lissie ging es immer schlechter und ich machte mir große Sorgen um sie. Einen Urlaub hätte ich jetzt unmöglich genießen können und so stimmten Mom und Dad mir zu, dass wir hier bleiben würden. Auch Carlisle und Esme hatten beschlossen nicht zu verreisen. Mir war allerdings nicht ganz klar, ob sie das wegen mir machten, oder aus anderen Gründen. Jedenfalls war ich froh, dass Carlisle hier bleiben wollte und mich so mit den Neuigkeiten über Lissies Behandlung auf dem Laufenden halten konnte.
In der Schule erzählte ich niemandem von meinem Camping-Erlebnis und ich schaffte es auch ziemlich gut, mir nichts anmerken zu lassen. Natürlich musste ich einigen eine erfundene Geschichte über den angeblichen Ausflug mit meiner Familie auftischen, aber das klappte ganz gut. Ich erzählte einfach ein wenig von der Gegend, die ich durch unsere wöchentlichen Jagdausflüge ohnehin gut kannte. Soweit hatten wir uns auch in der Familie abgestimmt. Nur die zwei wichtigsten Menschen in meinem Leben spürten es, dass mit mir etwas nicht stimmte. Dass es Lissie auffallen würde, hatte ich ja geahnt, doch dass auch Gabriel bemerkte, dass etwas mit mir nicht in Ordnung war, überraschte mich ziemlich. Wir redeten doch kaum noch miteinander und trotzdem fühlte er, dass mir etwas widerfahren war. In Spanisch sprach er mich dann sogar direkt darauf an, ob etwas bei meinem Campingausflug passiert wäre und am liebsten hätte ich mich an seiner Schulter ausgeheult und ihm alles erzählt, doch ich konnte das einfach nicht. Er sollte das niemals erfahren und vor allem sollte das auch kein Grund sein, damit wir wieder zusammen kommen. Trotzdem tat es mir sehr gut, dass er immer noch so viel für mich empfand, dass er um mich besorgt war und spürte, wenn es mir nicht so gut ging.
Lissie wollte ich es auch nicht erzählen. Ich ging schließlich zu ihr, um ihr Mut zu machen und nicht, um meine Sorgen bei ihr abzuladen. Womöglich hätte sie dann auch noch darum gebeten, dass ich es ihr zeige und das war nun wirklich vollkommen ausgeschlossen.
So verging die Woche mit täglichen Prüfungen, Krankenhausbesuchen und den Emotionstrainingseinheiten mit Jasper. Ich machte auch jeden Abend einen Waldlauf mit meinem Dad, was uns beiden großen Spaß machte. Unfassbar, wie schnell er rennen konnte, wenn er es darauf anlegte. Er zeigte mir auch Kleinigkeiten, mit denen ich meinen Laufstil verbessern konnte und so wurde auch ich tatsächlich etwas schneller.
Lennox hatte sich wie angedroht, oder besser wie versprochen, nicht mehr blicken lassen. Ich hatte mich oft gefragt, wie ich wohl reagieren würde, wenn er noch mal auftauchen sollte. Eine Zukunft gab es wohl für uns nicht mehr. Dazu müsste er sich meiner Familie stellen und sich einer Befragung unterziehen. Dann würde Dad seine Gedanken bis in den hintersten Winkel durchforsten.
Auch wenn ich Lennox noch immer irgendwie mochte, so konnte ich mir doch nicht vorstellen, dass ihm meine Familie vergeben könnte und eine heimliche Beziehung würde es definitiv nicht geben. Nein, dieses Kapitel meines Lebens wollte ich nun endgültig hinter mir lassen und deshalb ging ich auch am Sonntagmorgen wieder mit einem Buch zu meinem geheimen Platz im Wald, damit wieder alles so wie vorher laufen würde.
Es war zwar nicht gerade sonnig,
aber dafür wenigsten trocken. Inzwischen hatten sich auch einige
Frühlingsblumen auf der Wiese blicken lassen, was mir gut
gefiel. Meinen Baumstamm befreite ich mit ein paar gezielten
Handkantenschlägen, die mir Jasper beigebracht hatte, von dem
Lennox-Schriftzug. Die Kerbe störte mich aber, weshalb ich den
Stamm noch umdrehte, damit mich nichts mehr daran erinnerte. Dummer
Weise war die Unterseite des Stammes so modrig und feucht, dass
darauf nun wirklich nicht gut zu sitzen war. Also wanderte ich durch
den Wald auf der Suche nach einem neuen Baumstamm. Ich hatte sogar
nach gut einer Stunde Erfolg und fand ein viel versprechendes
Exemplar. Ich lud ihn an einem Ende auf meine Schulter und schleppte
ihn zu meinem Platz und beförderte den alten Stamm aus meinem
Blickfeld. Die ganze Aktion hatte den kompletten Vormittag in
Anspruch genommen und so musste ich schließlich die Einweihung
der neuen Sitzgelegenheit auf die nächste Woche verschieben.
Schließlich machte ich mich nach einem kurzen Seufzer auf den
Heimweg, denn ich wollte auf keinen Fall zu spät zum
Kampftraining kommen. Verspätungen wollte ich ohnehin vermeiden,
damit niemand aus meiner Familie noch einen Herzinfarkt bekommt, oder
etwas vergleichbares Vampirisches.
Gleich nachdem ich zu Hause angekommen war, fingen wir auch schon mit den Training an. Diesmal bat Jasper auch Emmett mit zum Training. Er sollte mir als bewegliches Ziel dienen und er ließ sich das gerne gefallen. Dass ich selbst einmal den Angreifer spielen durfte war richtig toll. Immer nur ausweichen und weglaufen war auf die Dauer schon ein wenig eintönig und da war jede Abwechslung herzlich willkommen. Für Emmett war es da schon eine größere Herausforderung meinen Angriffen auszuweichen, als es wohl umgekehrt der Fall gewesen wäre. Es war einfach nicht seine Art zu Kämpfen und ich traf ihn einige Male. Einmal erwischte ich ihn sogar so gut, dass er zwanzig Meter weit weggeschleudert wurde. Aus Rache verstrubbelte er mir hinterher total fies die Haare mit seiner riesigen Pranke. Jasper war von der mangelhaften Ernsthaftigkeit unseres Trainings allerdings nicht gerade begeistert, doch hatte er im Grunde keine echte Alternative zu Emmett. Er selbst war zu gut und Mom wahrscheinlich auch, wobei es für uns auch ausgeschlossen war, gegeneinander zu kämpfen, selbst wenn es nur Angriffs- oder Verteidigungsübungen waren. Bei Daddy hätte ich es mir vielleicht vorstellen können, doch der war ohnehin viel zu schnell für mich, selbst wenn Mom mich vor seiner Fähigkeit abschirmen würde. Alice kam auch nicht in Frage, da ich sie nie angreifen könnte und Rosalie wollte das einfach nicht. Folglich redete Jasper auf Emmett ein, er möge doch wenigstens während der Trainingseinheiten sein Spaßbedürfnis etwas zurückstellen. Emmett versprach ihm grinsend, dass er es versuchen würde.
Zum Abschluss folgte wieder der Übungskampf, bei dem Mom mich verteidigen sollte und sie machte ihre Sache auch wieder richtig gut. Mir wurde fast ein wenig langweilig, weil Jasper diesmal keine richtige Chance hatte, an ihr vorbeizukommen. Dann geschah etwas unerwartetes. Jasper, der zum wiederholten Male versuchte an Mom vorbeizukommen, änderte plötzlich seine Taktik und griff sie direkt an. Er traf sie unvorbereitet und katapultierte sie weg. Dann stürmte er auf mich zu. Ich versuchte ihm auszuweichen und dabei einen Gegenangriff anzusetzen, so, wie wir es schon in vielen Trainingseinheiten geübt hatten. Ich schlug mit der offenen Hand nach ihm und plante auch dabei, dass ich ihm beim Kontakt gleich eine Übertragung schicken würde. Er tauchte unter meinem Schlag in Rücklage hindurch, doch ich traf ihn trotzdem leicht am Kopf. Im gleichen Moment durchzuckte mich ein schneidender Schmerz in der Hand und ich ahnte sofort mit entsetzen, was gerade passiert war.
Mein kleiner Finger war bei dem Schlag in seinen Mund geraten und an seinen Zähnen entlang geglitten. Ich fiel auf die Knie und drückte die verletzte Hand mit der anderen an meine Brust. Es tat höllisch weh und ich roch mein eigenes Blut. Ängstlich blickte ich zu Jasper und geriet bei seinem Anblick in Panik. Spuren meines Blutes waren an seinen Lippen und an der Wange zu sehen und er holte sich gerade meinen abgetrennten kleinen Finger aus dem Mund.
“Hilfe Daddy!”, dachte ich verzweifelt, denn gegen einen Jasper im Blutrausch hatte ich nicht den Hauch einer Chance.
Jasper war bereits aufgestanden und kam mit ernster Mine schnell auf mich zu. Im gleichen Moment kam Dad aus dem Haus herbei gerannt und rief:
»Bella halt!«
Da erst erkannte ich meine Mom, die gerade Jasper in den Rücken fiel, ihn schnell zu Boden riss und eines seiner Beine fixierte.
»Ahrg! … Bella, was
soll das?«, rief Jasper überrascht.
»Lass’
ihn los, Liebste, er will ihr helfen.«
“Was?”, dachte ich. “Er ist nicht in seinen Jagdmodus verfallen?”
Mom schien nicht weniger überrascht zu sein als ich, ließ in aber los und kam sofort an meine Seite, ohne Jasper aus den Augen zu lassen.
»Aber mein Finger, mein
Blut?«, stammelte ich unter schmerzen.
»Schmeckt
nicht«, lautete Jaspers kurze Antwort.
Ich war total irritiert. Wieso schmeckte ihm mein Blut nicht? Es roch doch für alle lecker, weshalb nicht für ihn? Auch wenn es mir ein Rätsel war, so war ich doch vor allem sehr erleichtert, dass jetzt keine ernste Gefahr mehr bestand. Die ganze Familie war inzwischen von dem Tumult alarmiert nach draußen gekommen und Carlisle besah sich sofort meine Verletzung. Er und Jasper redeten kurz und schnell darüber, wie die Wunde zu behandeln sei und Carlisle entschied, es erst einmal ohne den Einsatz von Vampirgift zu versuchen. Er nahm den Finger und setzte ihn vorsichtig an seinen Platz.
Kaum, dass sich die offenen Stellen berührten, durchzuckte mich ein schmerzhaftes Ziehen und Brennen, das von dem Finger ausging und den ganzen Arm hinauf reichte.
Ich zog zischend Luft ein und biss mir auf die Zähne. Mein Blick war dabei auf meine Verletzung gerichtet. Ich konnte deutlich erkennen, wie mein Blut die Wunde verschloss und sich das verlorene Fingerglied wieder anfügte. Es drehte sich sogar wie von selbst minimal, um wieder in die exakt richtige Position zu kommen. Es war sehr verwirrend und fühlte sich so merkwürdig an. Allmählich wurde aus dem Ziehen und Brennen mehr und mehr ein Kribbeln.
»Scheint so, als würde es von selbst wieder anwachsen«, meinte Carlisle mit seiner gewohnt ruhigen und sachlichen Stimme. »Deine Selbstheilungskräfte sind erstaunlich, Liebes.«
Ich lächelte schwach. So ganz traute ich der Sache noch nicht, aber der Schmerz ließ schon stark nach und ich fühlte meinen Finger auch wieder. Ihn zu bewegen traute ich mich aber noch nicht.
»Komm, mein Kind. Ich will dir vorsichtshalber zur Fixierung noch einen Verband anlegen.«
Mom half mir ungefragt auf die Beine und stützte mich auf dem Weg ins Haus.
»Ich kann schon alleine laufen, Momma. Ist nicht so schlimm, glaube ich.«
Sie schaute mich daraufhin so besorgt an, dass ich sie einfach anlächeln musste. Wenn sie mich unbedingt stützen wollte, dann von mir aus.
Carlisle säuberte gleich meine Hand, kurz nachdem wir in seinem Arbeitszimmer angekommen waren. Er sah erstaunt aus, als er die frische Wunde begutachtet und mir ging es nicht anders. Ich hatte mich ja noch nie so verletzt, aber dass mein Finger so schnell wieder anwachsen würde, hätte ich nicht für möglich gehalten.
Ich war noch immer ziemlich verunsichert, als er mir den Verband anlegte, aber er strahlte wieder einmal so eine Ruhe und Zuversicht aus, dass auch ich meine Nervosität ablegte.
»So, Liebes. Hast du
Schmerzen?«
»Nein Carlisle, danke.«
»Nichts
zu danken. Ich habe ja praktisch nichts gemacht«, sagte er
lächelnd.
»Dann glaubst du, der Finger wird wieder ganz
normal?«
»So überraschend wie das Ganze ist, aber
ja, das glaube ich. Morgen früh schaue ich ihn mir noch mal an.
Versuche den Finger bis dahin zu schonen.«
»Schade«,
sagte ich grinsend. »Ich wollte eigentlich noch mal Armdrücken
mit Emmett machen.«
Carlisle lachte leise und Mom seufzte erleichtert, da ich schon wieder zu Scherzen aufgelegt war.
Wir gingen wieder ins Wohnzimmer, wo die Anderen schon warteten. Ich lächelte und winkte ihnen vorsichtig mit der verletzten Hand zu, damit sie alle den Verband sehen konnten, aber auch merkten, dass es mir wieder gut ging. Es tat auch schon fast nicht mehr weh, nur das Kribbeln war deutlich zu spüren und ab und zu noch ein leichtes Ziehen und Brennen.
»Es tut mir so leid,
Nessie. Ich hätte besser aufpassen müssen«, meinte
Jasper mit bedrückter Stimme.
»Ach was, Jazz. Ist doch
nicht so schlimm. Ich verbuche das mal unter “neue
Trainingserfahrung”«, sagte ich lächelnd und auch er
schenke mir ein leichtes Lächeln.
»Aber eines wüsste
ich schon gerne, Jasper. Wie konntest du meinem Blut so einfach
widerstehen?«
»Das verstehe ich selbst nicht, Nessie.
Dein Blut riecht wirklich anziehend, aber der Geschmack war einfach
nur widerlich. Ich bin wirklich froh, dass ich nur so wenig davon in
den Mund bekommen habe.«
Als er das sagte, schüttelte er sich leicht und ich war deswegen auf eine ziemlich bescheuerte Art und Weise enttäuscht und beleidigt. Dabei sollte ich einfach nur froh sein, dass er mein Blut nicht mochte und musste über mich selbst den Kopf schütteln.
»Verstehst du das,
Carlisle?«
»Nicht wirklich, Nessie, aber die einzig
logische Erklärung für mich ist, dass dein Blut eben wie
alles an dir teilweise menschlich und eben auch teilweise vampirisch
ist. Vermutlich schmeckt es deshalb einem Vampir nicht.«
»Dann
glaubst du, dass es nicht nur Jasper so geht?«
»Davon
gehe ich aus, Liebes.«
»Mag von euch auch jemand mal
probieren?«, fragte ich in die Runde und hielt das Gelenk der
unverletzten Hand hin, als würde ich sie zum Reinbeißen
einladen. Emmett fing an zu lachen und kriegte sich nicht mehr ein.
Ich musste einfach mitlachen und von uns angesteckt lachten auch bald
alle Anderen.
Als ich am Abend zu Bett ging, war das Kribbeln noch immer da und störte etwas beim Einschlafen, doch am nächsten Morgen war es fast ganz weg. Ich ging auch gleich zu Carlisle, der den Verband löste und die Wunde untersuchte. Es war fast nichts mehr zu sehen und es sah ganz so aus, als würde mir noch nicht einmal eine Narbe zurückbleiben. Ich konnte den Finger auch wieder ganz normal bewegen, obwohl es sich noch ein wenig merkwürdig anfühlte. Carlisle piekste mich in die Fingerspitze und das spürte ich zu seiner Zufriedenheit überdeutlich. Er bezeichnete es als wirklich erstaunlich, wie meine Verletzung verheilte und auch als außergewöhnlich und vor allem als sehr erfreulich. Den Verband brauchte ich nicht mehr und auffallen dürfte es in der Schule auch nicht, da kaum noch etwas zu sehen war. Im Zweifelsfall sollte ich sagen, dass ich mir den Finger an einer Schublade eingeklemmt hätte, oder etwas ähnliches.
In der Schule bemerkte es tatsächlich niemand, nur mich störte es anfangs noch ein wenig beim Schreiben. Überhaupt waren alle eigentlich nur gestresst und genervt von den ständigen Prüfungen.
Am Abend im Krankenhaus bemerkte Lissie schließlich als Erste und Einzige, dass ich eine Verletzung an der Hand hatte. Ihr fiel die noch leichte Unebenheit an meinem kleinen Finger auf, als ich ihre Hand hielt und sie fragte mich kurz danach, was mir passiert wäre. Mit einem kurzen »eingeklemmt« gab sie sich aber schon zufrieden und im Grunde war das ja auch die Wahrheit, obwohl sie es kaum erahnen konnte, dass ich meinen Finger im Mund eines Vampirs eingeklemmt hatte, dass er mir versehentlich abgebissen wurde, aber inzwischen schon wieder angewachsen war. Jedenfalls unterhielten wir uns sehr entspannt und ich sagte ihr auch, dass das Seidentuch, dass sie um den Kopf gewickelt hatte, ihr wirklich gut stehen würde.
Als ihre Mom mal kurz aus dem
Zimmer ging, fragte mich Lissie, wie es denn Kevin so gehen würde.
Es war ihr sichtlich unangenehm, diese Frage zu stellen, da sie ja
wusste, dass ich mit Kevin nun mal gar nichts zu tun haben wollte,
aber mir war klar, dass ihr das auf der Seele brennen musste, wenn
sie mich das fragte. Ich konnte ihr aber nur von den flüchtigen
Begegnungen erzählen und dass ich ihn mit keinem anderen Mädchen
zusammen gesehen hatte, was ihr ein bisschen rote Wangen bescherte.
Am nächsten Tag in der Schule schrieben wir unsere Geographie-Klausur und ich baute vor mich hin grinsend absichtlich einen amerikanischen Ausdruck ein, damit meine Lieblingslehrerin wieder einen Grund für ihr A- finden konnte.
In der Mittagspause dann lief mir Kevin zufällig über den Weg und da kam mir eine Idee und ich sprach ihn spontan an.
»Kevin? Hast du vielleicht
mal eine Minute?«
»Was? Ich? Äh, ja klar. Was
gibt’s?«
»Ich hätte da eine etwas
ungewöhnliche Bitte, aber könntest du vielleicht Lissie im
Krankenhaus besuchen?«
»Lissie? Lissie Miller? Aber
warum sollte ich das denn tun?«
»Na, sie ist doch eine
Klassenkameradin von uns und sie würde sich bestimmt
freuen.«
»Und was habe ich davon?«
Oh man. War es denn so schwer, einmal etwas für einen Anderen zu tun, ohne gleich eine Gegenleistung zu verlangen? In dem Moment kam mir Kevin wie der Teil von Lennox vor, den ich so gar nicht leiden konnte.
»Mensch Kevin«,
sagte ich leicht wütend. »Lissie ist sehr krank und du
könntest ihr eine Freude bereiten. Ist das denn zu viel
verlangt?«
Er überlegte kurz und dann grinste er mich
breit an.
»O.K., unter einer Bedingung. … Ich besuche
Lissie mit dir und dann verbringen wir einen schönen Abend
zusammen.«
»Was? Du verlangst als Gegenleistung ein
Date mit mir?«
»Ist das denn zu viel verlangt?«,
antwortet er grinsend mit den gleichen Worten, die ich verwendet
hatte.
Seine Arroganz machte mich dermaßen wütend, dass ich mich kaum beherrschen konnte.
»Arschloch!«, brüllte ich und knallte ihm eine Ohrfeige ins Gesicht, dass er ins Wanken geriet.
Ich hatte ihn wohl etwas härter getroffen, als ich wollte, aber nicht zu fest und vor allem nicht so stark, wie ich Lou damals geschlagen hatte. In dem Moment hörte ich auch schnelle Schritte näher kommen und blickte in die Richtung. Es war Lou.
“Wenn man vom Teufel spricht…”, dachte ich bei mir und dann war sie auch schon da und stellte sich zwischen mich und Kevin.
»Lass’ ihn in Ruhe!«, fauchte sie und versuchte mich böse anzufunkeln.
Tatsächlich hatte sie große Angst, wie ich deutlich erkennen und riechen konnte und trotzdem stellte sie sich mir entgegen, um ihren Kevin zu beschützen. Ein kleines bisschen bewunderte ich sie dafür und es wäre bestimmt ein großes bisschen geworden, wenn sie nicht so eine blöde Zicke wäre.
»Hast du sie noch alle?«, jammerte Kevin vollkommen überrascht und rieb sich die Wange. Ich konnte meinen Fingerabdrücke deutlich in seinem Gesicht erkennen und das gab mir eine gewisse Genugtuung.
»Du bist echt das Letzte Kevin«, sagte ich und ging weg.
Als ich um die Ecke bog, blickte ich noch kurz zurück und sah, wie Lou ihrem Kevin sanft das Gesicht streichelte und hörte, wie sie »was willst du bloß von der gestörten Schlampe« sagte. So wie es aussah, hatte ich ihr wohl unfreiwillig eine Gelegenheit geliefert, sich wieder an ihren Schwarm heranzumachen und der ließ es sich im Moment wohl gerne gefallen. Das würde ich Lissie wohl auf keinen Fall erzählen können. So ein Mist.
Nach Schulschluss fuhr ich mit
Dad und Mom ins Krankenhaus.
»Es war nett von dir, dass du
das mit Kevin für Lissie tun wolltest, Liebling, aber wenn du
mich vorher gefragt hättest, dann hätte ich dir gleich
sagen können, dass es aussichtslos ist.«
»Warum
hat sich Lissie nur ausgerechnet in diesen rücksichtslosen
Mistkerl verliebt.«
»Aber Schatz. Man kann sich nicht
aussuchen, in wen man sich verliebt. Außerdem weiß sie
schon von Anfang an, dass es aussichtslos ist.«
»Sie
hat besseres verdient. Kevin ist so ein Idiot.«
»Kevin
ist vor allem auf sein Vergnügen konzentriert und der Besuch
eines kranken Mädchens passt so gar nicht in seine Vorstellung
von Freizeitbeschäftigung.«
»Oh man. Er und Lou
sind ja wohl das Allerletzte. Die passen wirklich gut
zusammen.«
»Ja«, sagte Dad mit einem kurzen,
leisen Lachen in der Stimme. »Und dank dir sind sie jetzt wohl
wieder zusammen.«
»WAS? Soll das heißen, ich
habe die beiden mit meiner Aktion wirklich wieder zusammen gebracht?
Das darf ja wohl nicht wahr sein.«
»Nun ja, Schatz.
Kevin war von Lous Einsatz nicht weniger beeindruckt als du. Er
wusste genau, dass sie Angst vor dir hat und trotzdem hat sie sich
vor ihn gestellt. Da hat es bei ihm klick gemacht und er hat erkannt,
dass er ihr wohl tatsächlich viel bedeutet.«
»Na
toll … und ich bin schuld daran.«
»Also
“schuld” ist wohl nicht der richtige Ausdruck. Außerdem
hat das Ganze vielleicht ja auch etwas gutes, wenn sie sich
miteinander beschäftigen und sich nicht so sehr auf ihre
Umgebung konzentrieren, wenn du verstehst, was ich meine.«
»Ja,
schon möglich. Aber wenn ich die beiden beim Küssen
erwische dann kotze ich vor ihnen auf den Boden.«
Mom und Dad lachten herzhaft und
auch ich konnte nicht mehr ernst bleiben. Nun ja, mit guter Laune
konnte ich Lissie ja wohl ohnehin am besten helfen.
Der Rest der Woche verlief ohne besondere Ereignisse, aber Kevin und Lou waren wohl tatsächlich einander wieder näher gekommen. Es war nicht so, wie ich erwartet hatte, dass sie sich vor allen ständig an seinen Hals werfen würde. Vielmehr waren es ihre Blickkontakte und die mir bisher unbekannte positive Ausstrahlung von Lou, die mich sehr überraschte. Die glückliche Lou schien mir ein ganz anderer Mensch zu sein. Zumindest ein fast anderer Mensch, denn wenn ihr jemand im Weg herumstand, war sie nicht weniger fies als vorher. Der Unterschied war vielleicht, dass sie nicht unbedingt dort entlang ging, wo jemand im Weg sein könnte. Kevin hatte tatsächlich ein paar Tage lang Striemen und leichte blaue Flecke im Gesicht. Er würdigte mich auch keines Blickes mehr, was mir natürlich sehr recht war und Lou noch viel mehr.
Am Freitag dann verabschiedeten sich Emmett, Rosalie, Jasper und Alice gleich nach der Schule in den Urlaub. Em wollte nicht eine Sekunde länger hier bleiben und konnte es kaum erwarten, endlich wieder einen Bären zu jagen. Er bedauerte nur, dass ich nicht mitkommen wollte. Wir begleiteten sie noch zum Flughafen und dort wartete dann gleich eine große Überraschung auf Mom und mich. Mir war es sowieso schon die ganze Fahrt über ein Rätsel gewesen, warum Dad ständig vor sich hin grinste. Als ich dann Opa am Flughafen entdeckt hatte, erkannte ich den Grund. Mom war außer sich vor Freude und fiel ihm gleich um den Hals und auch ich konnte es kaum erwarten, meinen Opa in den Arm zu nehmen. Es war so schön, dass er uns besuchen kam und er erzählte uns, dass er die ganzen zwei Ferienwochen hier bleiben würde. Sue hatte er leider nicht mitgebracht, aber er richtete uns Grüße von ihr aus.
Als Opa unser Haus sah, war er geradezu sprachlos. Ich zeigte ihm natürlich alles und bei einem Blick aus einem Fenster in meinem Zimmer erkannte er auch sofort das Motiv des Bildes, dass ich ihm zu Weihnachten geschenkt hatte. Er bewunderte auch gleich das neue Wasserfall-Gemälde, an dem ich hin und wieder weiterarbeitete. Dann quartierten wir ihn in einem der Gästezimmer ein, das Esme wohl speziell für ihn eingerichtet hatte. Es schien ihm jedenfalls sehr gut zu gefallen.
Ich genoss den Urlaub mit meinem Opa sehr. Wir unternahmen praktisch jeden Tag etwas anderes und zeigten ihm die Umgebung. Zweimal unternahm Carlisle mit ihm einen Angelausflug, damit wir problemlos jagen gehen konnte. Seinen Fang brachte er natürlich stolz mit nach Hause und den aß ich dann mit ihm zusammen. Auch wenn er den Grund nicht kannte, so hatte er doch schon längst akzeptiert, dass die Anderen nicht mitessen wollten und freute sich einfach darüber, dass ich es tat.
Lissie besuchte ich trotzdem jeden Tag und ich hätte ihr gerne meinen Opa auch vorgestellt, doch ich wusste nicht, wie ich das hätte begründen können. Nach meiner vorgegebenen Herkunftsgeschichte hatte ich keine Verwandte mehr und wenn nun dieser Opa auftauchen würde, dann würde dies unweigerlich viele Fragen nach sich ziehen, die ich nicht beantworten konnte. Also behielt ich es für mich und erzählte nur Opa von Lissie. Er fand es rührend, dass ich mich so um meine Freundin kümmerte und war auch bestürzt darüber, dass es ihr immer schlechter ging. Ich versuchte aber die wenige Zeit, die wir mit unserem Gast hatten, nicht durch traurige Ereignisse negativ beeinflussen zu lassen, sondern konzentrierte mich auf die schönen Dinge und auf das, was uns Spaß machte.
Zwischendurch hatten wir auch zwei sonnige Tage und an denen wurde kurzerhand beschlossen, dass ich meinen Opa ganz für mich alleine haben durfte und dann ging ich mit ihm einmal in einen großen Freizeitpark in der Nähe von Glasgow. Ich war noch nie mit einer Achterbahn gefahren oder hatte Zuckerwatte gegessen und konnte dort vieles Neues ausprobieren, was einfach lustig war. Gut, warum viele in einer Achterbahn herumkreischten blieb mir ein Rätsel. Die sollten mal auf Jacob durch den Wald reiten, oder mit Emmett Rodeo spielen, aber ich war trotzdem sehr vergnügt.
Irgendwie war es auch sehr
witzig, dass ich nun nicht mehr die Einzige war, die gegen Abend mit
der Müdigkeit zu kämpfen hatte. Es war total merkwürdig,
dass es da jetzt noch jemanden gab, der mit mir um die Wette gähnte.
Selbst wenn ich noch nicht so müde war, genügte es, wenn er
damit anfing und dann konnte ich dem Drang nicht mehr widerstehen und
ihm ging es genauso, wenn ich zuerst gähnte. Mom und Dad schien
das jedenfalls köstlich zu amüsieren.
Die beiden Wochen war so schnell vergangen, dass ich das Gefühl hatte, mir wären ein paar Tage gestohlen worden, doch Internet, Fernsehen, Radio und Zeitung ließen keinen Zweifel daran, dass es Samstag der 28. April war. Es war richtig traurig, dass Opa schon wieder gehen musste und wieder einmal beneidete mich meine Mom darum, dass ich weinen konnte, um meine Trauer aus mir herausfließen zu lassen. Sogar Opa hatte am Flughafen feuchte Augen, als er sich am Samstagmorgen von uns verabschiedete, doch es schien ihm nicht wirklich peinlich zu sein.
Auf dem Heimweg lagen Mom und ich uns auf der Rückbank in den Armen und Dad seufzte einige Male, weil uns der Abschied so schmerzte. Mom hatte uns zwar beide abgeschirmt, damit er es nicht so stark miterleben musste, doch es genügte sicherlich uns im Rückspiegel zu sehen, um unseren Kummer auch ohne übersinnliche Fähigkeiten erkennen zu können.
Während der Fahrt beruhigten wir uns aber weitestgehend und entschlossen dann kurzerhand, gleich noch einen kleinen Jagdausflug anzuhängen, um schnell auf andere Gedanken zu kommen. Das funktionierte auch richtig gut. Der Geschmack des Blutes eines kräftigen Hirsches war immer bestens geeignet, um eine trübe Stimmung aufzuhellen. Auch Mom war nach drei Luchsen wieder relativ gut gelaunt und wir freuten uns zugleich schon ein wenig auf die Heimkehr der anderen Urlauber.
Sie kamen dann allerdings erst ziemlich spät am Abend nach Hause, da ihr Flug Verspätung hatte. So konnte ich wegen meiner Müdigkeit die Wiedersehensfreude nicht richtig auskosten. Irgendwann war ich dann auf Rosalies Schoß eingeschlafen und genau dort am nächsten Morgen wieder aufgewacht. Der Unterschied war nur, dass ich jetzt in eine dicke Decke eingewickelt war. Offensichtlich hatte sie bei der Wahl, entweder besonders leise zu sein, oder mich ins Bett zu bringen, sich ganz klar für die erste Möglichkeit entschieden, denn ich hatte nichts mitbekommen und tief und fest geschlafen.
Ich verzichtete diesmal darauf, zu meinem Platz im Wald zu spazieren und blieb stattdessen bei der Familie. Emmett schwärmte von den Bären, die er gejagt hatte. Er hatte zwei Schwarzbären, drei Grizzlies und sogar einen Kodiakbären erlegt, der über eine Tonne wog. Er bekam fast glasige Augen, als er davon erzählte, wie er von dem mächtigen Prankenhieb dieses Bären durchgeschüttelt wurde und wie köstlich er geschmeckt hatte. Rosalie schien sich so mit ihm zu freuen, dass sie ständig am grinsen war und ihm immer wieder mit den Fingern durch die Haare fuhr.
Später erwähnte Carlisle ganz beiläufig, dass Emmetts neues Auto während seiner Abwesenheit geliefert worden wäre und in der Garage auf ihn warten würde. Davon hatte ja selbst ich nichts mitbekommen und dementsprechend groß war die Überraschung. Schneller als überhaupt irgendein Auto fahren könnte, schoss er mit Rosalie an der Hand in den Keller um sein neues Schmuckstück zu begutachten. Es war ein Porsche Cayenne Turbo in amethystmetallic und der sah einfach hammermäßig geil aus.
»So einen will ich auch
mal«, sagte ich nur mit großen Augen, als ich dieses Auto
zum ersten Mal sah.
»Na, wer wird denn jetzt schon festlegen
wollen«, meinte Rosalie grinsend und nahm mich in den Arm.
Emmett war jedenfalls restlos begeistert, als er den Wagen endlich anfassen konnte, den er bisher nur im Internet gesehen hatte und lud Rose und mich sofort zu einer kleinen Spritztour ein, die ich nur allzu gerne mitmachte.
Gegen Mittag kehrten wir dann fast noch besser gelaunt als am Morgen wieder zurück. Auch bei Alice fiel mir auf, dass sie unheimlich vergnügt war und einige Male einfach so durchs Haus trällerte. Sie verströmte eine unglaubliche Heiterkeit und später legte sie auch eine ihrer CDs ein und tanzte mit Jasper im Wohnzimmer. Das erinnerte mich an meine Geburtstagsvorbereitungen und wie Emmett damals angefangen hatte, mir den Rock ’n’ Roll beizubringen. Mom und Dad gesellten sich zu Jasper und Alice und ich ließ sie ein Stündchen einfach zu ihrer Musik tanzen. Dann fragte ich Emmett, ob er Lust hätte, mir noch ein bisschen Rock ’n’ Roll beizubringen und davon war er hellauf begeistert. Meine Eltern waren auch dabei, doch Jasper und Alice zogen sich lieber wieder zurück. Unser Kampftraining wurde heute wohl auch ausfallen, aber das war mir ganz recht. Die ganze Familie hatte einfach Spaß und ich genoss es so richtig, ein Teil davon zu sein.
Am Abend dann wurde wieder ruhige und zeitweise auch etwas klassische Musik aufgelegt und selbst Carlisle und Esme ließen es sich nicht nehmen dazu zu tanzen.
So endete dieser Sonntag in
wundervoller Harmonie und ich ging glücklich zu Bett.
Am Montag in der Schule war jetzt natürlich Emmetts neues Gefährt das Gesprächsthema schlecht hin und natürlich durfte ich wieder einige Fragen meiner Klassenkameraden dazu beantworten. Ich war sehr besorgt, dass Gabriel deswegen wieder sauer werden könnte, doch dem war nicht so. Er schien sogar ziemlich gut gelaunt zu sein. Im ersten Moment befürchtete ich, er könnte vielleicht eine neue Freundin in den Ferien gefunden haben, doch er suchte häufiger Blickkontakt zu mir und lächelte mich an. Natürlich lächelte ich zurück, obwohl ich nicht verstand, was der Grund dafür war.
Bei meinem Spaziergang in der Mittagspause dachte ich über Gabriels Verhalten nach, stieß dabei aber überraschender Weise auf Kevin und Lou, die sich ein verstecktes Plätzchen zum Schmusen gesucht hatten. Ihre Beziehung schien sich ja tatsächlich so zu entwickeln, wie Lou es sich wohl erträumt hatte und ich war verwundert, dass die beiden es nicht öffentlich zur Schau stellten. Zumindest musste ich mich nicht wie befürchtet übergeben, aber ich ging doch lieber schnell wieder in die andere Richtung, denn ich wollte auf keinen Fall von ihnen bemerkt werden. Das wäre mir wirklich unangenehm gewesen. Da konfrontierte ich mich lieber in der anderen Richtung mit den Plätzen, an denen ich früher gerne mit Gabriel zusammen war.
Ob es ein gutes Zeichen war, dass er mich heute wieder so offen angelächelt hatte? Ich hoffte es jedenfalls sehr, denn ich sehnte mich nach ihm.
Im Musikunterricht am Nachmittag wirkte er auch sehr entspannt und gut gelaunt und erneut schenkte er mir ein aufrichtiges Lächeln, bei dem seine süßen Grübchen wieder so schön zum Vorschein kamen. Dann, gleich nach dem Unterricht kam er plötzlich direkt auf mich zu und mein Herz schlug mir augenblicklich bis zum Hals.
»Hallo Nessie, schöne
Ferien gehabt?«
»Äh … ja danke …
und du?«
»Ja auch … wie geht es denn Lissie?
Besuchst du sie noch regelmäßig.«
»Natürlich.
Jeden Tag nach der Schule. … Leider geht es ihr nicht so gut.
Ich mache mir große Sorgen um sie.«
»Das tut mir
leid. … Darf ich vielleicht mal mitkommen und sie
besuchen?«
»Du willst mitkommen? … Ja klar, da
freut sie sich bestimmt.«
“Und ich erst”, dachte ich noch, doch das wollte ich jetzt nicht sagen.
»Gut … und wann
wäre es dir recht, Nessie?«
»Ganz wie du willst.
Ich fahre jeden Tag direkt nach der Schule hin und Abends nimmt mich
Carlisle mit zurück.«
»Carlisle? … Ach ja,
das ist ein Pflegevater, richtig?
»Ja genau, er arbeitet in
Glasgow. Er hat sicher nichts dagegen, dich mitzunehmen.«
»O.K.,
dann vielleicht morgen?«
»Gerne.«
»Prima.
… Dann bis morgen. Tschüss Nessie.«
Ȁh
ja, tschüss Gabriel.«
Verdutzt schaute ich ihm hinterher, wie er das Klassenzimmer verließ. Was hatte das nur zu bedeuten? Wollte er wirklich nur Lissie besuchen, oder vielleicht wieder Zeit mit mir verbringen?
Ganz im Gedanken versunken machte ich mich auf den Weg zum Parkplatz. Dad begrüßte mich schon mit einem breiten Grinsen im Gesicht.
»Na, Liebling? Fahren wir
morgen zu viert nach Glasgow?«
»Ja Dad, aber ich
kapiere gerade gar nichts mehr. Weißt du was los ist?«
»Schon,
aber willst du wirklich, dass ich dir das verrate? Ich denke, er wird
es dir morgen erzählen wollen.«
»Du hast recht
Dad, ich warte bis morgen.«
»Schön … und
wenn dein verwirrtes Köpfchen wieder richtig arbeitet, dann
denke daran, dass wir noch auf dem Schulgelände sind und ich
hier dein Bruder bin.«
»Ups! ‘Tschuldigung …
Edward. … Ich fahr’ dann mal mit Emmett zu
Lissie.«
»Gut, dann bis heute Abend, Schatz.«
Auf der Fahrt unterhielt ich mich mit Rose über Gabriels Verhalten und sie kam aus dem Grinsen nicht mehr heraus. Sie bestätigte mich in der Hoffnung, dass Gabriel wieder die Nähe zu mir suchen würde und ich vielleicht schon bald meine ersehnte zweite Chance bekäme.
Im Krankenhaus dann wirkte Lissie, obwohl es ihr offensichtlich nicht besser ging, irgendwie glücklich und ich fragte sie, ob das einen bestimmten Grund hätte. Ihre Mom erzählte mir dann, dass sie heute Vormittag erfahren hätten, dass ein Knochenmarkspender gefunden sei und dass jetzt endlich eine Behandlung mit einer echten Heilungschance möglich wäre. Ich war außer mir vor Freude und umarmte Mrs. Miller und küsste sie auf die Wange. Dabei hielt ich die ganze Zeit die Luft an und löste mich schnell wieder von ihr, unter dem Vorwand, Lissie umarmen zu wollen. Das war natürlich mehr als nur ein Vorwand, denn das wollte ich wirklich und zwar nicht nur wegen der Atempause.
Als ihre Mom uns mal wieder ein Weilchen alleine ließ, erzählte ich ihr auch davon, dass Gabriel morgen mit hierher kommen wollte und sie bekam erst große Augen und grinste mich dann verschmitzt an. Sie war sich auch sicher, dass er wegen mir mitkommen wollte und meinte, dass ich ja nicht so blöd sein sollte, die ganze Zeit dann bei ihr herumzusitzen. Ich sollte dann gefälligst mit Gabriel spazieren gehen, oder so. Kaum zu glauben, dass ich so eine tolle Freundin hatte.
Auf dem Heimweg bestätigte mir Carlisle, dass ein Knochenmarkspender gefunden sei, aber dämpfte auch gleichzeitig meinen Optimismus etwas. Er meinte zwar, dass dies die einzige echte Chance für sie wäre, dass es aber auch bestenfalls eine fünfzigprozentige Erfolgswahrscheinlichkeit gäbe. Dennoch wäre dies ein großer Glücksfall und jetzt bliebe nur noch zu hoffen, dass es auch funktionieren würde.
Dann erzählte ich ihm noch davon, dass Gabriel morgen mitkommen wollte und war natürlich erleichtert, dass er auch nichts dagegen hatte.
Am Abend wurde dann noch viel
über die beiden großen Neuigkeiten gesprochen und alle
freuten sich mit mir. Es war aber auch zu schön. Vielleicht
würde ich wirklich bald wieder die beiden wichtigsten Menschen
hier richtig zurückbekommen und mit dieser Vorstellung ging ich
schließlich auch zu Bett.
In der Nacht hatte ich nicht wirklich gut geschlafen. Ich war so aufgeregt und überlegte hin und her wie ich mich bei dem Besuch bei Lissie mit Gabriel verhalten sollte. Wie könnte ich es denn am besten ausdrücken, wenn ich mit ihm kurz spazieren gehen wollte? Ob er mir wohl erlauben würde, seine Hand zu halten? War ein Kuss möglich? Machte ich mir womöglich selbst etwas vor und er wollte wirklich nur Lissie besuchen? Dann wären meine Annäherungsversuche vermutlich ein absolutes Desaster und alles wäre verloren. Aber ich wollte doch so sehr wieder mit ihm zusammen sein. Sollte ich es da nicht wenigstens versuchen? Frei nach Emmetts Motto “no risk, no fun”?
Es dauerte lange, bis ich eingeschlafen war und dementsprechend müde war ich, als ich am nächsten Morgen von meinem Wecker auf den neuen Schultag aufmerksam gemacht wurde. Andererseits war ich gleich wieder so aufgeregt, dass die Müdigkeit im Grunde keine Chance hatte. Schnell war ich fertig angezogen, hatte gefrühstückt und fuhr mit Mom und Dad in die Schule.
Als ich mich vom Parkplatz aus auf den Weg ins Schulgebäude machte, sah ich plötzlich, dass Gabriel vor der Tür stand. Wartete er etwas auf mich?
»Ja, Liebling«, sagte mein grinsender großer Bruder und meine Lunge kollabierte augenblicklich, denn ich konnte kaum noch atmen.
Wenn ich das geahnt hätte, dann wären wir viel früher gekommen und nicht erst so kurz vor Unterrichtsbeginn. Jetzt war er bestimmt sauer auf mich, weil er wegen mir warten musste. Was sollte ich denn jetzt nur machen?
»Ganz ruhig, Schatz. Er will dich nur fragen, ob der Krankenhausbesuch heute klar geht.«
Das ist alles? Mehr nicht? Was bedeutete das jetzt? Wollte er wirklich nur Lissie besuchen und gar nichts von mir? War meine Hoffnung vergebens?
»Um Himmels Willen Nessie, übertreibe doch nicht gleich so. Er steht dort vorne und wartet auf dich. Jetzt geh’ schon und rede mit ihm.«
Unsicher blickte ich meinen Dad an. So nett, wie er mich anlächelte, konnte es wohl wirklich nicht so schlimm für mich sein, was in Gabriels Gedanken vor sich ging. Also zwang ich meine Lunge zum weiteratmen und meine Beine zum laufen.
Gabriel lächelte mich wieder so umwerfend an, als ich ihm näher kam und begrüßte mich sehr freundlich. Er fragte mich tatsächlich nur, ob heute Nachmittag alles klar gehen würde und ich bestätigte das natürlich. Dann gingen wir auch schon nebeneinander in die Schule und in unser Klassenzimmer.
Ich konnte mich den ganzen Vormittag über kaum auf den Unterricht konzentrieren. Ständig sprangen mir die Gedanken der vergangenen Nacht im Kopf herum und jetzt, da ich Gabriel auch direkt sehen konnte, war ich noch unsicherer.
In der Mittagspause erwähnte ich den Anderen gegenüber, dass mich Gabriel heute zu Lissie begleiten würde und alle bekamen große Augen. Für sie stand außer Frage, dass es dabei wohl um mich ging und nicht um Lissie. Paulina fragte mich dann, ob ich ihn denn noch immer zurückhaben wollte und ich konnte nicht anders, als aus vollem Herzen zustimmend zu nicken und hoffnungsvoll zu seufzen. Dann meinte sie nur, dass Gabriel von ihr aus gerne wieder bei uns am Tisch sitzen dürfte, wenn die Anderen auch nichts dagegen hätte. Die grinsten und nickten auch alle und ich freute mich sehr darüber.
Dann ging ich wieder eine Runde spazieren, denn ich brauchte dringend frische Luft, um ein bisschen klarer im Kopf zu werden, denn sonst wüsste ich nicht, wie ich jetzt auch noch die Doppelstunde Spanisch neben Gabriel überstehen sollte, ohne einen Nervenzusammenbruch zu erleiden.
Ich war vielleicht gerade erst zwei Minuten draußen, da hörte ich schnelle Schritte hinter mir, die näher kamen. Kurz darauf vernahm ich Gabriels Stimme.
»Nessie? … Hast du vielleicht eine Minute Zeit für mich?«
Schnell drehte ich mich um und war wieder total aufgeregt und nervös.
»Ich habe ganz viele Minuten für dich«, sagte ich spontan.
Er lächelte leicht verlegen und ich spürte, wie meine Gesichtstemperatur daran arbeitete, einen neuen Hitzerekord aufzustellen. Hoffentlich war ich mit dieser Aussage nicht zu weit gegangen.
Langsam kam er näher und blieb dicht vor mir stehen. Ich konnte seinen berauschenden Duft wieder ganz intensiv wahrnehmen und bekam weiche Knie.
»Nessie … ich weiß nicht, wie ich das sagen soll … ich habe mich ziemlich dämlich verhalten.«
Fragend blickte er mich an. Erwartete er etwa eine Antwort? Was sollte ich denn darauf sagen? Ja? Nein? Keine Ahnung? Ich war viel zu verwirrt, um eine klare Antwort geben zu können, zumal ich die Frage nicht wirklich mitbekommen hatte, wenn da überhaupt eine war. Also sah ich ihn einfach stumm an und wartete.
Gabriel schaute sich kurz um und dann griff er plötzlich nach meiner linken Hand. Bereitwillig gab ich sie ihm. Seine etwas kühlere Hand in meiner zu spüren war einfach wundervoll. Mein Herz schlug wie wild und ein kribbelnder Schauer rauschte durch meinen Körper. Dann führte er mich zu einem unserer früheren Plätze und lehnte sich wieder an eine der Säulen. Atemlos schaute ich gebannt in das stahlblaue Meer seiner Augen. Dann ließ er plötzlich zu meiner Enttäuschung meine Hand los und streckte seine in die Hosentasche. Allerdings nur kurz, dann holte er sie wieder heraus, übergab etwas in seine linke Hand und griff mit der rechten gleich wieder nach meiner, die sehnsüchtig die endlosen Sekunden auf ihn gewartet hatte.
Wortlos hielt er mir das, was er nun in der linken Hand hielt hin und ich starrte es an. Sofort erkannte ich das Schächtelchen, in dem sein Geburtstagsgeschenk war. Ein Fass mit Glückshormonen musste eben in meinem Kopf explodiert sein, denn ich wurde von den wunderbaren Gefühlen geradezu überrollt. Langsam nahm ich das kleine Kästchen in meine Hand und konnte einfach den Blick nicht davon abwenden.
»Magst du es nicht
aufmachen?«, frage er nach einer Weile sehr vorsichtig.
»Ich
kann nicht«, sagte ich stockend.
»Warum denn nicht?«
Jetzt hörte er sich besorgt an und ich schaute ihm wieder in die Augen. Tatsächlich sah er bekümmert aus, was ich im ersten Moment gar nicht verstand, doch dann wurde es mir klar.
»Ich will deine Hand nicht
loslassen und mit einer bekomme ich es wohl nicht auf.«
»Dann
helfe ich dir«, sagte er erleichtert lächelnd.
Ich hielt die Unterseite des Schächtelchens fest und drückte mit dem Daumen auf den Verschluss. Er klappte dann vorsichtig den Deckel auf und zum Vorschein kam mein Kettchen. Nein, es war nicht ganz mein Kettchen. Es war noch immer der gleiche Anhänger, aber die Kette war neu.
»Nessie? … Du hast gesagt, wenn ich wieder mit dir zusammen sein will, dann soll ich dir das Geschenk wiedergeben. Nimmst du es an?«
Schnell drückte ich das Kästchen mit der Hand zu, steckte es in meine Hosentasche und griff mit der jetzt freien Hand in seinen Nacken. Ich musste ihn jetzt einfach küssen und tat es.
Erst war er kurz überrascht, doch dann erwiderte er meinen Kuss. Endlich seine weichen Lippen wieder schmecken zu dürfen war grandios. Oh, wie sehr hatte ich das vermisst. Ich ließ seine Hand los, um mit beiden Händen seinen Nacken umschließen zu können. Ich fuhr ihm durch die Haare und zeigte ihm mit meinem Kuss, wie sehr ich ihn vermisst hatte. Er umfing mich mit seinen Armen und streichele wie früher meinen Rücken und mein Haar. Es war wundervoll und ich hatte das Gefühl, am Ziel meiner Träume angekommen zu sein.
Nach einem minutenlangen Kuss lösten wir uns leicht voneinander und blickten uns tief in die Augen.
»Das hat sich nach einem ja angefühlt«, meinte er sanft lächelnd.
Ich nickte nur grinsend zurück. Dann holte ich die Schatulle wieder aus meiner Hosentasche und machte sie auf.
»Legst du es mir
an?«
»Liebend gerne«, sagte er und holte das
Kettchen heraus und führte es vorsichtig um mein Handgelenk.
»Ich habe eine neue Kette dafür gekauft, damit es
nicht wieder so schnell kaputt geht.«
»Danke Gabriel.
Ich kann dir gar nicht sagen, wie sehr ich mich freue.«
»Hmm…
dann zeig’ es mir doch.«
Das ließ ich mir nicht
zweimal sagen und küsste ihn mit all der Liebe, dich ich für
ihn empfand.
Ich schwebte wie auf Wolken, als wir zum Ende der Pause wieder Hand in Hand in das Gebäude gingen. Viele tuschelten und grinsten, als sie uns sahen, doch das störte mich nicht. Ich war einfach nur überglücklich. Auch im Spanischunterricht hielt er immer wieder heimlich unter dem Tisch meine Hand, wenn wir nichts mitschreiben mussten. Nach dem Unterricht dann fuhr er mit mir und meinen lächelnden Eltern ins Krankenhaus.
Als Lissie uns händchenhaltend ins Zimmer kommen sah, platzte ihr Gesicht fast vor Grinsen. Sie freute sich so sehr für mich, dass es mir schon fast unangenehm war, aber nur fast. Auch ihre Mom war ständig am Lächeln und ging diesmal öfters als sonst aus dem Zimmer. Das war mir auch eine große Entlastung, denn ihr leckerer Geruch und Gabriels berauschender Duft kosteten mich enorme Anstrengung.
Gabriel war auch wirklich nett zu Lissie. Anfangs war er kurz bestürzt, weil sie so krank aussah, aber er kam schnell damit klar und redete dann ganz normal und locker mit ihr, was ihr richtig gut gefiel. Dann forderte uns Lissie geradezu nachdringlich dazu auf, doch mal eine Runde spazieren zu gehen und das taten wir dann auch. Es war zwar kein schönes Wetter, aber wenigstens trocken und so ganz angenehm in dem Park. Wir gingen eine Weile schweigend durch die Grünanlage, bis Gabriel mich plötzlich ansprach.
»Wir ziehen vielleicht
hierher.«
»Was? … Nach Glasgow?«
Die Vorstellung, dass er jetzt wegziehen würde, wo wir uns doch gerade erst wieder gefunden hatten, war entsetzlich. Das wollte ich einfach nicht wahrhaben.
»Ja … Mom hat ein
tolles Kaufangebot für unser Haus bekommen und sie arbeitet ja
hier. Jetzt überlegen wir, ob wir umziehen wollen.«
»Und?
… Willst du?«, fragte ich vorsichtig und hoffte sehr,
dass er “nein” sagen würde.
»Ich möchte
eigentlich erst die Secondary School beenden, aber dann ist es wohl
so weit.«
»Also erst nach dem nächsten
Schuljahr?«
»Ja, wenn ich die Versetzung schaffe«,
sagte er grinsend, aber ich wusste ja, dass er gute Noten hatte.
»Und
wo wohnt ihr dann so lange?«
»Wir dürfen noch in
unserem Haus zur Miete wohnen bleiben und das sogar ziemlich günstig,
obwohl Mom meinte, der Käufer hätte viel mehr bezahlt, als
das Haus eigentlich wert ist. Das ist irgendein Immobilienspekulant,
der da wohl etwas größeres vorhat. Jedenfalls können
wir noch bleiben, bis das Projekt gestartet wird.«
»Dann
habt ihr jetzt keine Probleme mehr?«
»Ja und Mom ist
sehr erleichtert. Seit Dad verschwunden ist, habe ich sie nicht mehr
so glücklich gesehen. Wir sind unsere Schulden los und haben
auch noch eine schöne Reserve übrig. Morgen bekomme ich
dann auch endlich meine neue Schuluniform.«
»Heißt
das, dass es dich jetzt nicht mehr stört, dass meine Familie
reich ist?«, fragte ich vorsichtig.
»Nessie …
ich weiß, dass das total dämlich von mir war und es tut
mir auch echt leid. Ich habe dich furchtbar vermisst. Es war aber
einfach so schlimm für mich, diesen krassen Unterschied immer
wieder zu spüren. Ich hoffe, du kannst mir verzeihen.«
»Ach
Gabriel. Da gibt es nichts zu verzeihen. Wenn nichts mehr zwischen
uns steht, dann bin ich einfach nur glücklich.«
»Das
bin ich auch, meine Blume«, sagte er zum Abschluss, zog mich in
seine Arme und schnupperte intensiv an meinem Haar, was mir einen
kleinen freudigen Schauer über den Rücken laufen ließ.
Gabriel umfing mich wieder mit seiner Liebe und ich durfte mich an seine Brust kuscheln und seinem Atem und Herzschlag lauschen. Es war einfach wundervoll und dass die Sache mit dem Umzug erst im nächsten Jahr ein Thema werden sollte, war auch beruhigend. Bis dahin würden wir sicherlich eine Lösung finden.
Nach einem langen Spaziergang
suchten wir noch mal Lissie auf und wurden später dann von
Carlisle abgeholt, der sich auch mit mir freute. Gabriel machte
ziemlich große Augen, als er sein Auto sah, stieg aber trotzdem
mit ein und versuchte sich nichts anmerken zu lassen. Der Unterschied
würde wohl immer ziemlich extrem bleiben, aber damit wollte er
jetzt wohl klarkommen und ich freute mich sehr darüber.
Am Abend dann erzählte ich der versammelten Familie davon, dass ich mit Gabriel jetzt definitiv wieder zusammen war und dass die finanziellen Sorgen von ihm und seiner Mom wohl beseitigt wären, worüber sich Alice besonders freute, was mich stutzig machte.
»Alice? … Hast du
etwas damit zu tun?«
»Was? … Ich? … Wie
kommst du denn darauf?«
»Du verheimlichst doch etwas«,
sagte ich und schaute sie prüfend an und blickte dabei auch auf
meinen Dad, der seine Mimik jedoch erstaunlich gut unter Kontrolle
hatte.
»I-I-Ich wollte dir wirklich nur helfen,
Nessie.«
»Was hast du getan. Raus mit der
Sprache.«
»Oh bitte, Nessie. Du darfst mir nicht böse
sein. Ich wusste ja wirklich nicht, ob es klappt.«
»Jetzt
sag’ es schon.«
»Also ich dachte, wenn du
Gabriel doch so gerne hast und der nur wegen dem blöden Geld
nicht mit dir zusammen sein will, dann müsste ich entweder uns
ruinieren, oder ihn etwas reicher machen.«
»Zum Glück
hast du dich für Letzteres entschieden«, rief Emmett
dazwischen.
»Jedenfalls habe ich nach einem Weg gesucht, den
seine Mom ohne Misstrauen annehmen könnte und dann hatte ich die
Idee mit dem Immobilienkauf. Wir haben ja eine Menge Immobilien, die
wir über ein paar Holdings verwalten und da fällt das
wirklich nicht auf.«
»Ja, aber jetzt zieht er
weg.«
»WAS? … Aber warum denn?«, rief
Alice entsetzt und hielt sich die Hand vor den Mund. »D-Das
wollte ich nicht. Die dürfen doch dort zur Miete bleiben. Ganz
billig sogar. Das tut mir leid Nessie, bitte verzeih’ mir. Das
konnte ich nicht kommen sehen. Ich habe einfach aus dem Bauch heraus
gehandelt.«
»Na ja«, sagte ich lächelnd und
ging zu ihr. »Du hast ja auch einen tollen Bauch.«
»Das
will ich aber auch meinen«, ergänzte Jasper noch.
»Dann
bist du nicht böse?«, fragte Alice ungläubig.
»Nein.
Sie planen das erst nach dem nächsten Schuljahr. Bis dahin fällt
deinem Bäuchlein vielleicht eine neue Lösung ein.«
Dann
umarmte ich meine kleine Immobilienspekulantentante und drückte
sie mit aller Kraft an meine Brust.
»Ich werde mir die
größte Mühe geben«, nuschelte sie an mich
gedrückt.
Nein, ich war wirklich nicht böse. Zwar hatte ich kurz befürchtet, es könnte etwas herauskommen und dann wieder zwischen mir und Gabriel stehen, aber das erschien mir doch sehr unwahrscheinlich. Das wichtigste war, dass Alice einen Weg gefunden hatte, meinem Glück auf die Sprünge zu helfen und das ist ihr voll und ganz gelungen und dafür war ich ihr sehr dankbar.
Ich erledigte noch mein Training
mit Jasper, machte dann meine Hausaufgaben und ging dann nach einem
kurzen Waldlauf mit Dad recht früh zu Bett. Ich war ohnehin
ziemlich müde und außerdem konnte ich es kaum abwarten,
von Gabriel zu träumen.
Als ich erwachte war ich verwirrt. Ich hatte geträumt. Ich hatte sogar sehr schön geträumt. Ich hatte aber nicht von Gabriel geträumt. Jacob war in meinem Traum bei mir und er freute sich sehr für mich, dass ich Lennox hinter mir gelassen hatte und dass ich meine Zeit wieder mit Gabriel genießen konnte. Er freute sich auch, dass es für Lissie endlich eine echte Chance gab. Überhaupt schien er sich an meinem momentanen Glück so richtig erfreuen zu können.
Er spazierte mit mir Hand in Hand durch den Wald und es war wirklich schön. Wir unterhielten uns, als würden wir das jeden Tag machen. Es war so eine wunderbare Vertrautheit zwischen uns, wie ich sie wohl nie mit Gabriel oder Lissie haben könnte. Ich fühlte mich einfach glücklich in seiner Nähe und ich vermisste nichts.
Jetzt da ich wach war, musste ich seufzend mit einem Blick auf meine Skulpturen feststellen, dass mir der Freund aus meiner Kindheit wohl immer fehlen wird, egal wie glücklich ich in meinem Leben sein werde.
Da ich aber keine Lust hatte,
schon am frühen Morgen Trübsal zu blasen, raffte ich mich
schnell auf, um mich zur Schule fertig zu machen. Heute würde es
wieder früher los gehen, denn ich wollte da sein, wenn Gabriel
mit dem Bus ankam. Mit Mom und Dad gab es da auch keine Diskussionen,
denn das hatten sie wohl schon erwartet. Also ging es überpünktlich
zur Schule.
Nach so langer Zeit Gabriel wieder mit einem Kuss vor der Schule begrüßen zu dürfen war der Hammer. Wir küssten uns gleich richtig innig und ich musste aufpassen, mich nicht zu sehr dem wundervollen Gefühl hinzugeben. Ich genoss es einfach mit allen Sinnen, dass wir wieder zusammen waren. Wenn ich ihn schon aus der Ferne sah, schlug mein Herz schneller. Wenn ich dann den Klang seiner Stimme hören und seinen Geruch wahrnehmen konnte, war es praktisch schon wieder um mich geschehen. Alles in mir wollte dann nur noch seine Nähe spüren und den Geschmack seiner Lippen kosten. Nichts von alle dem hatte etwas von der Faszination verloren, die ich von Anfang an dafür empfand. Die Schmetterlinge in meinem Bauch mussten ab sofort Überstunden machen.
Meine Freunde nahmen Gabriel wie versprochen wieder in ihre Runde auf und verhielten sich ihm gegenüber so, als hätte es nie eine Trennung gegeben. Sie alle waren sehr nett und es fehlte eigentlich nur Lissie, damit alles perfekt gewesen wäre.
Der Unterricht am Vormittag war ziemlich quälend. Zwar konnte ich Gabriel sehen, riechen und manchmal auch hören, doch mein Tast- und meine Geschmackssinn fühlten sich total benachteiligt, weil er zu weit weg war.
In der Mittagspause konnte ich es dann kaum erwarten und so zogen wir uns wie früher gleich nach dem Essen für den Rest der Pause nach draußen zurück und genossen die Zweisamkeit an einem der ruhigen Plätze. Allerdings gab es nicht mehr so viele freie Stellen, da der Frühling jetzt wohl mehr Pärchen hierher lockte, selbst wenn der Tag so trübe war wie heute. Wir waren aber zum Glück früh genug dran und es waren noch nicht alle lauschigen Plätzchen belegt.
Ich liebte es so sehr ihn zu küssen und mit ihm zu kuscheln und ihm schien es genauso zu gehen. Allerdings fiel es ihm auch auf, dass ich ihn jetzt intensiver und leidenschaftlicher küsste, als er es in Erinnerung hatte. Daran war definitiv die Zeit mit Lennox schuld, doch das konnte und wollte ich ihm nicht sagen. Stattdessen begründete ich es damit, dass meine Epilepsie-Therapie gute Fortschritte gemacht hätte und ich jetzt nicht mehr so besorgt wäre, dass etwas passieren könnte. Meine Erklärung war trotz der Notlüge sehr überzeugend, weil ich es ja tatsächlich selbst so empfand, dass ich mich besser unter Kontrolle hatte. Daher akzeptiere er es auch und ließ sich meine teilweise recht stürmischen Küsse gerne gefallen.
Allerdings fiel mir selbst jetzt so richtig auf, dass es mit Gabriel ganz anders war, als mit Lennox. Bei dem hatte ich immer so einen inneren Zwiespalt, dass ein Teil von mir unbedingt zu ihm wollte und ein anderer Teil mich vor ihm warnte und weg wollte. Bei Gabriel gab es das nicht. Da war nur eine Stimme die sagte: “Wenn du das magst, ist es O.K., aber pass’ auf ihn auf”, und genau das wollte ich auch.
Der Einzige, der etwas missmutig darauf reagierte, dass ich Gabriel wieder an meiner Seite hatte, war Martin. Es tat mir leid, dass er sich noch immer Hoffnungen auf eine Beziehung mit mir zu machen schien, doch er musste einfach irgendwann einsehen, dass es die nicht geben konnte. Egal, ob ich mit Gabriel zusammen war oder nicht. Leider zog er sich immer weiter zurück und redete kaum noch mit mir. In der Nachmittagsdoppelstunde Naturwissenschaften nahm er den Themenwechsel zur Biologie auch zum Anlass, sich einer neuen Arbeitsgruppe anzuschließen. Ein wenig bedauerte ich das, doch Gabriel war sehr erfreut, dass wir nun zu zweit zusammenarbeiteten. Für mich stand aber fest, dass wir Lissie auf jeden Fall in unsere Gruppe aufnehmen würden, sobald sie wieder gesund war und zu uns zurückkehrte.
Nach der Schule sprach ich noch mit Gabriel darüber, ob er denn öfters mitkommen wollte, um Lissie mit mir zu besuchen. Ihm war das aber zu stressig, dann immer erst so spät mit den Hausaufgaben anfangen zu können, wo er sich doch auch auf seine Mom freute, wenn sie am Abend nach Hause kam. Das konnte ich natürlich gut verstehen und so vereinbarten wir einfach, dass er sich jederzeit melden könnte, wenn er wieder mitkommen wollte.
Lissie wirkte bei meinem Besuch sehr nervös, was ich als besonders schlimm empfand, da sie doch auch so schon sehr schwach aussah. Sie erzählte davon, dass nächste Woche die entscheidende Behandlung beginnen würde und dass sie dann auf eine Isolierstation müsste. Einerseits freute sie sich natürlich, dass sie jetzt die so sehr erhoffte Chance bekam, aber andererseits hatte sie auch große Angst vor der Behandlung und dass es vielleicht nicht klappen würde. Mir ging es dabei ganz genau so, doch ich versuchte mit aller Kraft ihr Mut zu machen. Wir waren so kurz vor dem Ziel, dass Aufgeben jetzt einfach nicht in Frage kam.
Auf dem Nachhauseweg konnte ich mich kaum auf meine Hausaufgaben konzentrieren. Es war einfach sehr belastend, dass sie sich so sehr fürchtete und niemand sagen konnte, ob sie nun gesund wird oder nicht. Zu Hause dann suchte ich die Nähe zu meiner Familie, doch so richtig wollte es mir nicht gelingen, auf andere Gedanken zu kommen. Stattdessen befürchtete ich, dass ich jetzt allen meine Sorgen aufbürden würde und das wollte ich doch gar nicht. Dad spürte beziehungsweise hörte natürlich meine deprimierten Gedanken und sprach mich darauf an.
»Liebling, wir alle
verstehen, dass du deshalb bedrückt bist und wir sind gerne für
dich da.«
»Ich weiß ja, Daddy, aber trotzdem.
Ich will euch wirklich nicht immer so runter ziehen, doch ich weiß
einfach nicht, wie ich damit umgehen soll. Ich habe Angst um Lissie
und ich weiß einfach nicht, was jetzt passiert.«
»Nun
Liebes«, meldete sich Carlisle zu Wort. »Als nächstes
wird Lissie einer intensiven Strahlenbehandlung unterzogen. Deshalb
muss sie auf die Isolierstation, weil sie dann sehr schwach und
anfällig ist und ganz besonders vor Infektionen geschützt
werden muss. Danach bekommt sie die Spenderzellen.«
»Und
dann wird sie wieder gesund?«, fragte ich vorsichtig.
Carlisle
seufzte und wirkte sehr ernst.
»Das hoffe ich, mein Kind.«
Diese Ungewissheit war einfach schrecklich, doch ich fragte mich, ob Alice das nicht vielleicht sehen könnte.
»Alice? Weist du es denn
auch nichts? Kannst du nicht mal nachsehen, ob es funktioniert? Ob
sie wieder gesund wird?«
Sie blickte betroffen zu Boden und
schüttelte den Kopf.
»Ich habe es wirklich versucht,
Nessie. Ein paar mal sogar, aber ich bekomme keine klare Vision
davon.«
»Du würdest es mir doch sagen …
wenn es schief geht, oder?«
Sie schluckte.
»Ja …
würde ich, aber so ist es nicht. Ich weiß auch nicht
warum. Die Behandlung ist ja entschieden aber ich sehe trotzdem
nicht, wie es ausgeht.«
»Aber was bedeutet das?«,
fragte ich unsicher.
»Das weiß ich nicht. Entweder ist
es mindestens eine ausstehende Entscheidung, die noch völlig
unklar ist, oder … es hat etwas mit dir zu tun.«
»Mit
mir?«, fragte ich überrascht.
»Na ja, ich weiß
ja eigentlich nie was passiert, wenn es etwas mit dir zu tun hat und
so fühlt es sich hier auch an, obwohl ich überhaupt nicht
verstehe, wieso das so ist.«
Alice’ Aussage war mir ein
Rätsel. Was könnte denn dabei von mir abhängen oder
was für eine Entscheidung konnte das sein und wer musste sie
treffen? Was war denn der Grund, dass Lissies Schicksal so ungewiss
war? Diese Gedanken waren so quälend, doch ich konnte mich
einfach nicht von ihnen lösen. Die kommende Nacht versprach
nicht sehr angenehm zu werden.
Tatsächlich hatte die Nacht gehalten, was ich mir von ihr versprochen hatte. Ich war immer und immer wieder verzweifelt durch das Krankenhaus gerannt und hatte fremde Ärzte gefragt, warum sie noch nichts wegen Lissie entschieden hätten und was ich denn tun könnte, um sie zu retten. Alle blickten mich mit Unverständnis an und schüttelten nur den Kopf. Keiner sagte etwas und ich wurde immer hektischer und fühlte mich so hilflos. Es war die reinste Erlösung, als mein Wecker anging und mich diesem unglückseligen Traum entriss.
Diese bittere Ungewissheit wurde ich aber einfach nicht los. Sie begleitete mich den ganzen Tag und ich redete viel mit meiner Familie darüber. Gabriel merkte natürlich auch sofort, dass mich etwas belastet und ich erzählte ihm, dass mich Lissies bevorstehende Behandlung so schrecklich nervös machte. Ich hatte einfach große Angst um sie und ich wusste nicht, was ich tun konnte. Gabriel meinte schlicht, dass ich gar nichts tun könnte, außer abwarten und ihr die Daumen drücken. Aus seinem Blickwinkel war das sicherlich auch richtig, aber er wusste ja nichts von meiner Tante mit ihren hellseherischen Fähigkeiten und der Vermutung, dass Lissies Schicksal vielleicht eben doch irgendwie von mir abhängen könnte.
Auch wenn er spüren musste, dass er meine trüben Gedanken nicht vertreiben konnte, so war er doch trotzdem verständnisvoll und einfach für mich da.
Bei Lissie versuchte ich wieder so optimistisch wie nur möglich auf sie zu wirken. Wenn ich überhaupt etwas für sie tun konnte, dann das. Ihre Angst lag fühlbar in der Luft und man musste nicht Jaspers Gabe haben, um sie wahrzunehmen. Auch ihre Mom war sehr bemüht, positiv zu wirken, doch ich konnte ihr ansehen, wie sehr sie unter der Situation litt. Wenn ich doch nur wüsste, was getan werden musste, um Lissie retten zu können, ich würde es ohne Zögern sofort machen. Leider blieb mir das verwehrt und so konnte ich nur abwarten und Daumen drücken, genau wie Gabriel gesagt hatte.
Der Freitag war nicht weniger mühsam zu überstehen und die Nervosität war sogar noch schlimmer geworden. Gleichzeitig bekam ich auch ein schlechtes Gewissen Gabriel gegenüber, da ich das Gefühl hatte, ihn zu vernachlässigen. Das war echt zu dämlich. Endlich war ich wieder mit ihm zusammen und dann konnte ich es nicht richtig genießen. Das wollte ich wieder irgendwie gutmachen und so fragte ich ihn, ob wir denn am Samstagnachmittag wieder Spanischnachhilfe machen, oder einfach nur so eine nette Zeit miteinander verbringen wollten. Dazu meinte er nur grinsend »beides« und so verabredeten wir uns für 14.00 Uhr.
Meine Familie war zum Glück einverstanden und so freute ich mich schon darauf, obwohl mir auch ein wenige mulmig zumute war, da es schließlich ein Samstagnachmittag war, an dem ich mit einem grausamen Biss unsere Liebe fast getötet hatte. Auch wenn völlig unklar war, ob wir uns an diesem Samstag tatsächlich ähnlich nahe kommen würde, so stand eines doch unumstößlich fest. Das durfte mir nicht noch einmal passieren. Also bat ich Jasper am Freitagabend um ein extrahartes Emotionstraining. Jasper meinte zwar, dass das nicht unbedingt nötig sei, da ich schließlich schon große Fortschritte gemacht hätte, aber dass er schon eine Weile eine Idee für eine ziemlich heftige Übung hätte, die er mit mir machen würde, wenn ich das wirklich wollte.
Es war etwas beunruhigend, dass er auf meine Bitte vorbereitet war. Das konnte nur bedeuten, dass es wirklich extrem werden würde, wenn er das geplant, aber bislang noch nicht umgesetzt hatte. Ein spontaner Einfall wäre mir wohl lieber gewesen, aber Jasper war ja grundsätzlich immer auf alles möglich vorbereitet. So richtig überraschend war das nicht gerade. Ich stimmte zu und dann forderte er mich auf, ihm in den Wald zu folgen.
Wir rannten einige Minuten durch den Forst, bis Jasper mir ein Zeichen gab und wir anhielten. Hier waren wir sicherlich deutlich außerhalb von Dads Reichweite und ich fragte mich, ob es ihm darum ging. Das verunsicherte mich ziemlich stark, denn wenn Jasper nicht wollte, dass Daddy das gleich mitbekam, würde es zweifellos sehr hart werden.
»Also Nessie. Dir geht es
darum, dass du nicht riskieren willst, Gabriel im Überschwang
der Gefühle erneut zu verletzt, richtig?«
Ich
nickte.
»Zeige mir bitte noch mal, wie es damals für
dich war.«
Er streckte mir die Hand entgegen und ich ergriff sie. Auch wenn es mir nicht gefiel, diese Erinnerung abermals hoch zu holen, blieb mir im Grunde nichts anderes übrig. Außerdem sagte ich zu mir selbst, dass ich es lieber nochmals im Kopf durchlebe, als es ein weiteres Mal im Wirklichkeit geschehen zu lassen. Ich schloss also die Augen und durchforschte mein Gedächtnis nach diesem Ereignis und schickte ihm alle Bilder und Gefühle.
»Gut … warte kurz, ich bin gleich zurück.«
Er reckte die Nase in die Luft und raste dann blitzschnell los. Ungeduldig wartete ich etwa eine Minute bis er zurückkam. Der Grund seines kurzen Verschwindens fiel mir gleich in die Augen. Er hatte ein junges Reh unter den Arm geklemmt. Dieses hielt er mir hin und ich musste schlucken. Es war so ein junges Tier. Das wollte ich bestimmt nicht töten. Erwartete er ernsthaft von mir, dass ich mich daran sättigte? Das widerstrebte mir zutiefst. Es war doch fast noch ein Kitz. Das konnte ich doch unmöglich tun.
»Jasper, ich…«
»Halte
es einfach, Nessie.«
Ich tat wie mir befohlen und das arme Tier zappelte in meinem Griff. Sein Duft stieg mir in die Nase und meine Kehle brannte leicht. Ich hatte schon Durst und wollte ja morgen wieder jagen gehen, aber doch auf keinen Fall so ein Jungtier. Missmutig blickte ich ihn an.
»Nun hör’ mir
gut zu, Nessie. … Ich möchte, dass du diesem Tier nichts
tust. Ganz im Gegenteil. Du sollst es streicheln und beruhigen und
dafür sorgen, dass es unversehrt bleibt.«
»Das
ist alles?«, fragte ich überrascht.
»Im Prinzip
ja, doch leicht wird es nicht. … Am besten setzt du dich dort
auf den Boden und dann fangen wir an.«
Ich setzte mich und zog das Reh mit herunter. Gegen meinen Griff konnte es nicht ankommen und sein Zappeln machte es eigentlich nur noch schlimmer, denn das regte meinen Jagdinstinkt an. Außerdem roch es dann viel intensiver und ich konnte seinen aufgeregten schnellen Herzschlag ganz deutlich hören und sein Blut durch die Adern pulsieren sehen.
»Ganz ruhig, Kleines«, sagte ich, zog es halb auf meinen Schoß und fing an es zu streicheln.
Sein Fell war warm und weich und ich wusste ganz genau, wie es sich anfühlte, meinen Mund beim Biss darauf zu pressen. Ich konnte nicht anders, als mir über die Lippen zu lecken und musste schlucken. Dann plötzlich fühlte ich einen unglaublich starken Durst. Meine Hals schien in Flammen zu stehen und ich gab ein krächzendes Stöhnen von mir. Es war entsetzlich und ich wollte nur noch eines: Linderung! Das noch immer leicht zappelnde Tier im meinem Griff versprach mir genau das. Es roch so lecker und ich musste immer wieder schlucken.
“Nein, Nessie, nein”, sagte ich im Gedanken zu mir. “Du willst dieses arme kleine Reh nicht töten.”
Es war so schwierig, dem Drang zu widerstehen. Was wäre leichter, als jetzt einen Schluck zu nehmen, um das Brennen abklingen zu lassen? Für dieses Tier war es doch ohnehin die reinste Qual, von mir gefangen gehalten zu werden. Ich würde es auch ganz schnell machen, so dass es fast nichts spürte. Ein rascher Biss und es wäre vorbei. Es müsste nicht mehr leiden und auch ich würde Erleichterung erfahren.
“Nein, ich will das nicht”, dachte ich halb verzweifelt und versuchte den Plan zu verwerfen, der schon so konkrete Gestalt annehmen wollte.
Das junge Reh zappelte noch immer in meinen Griff und machte es mir noch schwerer, mich meinem Durst zu widersetzen.
»Beruhige dich doch«,
sagte ich mit krächzender Stimme und schluckte erneut, um etwas
sanfter klingen zu können.
»Schscht, Kleines.«
Ich fing wieder an es mit einer Hand zu streicheln, während ich es mit der anderen festhielt. Mit den Fingern über sein Fell zu gleiten, war für mich alles andere als beruhigend, aber der armen Kreatur schien es zu helfen. Es hörte auf zu strampeln und sein Herzschlag verlangsamte sich allmählich.
»So ist gut.«
Oh Himmel, ich hatte so einen schrecklichen Durst. Ich wollte unbedingt trinken. Unbedingt, aber nicht von diesem Jungtier. Das war einfach nicht richtig und ich war fest entschlossen, dem Drang nicht nachzugeben.
Doch da war nicht nur der Durst, der mich antrieb, sondern auch eine massive innere Unruhe und Aufregung. Was geschah hier nur mit mir? Was machte Jasper da? Hilfesuchend blicke ich ihn an.
»Du musst nur deinen Durst an diesem Reh stillen und es ist geschafft, Nessie.«
Was? … Das konnte doch nicht sein Ernst sein. Wollte er wirklich, dass ich dieses arme kleine Geschöpf tötete, um mein Ziel zu erreichen? War es wirklich so leicht? Aber ich wollte es doch nicht verletzten und schon gar nicht töten. Warum nahm ich denn seinen köstlichen Geruch nur so intensiv wahr? Oh Gott, nicht dieses hilflose kleine Reh.
»Ich will das nicht«, sagte ich zu Jasper und zog das Reh schützend näher an mich heran und streichelte es weiter.
Inzwischen war es ganz ruhig. Hatte es aufgegeben und wartete nur noch auf den Tod, oder hatte ich es tatsächlich beruhigt und es fühlte sich sogar wohl? Ich hoffte, dass es letzteres war, streichelte es einfach weiter und gab ihm sogar einen kleinen Kuss auf den Kopf. Keine Ahnung warum ich den Wunsch verspürt hatte es zu küssen, doch es schien mir richtig, auch wenn dadurch mein Durst noch einmal höllisch aufflammte. Ich war einfach auf einmal so glücklich, dass ich die ganze Welt umarmen und ganz fest an meine Brust drücken könnte. Am liebsten würde ich bei diesem niedlichen Lebewesen anfangen, doch ich musste vorsichtig sein. Ich durfte es nicht zu fest drücken, denn ihm sollte kein Leid widerfahren. Es kostete mich viel Zurückhaltung, es nur sanft im Arm zu halten. Irgendwie war es zu wenig, doch mehr durfte es nicht sein, auch wenn ich das Gefühl hatte, mich damit selbst zu bestrafen.
»Dir passiert nichts«,
sagte ich zu dem Tier und versuchte mir selbst damit Zuversicht zu
schenken.
Minute um Minute verging und die glühende Qual in meinem Hals machte keinen Anstalten nachzulassen. Dennoch weigerte ich mich strickt dem nachzugeben und das Tier zu töten. Es war einfach nicht richtig und ich wollte, dass es leben durfte. Immer wieder hatte ich auch das Bedürfnis dem Reh ganz nahe zu sein. Ich vergrub mein Gesicht in seinem Fell und nahm seinen Duft in mich auf, doch auf keinen Fall wollte ich es beißen. Irgendwie mochte ich dieses Reh und es gefiel mir, es zu streicheln.
Dann ließ auf einmal der Durst nach und all die aufgewühlten Gefühle beruhigten sich. Ich wurde genauso ruhig wie das Reh, das seinen Kopf in meine linke Armbeuge gebettet hatte.
»Das war großartig,
Nessie. Du hast es tatsächlich geschafft.«
»Geschafft?«,
fragte ich verwundert?
»Und wie! Dem Reh geht es gut, denn
du hast die Kontrolle behalten.«
»Dann wolltest du gar
nicht, dass ich es töte?«
»Nein« sagte er
lachend. »Ich wollte dich nur verwirren und sehen, ob du
tatsächlich das machst, was du willst, oder ob du dich von
deinen Emotionen lenken lässt. Ich wusste ja, dass du keine
Jungtiere töten willst und du hast das durchgesetzt.«
»Dann
darf ich es jetzt gehen lassen?«
»Sicher. Ich denke,
eine Stunde Streichelzoo hat dem Reh gereicht.«
»Eine
Stunde? So lange ging das?«
»Ja … und du
hättest es bestimmt auch länger geschafft. Das konnte ich
spüren und deshalb war es jetzt genug.«
»Hast du
das gehört, Süße? Wir haben es geschafft«,
sagte ich freudig zu dem Reh und küsste es noch mal auf den
Kopf.
Mit seinem großen, runden, braunen Auge sah es mich verwundert an. Ich löste meine Umarmung und lehnte mich zurück. Es lag jetzt ganz frei auf meinem Schoß, rührte sich aber nicht. Ich musste grinsen und streichelte es erneut.
»Auf geht’s, Kleines. Genug geschmust«, sagte ich und wackelte leicht mit den Beinen.
Allmählich stand es auf, doch zu meiner großen Verwunderung lief es nicht gleich weg, sondern blieb bei mir stehen. Das war so ein verrückter Augenblick, doch auch ein wunderschöner. Ich betrachtete das Reh ganz genau. Ich prägte mir seine Augen ein, seine Kopfform und jedes kleine Detail seines Fells. Alles, woran ich es wieder erkennen und von anderen unterscheiden könnte, wollte ich mir merken, denn dieses Reh würde ich niemals töten wollen.
Selbst als ich aufgestanden war, lief es nicht weg und ich durfte es erneut streicheln. Auch Jasper war völlig überrascht und fasziniert davon, denn damit hatte er nicht gerechnet. Erst als er einen Schritt näher kam, erschrak das Tier und hüpfte ein paar Meter weg, blieb dann aber stehen und sah mich an.
»Dich mag es wohl nicht«,
sagte ich schmunzelnd.
»Sieht ganz so aus«, gab er
grinsend zurück.
Als ich auf das Reh zuging, blieb es stehen und ich kniete mich vor ihm hin und streichelte seinen Hals. Dann sagte ich noch kurz »tschüss« und lief dann mit Jasper zurück zum Haus.
Ich zeigte natürlich allen meine außergewöhnliche Trainingserfahrung und die nicht weniger merkwürdige Freundschaft zu meinem Streichelreh. Das fand wirklich jeder faszinierend, denn noch nie zuvor hatte es einer erlebt, dass sich ein Tier von ihnen streicheln ließ.
Es war wirklich eine tolle
Erfahrung gewesen, auch wenn mein Durst dadurch jetzt ziemlich
präsent war und ich kaum erwarten konnte, ihn morgen bei der
Jagd endlich zu stillen. Dieses Erlebnis beherrschte meinen Gedanken
den ganzen Abend über und dabei blieb es auch noch in der Nacht,
als ich zu Bett ging.
Die Jagd am nächsten Morgen war wirklich eine absolute Erlösung und ich war so froh, endlich meinen Durst an einer passenden Beute stillen zu können. Danach fühlte ich mich wieder frisch und voller Energie. Außerdem war heute ein schöner Tag ohne Regen mit bauschigen weißen Wolken am Himmel. Alice meinte, dass heute Nachmittag die Sonne herauskommen würde. Das gefiel mir, denn so könnte ich vielleicht auch ein wenig mit Gabriel draußen unternehmen. Ich war richtig gut gelaunt und freute mich sehr auf seinen Besuch.
Er kam dann auch absolut pünktlich mit seinem Rennrad angefahren und wir gingen auch gleich in mein Zimmer und fingen mit dem Nachhilfeunterricht an. Es lief ziemlich gut und er war offensichtlich auch während unserer Trennung eifrig dabei gewesen, sein neues Level zu halten. Das war ihm definitiv gelungen und dafür musste ich ihn natürlich loben. Dadurch war ich zwar nicht richtig auf die Nachhilfe vorbereitet und musste improvisieren, dennoch arbeiteten wir etwa zwei Stunden lang sehr konzentriert und packten eben die Verbesserung einiger Feinheiten an. Gut, ab und zu machten wir auch ein bisschen Blödsinn, denn schließlich sollte es ja auch Spaß machen, aber trotzdem arbeiteten wir einfach gut zusammen.
Es war so leicht und unbeschwert, Gabriel dabei zu helfen, dass ich wehmütig wieder an Lissie denken musste und wie hart es immer für sie war. Das stimmte mich etwas traurig und das blieb ihm leider nicht verborgen.
»Stimmt etwas nicht,
Nessie?«
»Doch, doch, alles in Ordnung … Ich
musste nur gerade an Lissie denken. Tut mir leid.«
»Aber
das muss dir doch nicht leid tun«, sagte er und legte mir den
Arm um. »Ich weiß doch, wie gerne du sie hast.«
»Ja,
aber ich wollte doch, dass wir heute einen schönen Tag
verbringen.«
»Ach Nessie. Ich bin hier bei dir, die
Sonne scheint, wir haben trotz Nachhilfe Spaß zusammen. Also
ganz im Ernst, ich finde, das ist ein schöner Tag.«
»O.K.
und ich finde, wir haben jetzt genug geleistet«, sagte ich und
stand auf, um etwas Musik aufzulegen.
Gabriel räumte inzwischen seine Sachen ein und blickte auf, als er die ersten Töne meiner Kuschelrock CD hörte.
»Es wird Zeit, dass du mal wieder Geburtstag hast. Du brauchst dringend neue Musik.«
Wollte er das jetzt nicht hören? War ihm vielleicht nicht danach? … Erinnerte es ihn womöglich an den Unfall? Erschrocken drehte ich die Lautstärke runter.
»Entschuldige bitte. Ich
habe nicht daran gedacht.«
»Woran gedacht?«
»Na
daran, was damals passiert ist, als wir …«
Ich konnte es einfach nicht aussprechen. Es war zu bedrückend und ich blickte deprimiert zu Boden.
»Oh!«, sagte er und
wirkte bestürzt, kam gleich zu mir und nahm mich in den
Arm.
»Nessie … daran habe ich jetzt wirklich nicht
gedacht. Lass’ uns diesen blöden Unfall vergessen, O.K.?«
Er drehte die Musik wieder lauter und bewegte sich langsam mit mir zum Takt. Dabei streichelte er mich zärtlich und hob schließlich mit dem Zeigefinger an meinem Kinn meinen Kopf an, um mir einen Kuss zu geben. Es war so schön, seine zarten weichen Lippen zu spüren und seinen tollen Duft in mich aufzunehmen. Ich fuhr ihm mit den Fingern durch die Haare und hielt sanft seinen Kopf fest. Seine Hände umfassten meine Taille und da mein T-Shirt durch den Griff in seine Locken etwas nach oben gerutscht war, spürte ich seine Berührung direkt auf der Haut. Es war erregend und gleich machte sich von dort aus eine kribbelnde Welle auf die Reise über meinen Körper. Ich würde gerne noch einmal versuchen, was damals schief gegangen war, denn ich war mir sicher, dass es diesmal anders laufen würde. Wie könnte ich ihm das nur zu verstehen geben? Sollte ich es einfach tun, oder sollten wir lieber darüber reden? Da ich ihn nicht einfach so überrumpeln wollte, entschied ich mich dafür, es ihm zu sagen und löste mich von seinen Lippen.
»Gabriel? Ich wollte dir nur sagen, dass ich bereit dazu bin, wenn du es wieder versuchen möchtest. Ich bin mir sicher, dass es nicht erneut so enden wird.«
Sanft lächelte er mich an und streichelte mein Gesicht. Dann gab er mir noch einen kurzen Kuss.
»Ich möchte nichts überstürzen, meine Blume, aber das ist gut zu wissen.«
So ganz konnte ich nicht verstehen, was er mir damit sagen wollte. Bedeutete das jetzt, dass er noch nicht wollte, oder glaubte er nicht, dass ich wirklich dazu bereit war, oder hatte er womöglich doch noch Angst davor, dass es wieder passieren könnte? Irgendwie fühlte ich mich deswegen unwohl und wollte lieber ein wenig mit ihm nach draußen gehen, um etwas frische Luft zu schnappen und auf andere Gedanken zu kommen. Vielleicht eine kleine Radtour in den Wald? Ob er…?
»Du Gabriel? Ich muss dich
da etwas fragen, aber wenn du das nicht willst, ist es O.K. Bitte
nicht böse werden, ja? Ich werde es auch nie wieder erwähnen,
wenn du nein sagst.«
Irritiert schaute er mir in die
Augen.
»Na gut. Frag’ mich.«
Ich war ziemlich nervös und atmete vorher noch mal kräftig durch.
»Also ich habe mir gedacht, … dass wir, … wenn du magst, … ein bisschen mit dem Fahrrad in den Wald fahren könnten, aber das ist ja nicht unbedingt etwas für dein Rennrad. Nun ja, … würdest du es eventuell in Betracht ziehen, … mit dem Mountainbike zu fahren, dass ich dir schenken wollte und das seither in der Garage steht? … Du musst es nicht als Geschenk annehmen, nur damit fahren, wenn du einverstanden bist.«
Unsicher sah ich ihn an und er erwiderte meinen Blick und schien kurz nachdenklich. Dann stahl sich ein Lächeln auf sein Gesicht und er nickte.
»Einverstanden«,
sagte er und ich freute mich riesig darüber.
»Jetzt
gleich?«, wollte ich wissen und strahlte ihn dabei an.
»Von
mir aus«, antwortete er und küsste meine
Nasenspitze.
»Dann komm.«
Ich nahm ihn bei der Hand und führte ihn zügig aus dem Zimmer die Treppe hinunter in die Garage. Rosalie war gerade dabei den Motor von Emmetts Porsche zu bearbeiten. Sie in diesem blauen verdreckten Overall zu sehen, war jedes Mal bizarr. Sie legte immer so großen Wert auf ihr Aussehen, doch wenn sie an einem Auto basteln konnte, war ihr das so was von egal. Da war sie einfach wie verwandelt. Natürlich hatte sie uns bemerkt und lächelte uns an.
»Hallo Rose. Wir wollen
dich nicht stören. Wir schnappen uns schnell die Räder und
dann sind wir auch schon weg.«
»Alles klar, Süße.
Viel Spaß.«
Ich drückte Gabriel sein Rad in die Hand, was ihn kurz aus den Gedanken zu reißen schien. Sein Blick hing immer noch fasziniert an unserem Fuhrpark, doch am verwirrendsten war wohl für ihn, wieso ein sechzehnjähriges Mädchen an einem solchen Auto herumbasteln durfte.
Grinsend ging ich zum Garagentor
und öffnete es.
»Kommst du?«
»Wie? Was?
Ach so. Ja, ja, ich komme.«
Draußen überprüfte er kurz, ob Sattel und Lenker die richtige Höhe für ihn hatten, was natürlich der Fall war, denn Jasper hatte das schon damals, als wir es gekauft hatten, gleich für ihn eingestellt. Dann saßen wir auf und fuhren los.
»Wo soll’s denn hin
gehen?«, fragte er neugierig.
»Lass’ dich
überraschen«, sagte ich schmunzelnd und trat etwas
kräftiger in die Pedale.
Wir fuhren ziemlich schnell auf einem Waldweg und selbstverständlich achtete ich darauf, mich seinem Tempo anzupassen. Wenn genug Platz war, fuhren wir auch nebeneinander und dann konnte ich deutlich sehen, dass es ihm Spaß machte.
»Das ist ein echt cooles Rad«, sagte er leicht außer Atem, nachdem wir vielleicht ein halbe Stunde gefahren waren.
Ich sagte nichts dazu und freute
mich einfach nur.
Nach gut einer Stunde waren wir in der Nähe meines Ziels.
»Jetzt noch ein Stückchen querfeldein«, sagte ich und fuhr voran.
Gabriel folgte mir und weitere zehn Minuten später waren wir an meiner Lichtung angekommen. Ich stieg vom Rad ab und lehnte es an einen Baum. Gabriel tat das Gleiche, doch er machte danach erst einmal ein paar Dehn- und Lockerungsübungen. Ich machte einfach mit, auch wenn ich das nicht brauchte, aber ich wollte schließlich ja nicht auffallen. Ich atmete auch bewusst etwas angestrengt und tat so, als ob ich jetzt eine Pause bräuchte. Also ging ich zu meinem neuen Baumstamm und ließ mich darauf plumpsen. Ich legte mich auf den Rücken und tat so, als ob ich mich dringend entspannen müsste. Gabriel kam zu mir, blieb vor mir stehen und schaute sich kurz um.
»Das ist ein echt schöner
Platz. Wie hast du den denn gefunden?«
»Zufall. Ich
bin einfach so durch die Gegend gelaufen und habe ihn dabei
entdeckt.«
»Gelaufen? Zu Fuß brauchst du doch
bestimmt drei Stunden bis hierher, oder?«
Ȁh, ja
… ungefähr. … Aber ich laufe gerne stundenlang
durch den Wald. Ich will schließlich in Form bleiben.«
»Hmm«,
sagte er grinsend. »Das ist gut. Ich liebe nämlich deine
Form.«
Schlagartig spürte ich, wie mein Gesicht wieder heißer wurde. Das durfte ja wohl nicht wahr sein, dass ich noch immer bei einem Kompliment von ihm rot wurde. Ihm schien das jedenfalls zu gefallen, denn er kniete sich vor mich hin, streichelte zärtlich mit einer Hand meine Wange und mit der anderen über mein Haar. Dann kam sein Gesicht immer näher und schließlich trafen sich unsere Lippen. Er küsste mich so wundervoll sanft und doch intensiv. Dieses Spiel war einfach so faszinierend und schon kurze Zeit später musste ich nicht mehr so tun, als wäre ich außer Atem.
Dann tat er etwas unerwartetes. Seine Hand löste sich von meiner Wange und glitt langsam über den Hals an mir hinab und streichelte dann sachte über meinen Busen. Ich zog scharf Luft durch die Nase ein, da mein Mund immer noch von seinem Kuss versiegelt wurde. Eine wahnsinnige Gänsehaut bildete sich an meinem ganzen Körper und ich war wie elektrisiert. Seine Hand glitt aber ohne Zwischenstopp weiter und legte sich dann auf meinen Bauch. Dort ließ er sie einfach liegen.
Wenn ich noch einen Beweis gebraucht hätte, dass Gabriel ganz anders als Lennox war, dann hätte er ihn gerade geliefert. Ich fühlte mich so wohl bei ihm und alles, wozu Lennox mich gedrängt hatte, wollte ich bei Gabriel voll und ganz von mir aus.
Ich wollte, dass er meine Brust streichelte und ich hoffte sehr, dass er es gleich noch mal machen würde, doch das tat er nicht. Die Ungeduld in mir wuchs an und schließlich nahm ich all meinen Mut zusammen und griff vorsichtig seine Hand und schob sie wieder nach oben, damit sie diese empfindliche Stelle liebkoste. Jetzt war es Gabriel, der scharf Luft durch die Nase einzog und das löste bei mir einen prickelnden Schauer aus, den er sicherlich auch spüren konnte.
Seine Hand war so unglaublich behutsam, fast übertrieben vorsichtig, aber unendlich liebevoll. Es fühlte sich fast so an, als wären ein paar der Schmetterlinge aus meinem Bauch gekrabbelt und würden mich nun sanft mit ihren Flügeln streicheln. Es war einfach herrlich und ich wollte, dass er nie wieder damit aufhörte. Ich vergrub meine Hände in seinen Haaren und wir küssten uns atemlos.
Erst nach vielen wundervollen Minuten löste er sich von dem Kuss und richtete sich wieder auf. Auch seine Wangen waren gut durchblutet und sein Lippen hatten ein faszinierendes tiefes Rot. Das stahlblaue Glitzern seiner Augen war hypnotisierend. Ich wollte nicht, dass das Spiel unserer Lippen endete und setzte mich schnell auf, um seinen magischen Mund erneut zu küssen.
Dann erhob er sich plötzlich,
doch bevor ich echte Enttäuschung wegen der Unterbrechung
unseres Kusses spüren konnte, zog er mich hoch, legte die Hände
auf meinen Po und hob mich an. Ich schlang sofort die Beine um seine
Hüfte und dann setzte er sich mit mir auf seinem Schoß auf
den Baumstamm. Längst hatte unser Zungenspiel von neuem begonnen
und wurde von dem streicheln seiner Hände auf meinem Rücken
komplettiert. Ich wollte ihn einfach überall spüren und
drückte mich sachte näher an ihn. Es war einfach
unglaublich toll.
Wir schmusten noch lange leidenschaftlich und eng umschlungen, doch ich wusste auch, dass wir nicht ewig bleiben konnten. Gabriel würde sich auf der Heimfahrt sicherlich leichter tun, wenn noch etwas Tageslicht verfügbar wäre. So beendete ich schweren Herzens unser aufregendes Spiel und wir machten uns wieder auf den Weg.
Es war schon ziemlich dunkel, als wir zu Hause ankamen. Trotzdem ging Gabriel noch ein Stündchen mit mir in mein Zimmer, wo wir noch ein bisschen länger kuschelten, küssten und uns streichelten. Doch leider ließ die Zeit sich einfach nicht aufhalten und so musste er schließlich gehen.
Auch als er gegangen war, konnte ich ihn irgendwie noch immer spüren. Ich war total aufgewühlt und im Gedanken so sehr bei ihm, dass ich es jetzt einfach nicht lange bei meiner Familie aushielt. Ich verabschiedete mich deutlich früher als normal und wurde praktisch von allen Seiten angelächelt.
»Der hat dich wohl heute ziemlich wuschig gemacht, was?«, meinte Emmett dann noch und bekam dafür einen heftigen Rippenstoß von seiner grinsenden Angebeteten verpasst.
Ich wusste zwar nicht, was genau
das hieß, aber ich konnte es mir vorstellen. Bevor meine
Gesichtstemperatur wieder zur Hochform auflaufen konnte, machte ich
mich lieber schnell aus dem Staub und verkroch mich in meinem Bett.
Dort spielte ich das erregende Spiel alleine weiter, wobei Gabriel in
meinen Gedanken bei mir war. Ab und zu musste ich daran denken, dass
Dad das vielleicht mitbekommen würde, doch ich war mir ziemlich
sicher, dass er Mom längst gebeten hatte, mich abzuschirmen. So
gab ich mich völlig meiner Fantasie hin und genoss es einfach.
Ob es Gabriel im Augenblick genauso ging? Ich fühlte mich ihm so
nah und die Empfindungen wurden immer intensiver. Als ich schon
dachte, dass ich es nicht länger aushalten könnte, wurde
ich plötzlich von einer unglaublichen Welle des Glücks
überrollt, die von den Füßchen von tausenden von
Schmetterlingen getragen wurde. Danach fühlte ich mich irgendwie
erschöpft, verspürte aber auch eine tiefe innere
Zufriedenheit. Dieses Gefühl begleitete mich noch eine ganze
Weile, bis ich schließlich einschlief.
Am nächsten Morgen dachte ich als erstes sehnsüchtig an Gabriel, doch als zweites gleich an Lissie, die ich heute noch mal besuchen wollte, bevor ihre Behandlung beginnen würde. Am Nachmittag nach dem Training wollten wir ins Krankenhaus fahren. Ich hoffte sehr, dass ich ihr den nötigen Mut machen konnte, denn sie brauchte, um die Anstrengungen der Therapie überstehen zu können.
Ich machte mich fertig und ging in die Küche. Die Anderen waren wie meistens am Sonntag noch in ihren Zimmern. Rosalie und Emmett, deren Zimmer über der Küche lag, waren definitiv noch dort, denn ich hörte ein leises rumpeln durch die Decke. Ich hatte da so eine Ahnung, was die Geräusche verursachte und musste grinsen, obwohl es auch irgendwie peinlich war. Schnell schnappte ich mir etwas Obst, ging ins Wohnzimmer um mir ein Buch zu holen und rannte dann über die Terrasse in den Wald zu meinem Platz. Auch heute war es trocken und recht schön.
Ich setzte mich auf meinen Baumstamm, knabberte an einer Karotte und las in dem Buch. So richtig konnte ich mich aber nicht darauf konzentrieren, denn ich musste ständig an Gabriel denken und an das, was wir hier gestern gemacht hatten. Seufzend stellte ich fest, dass ich hier heute wohl keine Ruhe finden würde.
Ein Spaziergang schien mir eine
gute Idee zu sein und so machte ich mich auf und schlenderte
gemütlich durch den Wald. Zu meiner großen Überraschung
begegnete mir das junge Reh wieder, das mir unfreiwillig als
Trainingsobjekt gedient hatte. Ich erkannte es sofort und es schien
auch mich zu erkennen. Es blieb einfach stehen und beobachtete mich.
Ich machte ein paar vorsichtige Schritte auf es zu und stellte
verwundert fest, dass es keine Anstalten machte wegzulaufen. Konnte
dieses Tier wirklich wissen, dass es von mir nichts zu befürchten
hatte, oder wusste es etwa, dass eine Flucht sowieso unmöglich
war? Was auch immer der Grund war, das Jungtier blieb einfach stehen
und ließ sich erneut von mir streicheln. Ich holte die
angebissene Karotte hervor und hielt sie dem Reh hin. Es schnupperte
daran und dann fraß es mir doch tatsächlich aus der Hand.
Dann teilte ich noch den mitgebrachten Apfel mit meinem Schmusereh.
So verrückt wie das ganze war, so glücklich machte es mich
auch. Es war einfach toll, auch wenn ich absolut nicht verstehen
konnte, warum ausgerechnet dieses Tier zutraulich war, wo doch jedes
anderer instinktiv die Flucht ergriff. Das gestern war wohl für
uns beide ein unvergessliches und prägendes Erlebnis gewesen.
Nach einem schönen Vormittag im Wald machte ich mich wieder auf den Heimweg. Dort erzählte ich natürlich noch kurz von meiner Rehfreundschaft und dann legten wir auch schon mit dem Training los. Em diente mir wieder als Angriffsziel und er bemühte sich diesmal voll bei der Sache zu sein, was Jazz sehr freute. Für mich war es dadurch allerdings ungleich schwieriger. Anscheinend hatte er bisher nur mit mir gespielt und nicht ernsthaft trainiert, denn jetzt fiel es mir ganz und gar nicht leicht, ihn zu erwischen. Ich dachte bislang, es würde einfach gegen seine Art zu kämpfen sprechen, weshalb ich ihn treffen konnte, doch jetzt zeigte er mir, dass er sich sehr wohl so zur Wehr setzen konnte und überraschte mich total damit. Das Training war dadurch sehr viel anstrengender, als ich erwartet hatte. Dennoch fand ich es gut, dass er richtig mit mir übte und bedankte mich nach dem Training dafür auch bei ihm.
Beim abschließenden Übungskampf sollte ich dieses Mal zusammen mit Mom Jasper angreifen. Das funktionierte aber überhaupt nicht, weil Mom mich immer aus der möglichen Gefahr heraushalten wollte, während ich bestrebt war, mich unbedingt daran zu beteiligen. Jasper hatte so leichtes Spiel mit uns und musste noch nicht einmal seine Gabe einsetzen. Mom meinte dann resignierend, dass sie jederzeit bereit wäre, mich zu verteidigen oder zu retten, aber mit mir zusammen in einen Kampf zu ziehen war für sie undenkbar. Jasper akzeptierte das vorerst, meinte aber, dass es durchaus im Bereich des Möglichen wäre, dass wir in eine solche Situation kommen könnten. Für den Moment sollte ich das dann eben zusammen mit Emmett machen und das war wiederum richtig cool. Jasper war zu gut, als dass Emmett ihn alleine besiegen könnte und so war es für ihn überhaupt keine Frage, mich voll mit ein zu beziehen. Mom konnte dabei allerdings nicht zusehen und ging lieber ins Haus.
Nach dem tollen aber auch anstrengenden Training brauchte ich erst einmal eine Dusche und frische Sachen. Jasper hatte mich ein mal übel erwischt, als ich versuchte, ihm eine Übertragung zu schicken. Durch den Schlag schlitterte ich fünfzig Meter über den Boden, was meine Kleidung und meine Frisur arg in Mitleidenschaft gezogen hatte. Emmett hatte ihm allerdings im Gegenzug auch einen harten Treffer verpasst, so dass wir unterm Strich als Team doch siegreich das Training beendeten und Jasper zufrieden mit uns war.
Gegen 16.00 Uhr fuhr ich dann mit Carlisle und Esme in das Krankenhaus. Dort traf ich dann auch zum ersten Mal Lissis Vater. Er sah älter als ihre Mutter aus, war ein gutes Stück größer, stämmig und hatte einen hochwertigen Anzug an. Er wirke wie seine Frau sehr besorgt und ich wusste nicht so recht, wie ich mich ihm gegenüber verhalten sollte. Irgendwie hatte ich das Gefühl, ich würde stören und das war mir sehr unangenehm. Lissie schien sich aber sehr zu freuen mich zu sehen und streckte mir die Arm schwach entgegen und ich ging gleich zu ihr, um sie zur Begrüßung zu umarmen. Sie stellte mich kurz ihrem Vater vor, der mir allerdings nur zunickte, als ich ihm die Hand gab. Ich wollte mich ihm natürlich nicht aufdrängen und ging dann zügig auf die andere Seite von Lissies Bett.
Carlisle und Esme unterhielten sich mit den Millers während Lissie mir erzählte, dass Paulina sie gestern noch mal besucht hätte. Allerdings machte sie den Eindruck, dass sie eigentlich über etwas anderes reden wollte, aber nicht so richtig konnte, wenn ihre Eltern da waren. Mir ging es dabei ähnlich, denn ich hätte ihr schon gerne ein bisschen von meinem romantischen Samstag erzählt, doch das würde ich nur unter vier Augen machen.
Nach einer Weile bat sie dann überraschend ihre Eltern, uns vielleicht eine Viertelstunde alleine zu lassen und sie stimmten zu. Carlisle und Esme begleiteten sie natürlich und schenkten uns noch ein kurzes Lächeln, bevor sie die Tür hinter sich schlossen.
»Nessie? … Ich muss dir noch etwas sagen. … Ich möchte, dass du weißt, dass ich wirklich froh bin, dich als Freundin gewonnen zu haben. … Nur schade, dass wir so wenig Zeit miteinander verbringen konnten.«
Sie wirkte sehr traurig, als sie das sagte und ich empfand das als sehr bedrückend.
»Aber Lissie. Was redest
du denn da? Wir können noch ganz viel Zeit zusammen verbringen.
Wenn du erst mal wieder gesund bist, werden wir ganz viel
unternehmen. Du musst durchhalten.«
Sie stöhnte kurz
auf und seufzte.
»Ach Nessie. Ich will ja, aber ich bin doch
nicht blöd. Ich muss doch nur meine Eltern ansehen, nachdem sie
mit einem der Ärzte gesprochen haben, um zu wissen, wie schlecht
meine Chancen stehen. Hier sterben ständig Leute. Wenn jemand
nach Hause gehen kann, kommt er vorbei und verabschiedet sich. Über
die Anderen verliert keiner ein Wort und hier wird viel
geschwiegen.«
»Jetzt hör’ doch auf damit«,
sagte ich und bekam feuchte Augen. »Du wirst wieder gesund. Du
bist doch meine beste Freundin. Ohne dich macht das hier doch gar
keinen Spaß mehr.«
»Aber du hast doch deinen
Gabriel wieder und ich freue mich wirklich sehr für dich. Ich
bedaure nur, dass ich nie einen Freund hatte.«
»Lissie
Bitte. Du kannst noch einen ganzen Haufen Freunde haben. Du darfst
nicht aufgeben. Bitte, du musst mir versprechen, dass du wieder
gesund wirst.«
»Das kann ich nicht«, sagte sie
sehr traurig und mit zittriger stimme.
»Dann versprich mir
wenigstens, dass du durchhalten willst. Bitte Lissie, ich tue auch
alles was du willst.«
»Oh Nessie. Deshalb liebe ich
dich so. Doch es gibt nichts, dass du noch für mich tun
kannst.«
»Doch das kann ich. Ich kann dir noch ganz
viel Freude bereiten«, sagte ich und legte die Hand an ihre
Wange.
Ich schickte ihr eine Übertragung mit der Erinnerung an mein Reh von heute Morgen und ein leichtes Lächeln wurde auf ihr Gesicht gezaubert.
»Das war wirklich schön.
War das auch wieder so ein Traum?«
»Nein, das war
echt. Das ist mir heute Morgen passiert.«
»Ist ja
cool. Das würde mir auch gefallen.«
»Dann werde
gesund und ich nehme dich mit zu meinem Schmusereh.«
»Schmusereh«,
wiederholte sie leicht kichernd. »Du bist echt zu ulkig.«
»Es
tut gut, dich lachen zu sehen.«
»Es tut gut, mit dir
zu lachen. Ich wünschte…«
»Stopp! Du hörst
jetzt auf mit dem Scheiß. Lissie, du bist stark. Du musst
kämpfen und durchhalten. Deine Chance ist groß genug,
damit du gewinnen kannst.«
»Du wirst wohl nicht
aufhören mir Vorträge zu halten, wenn ich nicht nachgebe,
oder?«
Ich schüttelte energisch den Kopf.
»Also
gut. Ich werde durchhalten.«
»Oh danke Lissie«,
sagte ich freudig und umarmte sie innig.
»Wie soll ich den
Kämpfen, wenn du mich schon vorher zerquetschst«, sagte
sie ächzend und ich schrak zurück.
»D-Das wollte
ich nicht«, stammelte ich entsetzt, doch sie grinste mich
verschmitzt an.
»Du bist immer noch leicht reinzulegen.«
»Oh
man. Du hast mir so einen Schrecken eingejagt. Tu das bloß
immer wieder«, sagte ich und dann lachten wir beide recht
herzhaft, was sie allerdings ziemlich erschöpfte.
»Genug
Lissie. Du brauchst deine Kraft noch.«
»Ich werde die
Freude mit mir nehmen. Danke Nessie.«
»Für dich
doch immer«, sagte ich abschließend, streichelte noch mal
ihr Gesicht.
Dabei hatte ich eine Idee und schickte ihr noch eine Übertragung. Ich zeigte ihr, wie ich damals nach meiner Geburtstagsfeier alleine mit Gabriel im Wohnzimmer war. Er saß auf dem Stuhl und ich setzte mich auf seinen Schoß, um ihn zum ersten Mal zu küssen. Kurz bevor sich unsere Lippen berührten, unterbrach ich den Transfer.
»Oh nicht aufhören.
Bitte Nessie. Das war ja so unglaublich schön. Bitte,
bitte.«
Grinsend schüttelte ich den Kopf.
»Den
Rest gibt’s nach deiner Behandlung.«
»Boah bist
du fies. Ist das die Rache für meinen Scherz?«
»Nein,
das ist deine Motivation fürs durchhalten. Da wartet mindestens
ein Kuss auf dich.«
Lächelnd und mit leicht roten Wangen sah sich mich noch eine Weile an und ich schaute ihr einfach in ihre schönen blaugrünen Augen.
Schließlich war es Zeit zu gehen. Ihre Eltern kamen wieder herein und ich verabschiedete mich von ihnen. Als Mrs. Miller das glückliche Gesicht ihrer Tochter erblickte, nahm sie mich wieder einmal liebevoll und den Arm und küsste mich auf die Wange. Gott roch diese Frau lecker. Ich bekam einen roten Kopf von der Anstrengung, was sie sicherlich für Verlegenheit hielt. Sanft streichelte sie noch über mein Gesicht, was es wirklich nicht besser machte. Ihr Mann schüttelte mir zum Abschied wieder schweigend die Hand, lächelte aber leicht dabei. Dann ging ich mit Carlisle und Esme nach Hause.
Morgen würde Lissie mit ihrer Therapie beginnen und ich konnte jetzt nichts mehr tun, außer ihr die Daumen zu drücken und nichts könnte mich davon abhalten.
Gut drei Wochen waren inzwischen vergangen, seit Lissie mit ihrer entscheidenden Behandlung begonnen hatte. Drei Wochen, in denen mir Carlisle jeden Tag aufs Neue nur sagen konnte, dass ich Geduld haben musste und in denen ich nicht zu ihr durfte. Jeden Tag fragte ich Alice nach Lissies Schicksal, doch jedes Mal bekam ich die gleiche Antwort. Sie konnte Lissies Zukunft nicht klar sehen.
Gabriel war mir eine große Hilfe und brachte mich immer wieder auf andere Gedanken. Genau genommen brachte er mich nur auf einen anderen Gedanken, aber der war so schön, dass ich die Sorge um Lissie tatsächlich zeitweilig ausblenden konnte. Er kam auch weiterhin jeden Samstag zu mir zur Spanischnachhilfe und danach genossen wir unsere Zweisamkeit mit kuscheln, streicheln und unendlich viel küssen.
Meine Familie gab sich auch die größte Mühe mich abzulenken. Eigentlich taten sie nichts anderes, als einfach wie gewohnt weiterzumachen und natürlich hatte jeder immer ein offenes Ohr für mich. Ich wollte ihnen aber auch nicht ständig die gute Laune verderben und so ließ ich sie größtenteils mit meiner Besorgnis in Ruhe. Nur bei Carlisle und Alice schaffte ich das nicht. Sie waren einfach meine einzigen echten Informationsquellen, auch wenn diese nicht gerade sprudelten.
Dad gab mir ebenfalls sehr viel Halt und ich teilte sehr gerne meine Gedanken mit ihm, wenn wir abends unseren gemeinsamen Waldlauf machten. Er hatte inzwischen auch ein gutes Gespür dafür entwickelt, wann er auf meine Überlegungen reagieren sollte und wann besser nicht. Da er hörte, was mir durch den Kopf ging und nicht erst darauf warten musste, bis ich es umständlich in Worte gefasst hatte, verstand er sehr genau, was mich beschäftigte. Außerdem war er sehr einfühlsam und sagte oft genau das Richtige, um mich etwas aufzubauen.
Ein Familienhighlight hatten wir in dieser Woche allerdings auch. Rosalie feierte ihren Geburtstag und bekam endlich ihren heiß ersehnten Sportwagen. Da sie eine Vorliebe für BMW hatte, suchte sie sich einen Z4 sDrive 35is aus. Das Auto war in Titansilber lackiert und sah wirklich toll aus. Ich war auch gleich die Erste, die mit ihr eine Probefahrt machen durfte. Rein optisch gefiel mir Emmetts Auto zwar besser, aber in einem Cabriolet mit offenem Verdeck zu fahren, hatte auch einen besonderen Reiz. Das würde Rosalie zwar nicht so häufig machen können, da sie dazu schließlich eine dichte Wolkendecke ohne Regen brauchte, doch für mich könnte ich mir das später schon vorstellen. Mein Entschluss, mir dann auch so einen Wagen wie Emmett zuzulegen, geriet jedenfalls stark ins Wanken.
Für Alice war das dann auch der richtig Zeitpunkt, sich ein neues Auto zuzulegen. Jetzt hatte Rosalie ja endlich ihren Führerschein und so gab es schließlich keinen Grund mehr für Alice, noch länger auf ein richtiges Auto zu verzichten. Sie wollte allerdings ein englisches Fabrikat fahren und suchte sich einen Aston Martin V8 Vantage aus. Warum sie den in Weiß genommen hatte, blieb mir allerdings ein unlösbares Rätsel. Sie meinte nur, dass das eben die aktuelle Modefarbe wäre und mehr gab es da wohl nicht zu erklären.
Mom meinte dann, dass sie Alice’ Vauxhall Insignia übernehmen könnte, wenn es dann nächsten Monat bei ihr soweit wäre, doch das löste eine Sturmflut der Entrüstung aus. Dad drohte ihr damit, ihr jeden Monat ein neues Auto zu schenken, bis sie zur Vernunft kommen würde und Rose, Alice und Emmett unterstützten ihn dabei lautstark. Carlisle und Esme hielten sich grinsend heraus und so musste sie sich geschlagen geben und sofort mir Alice und Rosalie im Internet nach einem passenden Auto suchen. Ich schaute ihnen eine Weile zu und es war sehr amüsant, wie Mom bei dieser unvorstellbaren Auswahl allmählich einem Nervenzusammenbruch immer näher kam. Dann meinte sie beiläufig, dass sie letztes Jahr doch mit ihrem Audi sehr zufrieden gewesen wäre und ob es nicht wieder so ein Auto sein könnte. Dadurch wurde die Auswahl schon erheblich eingegrenzt und am Ende kam ein A7 in Mondscheinblau heraus. Der wurde dann auch gleich bestellt und Mom war wieder erlöst, obwohl sie nicht wirklich so aussah.
In der Schule war Lissies Fehlen schon lange kein Thema mehr. Außer mir schien nur Paulina wirklich darunter zu leiden. Sie fragte mich auch immer wieder, ob ich denn etwas Neues wüsste, doch leider hatte ich nichts zu berichten.
Kevin und Lou waren nach wie vor
ein Paar, doch ich hatte schon zweimal erlebt, dass Lou ihm eine
kleine Szene gemacht hatte, weil er anderen Mädchen hinterher
schaute. Irgendwie konnte ich mir nicht vorstellen, dass die beiden
wirklich ewig zusammenbleiben würden, doch bis jetzt waren sie
häufiger beim Knutschen als beim Streiten. Ich war mir auch
ziemlich sicher, dass sie nach der Schule schon mehr zusammen
machten, als nur küssen und ein bisschen beneidete ich sie
darum. Ich würde mit Gabriel im Grunde auch gerne weiter gehen,
aber ich war noch ein wenig unsicher, ob ich das wirklich mit ihm tun
könnte. Bis jetzt klappte es ja wirklich gut mit uns, doch
dieser Schritt war schon etwas anderes. So lange Gabriel mir nicht zu
verstehen geben würde, dass er sich das auch wünschte,
würde ich damit noch warten wollen. Ich hatte auch das
unbestimmte Gefühl, dass ich es jetzt ohnehin nicht so richtig
genießen könnte, so lange Lissie nicht endlich die
Behandlung überstanden hätte.
Es war ein Donnerstag, als ich am Abend in meinem Zimmer an meinem Wasserfallbild weitermalte. Ich erledigte eigentlich nur noch die letzten Feinheiten denn im Grunde war es fertig. Dieses Bild wollte ich Lissie schenken und ich war mir sicher, dass es ihr gefallen würde. Außerdem hätte es für sie eine besondere Bedeutung, denn schließlich waren es die Erinnerungen an diesen Wasserfall, die ich ihr damals zeigte, als wir mit meiner Gabe etwas experimentierten.
Ich hörte, dass Carlisle nach Hause kam, doch heute führte sein Weg nicht zuerst zu mir, wie es sonst die letzten Wochen immer der Fall war. Als er nach zehn Minuten immer noch nicht zu mir kam, wurde ich allmählich nervös. Warum kam er nicht, um mir von Lissie zu berichten? Obwohl er doch meistens nicht Neues erfahren hatte, hielt ihn das doch nie davon ab, mir gleich Bescheid zu geben. Das schien mir nichts Gutes zu bedeuten und ich fühlte eine so starke innere Unruhe in mir anwachsen, dass ich nicht länger in meinem Zimmer bleiben konnte. Ich ging nach unten ins Wohnzimmer und dort war dann auch schon die ganze Familie versammelt. Sie standen praktisch im Kreis und hatten wohl gerade etwas besprochen, doch jetzt waren sie alle verstummt und blickten mich voller Mitgefühl an. Mein Herz schlug schneller und mein Hals war furchtbar trocken. Ich spürte Panik aufsteigen und meine Finger zitterten leicht. Carlisles Gesichtsausdruck ließ keinen Zweifel daran, dass er schlechte Nachrichten mitgebracht hatte und wohl vorher die Anderen informieren wollte, bevor ich es erfahren sollte.
Ohne dass ein Wort gesagt wurde, stand Mom plötzlich an meiner Seite und nahm mich in den Arm. Zwei stumme Tränen hatten bereits meine Augen verlassen und hinterließen ihre salzig-feuchte Spur auf meiner Wange.
Auch die Anderen kamen nun schnell zu mir und schlossen einen engen Kreis um mich. Ich versuchte tapfer zu sein. Die Tränen konnte ich vielleicht nicht aufhalten, aber das Schluchzen, dass immer wieder von unten gegen meine Kehle klopfte, unterdrückte ich. So stand ich da, unfähig zu sprechen und darauf wartend, dass Carlisle mir sagte, was die ganze Familie wohl schon wusste.
»Carlisle, du solltest es
ihr jetzt sagen«, meinte mein Dad zu ihm.
»Liebes …
es tut mir sehr leid, aber ich habe heute erfahren, dass die
Behandlung von Lissie ein Misserfolg war.«
Seine Stimme vibrierte leicht und ich spürte, dass es ihm sehr schwer fiel, mir das zu sagen. In seinem Gesicht hätte ich es bestimmt auch lesen können, wenn meine Blick nicht so verschwommen von den Tränen gewesen wäre.
»Ihr Körper hat die Spenderzellen nicht angenommen«, fuhr er fort. »Die Ärzte können nichts mehr für sie tun, als ihre Schmerzen zu lindern.«
Oh Gott, war es das jetzt? Gab es für sie denn gar keine Hoffnung mehr? Musste sie jetzt sterben?
»Alice?«, krächzte
ich aus meinem Hals und schluchzte kurz auf, bevor ich mich wieder
halbwegs unter Kontrolle hatte.
»Ich sehe es noch immer
nicht, Nessie«, sagte sie bedrückt. »Ich verstehe
das einfach nicht.«
Was bedeutete das denn? Gab es doch noch Hoffnung? Aber wie denn? Carlisle sagte doch, dass die Ärzte nichts mehr für sie tun konnten.
»Vielleicht ist es beides,
Alice«, bemerkte Dad plötzlich und alle Augen richteten
sich auf Alice, die irritiert aussah.
»Wie beides? Eine
ausstehende Entscheidung und etwas, das mit Nessie zu tun hat?«
Er
nickte
»Wir könnten ihr anbieten, sich verwandeln zu
lassen.«
Hoffnung! Auf einmal verspürte ich Zuversicht in meiner Brust, die gegen die Trauer und die Verzweiflung ankämpfte. Lissie könnte auf ewig Teil unserer Familie werden.
»Würdest … du
… sie … verwandeln … Carlisle?«, fragte
ich vorsichtig.
»Es wäre schwierig, Liebes. Sie liegt
im Krankenhaus und wir können sie nicht so einfach verschwinden
lassen. Ich weiß noch nicht so recht, wie wir das anstellen
könnten, aber wenn sie es möchte … ja. Ich würde
es tun.«
Wieder blickte ich zu Alice, denn das müsste sie doch eigentlich sehen können. Das hatte doch nichts mit mir zu tun, wenn Carlisle sie verwandeln würde. Alice hatte kurz ihren Visions-Blick, doch dann schaute sie mich bedrückt an und schüttelte den Kopf.
»Ich kann es nicht sehen
Nessie, aber ich glaube, ich weiß jetzt warum. Es ist nicht
unsere Entscheidung die fehlt, sondern ihre.«
»Ihre
Entscheidung?«, fragte ich verwirrt.
»Natürlich
Liebes«, sagte Carlisle. »Ich werde sie nicht verwandeln,
wenn sie es nicht wirklich möchte.«
»Aber dann
frag’ sie doch einfach«, sagte ich und war schon wieder
der Verzweiflung nahe.
»Das funktioniert nicht, Nessie«,
meldete sich Alice wieder zu Wort. »Es kann nicht Carlisle
sein, denn dann wäre meine Vision nicht so undeutlich.«
»Aber
wer ist es dann?«
»Du.«
»Ich? …
Ich kann das doch gar nicht. Ich habe doch kein Gift.«
»Nicht
das Verwandeln, das Fragen.«
»Das heißt …
ich soll sie fragen, ob sie sich verwandeln lassen will?«
»Ja,
nur du kannst das tun. Bei keinem von uns würde sie zustimmen,
das hätte ich sonst klarer gesehen, nur bei dir kann ich es
nicht erkennen und so ist es ja auch.«
Das war also die fehlende Entscheidung die mit mir zusammen hing? Ich musste Lissie das Angebot unterbreiten, ob sie ein Vampir werden wollte?
»Aber Carlisle, ich darf
doch gar nicht zu ihr.«
»Das werde ich schon regeln
können, mein Kind. Jetzt gibt es keinen Grund mehr, warum dir
ein Besuch verwehrt bleiben sollte.«
»Und wann?«
»Ihre
Behandlung wurde gerade abgebrochen und sie steht im Moment noch
unter dem Einfluss starker Schmerzmittel. Ich denke, dass sie am
Samstagnachmittag vielleicht in der Lage sein wird, dass du sie
besuchen kannst. Ich werde das morgen klären.«
Ich wischte mir die Tränen aus dem Gesicht, denn ich schöpfte neuen Mut und wollte jetzt nicht aufgeben. Lissie würde vielleicht auf mich hören und sich meiner Familie anschließen. Ich würde alles daran setzen, sie zu überzeugen. Dann wäre sie gerettet und alles würde gut werden. Jetzt brauchte ich vor allem einen klaren Kopf zum Nachdenken. Ich musste mir überlegen, wie ich es ihr am Besten erklären konnte.
»Daddy? Würdest du
gerne ein bisschen mit mir joggen gehen?«
»Natürlich
Liebling.«
Ich küsste Mom und bedankte mich so für den Trost, den sie mir gerade gespendet hatte. Auch den Anderen rief ich ein »Danke euch allen« zu und dann rannte ich mit Dad in den Wald.
Wir redeten viel miteinander und
besprachen verschiedene Ansätze. Es war ein gutes Gespräch
und ich war zuversichtlich, dass ich Erfolg haben könnte. Erst
als es schon sehr spät war, kamen wir zurück und ich ging
gleich ins Bett. Dort dachte ich noch weiter darüber nach, bis
mich schließlich tief in der Nacht die Müdigkeit
besiegte.
Am nächsten Morgen musste ich Gabriel darüber in Kenntnis setzten, dass wir uns am Samstag wohl nicht sehen könnten, weil ich wahrscheinlich Lissie besuchen dürfte. Dafür hatte er natürlich Verständnis und er wollte auch mitkommen, doch das musste ich leider ablehnen, auch wenn ich ihn gerne dabeigehabt hätte. Er müsste draußen bleiben, wenn ich mit ihr redete und er könnte es unmöglich verstehen, wenn ich nach meiner erfolgreichen Überzeugungsarbeit glücklich herauskommen würde, wo sie doch für den Rest der Welt sterben musste. Ich benutzte daher eine halbe Notlüge und er akzeptierte, dass mein Pflegevater das nur für mich arrangieren könnte. Er fragte mich dann noch, ob wir uns dann vielleicht am Sonntag sehen könnten, doch das wusste ich einfach noch nicht. Wenn wir Lissie kurzfristig aus dem Krankenhaus herausholen würden, dann könnte ich mich sicherlich nicht so schnell wieder mit Gabriel bei mir Zuhause treffen. Ein Problem, über das ich noch gar nicht nachgedacht hatte, das mir im Augenblick aber völlig egal war. Jetzt musste Lissie gerettet werden und dann würde ich weitersehen. Gabriel musste sich damit zufrieden geben, dass ich ihn anrufen würde, wenn ich Zeit hätte.
In der Mittagspause musste ich ein ähnliches Gespräch auch mit Paulina führen und die nahm mir meine Notlüge ebenfalls ab.
Am Abend bestätigte mir dann Carlisle, dass der Besuch morgen gegen 15 Uhr in Ordnung gehen würde und ich war sehr aufgeregt deswegen. Ich lief noch einmal viele Stunden lang mit Dad durch den Wald und dachte wieder und wieder viele verschiedene Gesprächsszenarien durch. Allerdings war ich durch die letzte kurze Nacht ziemlich müde und ging diesmal früh ins Bett. Dennoch war durch die Aufregung nicht wirklich schnell damit zu rechnen, dass ich einschlafen konnte.
Am Samstagmorgen machten wir dann wie üblich unseren Jagdausflug und ich beobachtete dabei auch ganz bewusst Mom und Dad, um Lissie zeigen zu können, wie sich Vampire ernähren können. Ich würde ihr auch zeigen, wie die Jagd für mich ist und sonst auch alles andere, das sie wissen wollte.
Schließlich war es soweit und Carlisle fuhr mit mir ins Krankenhaus. Mom und Dad begleiteten uns. Sie wollten zwar nicht mit mir hinein gehen, aber auf jeden Fall als moralische Unterstützung dabei sein und ich war ihnen sehr dankbar dafür.
Wir kamen pünktlich im Krankenhaus an und gingen gleich auf die Station, in der sie nun untergebracht war. Zunächst musste wir uns Schutzkleidung anziehen, bevor wir hinein durften. Total vermummt, mit Overall, Haube, Gummihandschuhen und Mundschutz, gingen wir zu ihrem Zimmer. Dort nahm ich vor ihrer Tür den Geruch von Lissies Mom wahr und wurde unruhig. Wenn sie dabei war, könnte ich unmöglich mit Lissie offen reden. Das würde alles gefährden.
»Sie ist nicht drin,
Liebling. Sie hat das Zimmer vor wenigen Minuten verlassen, wird aber
bald zurückkommen«, informierte mich Daddy.
»Sei
unbesorgt«, meinte Carlisle. »Ich habe gestern mir ihr
gesprochen und ihr gesagt, dass du dich alleine bei Lissie
verabschieden willst. Dafür hatte sie Verständnis und sie
lässt dir die Zeit, die du dafür brauchst.«
Das beruhigte mich und ich atmete noch einmal tief durch. Dann öffnete ich die Tür und trat ein.
Lissie bemerkte mich zwar, erkannte mich aber nicht, als ich auf sie zuging. Ich erschrak, als ich näher kam, denn sie sah furchtbar aus. An ihren Händen und im Gesicht hatte sie komisch Flecke und sie wirkte unglaublich kraftlos und ausgezehrt. Kaum vorstellbar, welche Qualen sie in den letzten Wochen durchmachen musste. Ihr fragender Blick tat mir in der Seele weh.
»Hallo Lissie«, sagte ich sanft und der Ansatz eines Lächelns war auf ihrem Gesicht zu sehen, als sie meine Stimmer erkannte.
»Nessie«, erwiderte sie mit schwacher Stimme, die etwas Freude mitschwingen ließ.
Ich hätte gerne ihre Hand gehalten, doch ich hatte Angst, dass ihr jede Berührung Schmerzen bereiten könnte. So stand ich einfach vor ihrem Bett und wusste nicht, was ich jetzt sagen sollte. Alles was ich mir zurechtgelegt hatte, war wie weggeblasen. Ich war einfach nicht darauf vorbereitet gewesen, sie so zu sehen.
»Ich freue mich ja so,
dass du da bist«, sagte sie leise.
»Oh Lissie. …
Ich bin hier um dir zu helfen.«
»Du bist so süß,
… aber du kannst mir nicht mehr helfen. … Ich sterbe,
Nessie.«
»Das musst du aber nicht.«
»Doch
Nessie und es ist gut so. Ich will nicht mehr kämpfen.«
»Es
… gibt einen anderen Weg.«
»Was meinst du?«,
fragte sie irritiert und sah dabei so angestrengt aus.
»Lissie,
… ich muss dir etwas sagen. … Das klingt jetzt bestimmt
unglaublich für dich, aber es ist die Wahrheit. … Meine
Familie und ich, wir sind keine normalen Menschen. … Wir sind
Vampire.«
»Vampire?«
Trotz ihrer kraftlosen
Stimme klang sie sehr ungläubig, was mich natürlich nicht
wunderte.
»Ja, Lissie und das ist wirklich die reine
Wahrheit. Wir sind Vampire, aber nicht so, wie du sie vermutlich aus
Geschichten und Filmen kennst. Einiges stimmt, anderes nicht. Wir
altern nicht, werden niemals krank und sind sehr viel stärker
als Menschen.«
Sie schüttelte leicht den Kopf.
»Was
soll das? Warum tust du das? Wieso erzählst du mir so eine
Geschichte?«
»Weil ich dir anbieten will, eine von uns
zu werden. Deine Krankheit wäre dann besiegt, Lissie.«
»Du
meinst, ich würde gesund werden?«
»Ja und du
könntest noch tausende von Jahren mit uns leben.«
»Tausende
von Jahren?«, fragte sie skeptisch. »Wie alt bis du
denn?«
»Fünf.«
»Fünftausend?«,
sagte sie ungläubig.
»Nein, ich bin erst fünf
Jahre alt, aber Carlisle lebt schon seit über 350 Jahren und
auch die Anderen sind so um die 100 Jahre, mit Ausnahme von meiner
Mom.«
»Deiner Mom? Willst du mir etwa sagen, dass du
Bella nicht nur im Scherz Mom nennst?«
»Ja und Edward
ist nicht mein Bruder sondern mein Vater.«
Zweifelnd sah sie mich einige Augenblicke lang an.
»Tut mir leid Nessie«,
sagte sie mit einem weiteren leichten Kopfschütteln, »aber
ich kann einfach nicht glauben, was du mir da erzählst.«
»Dann
lass’ es mich dir zeigen.«
Ich kniete mich neben ihr Bett und legte die Hand sachte an ihre Wange. Ich war mir nicht sicher, ob das mit den Gummihandschuh funktionieren würde und versuchte es einfach.
»Nessie? Worauf wartest
du?«
»Mist. Es geht nicht mit dem Handschuh«,
sagte ich und zog ihn schnell aus.
»Nicht«, gab sie
erschrocken von sich und zuckte leicht zusammen.
»Hab’
keine Angst, Lissie. Das kann weder dir noch mir schaden.«
Vorsichtig berührte ich ganz sanft ihr Gesicht und als sie die Wärme meiner Hand spürte, lächelte sie mich leicht an. Dann schickte ich ihr als erstes eine Erinnerung von mir beim Waldlauf.
»Nicht so schnell, Nessie.
Ich kann ja gar nichts erkennen.«
»So laufe ich durch
den Wald, Lissie. Das ist meine normale Geschwindigkeit.«
Ungläubig blickte sie mich an und ich schickte ihr weitere Erinnerungen. Ich zeigte ihr kurze Sequenzen meiner Familie, die sie in Vampirgeschwindigkeit oder mit übermenschlicher Kraft zeigten. Immer wieder sah sie mich kritisch an und ich zeigte ihr mehr und mehr. Ich ließ sie auch aus meinen frühesten Erinnerungen meine Mom beobachten, wie sie sich an das Vampirleben gewöhnte.
Dann erklärte ich ihr einfach alles, was ich über Vampire wusste und verschweig ihr nichts. Sie erfuhr, dass die meisten Vampire sich von Menschenblut ernährten und auch, dass ich ein Halbvampir war. Meine Geschichte schien sie zu faszinieren und ich erklärte ihr, worin ich mich von den anderen unterschied. Jetzt verstand sie auch die eine oder andere merkwürdige Reaktion von mir und sah vieles aus einem neuen Blickwinkel. Nach etwa zwanzig Minuten kannte sie in groben Zügen die Lebensgeschichten von mir und meiner ganzen Familie. Ich zeigte ihr auch, wie schön Vampire im Sonnenlicht aussahen, wie wir uns ernährten und wie sich die Jagd für mich anfühlte. Sie spürte auch meinen Durst dabei und bat nach der Übertragung um etwas zu trinken. Dann zog ich den Handschuh wieder an und wartete auf ihre Reaktion.
Sie brauchte eine Weile und sah mich mehrmals prüfen an, bevor sie mich erneut ansprach.
»Ich weiß nicht, was
ich sagen soll, Nessie.«
»Sag’ einfach ja,
Lissie und Carlisle wird dich zu einer von uns machen.«
»Das
kann ich nicht.«
»W-W-Was? … Lissie, hast du
denn nicht verstanden? Glaubst du mir denn nicht?«
»Doch
ich glaube dir.«
»Warum willst du dann denn nicht
gerettet werden? Du würdest doch gesund sein.«
Wieder
schüttelte sie leicht den Kopf.
»Nein, würde ich
nicht. Ich würde anders sein.«
»Ja schon, aber
das Ergebnis ist doch das Gleiche.«
»Nein
Nessie.«
»Aber um Himmels Willen, Lissie. Warum denn
nicht«, sagte ich unglücklich und war der Verzweiflung
nahe.
»Genau darum, Nessie. Ich habe in den letzten Wochen
viel über den Tod nachgedacht und ich hoffe, dass ich in den
Himmel komme. Hoffst du das nicht auch für mich?«
»Oh
Lissie, natürlich tue ich das. Wer sollte denn sonst in den
Himmel kommen, wenn nicht du? Aber du musst doch jetzt nicht sterben.
Das Himmelreich wartet bestimmt auf dich.«
»Meinst du?
Kommen Vampire auch dort hin? Was, wenn ich wegen diesem Durst einen
Menschen töte? Komme ich dann immer noch in den
Himmel?«
»Bestimmt Lissie. Du bist so ein guter
Mensch. Bitte, bitte, bitte, werde Teil meiner Familie. Du wirst ein
ganz tolles Leben bei uns haben, das schwöre ich dir.«
Ich sah ihr dabei zu, wie sie darüber nachdachte und wie immer wieder ihr Mund auf und zu ging, als ob sie etwas sagen wollte und es sich im letzten Moment dann doch anders überlegt hatte. Die Minuten vergingen und ich wurde immer mutloser. Es schien so aussichtslos zu sein, doch ich wollte das einfach nicht wahr haben. Dann endlich sprach sie wieder und wirkte sehr traurig dabei.
»Nessie, es tut mir leid,
aber ich kann das nicht. Ich glaube dir ja alles und du hast bestimmt
auch eine gute Seele, aber ich habe Angst, meine zu verspielen, wenn
ich dem zustimme.«
»Sag’ das nicht. Bitte sag’
das nicht. Ich will dich nicht verlieren.«
»Doch
Nessie. Ich habe mich längst damit abgefunden, dass ich sterben
werde und es ist gut so. Dein Angebot ist verlockend, aber ich glaube
nicht, dass es richtig ist. Das kann Gott nicht gefallen.«
»Aber
vielleicht hat er mich ja geschickt, um dein Leben zu retten?«
Wieder schaute sie mich kritisch an und ich hegte einen kurzen Moment lang Hoffnung, dass sie es sich anders überlegen würde.
»Vielleicht, aber ich will
das nicht riskieren.«
»Neeeiiiinnn, Lissie bitte. Tu
mir das nicht an. Ich liebe dich doch.«
»Oh Nessie,
ich dich doch auch und das was du bist ändert auch nichts daran,
aber versteh’ mich doch. Ich kann das nicht. … Lass’
es bitte sein, Nessie.«
Tränen quollen unaufhaltsam aus meinen Augen, wurden von meinem Mundschutz aufgesogen und vermischten sich mit meiner Atemluft, so dass ich sie noch intensiver wahrnehmen musste. Auch ihr liefen Tränen aus den Augenwinkeln seitlich herunter und suchten ihren Weg zum Kopfkissen. Ich griff nach einem Papiertuch, um sie ihr wegzutupfen.
»Ich … werde …
dich … niemals … vergessen …. Lissie«,
schluchzte ich.
»Ich dich auch nicht«, sagte sie
zittrig.
Trauer und Verzweiflung übermannten mich und ich beugte mich über sie, um sie zu umarmen. Ich bemerkte, dass sie ihre Arme leicht anhob um mich auch kurz zu halten, doch sie war so schwach, dass ich sie kaum spürte.
»Gewährst du mir noch
einen letzten Wunsch, Nessie«, flüsterte sie schniefend in
mein Ohr.
»Alles was du willst.«
»Dann zeig’
mir bitte … den Kuss.«
Ich richtete mich auf, tupfte ihr erneut die Tränen von den Schläfen und zog dann den Handschuh aus, um ihr die gewünschte Erinnerung zu zeigen. Ich ließ mir Zeit und gab ihr ganze fünf Minuten. Das schöne Erlebnis wieder anzusehen, linderte auch etwas meinen Schmerz. Wenigstens hatte ich so zumindest noch die Gelegenheit gehabt, ihr einen Herzenswunsch zu erfüllen. Dann musste ich die Übertragung beenden und sie schenkte mir ein schwaches Lächeln.
»Danke Nessie, das war
wundervoll.«
»Lissie, willst du es dir nicht
vielleicht noch mal überlegen? Du kannst das doch auch alles
noch haben. Du musst jetzt nicht sterben. Bitte, bitte, Lissie. Wir
werden wie Schwestern sein.«
»Nicht Nessie. Tu das
bitte nicht. Quäle mich nicht länger damit. Ich will doch
gar nicht sterben, aber ich will auch nicht so weiterexistieren, wie
du es mir anbieten kannst. Das ist … unnatürlich. Das
kann einfach nicht richtig sein. Bitte Nessie, lass’ mich
gehen. Ich ertrage das nicht länger.«
Es schien so, als hätte sie ihre ganze Kraft aufgebraucht, um mir das zu sagen und sie sah furchtbar elend aus. Schluchzend zog ich meinen Handschuh wieder an.
»Ist … gut«,
sagte ich und starrte zu Boden. Sie so zu sehen tat unsagbar weh und
ich hielt es einfach nicht mehr aus.
Ich blieb noch eine paar Minuten schweigend bei ihr sitzen und schaute nur ab und zu flüchtig zu ihr, nur für den Fall, dass sie ihre Meinung vielleicht doch noch ändern wollte und auf einen Blickkontakt wartete. Doch ich hoffte vergebens. Sie war nur noch vollkommen erschöpft und tat mir so furchtbar leid. Dann bewegten sich doch noch einmal ihre Lippen ganz leicht und ich hörte ihr leise und schwach Stimme.
»Geh’ jetzt bitte, Nessie. Ich bin so müde. Ich danke dir für alles. Lebewohl.«
Ich zog meinen durchnässten Mundschutz herunter, gab ihr einen Abschiedskuss und umarmte sie ein letztes Mal. Ich küsste sie dabei direkt auf den Mund und spürte ein minimales zuckten. Ich wusste nicht, ob sie meinen Kuss nicht erwidern konnte oder wollte, aber es war so oder so hart für mich. Ihr Lippen waren trocken und rau und sie hatten einen leicht bitteren Geschmack. Eine Bitterkeit, die direkt in mich eindrang und sich schwer auf mein Herz legte.
»Du wirst mir schrecklich fehlen, Lissie«, sagte ich zum Abschied.
Dann stand ich auf und zwang meine Beine dazu, zur Tür zu gehen. Ich blickte noch einmal zurück, doch ihre Augen waren geschlossen. Ein leichtes Glitzern von Tränen war wieder an ihrer Schläfe zu sehen, doch ich hatte nicht die Kraft, noch mal zur ihr zu gehen, um sie wegzuwischen. Ich trat aus dem Zimmer heraus und fiel meiner Mom um den Hals und ließ die ganze Trauer aus mir heraus.
Während ich mich an ihrer Schulter ausheulte, nahm ich den Geruch von Lissies Mutter wieder deutlicher wahr. Sie musste ganz in der Nähe sein und ich blickte kurz auf und entdeckte sie. Sie stand einfach da, sah mich an und ließ ihre Tränen über die Wangen laufen. Ich hatte das intensive Bedürfnis, sie auch ein letztes Mal zu umarmen und ging zu ihr. Bereitwillig schloss sie mich in ihre Arme.
Nach etwa einer Minute hielt ich es kaum noch aus, ihren Duft zu ignorieren und musste mich einfach wieder von ihr lösen. Sie bedankte sich noch bei mir, dass ich Lissie so ein gute Freundin gewesen wäre und ich bedankte mich bei ihr, dass ich mich verabschieden durfte. Dann hielt ich es hier nicht länger aus und wollte gehen. Wir legten die Schutzkleidung ab und machten uns auf den Heimweg. Mom und Dad versuchten mir Trost zu spenden und es tat auch gut, dass sie da waren. Ich setzte mich auf der Heimfahrt zwischen die beiden auf die Rückbank und versuchte mich zu beruhigen, was nicht so richtig gelingen wollte.
Dad erzählte mir von
Lissies Gedanken. Er sagte mir, wie gerne sie mich hatte und wie
schwer es ihr gefallen wäre, mir mein Angebot auszuschlagen.
Aber nur um meinetwillen, denn in ihrem Entschluss war sie sich ganz
sicher.
Zu Hause angekommen, ging ich mit Mom in mein Zimmer und legte mich mit ihr aufs Bett. Sie schenkte mir wieder so viel Geborgenheit, dass ich nach einiger Zeit ganz gut mit der Situation klar kam. Nach vielleicht einer Stunde klopfte es kurz an der Tür und dann kam Rosalie herein.
»Bella? Darf ich?«
Mom schaute mich fragend an und ich nickte ihr zu. Sie seufzte kurz, stand dann auf und ging hinaus. Rosalie nahm ihren Platz auf meinem Bett ein und fing an mich zärtlich über das Haar zu streicheln.
»Edward hat mir alles
erzählt, Nessie. Es tut mir so leid für dich.«
Ich
schniefte kurz und sah ihr in die Augen.
»Du meinst, dass
sie richtig entschieden hat, oder?«
Zögerlich nickte
sie mir zu.
»Ja Süße, ich hätte an ihrer
Stelle genauso entschieden.«
»Aber warum denn? Bist du
denn nicht glücklich mit uns?«
»Oh doch, Schatz.
Natürlich bin ich glücklich, aber dieses Leben hat auch
seine Schattenseiten, das weißt du. Ich werde auf ewig das
vermissen, was mir als Vampir verwehrt bleibt und das tut weh. Ich
liebe meinen Emmett und auch dich und die Anderen, doch der Schmerz
verschwindet nie ganz. Ohne euch hätte ich längst einen Weg
gesucht, meine Existenz zu beenden.«
»Was? Das darfst
du nicht machen, Rosalie. Versprich mir das. Bitte verlasse mich
nicht.«
»Das habe ich doch gar nicht vor, Renesmee.
Beruhige dich. Ich möchte doch nur, dass du ihre Entscheidung
nachvollziehen kannst.«
»Aber sie fehlt mir so
sehr.«
»Ich weiß, doch trotzdem ist es ihre
Wahl, nicht deine.«
Ich verstand, was sie mir sagen wollte und kuschelte mich in ihre Umarmung. Lissie hätte bestimmt auch ein glückliches Leben mit uns haben können, doch sie würde auch ewig 15 bleiben. Ich vermutete auch, dass ihr dann niemals die Haare nachgewachsen wären und sie das jeden Tag an ihr trauriges menschliches Schicksal erinnert hätte. Sicherlich hätte sich niemand von uns daran gestört und wir hätten sie mit Liebe überhäuft, doch in ihrem Innern wäre sie wohl nie wirklich glücklich geworden.
Ihre Bedenken bezüglich ihrem Seelenheil konnte ich aber einfach nicht teilen. Ob Mensch oder Vampir konnte doch wirklich keine Rolle spielen. Entscheidend war doch, ob man ein gutes Wesen hatte oder nicht. Lissie hatte ein wundervolles gutes Wesen und der Himmel hätte bestimmt auf sie gewartet.
Einen kurzen Augenblick lang
dachte ich darüber nach, ob wir sie nicht einfach verwandeln
sollten, damit sie das Leben als Vampir kennen lernte, bevor sie es
ablehnte, doch ich war mir sicher, dass keiner aus der Familie das
tun würde. Wenn ich ehrlich zu mir selbst sein wollte, würde
ich es auch nicht tun, wenn ich dazu in der Lage wäre. Wie
sollte ich denn ihren Wunsch so einfach ignorieren können? Auch
wenn ich sie schmerzlich vermisste, so durfte ich doch nicht
egoistisch sein und sie zu etwas zwingen, das sie nicht wollte.
Gegen Abend hatte ich mich eigentlich relativ gut im Griff. Ich war zwar noch immer unsagbar traurig, aber wenigstens schluchzte ich nicht mehr und meine Tränenflüssigkeit blieb auch dort, wo sie hingehörte. Dann klingelte überraschend mein Handy und ich sah, dass es Gabriel war. Rose ging gleich aus mein Zimmer und ließ mich alleine, damit ich in Ruhe mit meinem Freund telefonieren konnte. Er erkundigte sich nach Lissie und in dem Moment, da ich ihm sagen musste, dass sie sterben würde, brachen die Tränen doch wieder aus mir heraus.
Er war sehr einfühlsam und wollte auch sofort zu mir kommen, doch ich lehnte das ab, denn es war schon spät und ich wollte das heute nicht mehr. Er bestand aber darauf, mich morgen Nachmittag besuchen zu dürfen und ich hatte nicht die Kraft, ihm das abzulehnen.
Nach dem Telefonat brauchte ich ein paar Minuten, bis ich mich wieder gefasst hatte und ging dann noch ein Weilchen ins Wohnzimmer zu den Anderen. Ich setzte mich zu Emmett und Jasper vor den Fernseher. Normalerweise interessierte mich Baseball nicht sonderlich, aber auf Emmetts Schoß zu sitzen, wenn er einen Home Run bejubelte, war schon witzig. Vor allem, wenn er mich danach knuddelte. Mein großer Teddybär verstand es auf seine Weise ziemlich gut, mich auf andere Gedanken zu bringen. Es tat gut, in der Nähe meiner Familie zu sein, doch die Müdigkeit wurde im Verlaufe des Abends immer stärker und ich konnte meine inzwischen trockenen Augen kaum noch aufhalten. Also ging ich zu Bett. Mom bot mir natürlich an, bei mir zu schlafen, doch das wollte ich nicht. Ich wusste auch so, dass alle im Gedanken bei mir waren.
Ich hatte sogar recht gut geschlafen, als ich am nächsten Morgen aufwachte. Dann holte ich mir gleich nach dem Anziehen etwas Obst und eine Karotte aus der Küche und lief wieder in den Wald. Ich wollte nicht zu meinem Platz, sondern zu meinem Reh. Leider hatte ich keine Ahnung, wo es sich herumtreiben würde und rannte stundenlang durch die Gegend. Ich schnappte immer wieder eine Rotwildfährte auf, doch leider führte mich keine zu dem gesuchten Tier. Das war ziemlich deprimierend und ich erwischte mich bei dem Gedanken, dass mich auch mein Schmusereh verlassen haben könnte. Enttäuscht aß ich mein Frühstück alleine und machte mich dann auf dem Heimweg.
Etwa fünf Meilen von Zuhause entfernt, lief es mir dann doch unerwartet über den Weg und ich war plötzlich richtig glücklich deswegen. Ich rannte gleich zu ihm und riss es in meine Arme, was dem erschrockenen Tier überhaupt nicht gefiel. Es zappelte wild in meinem Griff und ich hatte gleich ein furchtbar schlechtes Gewissen, weil ich es so überrumpelt hatte und so rücksichtslos gewesen war. Sofort stellte ich es wieder auf den Boden und ließ es los und es sprang natürlich davon. Traurig setzte ich mich auf den Waldboden und blickte ihm hinterher.
In vielleicht 40 Meter Entfernung blieb es dann stehen und schaute mich an. Ich hatte das Gefühl, dass es mich mit seinen großen runden braunen Augen vorwurfsvoll ansah und etwas böse auf mich war, weil ich es so erschreckt hatte und das tat mir sehr leid. Wieder liefen mir Tränen über meine Wangen. Irgendwie war einfach alles zu viel für mich und ich wischte sie mit der Hand weg.
Dann plötzlich traute ich meinen Augen nicht, als ich sah, dass das Reh zu meiner großen Überraschung auf mich zu kam. Erst war ich sprachlos, doch dann hatte ich das Bedürfnis, mich bei ihm zu entschuldigen, auch wenn es vermutlich keine Ahnung hatte, wovon ich redete. Ich sagte ihm, dass es mir leid täte und dass ich es nie wieder so erschrecken würde und hob dann ganz langsam die Hand, um es zu streicheln. Es schnupperte an meinen Fingern und fing plötzlich an, sie abzulecken. Ob es mein Frühstück noch roch, oder meine salzigen Tränen, konnte ich nicht sagen, aber es kitzelte und stimmte mich wieder etwas fröhlicher.
Es ließ mich jetzt auch wieder ganz nah an sich heran kommen und ich vergrub meine Nase in seinem Fell, um mir seinen Duft ganz genau einprägen zu können. Wenn ich es wieder suchen würde, könnte ich so vielleicht seine Fährte zielsicher herausfiltern. Im Gedanken sah ich dabei das Bild von einem Jagdhund vor meinem inneren Auge und musste kichern, was das Reh etwas irritierte. Dann verabschiedete ich mich von ihm und lief nach Hause.
Trotz meiner momentanen Verfassung machten Jasper, Mom und Emmett wieder das übliche Kampftraining mit mir und es tat mir gut. Alles was mich so richtig von dem Schmerz wegen Lissie ablenken konnte, war willkommen. Danach ging ich schnell noch duschen und kurze Zeit später war auch Gabriel da.
Er war sehr zärtlich und liebevoll und mir gefiel auch, dass er so sehr bemüht war, mich zu trösten, doch im Grunde war es überflüssig. Trost hatte ich mehr als genug von meinen Eltern und von Rose bekommen. Von Gabriel wünschte ich mir eher Ablenkung. Er ließ sich dann auch dazu überreden, Spanisch zu üben, denn das würde ihm für die Schule helfen und mich auf andere Gedanken bringen. Das dachte ich zumindest, bis mir bewusst wurde, dass mir dabei ständig die Erinnerungen an die Nachhilfe für Lissie in den Sinn kamen. Auch Gabriel war nicht wirklich bei der Sache und so beendeten wir diesen unglücklichen Versuch schon nach einer Dreiviertelstunde wieder.
Ich legte eine CD mit Chillout-Musik ein, die ich von Alice hatte und kuschelte einfach mit Gabriel auf dem Bett. Leider verfiel er gleich wieder in die Rolle des Trösters. Es war zwar auch schön und ich konnte seine Nähe mit allen Sinnen genießen, aber mehr als gelegentliche Küsse und viele Streicheleinheiten war heute einfach undenkbar. Vielleicht war das im Augenblick aber auch besser so.
Gegen Abend hatte ich dann das Gefühl, inzwischen etwas übersättigt von der ganzen Trösterei zu sein. Natürlich bedankte ich mich bei Gabriel dafür, dass er für mich da war, doch eigentlich hätte ich jetzt lieber etwas Spaß gehabt und da schien mir Gabriel im Moment nicht der Richtige zu sein. Ich bat ihn daher wieder zu gehen und begründete es damit, dass bei uns der Sonntag grundsätzlich der Familie gehörte und dass das heute wohl eher eine Ausnahme war. Eine schöne Ausnahme zwar, aber doch etwas, dass jetzt zu Ende gehen müsste. Er akzeptierte das nur widerwillig, hatte aber keine andere Wahl. Außerdem würden wir uns morgen ja wieder in der Schule sehen.
Danach fragte ich Emmett, ob er
nicht vielleicht Lust hätte, etwas Musik zu machen und da war er
auch gleich voll dabei, was mich sehr freute. Es tat richtig gut und
ich fühlte mich danach irgendwie befreiter. Im Anschluss alberte
er noch ein wenig mit mir herum, bis ich dann bald darauf zu Bett
ging.
Der Montagmorgen in der Schule war wieder ziemlich aufwühlend. Als ich Paulina von meinem Besuch bei Lissie erzählen musste, brach sie in Tränen aus und auch ich konnte mich dann nicht mehr zurückhalten. Wir umarmten uns und schenkten uns dadurch gegenseitig Trost. Natürlich war auch Gabriel sofort an meiner Seite und auch Paulinas Freund Simon war für sie da. Die Anderen wirkten auch geschockt, doch war es für sie wohl nicht ganz so schlimm wie für Paulina und mich.
In der Mittagspause herrschte dementsprechend trübe Stimmung am Tisch, denn keiner wusste so richtig mit der Situation umzugehen. Draußen war es dann mit Gabriel auch irgendwie bedrückend. Ich war durchaus froh, dass ich ihn bei mir hatte, doch konnte ich unser Zusammensein einfach nicht richtig genießen.
Zu Hause half mir die gewisse Routine ziemlich gut über den Rest des Tages hinweg. Jasper wollte das Emotionstraining zwar eigentlich ausfallen lassen, doch ich überredete ihn, es trotzdem zu machen. Jeder andere Gemütszustand als diese ständige Trauer war mir willkommen, selbst wenn es künstliche Angst war. Er schickte mir aber keine Angst sondern Freude. Das war auf eine seltsame Art irgendwie noch grausamer. Freude zu empfinden, obwohl mich schlimme Gedanken beschäftigen, war schrecklich. Es fühlte sich so dermaßen falsch an, dass ich die Freude, die ich spürte, einfach nicht annehmen konnte. Für Jasper, der mir wohl mit dem Training auch etwas Gutes tun wollte, war es offensichtlich enttäuschend, dass es ihm nicht gelungen war. Andererseits musste er sich aber auch zufrieden zeigen, denn schließlich hatte ich mich von den von ihm erzeugten Gefühlen nicht beeinflussen lassen.
Danach machte ich noch einen Waldlauf mit Dad. Wir rannten eine Zeitlang schweigend nebeneinander her, wobei eigentlich nur er schwieg, da ich meine Gedanken ja unmöglich zum Schweigen bringen konnte. So hörte er mir einfach zu, wie ich über Lissie und ihre Ablehnung meines Angebots nachdachte. Es war so traurig, dass ich sie verlieren musste, denn sie bedeutete mir so viel.
»Liebling, natürlich wird sie für dich nicht einfach so zu ersetzen sein, doch das schließt neue Freundschaften nicht aus und du kannst noch viele andere Freundinnen haben.«
“Andere Freundinnen?”, dachte ich. “Was soll das für einen Sinn machen? Die werde ich doch auch irgendwann verlieren. Wieso sollte ich überhaupt jemals wieder mit einem Menschen eine Freundschaft schließen?”
»Aber Schatz, was denkst du denn da? So darfst du das doch nicht sehen. Unsterblichkeit ist doch keine Garantie für ewige Freundschaft. Es gibt viele Gründe, warum Freundschaften enden können, aber trotzdem bleiben sie immer etwas wertvolles, egal wie lange sie bestehen. Glück und Leid gehen nun mal Hand in Hand, aber auf etwas schönes zu verzichten, weil der Verlust irgendwann schmerzhaft sein könnte, zerstört die Lebensfreude. Man kann nur das genießen, worauf man sich einlässt, auch wenn man befürchten muss, dass ein leidvolles Ende droht.«
Ich ließ mir Dads Worte noch eine Zeitlang durch den Kopf gehen und musste ihm schließlich zustimmen. Wenn ich genauer darüber nachdachte, dann wollte ich im Nachhinein nicht auf die vielen wundervollen Erinnerungen an Lissie verzichten, nur um den Kummer jetzt loszuwerden.
Dads aufmunternde Worte hatten
mir tatsächlich gut getan und ich blickte schon ein bisschen
optimistischer in die Zukunft, was auch ihn sehr zu freuen schien.
Ich konnte am Abend mit der Familie auch wieder befreiter lächeln
und es fühlte sich auch nicht mehr so falsch an.
Die nächsten zwei Tage war ich nicht mehr ganz so deprimiert und Gabriel schien sich zu freuen, dass sich meine Stimmung ein wenig aufgehellt hatte. Seine Küsse fühlten sich jedenfalls wieder besser an und mir ging es recht gut, jedenfalls bis zum Mittwochabend. Dann kam Carlisle nach Hause und brachte die Nachricht mit, dass Lissie heute gestorben sei. Obwohl ich schon seit meinem Besuch am Samstag ganz genau wusste, dass dies geschehen würde und ich im Grunde jeden Tag damit rechnete, traf mich die Trauer doch noch einmal mit voller Wucht. Zum Glück war meine Familie da, um mich zu stützen. Sie alle gaben mir Halt und so spürte ich nicht nur den schmerzlichen Verlust noch einmal so extrem intensiv, sondern auch die Liebe und die Geborgenheit, die mir meine Familie schenkte. Sie halfen mir sehr dabei, mit der Situation klar zu kommen.
Ich rief später dann Paulina an, um ihr die traurige Nachricht zu überbringen. Ich wollte das lieber noch am selben Abend am Telefon erledigen, als es ihr morgen vor der Schule direkt ins Gesicht sagen zu müssen. Ihr Weinen hörte sich am Handy aber nicht weniger leidvoll an, als wenn sie unmittelbar vor mir stehen würde. Am liebsten hätte ich sie in den Arm genommen und ich bedauerte sehr, dass ich das jetzt nicht konnte. Hoffentlich hatte sie auch eine so tolle Familie wie ich, die sie wieder aufbauen würde.
Danach wählte ich Gabriels Nummer, auch wenn ich wusste, dass er bestimmt gleich zu mir kommen wollte, was so spät natürlich unsinnig war. Jedenfalls fiel es ihm schwer, am Telefon die richtigen tröstenden Worte zu finden, aber das war nicht so schlimm. Ich spürte sein Mitgefühl und ich wusste, dass er im Gedanken bei mir war. Es war ein schönes Gefühl und ich hatte es auch noch, als das Gespräch beendet war und ich später zu Bett ging.
Der Rest der Schulwoche war noch einmal sehr anstrengend. Die Nachricht von Lissies Tod hatte sich inzwischen herumgesprochen und viele Schüler kamen auf mich zu, um mir ihr Beileid auszudrücken. Woher wussten die nur alle, wie viel Lissie mir bedeutet hatte und warum nahmen sie Anteil daran? Dutzende von Schüler, deren Namen ich nicht mal kannte, sprachen mich an und sagten mir, dass es ihnen leid täte. Das war wirklich heftig. Auch Kathrin und Sandra sprachen mir ihr Beileid aus und selbst Kevin und Lou verzichteten darauf, mir verächtliche Blicke zuzuwerfen und sahen mich auch eher bedauernd an. Unser Klassenlehrer Mr. Wattson hielt dann auch eine kurze Ansprache, die sehr nett war und dann machte die ganze Klasse noch eine Schweigeminute.
Am Donnerstagabend rief mich Mrs. Miller auf dem Handy an. Als es klingelte war ich zuerst furchtbar erschrocken, weil Lissies Name auf dem Display erschien. Sie entschuldigte sich dafür, aber sie hatte leider keine Telefonnummer von uns ausfindig machen können und deshalb auf Lissies Handy nachgesehen und gleich damit angerufen. Mir war natürlich klar, warum sie uns nicht im Telefonbuch gefunden hatte, denn wir alle telefonierten mit Handys und hatten keinen Telefonanschluss im Haus. Internet und Fernsehen liefen über Satellit.
Jedenfalls wollte sie mich und meine Familie darüber informieren, dass Lissie am Samstagvormittag beerdigt würde, falls wir an der Trauerfeier teilnehmen wollten. Ich sagte ihr zu, dass ich auf jeden Fall kommen wollte und bat sie, Paulina ebenfalls diese Möglichkeit zu gewähren, was sie auch tun wollte.
Nach dem Gespräch erzählte ich meiner Familie davon und fragte sie, ob sie denn mitkommen wollten, doch Alice schüttelte gleich den Kopf. Ausgerechnet am Samstag würde die Sonne herauskommen und da war das unmöglich. Für mich stand aber außer Frage, dass ich hingehen würde und notfalls eben mit einem Taxi. Das gefiel zwar vor allem meinen Eltern nicht, doch ich bestand darauf und ließ in diesem Punkt nicht mit mir reden. Ich informierte auch Gabriel darüber und war froh, dass er mich zur Beerdigung begleiten wollte.
Am Freitagnachmittag fuhr Rosalie mit mir nach Glasgow, um angemessene Trauerkleidung für mich zu kaufen. Das war so ziemlich das traurigste Einkaufserlebnis, das ich mir vorstellen konnte und ich brauchte danach eine halbe Stunde lang die Nähe meiner Momma, um mich wieder besser zu fühlen.
Ich ging dann noch am Abend auf
eine kurze Jagd mit meinen Eltern, denn für Samstagmorgen war
mir die Zeit zu knapp und ich wollte unbedingt meinen Durst gestillt
haben, wenn ich Lissies Mom begegnete. Es würde auch so schon
hart genug werden und da wollte ich nicht auch noch mit meinem Durst
kämpfen müssen.
In der Nacht zum Samstag besuchte mich wieder einmal Jacob im Traum. Das war schon die ganze Woche so, doch diesmal war die Erinnerung daran nach dem Aufwachen besonders präsent. Ob das an der bevorstehenden Beerdigung lag? Wenn er mich in meinen Träumen tröstete, dann war das ganz merkwürdig. Er brauchte dazu keine Worte. Wir schauten uns nur in die Augen und dann schloss er mich in seine Arme und ich fühlte mich wohl und geborgen. Hier in dieser nächtlichen Welt galten andere Regeln als am Tag. Hier war Jacob einfach immer für mich da und er gab mir was ich brauchte, ohne Forderungen zu stellen. Genau so selbstlos, wie ich ihn aus meiner frühesten Kindheit kannte. Dieser schöne Traum hatte mir genug Kraft geschenkt, dass ich mich ziemlich sicher fühlte, diesen Tag gut überstehen zu können.
Allerdings hatte dieser Morgen noch etwas anderes zu bieten. Ich hatte wieder einmal meine Periode bekommen, aber bei weitem nicht so stark, wie das noch vor einem Jahr der Fall war. Auch wenn der Zeitpunkt richtig blöd war, so spürte ich doch auch eine gewisse Erleichterung. Der letzte Hauch von Unsicherheit, ob ich von Lennox schwanger sein könnte, war damit endgültig beseitigt und das ließ mich kurz entspannt seufzen.
Ich zog mich an, frühstückte in Ruhe und verbrachte noch eine Stunde im Kreise der Familie, bis ich dann mit dem Taxi erst zu Gabriel und dann mit ihm zum Friedhof fuhr.
Lissies Eltern hatten darauf verzichten, sie noch mit geöffnetem Sarg aufzubahren und stattdessen vergrößerte Fotos von ihr aufgestellt, auf denen sie glücklich und gesund wirkte. Es waren sehr schöne Bilder und genau so wollte ich sie auch in Erinnerung behalten. Trotzdem liefen mir beim Betrachten Tränen über die Wangen, denn ich vermisste den Klang ihres Lachens, der bei diesem Anblick fehlte. Es waren eben nur stumme Zeugen dessen, was ich verloren hatte.
Als Lissies Mom mich sah, kam sie gleich zu mir und umarmte mich liebevoll. Ich erwiderte diese Umarmung gerne, egal wie anstrengend das für mich war. Auch Paulina umarmte mich schluchzend und meinte zu mir, dass es wirklich schöne Portraits von Lissie wären, die ihre Eltern hier aufgestellt hätten. Dem konnte ich nur zustimmen.
Als der Sarg dann hinaus gebracht wurde, folgten wir ihm und wohnten der Beerdigung bei. Die Ansprache des Geistlichen war sehr bewegend und er beschrieb Lissie mit wenigen Worten so, wie ich sie kennen gelernt hatte. Danach verabschiedete ich mich von Mrs. Miller mit einer innigen Umarmung und von ihrem Mann mit einem Händeschütteln. Die Einladung zum anschließenden Essen lehnte ich aber ab und ging lieber mit Gabriel zu ihm nach Hause.
Es war das erste Mal, dass ich bei ihm war und sehen konnte, wie er so lebte. Ihm war das offensichtlich ein wenig unangenehm, doch er zeigte mir trotzdem alles. Ich hätte mir einen schöneren Anlass dafür gewünscht, doch ich war dennoch froh, dass er endlich dazu bereit war. Sein Zimmer war eigentlich nett eingerichtet und sogar ziemlich ordentlich. Ob er extra wegen mir aufgeräumt hatte? An den Wänden hingen ein paar Poster von Musikbands und Sportlern. Ein grünweißer Schal wies darauf hin, dass er wohl ein Fan von Celtic Glasgow war. Mit Fußball hatte ich mich bislang noch nicht sonderlich befasst, aber vielleicht sollte ich das nachholen, um mich mit ihm darüber unterhalten zu können. Das würde ihm vielleicht gefallen.
Ich schaute mich weiter um und entdeckte einen Bilderrahmen auf dem Schreibtisch. Er hatte etwas handgeschriebenes eingerahmt und ich erkannte es sofort. Das waren meine Notizen, die ich ihm damals für das Geschichtsreferat gemacht hatte.
»Du hast den Zettel
aufgehoben?«, sagte ich verwundert.
»Na ja«,
meinte er verlegen. »Der hat mir immer viel bedeutet.«
Es war wirklich schön, dass etwas so kleines so wertvoll für ihr sein konnte. Es berührte mein Herz und ich musste ihn einfach kurz umarmen. Neben der Freude spürte ich aber auch den Schmerz in der Brust. Die gleiche Notiz hatte ich ebenfalls für Lissie geschrieben und ich fühlte wieder überdeutlich, wie sehr sie mir fehlte. Zum Glück war Gabriel bei mir und ich hielt mich an ihm fest. Ich brauche eine Weile, bis sich der aufgewühlte Ozean in mir wieder beruhigt hatte und dann sah ich mich weiter in seinem Zimmer um.
In seiner CD-Sammlung entdeckte ich dann ein paar Alben von Robbie Williams. Das ließ mich schmunzeln, denn schon als ich Gabriel das erste Mal singen gehört hatte, dachte ich an diesen Interpreten. Ich bat ihn, eine CD einzulegen und so hörten wir eine Weile einfach etwas Musik. Manchmal fing er an mitzusingen, was mir gut gefiel. Wir tanzten auch ein wenig und schmusten ein bisschen, aber so richtig war uns beiden nicht danach. Für den Moment genügte es mir, von ihm im Arm gehalten zu werden, seine streichelnden Hände zu spüren und mich sanft mit ihm zum Takt der Musik zu bewegen. Seinen Duft in der Nase zu haben und eng an ihn gekuschelt zu sein, war ein guter Weg, um etwas Zuversicht aufkommen zu lassen.
Später kam seine Mom nach Hause und so lernten wir uns endlich einmal kennen, was sie nicht weniger zu freuen schien als mich. Sie war sehr nett und ich hatte sie auch sofort gerne. Ihr Geruch war dem von Gabriel sehr ähnlich, doch ansonsten hatten sie nur wenig Gemeinsamkeiten. Er kam wohl mehr nach seinem Vater.
Wir machten dann noch ein paar Gesellschaftsspiele zusammen, was mich eigentlich überraschte, aber nicht störte. Es war sehr schön und machte Spaß. Die beiden spielten wohl oft zusammen und es freute mich, dass sie mich einfach so miteinbezogen.
Am späten Abend rief ich dann kurz zu Hause an und bat Dad mich abzuholen. Mrs. MacKenzie hatte mir natürlich angeboten, mich nach Hause zu fahren, doch ich sagte ihr, dass es meiner Familie so lieber wäre. Das stimmte ja auch, denn als Beifahrer bei einem Menschen in einen Verkehrsunfall zu geraten, könnte fatale Folgen haben. Für Dad war es schon schlimm genug, dass ich heute morgen mit einem Taxi gefahren war und deshalb schien er richtig froh zu sein, mich abholen zu dürfen.
Zu Hause war die Familie eher überrascht, dass ich relativ gut gelaunt war. Ich hatte den Tag tatsächlich gut überstanden. Ob das jetzt an dem Traum mit Jacob oder dem schönen Tag mit Gabriel lag, konnte ich nicht sagen. Vermutlich an beidem. Es war aber trotzdem irgendwie merkwürdig, dass ich das Gefühl hatte, es überstanden zu haben. Natürlich konnte ich ohnehin nichts an der Situation ändern und ich würde Lissie noch lange vermissen, doch war das heute auch ein gewisser Abschluss und ich wollte wieder positiv in die Zukunft schauen.
Als ich dann in mein Zimmer ging, fiel mir meine Staffelei mit dem fertigen Wasserfallgemälde ins Auge. Was sollte ich mit dem Bild jetzt machen? Lissie konnte ich es nicht mehr schenken und behalten wollte ich es auch nicht. Ich nahm es und ging damit hinunter ins Wohnzimmer. Ich sprach kurz mit meiner Familie darüber, was ich mit dem Bild anstellen sollte und Mom hatte die Idee, dass ich es vielleicht dem Krankenhaus schenken könnte. So schön wie das Bild war, könnte es vielleicht den Kinder dort eine Freude machen. Die Vorstellung gefiel mir und Esme war auch sehr begeistert davon. Carlisle bot sich an, das zu übernehmen und so gab ich ihm das Gemälde. Danach ging ich zu Bett und dachte noch lange über den vergangenen Tag nach, bis ich schließlich einschlief.
In den Wochen nach Lissies Tod gewöhnte ich mich allmählich daran, dass sie nicht mehr da war. Es war hart für mich, denn immer und immer wieder wurde ich an sie erinnert. Jeden Tag in der Schule ließ mich der leere Stuhl neben mir spüren, was ich verloren hatte. Ich versuchte es zu ignorieren, doch das war sehr schwer. Wenigstens waren es mit der Zeit immer mehr die schönen Erinnerungen, die in mir aufblitzten. Ihr Lachen, ihr glückliches Gesicht, ihre liebevollen Berührungen.
An diese Dinge erinnerte ich mich gerne, doch anfangs waren es ganz andere Bilder, die sich in mein Bewusstsein drängten. Da sah ich immer nur die schwache, weinende und sterbende Lissie. Ich hatte Albträume davon und in denen war ich es manchmal, die da krank und kraftlos im Krankenhaus lag, ganz alleine, in völliger Dunkelheit und ohne jegliche Hoffnung. Mom und Dad hatten mich ein paar mal geweckt, wenn ich einen solchen Traum hatte und ich war dann jedes mal sehr froh, wieder ich selbst zu sein, in meinem eigenen Bett zu liegen und meine Eltern bei mir zu haben. Leider kamen diese Träume noch einige Male wieder und ich bat schließlich meinen Dad, mich nicht mehr deswegen zu wecken, denn vielleicht war das der einzige Weg, um mit der Sache klarzukommen.
Tatsächlich war das wohl die richtige Entscheidung, denn meine Träume veränderten sich mit der Zeit. Immer, wenn ich eine Weile in meinem Traum gelitten hatte, kam dann Jacob zu mir und auf einmal war alles wieder gut. In dem Moment, da er das Krankenzimmer betreten hatte, verzog sich die Dunkelheit und Hoffnung erfüllte mein Herz. Die Kraft kehrte in meine Arme und Beine zurück und ich fühlte mich wieder wohl. So ließ die Angst vor den Albträumen deutlich nach und sie wurden immer schwächer und seltener und verschwanden schließlich ganz.
In dieser schweren Anfangszeit haben sich auch alle aus der Kantinenrunde als gute Freunde erwiesen. Sie waren sehr bemüht, Paulina und mich wieder aufzuheitern und auf andere Gedanken zu bringen. Wir unternahmen fast jeden Samstagabend etwas miteinander. Mal gingen wir zusammen ins Kino, mal in ein Billardcafe und mal bei schönem Wetter an den Strand oder zu einem Einkaufsbummel.
Für Gabriel und mich bedeutete das natürlich, dass unsere Zweisamkeit an den Samstagen ziemlich gekürzt wurde. Meist hatten wir nur wenig Zeit, um nach der Spanischnachhilfe noch ein wenig Musik zu hören und zu kuscheln. Natürlich hatten wir kein Problem damit, in der Nähe der Anderen Zärtlichkeiten auszutauschen, aber das war trotzdem nicht das Selbe, wie alleine zu sein.
Wir gingen daher inzwischen jeden Donnerstag direkt nach der Schule zu ihm. Da hatten wir fast immer wenig Hausaufgaben auf, da ich am Nachmittag Kunst hatte und er Sport. Was wir vom Vormittag aufhatten, erledigten wir dann schnell zusammen und genossen dann den restlichen Tag. Anfangs spürte ich, dass es ihm immer noch ein wenig unwohl war, wenn ich ihn besuchte, doch mit der Zeit wurde ihm endlich klar, dass es für mich überhaupt keine Rolle spielte, wo wir waren, solange wir nur beisammen sein konnten. Mir war sein Zimmer genau so recht wie meines oder irgend ein nettes Plätzchen im Wald oder sonst wo. Im Grunde war ich sogar ein bisschen lieber bei ihm als bei mir, denn hier hörte uns schließlich niemand zu. Abends spielten wir häufig mit seiner Mom ein paar Spiele, was ich sehr mochte. Natürlich war es super, mit Gabriel alleine zu sein und ungestört schmusen zu können, doch ich mochte seine Mom inzwischen sehr und verbrachte gerne auch Zeit zu dritt.
Ein besonderes Highlight gab es dann Ende Juni. Am Freitag den 22. hatte Gabriel seinen 16. Geburtstag, aber er hatte schon zwei Wochen vorher gesagt, dass er keine Party machen wollte. Maximal ein bisschen feiern nach dem Kinobesuch am Samstag wollte er zulassen und zum Schein ging ich darauf ein. Mit unseren Freunden hatte ich verabredet, dass ich Gabriel zwei Tickets für das Fußballspiel zwischen Celtic Glasgow und den Glasgow Rangers besorgen würde und die spielten nun mal ausgerechnet an dem Samstag nach seinem Geburtstag. Somit war der Kinobesuch natürlich abgesagt, beziehungsweise um eine Woche verschoben. Vor allem die Jungs waren restlos begeistert von der Geschenkidee und wären gerne mitgekommen, doch das war mir zu riskant. Gabriel würde es vielleicht akzeptieren, wenn ich ihm ein Ticket schenken würde und mit ihm zum Spiel ging, aber wenn ich für alle bezahlen würde, könnte ihn das womöglich verärgern und das wollte ich auf keinen Fall riskieren.
Alice hatte mir die Karten besorgt und Gabriel war total sprachlos, als ich sie ihm am Freitagmorgen vor der Schule in einem Kuvert übergab. Zu meiner großen Erleichterung freute er sich riesig darüber und erzählte auch den Anderen gleich, was er da für ein super Geschenk bekommen hatte. Er entschuldigte sich bei allen, dass wir den Kinobesuch verschieben mussten, aber dafür wurde er nur angegrinst.
Neben den Tickets hatte mir Alice auch ein passendes Outfit für das Spiel besorgt. Dann lackierte sie noch ihren alten Vauxhall Insignia in Grünweiß, um uns standesgemäß zum Spiel fahren zu können. Sie schien dabei fast noch mehr Spaß zu haben als Gabriel. Bevor wir losfuhren, schminkte uns Alice noch unsere Gesichter grünweiß und zauberte auch das Celtic-Logo auf unsere Wangen. Dann machte sie noch ein Erinnerungsfoto und fuhr uns zum Stadion.
Die Stimmung war dort einfach nur geil und Gabriel strahlte über das ganze Gesicht. Lautstark sang er die verschiedenen Fangesänge mit und hatte dabei großen Spaß. Viele der Lieder wurden auch mehrmals wiederholt und da sie nicht sehr schwierig waren, konnte ich gleich mitsingen.
Das Spiel selbst fand ich sogar ziemlich interessant, nachdem ich mich in der Woche davor intensiv mit der Sportart und den Regeln beschäftigt hatte. Ich ließ mich von der Atmosphäre auch richtig mitreißen und Gabriel schaute mich anfangs verwundert an, wenn ich plötzlich »Abseits« oder »Foul« brüllte. Er gewöhnte sich aber schnell daran und freute sich wohl darüber, denn damit hatte er sicherlich nicht gerechnet.
Am Ende hatte Celtic das Spiel mit 3:1 gewonnen und abgesehen vom Fanblock der Gäste herrschte große Freude im Stadion.
Nach dem Spiel holte Alice uns wieder ab und hatte dann noch eine Überraschung für uns. Sie hatte in einem Restaurant einen Tisch für uns reserviert. Zuerst hatte ich befürchtet, dass Gabriel das ablehnen würde, doch er war so gut gelaunt, dass er ohne zu zögern zustimmte und sich sogar darauf zu freuen schien.
Alice wäre natürlich nicht Alice, wenn es das schon gewesen wäre. Sie hatte da noch mehr für uns geplant und bereits ein Menü bestellt, bei dem ebenfalls die Farben Weiß und Grün dominierten. So gab es eine Broccolicremesuppe mit Sahnehaube als ersten Gang, dann ein Schollenfilet mit grünem Spargel und zum Nachtisch eine Quarkspeise mit Kiwi-Sorbet. Es sah nicht nur toll aus, sondern schmeckte auch noch gut. Das Beste war allerdings Gabriels Gesichtsausdruck. Er schien so glücklich zu sein, dass ich mich darüber einfach wahnsinnig freuen musste. Wir unterhielten uns beim Essen über das Spiel und analysierten noch das Eine oder Andere und ich beeindruckte ihn damit, dass ich auch die Namen der Spieler kannte. Das wirklich witzige an der Unterhaltung war aber seine Stimme, da er von dem ganzen Grölen ziemlich heißer war.
Als Alice uns dann am späteren
Abend nach Hause gefahren hatte, verabschiedete er sich bei mir mit
so einem umwerfenden und leidenschaftlichen Kuss, dass ich noch immer
halb außer Atem war, als ich mich wieder zu meiner grinsenden
Tante ins Celtic-Auto setzte. Ich war ihr so dankbar für alles,
was sie organisiert hatte, dass ich ihr gleich um den Hals fiel und
ihr viele kleine Küsse gab, die diverse grünweiße
Flecke auf ihrem Gesicht hinterließen. Das schien ihr aber
nichts auszumachen, sondern sie ganz im Gegenteil sehr glücklich
zu machen.
Die Woche nach seinem Geburtstag war auch ziemlich genial, denn er sprühte immer noch vor Freude, wegen meines Geschenkes, zu dem Alice zugegebenermaßen viel beigetragen hatte. Am nächsten Wochenende gingen wir dann wie vereinbart mit unseren Freunden ins Kino und da stellte uns Susi dann überraschend einen Jungen vor, mit dem sie jetzt zusammen war. Sein Name war Bruce und er ging auch auf unsere Schule, war aber zwei Klassenstufen über uns. Er wirkte ein bisschen arrogant und hatte wohl ein kleines Imageproblem damit, mit uns “Kleinen” zusammen gesehen zu werden, aber er schien Susi sehr gerne zu haben. Auffällig war auch, dass er sehr gut gekleidet war und vermutlich wie Susi aus einer wohlhabenden Familie stammte. Mir gegenüber verhielt er sich ziemlich nett, aber das Wichtigste war, dass er offensichtlich Susi glücklich machte und das war definitiv ein Pluspunkt. So fröhlich hatte ich sie noch nie erlebt und wir übrigen würden uns schon noch alle an ihn gewöhnen und er sich auch an uns.
Zwei Wochen später hatte sie ihn dann überredet, sich in der Mittagspause auch an unseren Tisch zu setzen. Für mich war das eher unangenehm, denn der einzige freie Platz war der von Lissie und irgendwie wollte ich nicht, dass sich jemand darauf setzte. Schließlich war es Paulina, die bisher neben Susi saß und nun neben mir auf Lissies Stuhl platz nahm. Das war dann gerade so für mich akzeptabel. Ich mochte Paulina, auch wenn ich in ihr noch nicht genauso eine Freundin sehen konnte, wie in Lissie, aber ich wusste, dass sie uns beiden sehr fehlte. Vielleicht war es auch gut, dass sie nun hier an meiner Seite saß und womöglich half es uns gleichermaßen. Außerdem war ja ab sofort unser Tisch mit vier Pärchen voll besetzt und das hatte auch etwas schönes.
Dad hatte das neue Mitglied in
meinem Freundeskreis natürlich überprüft und mir dann
bei einem unserer Waldläufe ein wenig über ihn erzählt.
Er meinte, dass Bruce wohl ein wenig versnobt wäre, aber dass er
und Susi sich wirklich gut verstehen würden. Sie würden im
Grunde beide denken, dass sie den beziehungsweise die Richtige
gefunden hätten. Es störte mich ein wenig, dass er nicht
von Liebe sprach, aber wenn es das war, das die beiden wollten, dann
sollte es mir auch recht sein.
Das Schuljahr war nun fast zu Ende und es war nur noch eine Woche bis zu den Sommerferien. Die Prüfungen waren alle absolviert und die Stimmung in der Klasse entsprechend entspannt und erleichtert. Das war auch in unserer Kantinenrunde so, da alle ziemlich gut gelaunt waren und die Versetzung geschafft hatten. Das Hauptgesprächsthema waren jetzt die bevorstehenden Sommerferien und wer wohin in Urlaub fahren würde.
In meiner Familie stand für Em, Rose, Jazz, und Alice natürlich ein Jagdurlaub auf dem Plan. Ein bisschen wunderte ich mich schon, dass sich das Grüppchen Emmetts Verlangen nach Bären so unterordnete, aber irgendwie war das auch ziemlich toll, dass es da nicht wirklich Diskussionen gab, da jeder wusste, wie viel es ihm bedeutete. Diesmal sollte die Reise nach Russland gehen, oder besser gesagt nach Kamtschatka. Dort sollte es ähnlich große Bären wie in Alaska geben und Emmett freute sich schon darauf, wie ein Kleinkind auf Weihnachten. Natürlich gab es dort auch andere Wildtiere wie zum Beispiel eine besonders große Art von Elchen. Rosalie meinte zu mir, dass die noch größer als Wapitis sind und bestimmt mindestens genauso lecker schmecken würden. Alleine bei der Vorstellung davon lief mir das Wasser im Mund zusammen und Emmett fragte mich jeden Tag, ob ich nicht mitkommen wollte. Die unberührte Natur dort soll auch atemberaubend schön sein und ich hatte wirklich große Lust mitzugehen.
Andererseits wollte ich aber auch gerne meine Ferien mit Gabriel verbringen, denn darauf hatte ich nicht weniger große Lust. Mom meinte dann, dass wir ja vielleicht zwei Wochen zusammen mit den Anderen Urlaub machen könnten und dann den Rest der Ferien hier verbringen. Das schien mir ein guter Kompromiss zu sein und ich stimmte dem zu, worüber sich Emmett und Rosalie riesig freuten. Auch Carlisle und Esme gefiel die Idee und sie wollten dann auch die zwei Wochen mitkommen, wenn es uns recht wäre. Das was natürlich total albern, denn warum um Himmels Willen sollte uns das nicht recht sein? Ein richtiger Familienurlaub, bei dem allen zusammen ihren Spaß hatten, musste einfach genial werden.
Da wir gleich am Freitagabend nach dem letzten Schultag abfliegen würden, wollte ich unbedingt den letzten Samstag ganz mit Gabriel alleine verbringen und ich freute mich sehr darauf. Es war Mitte Juli und recht warm. Die Sonne würde heute wohl nicht heraus kommen, aber es würde definitiv nicht regnen. Ich wollte auch unbedingt mal wieder einen Rock tragen, weil ich das schon so lange nicht mehr gemacht hatte und das Wetter war gut genug dafür. Natürlich könnte ich das auch im tiefsten Winter machen, aber ich wollte ja nicht auffallen und so freute ich mich über die Gelegenheit, es endlich wieder problemlos machen zu können.
Der Jagdausflug am Morgen war nett, aber ohne besonderen Leckerbissen. Dafür würde ich mich aber nächste Woche mit einem Elch entschädigen. Ich war ja so gespannt, wie der schmecken würde. Emmett redete auch ständig auf mich ein, dass ich unbedingt auch einen von diesen Kamtschatka-Bären probieren sollte und ich sagte ihm zu, dass ich mal einen kosten würde, wenn er dafür endlich Ruhe gäbe. Daraufhin grinste er nur noch breit und schwieg ansonsten.
Als Gabriel dann wie üblich gegen 14.00 Uhr bei uns ankam, fielen ihm fast die die Augen aus dem Kopf, als er mich zum ersten Mal in dem Rock und dem knappen T-Shirt sah. Ich hatte ja gehofft, dass es ihm gefallen würde, dass er mich aber so sprachlos anstarren würde, hatte ich nicht erwartet. Ich fand das aber richtig klasse, denn das war so ziemlich das stillste Kompliment, das er mir jemals gemacht hatte und ich wurde knallrot deswegen. Rosalie und Alice, die gerade die Treppe herunterkamen, hatten ein unverschämt breites Grinsen auf dem Gesicht.
»Hey Süße. Wir
machen eine kleine Spitztour mit meinem Auto. Das Wetter ist ja echt
perfekt dafür.«
»Äh ja, Rose. Viel Spaß«,
sagte ich kurz angebunden, schnappte schnell Gabriels Hand und zog
ihn an meinen kichernden Tanten vorbei in mein Zimmer.
Dort begrüßte ich dann meinen Freund erst mal richtig. Zielsicher legte er seine Hände auf die frei Haut an meiner Taille, als ich die Arme um seinen Hals legte, um ihn zu küssen. Es fühlte sich so gut an, dass ich gar nicht anders konnte, als meine Hände in seinen tollen blonden Locken zu vergraben. Mir war total heiß und trotzdem hatte ich eine irre Gänsehaut. Ich war einfach verrückt danach, seine Hände auf meiner Haut zu spüren, seine Lippen zu schmecken und ihn zu riechen.
Nach einigen Minuten der innigen Begrüßung, löste ich mich kurz von ihn und machte Musik an. Ein flüchtiger Blick auf seine Hose verriet mir deutlich, dass es ihm bisher wohl mindestens genau so gut gefallen hatte wie mir und ich hatte so eine leichte Ahnung, dass die Hitze in meinem Gesicht heute nicht so schnell nachlassen würde. Dabei war das nicht die einzige Körperregion, in der ich Hitze verspürte. Ich hatte so ein starkes Bedürfnis, ihm nahe zu sein, dass ich es kaum aushalten konnte. Ich hatte das Gefühl, innerlich zu verbrennen und es kribbelte mich überall. Wie gerne würde ich mit ihm weiter gehen. Wie gerne würde ich seine Hände überall auf meinem Körper spüren und wie gerne würde ich ihn überall berühren.
Obwohl ich das so sehr wollte, oder vielleicht gerade deswegen, hatte ich nach wie vor auch Angst davor, dass wieder etwas passieren könnte. Ob es ihm genauso ging? Unternahm er deshalb keine Versuche weiterzugehen? Wartete er vielleicht darauf, dass ich den nächsten Schritt machte? Ich hatte im Training mit Jasper inzwischen so große Fortschritte gemacht, dass ich mir sehr sicher war, dass ich die Kontrolle behalten würde und ich wollte wirklich sehr gerne noch intensiver mit ihm zusammen sein.
Gerade als ich überlegte,
ob ich ihn zum Schmusen lieber auf mein Bett ziehen oder ihn auf
meinen Schreibtischstuhl schieben und mich auf seinen Schoß
setzten sollte, fragte er mich plötzlich, ob wir vielleicht eine
kleine Radtour in den Wald machen wollten. Das wäre mir jetzt
zwar nicht in den Sinn gekommen, aber an meinem besonderen Platz
hatten wir schließlich auch schon sehr viel Spaß zusammen
gehabt und vielleicht wollte er genau deshalb dort hin. Diese
Vorstellung fachte das Kribbeln in mir noch stärker an und ich
stimmte zu.
Auf der Fahrt redeten wir kaum miteinander, warfen uns aber häufig verliebte Blicke zu, zumindest empfand ich das so. Ich war so aufgeregt und das Fahrradfahren war nicht gerade geeignet, um das prickelnde Gefühl in mir zu beruhigen. Wir fuhren sehr schnell und brauchten nur eine Dreiviertelstunde bis zu meinem Platz. Den Weg kannte er inzwischen ziemlich gut und ich musste nicht ein mal die Führung übernehmen. Als wir von den Rädern abgestiegen waren und uns ein wenig reckten und streckten, schlug er sich plötzlich mit der Hand in den Nacken.
»Verdammt. Warum müssen
mit dem Sommer auch immer die Mücken kommen.«
»Mücken?«,
fragte ich überrascht.
»Ja. Diese kleinen surrenden
Monster, die immer juckende Stiche hinterlassen. Du willst mir doch
nicht erzählen, dass du noch nie von einer gestochen
wurdest.«
»Nicht das ich wüsste«,
antwortete ich ehrlich. »Die kommen bestimmt nicht durch meine
Haut.«
Gabriel schaute mich verwundert an und dann fing er gleich an laut zu lachen.
»Kommen nicht durch meine Haut«, wiederholte er noch immer lachend und mit einem Kopfschütteln und da wurde mir erst bewusst, was ich da unvorsichtiger Weise gesagt hatte.
Unsicher, wie ich mich jetzt verhalten sollte, lächelte ich ihn nur verlegen an.
»Vielleicht hast du ja kein süßes Blut?«, meinte er grinsend und ergänzte dann noch: »Aber das kann ich mir kaum vorstellen, so süß wie du bist. Weiß der Geier, warum die blöden kleinen Blutsauger es immer auf mich abgesehen haben. Glaubst du mein Blut ist süßer?«
Ich musste schlucken und durch die aufblitzende Erinnerung an den Unfall und den Geschmack seines Blutes, fing meine Kehle leicht an zu brennen. Oh Himmel, was sollte ich denn jetzt sagen? Die Wahrheit? “Gabriel, dein Blut ist das köstlichste, das ich jemals getrunken habe, aber es war auch eine der schlimmsten Erfahrungen meines Lebens.”? Das konnte ich doch nicht sagen, oder?
Mir wollte einfach nichts einfallen und ich war total verunsichert. Gabriel musterte mich irritiert und bekam dann plötzlich große Augen.
»Scheiße Nessie, das
habe ich nicht so gemeint. Entschuldige, daran habe ich jetzt
wirklich nicht gedacht. Ich hab’ das doch schon längst
vergessen.«
»Bist du sicher, Gabriel? Hast du nicht
vielleicht doch noch Angst davor, dass so ein Unfall noch mal
passieren könnte?«
»Nein Nessie, habe ich nicht.
Wenn du davon überzeugt bist, dass es nicht wieder geschehen
wird, bin ich es auch. … Bist du?«
Ja das war ich und
ich nickte ihm zu.
»Und du würdest es gerne erneut
versuchen, oder?«, fragte er nach.
Ich zögerte kurz, doch ich war mir dessen auch sicher und nickte noch einmal.
»Dann zeig’ es mir«, sagte er und ging zu meinem Baumstamm.
Er zog sich sein Poloshirt über den Kopf und stand plötzlich mit nacktem Oberkörper vor mir. Dann setzte er sich auf den Stamm, nahm die Hände hinter den Rücken und schaute mich abwartend an.
Wollte er das wirklich? Ich war total aufgeregt und ging zögerlich auf ihn zu. Er machte das doch jetzt nicht nur, um mir etwas zu beweisen, oder? Sein Lächeln wirkte jedenfalls sehr echt und seine kleinen Grübchen zogen mich magisch an. Er saß einfach da und wartete auf mich. Schnell überprüfte ich seinen Herzschlag, die Atemfrequenz, seinen Geruch. Er war definitiv aufgeregt, aber nicht ängstlich. Er wollte es wohl tatsächlich und das machte mich sehr glücklich.
Ich stellte mich vor ihn und zog ebenfalls mein T-Shirt über den Kopf. Ich spürte förmlich seinen Blick auf meinem BH und bekam wieder eine Gänsehaut. Auch ich schaute ihn mir genau an, betrachtete auch die Narbe an seiner Schulter, die ich verursacht hatte. Er wusste sicherlich, was ich mir da gerade ansah, doch es schien ihm nichts auszumachen. Das schenkte mir Mut und ich setzte mich vorsichtig auf seinen Schoß. Dann rutschte ich dicht an ihn heran, denn ich wollte ihn so sehr ganz nah spüren. Er roch einfach umwerfend gut und ich schaute ihm tief in die stahlblauen Augen, während ich sein Gesicht streichelte. Wie ich seine strahlenden Augen liebte. Sie ersetzten mir den klaren blauen Himmel, den ich nur so selten zu Gesicht bekam und schienen doch so unergründlich zu sein, wie der tiefste Ozean.
Ich legte die Arme um ihn und küsste ihn direkt auf die pochende Halsschlagader. Ich musste das einfach tun, um mir selbst zu bestätigen, dass ich alles unter Kontrolle hatte. An dieser wunderbaren Stelle, wo die Haut so unheimlich dünn über dem köstlichen Lebenssaft lag, konnte ich sein leckeres Blut praktisch schon schmecken. Ich spürte das Verlangen in mir, ihn zu beißen, doch dem würde ich niemals nachgeben. Mit einem guten Gefühl drehte ich den Kopf zu Seite und legte ihn in seiner Halsbeuge ab. Dann spürte ich, wie er an meinem Haar schnupperte und musste grinsen. Es gefiel mir unendlich gut, dass er meinen Geruch so sehr mochte.
»Hallo meine Blume«, hauchte er mir ins Haar. »Schön dass du da bist.«
Ich richtete mich wieder auf und drückte meine Stirn gegen seine und unsere Blicke schienen zu verschmelzen. Dann griff ich zu seinen Armen, die er immer noch hinter seinem Rücken verschränkt hatte, holte sie nach vorne und legte sie auf meine nackte Taille.
»Du magst mich doch
streicheln, oder?«, fragte ich vorsichtig.
»Oh Nessie.
Du hast ja keine Ahnung wie sehr ich das will.«
»Dann
tu es einfach, Gabriel. Ich will von dir gestreichelt werden. …
Überall.«
Noch bevor er etwas auf das letzte Wort erwidern konnte, drückte ich meine Lippen auf seine und küsste ihn innig. Dabei fuhr ich ihm mit den Händen durch die Haare, was ich so sehr liebte. Er zögerte nur kurz, doch dann schickte er seine Hände auf eine Reise über meinen Rücken. Die Schmetterlinge in meinem Bauch wurden wieder richtig aktiv und ich genoss seine Berührungen so sehr.
Wir küssten uns unglaublich leidenschaftlich und ich spürte das lodernde Feuer in mir brennen. Er war zweifellos auch sehr erregt, denn ich konnte an meiner intimsten Stelle spüren, wie es unter mir pochte. Seine Hände streichelten immer wieder an meinem Rücken hinauf und wieder hinab zu meinem Hintern und hinterließen eine prickelnde Spur. Dann fuhr er plötzlich über meine Hüfte die Beine entlang und dann wieder zurück. Ob es Absicht war oder ein Versehen konnte ich nicht sagen, aber als ich seine aufregenden Finger plötzlich unter meinem Rock an meinem nackten Po fühlte, durchzuckte es mich heftig und ich schreckte hoch. Sofort zog er die Hände zurück, doch ich packte sie schnell an meinen Oberschenkeln.
»Entschuldige Nessie, ich …«
Nein, ich wollte jetzt keine Entschuldigung hören und verschloss seinen Lippen wieder mit einem Kuss. Woher sollte er denn wissen, das ich nur einen Stringtanga trug und außerdem hatte ich ihm gesagt, dass ich überall gestreichelt werden wollte, auch wenn es mich überrascht hatte, dass er es tatsächlich machte. Doch ich wollte das wirklich und schob seine Hände langsam wieder dort hin zurück, wo ich sie wieder spüren wollte und er ließ es zu und stöhnte mir dabei in den Mund.
»So ist das also«, hörte ich plötzlich eine Stimme, die mir das Blut in den Adern gefrieren ließ.
“Lennox”, schoss es mir durch den Kopf und ich sprang von Gabriels Schoß, der vollkommen verwirrt versuchte, sich zu orientieren. Mein Blick wanderte in die Richtung, aus der ich die Stimme gehört hatte und dort stand er, neben der Felswand auf einer kleinen Anhöhe. Er trug die rotschwarze Lederjacke, die ich ihm geschenkt hatte und die ihm so gut stand, aber jetzt wirkte er bedrohlicher, als ich ihn in Erinnerung hatte. Sein feuriger Blick musterte mich und mir wurde sehr unwohl dabei. Schnell griff ich mein T-Shirt und zog es mir über. Auch Gabriel hatte inzwischen realisiert, dass wir nicht alleine waren und stand auf.
»Was willst du hier,
Lennox«, fragte ich und versuchte dabei ruhig und sachlich zu
klingen.
»Was denn, was denn, meine Hübsche. Kein
Begrüßungskuss?«
»Bestimmt nicht. Was
willst du hier«, erwiderte ich jetzt etwas aggressiver.
»Was
ich hier will? Dich natürlich. Ich bin deinetwegen wieder hier.
Ich habe dich vermisst. Wir gehören zusammen, schon
vergessen?«
»Vergiss es, Lennox. Ich werde niemals mit
dir zusammen sein.«
»Oh doch, das wirst du, sobald ich
dieses Menschlein da aus dem Weg geräumt habe. Willst du deinen
Snack nicht mit mir teilen, Nessie? Ich habe Hunger.«
Seine Stimme war rücksichtslos und verhöhnend und mir lief ein kalter Schauer über den Rücken.
»Lass’ Gabriel in Ruhe«, sagte ich wütend und gleichzeitig halb verzweifelt.
Wie sollte ich denn Gabriel gegen Lennox verteidigen können? Ich stellte mich vor ihn und nahm schützend die Hände nach hinten, um ihn in Sicherheit zu halten. Mom hatte das oft im Kampftraining mit mir gegen Jasper gemacht, aber ich war bei weitem nicht so gut wie Mom. Ich konnte nur hoffen, dass er auch bei weitem mich so gut wie Jasper war.
»Was soll das, Nessie. Mit dem Freak werde ich schon alleine fertig«, sagte Gabriel und versuchte meine Arme wegzudrücken, was ihm natürlich nicht gelang.
Ich konnte das jetzt einfach nicht zulassen, auch wenn meine Tarnung dadurch verloren gehen würde. Sein Gesicht spiegelte jetzt sicherlich große Verwunderung wieder, denn es musste für ihn unbegreiflich sein, warum er meine nach hinten gebogenen Arme nicht einfach wegschieben konnte. Lennox grinste ihn dabei kalt und gemein an.
»Wen nennst du hier einen
Freak, du Wurm. Weißt du denn nicht, was ich bin? Hat dir deine
kleine Freundin nicht erzählt, was sie ist?«
»Lennox
hat die Klappe«, rief ich schon fast hysterisch.
»Ah!
Ich verstehe. Sie spielt dir noch immer den Menschen vor, was?«
»Hör’
auf!«, brüllte ich. »Das kannst du doch nicht
machen.«
»Warum denn nicht?«, erwiderte er mit
einem fiesen Grinsen. »Glaubst du etwa, ich lasse ihn das
weitererzählen?«
»Lennox bitte, lass’
Gabriel gehen. Ich tue auch alles was du willst.«
»Oh,
das wirst du ganz bestimmt, sobald er tot ist.«
»Nein!
Wie kannst du das nur glauben? Das kann doch nicht dein Ernst
sein.«
»Doch und du wirst es schon spüren, wenn
es getan ist.«
Plötzlich rannte Lennox auf uns zu, den Blick auf Gabriel geheftet und mit gefletschten Zähnen. Blitzschnell nahm ich die Hände nach vorne, ging einen Schritt auf ihn zu und schleuderte Lennox mit aller Kraft weg. Er flog durch die Luft, schlug auf dem Boden auf und schlitterte gegen einen Baum, der dadurch heftig ins Wanken geriet. Ich wusste nicht, wie viel Zeit ich hatte, aber Gabriel musste so schnell wie möglich verschwinden. Ich drehte mich zu ihm um und sah seinen entsetzten Blick, der mir im Herzen weh tat. Seine Augen waren weit aufgerissen und er starrte mich regungslos an.
»Gabriel du musst schnell weg von hier«, sagte ich und griff nach seinen Armen um ihn in Richtung Fahrrad zu schieben.
Als ich ihn berührte zuckte er stark zusammen und schaute erschrocken.
»Es tut mir leid, Gabriel. Ich erkläre dir alles später, doch jetzt fahre so schnell wie du kannst und sage meinen Eltern, dass Lennox zurück ist. Hast du verstanden?«
Er schaute mir tief in die Augen, als ob er versuchen würde, meine Seele zu ergründen, doch ich erkannte auch, dass er Angst hatte.
»Schnell Gabriel, bitte beeil’ dich«, sagte ich flehend und schließlich nickte er und griff nach dem Rad.
Sofort wendete ich mich wieder Lennox zu, der inzwischen aufgestanden war und mich wütend ansah. Hinter mir hörte ich Geräusche von Gabriel, der gerade losfuhr.
»Glaubst du ernsthaft, der
könnte mir auf einem Fahrrad entkommen?«
»Lennox
bitte, tu das nicht.«
»Daran bist du ganz alleine
schuld. Wenn du bei mir geblieben wärst, dann wäre es nie
soweit gekommen.«
»Dann bleibe ich jetzt bei dir,
O.K.?«
»Für wie blöd hältst du mich?
Deine Liebe zu ihm hat verhindert, dass du bei mir geblieben bist,
obwohl er mit dir Schluss gemacht hatte. So lange er lebt, wirst du
nie mir gehören.«
»Lennox nein. Ich flehe dich
an. Lass’ ihn in Ruhe.«
»Das ist unmöglich«,
sagte er kalt und rannte wieder los.
Er hatte wohl aus seinem ersten Fehler gelernt und rannte nicht direkt an mir vorbei, sondern versuchte einen Bogen um mich zu machen. Er war schnell, aber nicht schnell genug und es war leicht zu durchschauen, was er vorhatte. Ich konnte ihm den Weg abschneiden, sprang ihm in die Beine und riss ihn zu Boden. Sofort griff ich unter sein Hosenbein, packte seine Wade und schickte ihm eine Übertragung. Ich wollte, dass er sich schwach und hilflos fühlte und das Erste, das mir dazu in den Sinn kam, waren die Albträume wegen Lissies Tod.
»Was … machst … du … mit … mir«, stöhnte er und versuchte sich zu befreien, aber seine Bewegungen waren zu langsam und unkoordiniert.
Es schien zu funktionieren, aber es war sehr anstrengend. Diese Albträume wieder aufzurufen war hart für mich und ich war gezwungen, sie immer zu wiederholen. Gleichzeitig musste ich darauf achten, dass er sich nicht losreißen konnte. Ich musste all meine Konzentration aufbringen, um ihn unter Kontrolle zu halten.
Jasper würde jetzt bestimmt von mir erwarten, dass ich Lennox tötete oder ihm zumindest ein Bein ausreißen würde, um ihn unschädlich zu machen, doch das konnte ich einfach nicht. Irgendwie mochte ich Lennox noch immer und jetzt, da ich ihm so nahe war, spürte ich das wieder sehr intensiv. Ich konnte ihn nicht umbringen und ich wollte ihn auch nicht schwer verletzen. Wenn Gabriel bei uns zu Hause angekommen war, würde sicherlich die ganze Familie hierher kommen und Lennox töten. Wie lange würde Gabriel wohl brauchen? In einer halben Stunde müsste er doch in der Reichweite meines Dads sein, oder? Spätestens dann müsste ich Lennox fliehen lassen.
»Lass’ … mich
… los«, knurrte er, doch ich hielt in weiter fest und
konzentrierte mich wieder stärker auf meine Gabe.
Die Minuten vergingen und es fiel mir immer schwerer die Oberhand zu behalten. Ich wurde stetig müder und bekam allmählich Probleme damit, die Übertragungen reibungslos und wirksam ablaufen zu lassen. War es jetzt lange genug? War Gabriel in Sicherheit und meine Familie vielleicht schon auf dem Weg hierher?
Plötzlich riss er sich in einem unkonzentrierten Moment mit einem Bein von mir los und trat kräftig nach mir. Er traf mich an der linken Schulter und ich spürte einen brutalen Schmerz und hörte ein dumpfes knackendes Geräusch. Es tat fürchterlich weh und ich konnte meine Gabe nicht länger einsetzen. Ich ließ ihn los, wich zurück und kniete mich hin. Den linken Arm hielt ich mir mit dem rechten an die Brust, um die Schulter ruhig zu stellen. Ich sah, dass sich ein Stück meines gebrochenen Schlüsselbeins durch die Haut gebohrt hatte. Mein Blut lief mir über die Schulter und erfüllte die Luft mit seinem Duft.
Lennox richtete sich auf und sah mich voller Wut an. Warum war er nur so zornig? Ich hatte ihm doch nicht wirklich ein Leid zugefügt und ich hatte ihn noch immer gerne.
»Lauf weg, Lennox. Meine
Familie wird bald hier sein. Bring’ dich in Sicherheit«,
bat ich ihn.
»Halt dein Maul«, brüllte er, sprang
mich an und schlug mir mit der Faust ins Gesicht.
Ich spürte den wuchtigen Treffer und ein Knirschen in meinem Kiefer. Gleichzeit flog ich rückwärts weg und schlug mit den Hinterkopf auf. Um mich drehte sich alles und ich schmeckte mein eigenes Blut. Dann spürte ich noch weitere Schläge oder Tritte an meinen Körper und einen, der meine Nase zertrümmerte und mir die Tränen in die Augen schießen ließ.
»Du hast alles kaputt gemacht«, brüllte er.
Seine kalte Hand griff nach meinem Nacken und zog mich hoch. Mein ganzer Körper schmerzte entsetzlich und ich wimmerte nur noch »Bitte«, doch er quetschte nur noch stärker mein Genick. Dann schleuderte mich aus der Drehung gegen die Felswand.
Hart schlug ich mit dem Rücken auf und wieder erschütterte mich das Bersten von Knochen. Dann fiel ich zu Boden und fühlte plötzlich keinen Schmerz mehr. Nur in meinem Gesicht pochte es heftig. Ich versuchte die Orientierung wieder zu finden und wollte mich aufrichten, doch meine Arme und Beine gehorchten mir nicht. Wieso spürte ich sie nicht mehr?
Durch meinen verschwommenen Blick sah ich Lennox auf mich zukommen.
“Oh bitte aufhören”, dachte ich nur. Kannte er denn keine Gnade, kein Mitleid? Was hatte ich denn nur getan, dass ich das verdiente? Warum war er denn so brutal zu mir?
»Warum musste es soweit
kommen?«, schrie er mich an. »Das ist alles deine Schuld.
Wenn ich dich nicht haben kann, dann niemand.«
»Bitte«,
jammerte ich mit letzte Kraft.
»Was bitte? … Hä?
… Bitte töte mich endlich? … Das kannst du haben.«
Wieder spürte ich seine kalte Hand an meinen Nacken die mich hochriss und erneut hörte ich ein Knirschen in meinem Körper, empfand aber keinen Schmerz mehr. Ich spürte fast gar nichts mehr, außer seiner kalten Hand und dem nassen warmen Gefühl auf meinem Gesicht das wohl von meinem eigenen Blut und meinen Tränen stammte.
»Das wollte ich schon lange tun«, sagte er herzlos und dann spürte ich einen schneidenden Schmerz an meinem Hals.
Es war sein Biss und schon im nächsten Augenblick saugte er kräftig das Blut aus mir heraus. Ich fühle den Unterdruck, der meinem Kopf und meiner Brust das Blut entzog. Mir wurde schwarz vor Augen und ich stand kurz davor, das Bewusstsein zu verlieren. Das Gefühl hielt aber nur einen Moment an und im nächsten schlug mein Kopf schon wieder auf dem Boden auf und ich hörte ein Würgen und Röcheln.
»Was … ist … das?«, ächzte er.
Ich versuchte meine Augen zu öffnen, doch alles drehte sich um mich. Nur schemenhaft sah ich, wie er ganz in meiner Nähe auf dem Boden kniete, eine Hand an der Kehle hatte und keuchte und hustete. Die Wunde an meinem Hals brannte grauenhaft und ich spürte, wie mein Blut pulsierend herausspritzte und eine klebrige Pfütze unter meinem Kopf bildete. Gleichzeitig fühlte ich eine eisige Kälte in mich kriechen, die einen grausamen Kontrast zu der warmen Blutlache bildete, in der ich lag. Es flackerte immer wieder vor meinen Augen und dann wurde plötzlich alles schwarz. Tiefe Dunkelheit umfing mich und ich nahm nichts mehr wahr.
Piep, Piep, Piep, Piep, Piep, …
“Was ist das für ein Geräusch?”, dachte ich verwirrt.
Irgendwie rauschte alles in meinem Kopf und ich konnte kaum klar denken. Hatte ich meinen Wecker auf Piepston umgestellt? Ich wollte zur Seite greifen, doch es ging nicht. Warum ging das nicht? War ich festgebunden? Warum war es nur so dunkel? Was war hier denn nur los? Ich verspürte Panik in mir aufsteigen.
»Carlisle!«, hörte ich plötzlich ein Brüllen und es tat in meinen Ohren weh.
“Au, nicht so laut”, dachte ich nur.
»Entschuldige Liebling«, sagte die Stimme jetzt sanft und ich erkannte sie.
“Bist du das Daddy?”
»Ja Schatz, ich bin hier.«
»Was ist? Hörst du sie etwa?«, das war Moms Stimme und ich wollte sie begrüßen, doch mein Mund gehorchte mir nicht.
“Verdammt, was ist denn los mit mir? Ich kann mich nicht bewegen und nicht reden, mir ist schwindlig und ich kann nichts sehen.”
»Ganz ruhig, Liebling. Habe Geduld, wir kriegen das wieder hin. Gott, ich bin so froh, dein Gedanken zu hören.«
»Oh Sternchen«, sagte meine Mom zittrig und ich wollte ihr so gerne antworten.
“Daddy, sag ihr bitte hallo Momma von mir.”
»Sie will, dass ich dir hallo Momma ausrichte.«
Ich hörte sie schluchzen und gleichzeitig eine Tür aufgehen und leise Schritte, die sich näherten.
»Sie kommt wieder zu sich, Carlisle. Sie kann uns hören, aber sich nicht bewegen oder sprechen.«
»Wie klar denkt sie?«
“Wie Kloßbrühe”, antworte ich im Gedanken und Dad lachte kurz.
Nun ja, das war sicherlich stark übertrieben. Mein Kopf tat weh und es rauschte in meinen Ohren. Irgendwie fühlte ich mich wie in Watte gepackt und obwohl ich nichts sehen konnte, hatte ich das Gefühl, dass ich in einem Karussell saß.
»Sie hat Kopfschmerzen und ist noch benommen.«
“Hey, du kannst doch nicht einfach so meinen Scherz unterschlagen”, dachte ich vorwurfsvoll.
»Ihr Humor scheint jedenfalls schon wieder gesund zu sein«, ergänzte Dad.
Ich spürte eine kalte Berührung an einem Auge und dann wurde es plötzlich furchtbar hell, so dass es richtig weh tat. Ich wollte das Auge schließen, doch ich hatte keine Kontrolle darüber.
»Das Licht tut ihr weh, Carlisle.«
»Das ist gut. Sehr gut sogar«, sagte er zufrieden klingend und schenkte mir wieder die Dunkelheit zurück.
“Was ist mit mir passiert?”
»Eines nach dem Anderen, Schatz. Jetzt machen wir dich erst mal wieder Gesund und dann wirst du alles erfahren, was du wissen willst.«
“Kannst du mir nicht wenigstens sagen wo ich bin?”
»Du bist zu Hause, mein Engel. Du bist zu Hause.«
Kurz darauf ging erneut die Tür auf und ich hörte weitere bekannte Stimmen und Daddy begrüßte sie für mich. Alle waren hier und schienen sehr aufgeregt zu sein und ich freute mich, dass sie da waren, auch wenn ich sie nicht sehen konnte.
Ich wusste nicht, was Carlisle da mit mir machte, aber ich spürte immer wieder mal etwas und das sagte ihm dann Daddy und Carlisle nahm es erfreut zur Kenntnis, zumindest hörte es sich so an. Nach einiger Zeit, wobei ich keine Ahnung hatte, wie viel Zeit vergangen war, konnte ich mit den Augen blinzeln, sah aber nur grelle helle Flächen. Dad gab das natürlich sofort weiter und Carlisle meinte nur, dass sich meine Augen erst wieder daran gewöhnen müssten. Ich blinzelte dann immer wieder ein wenig und allmählich gesellten sich auch dunkle Flächen zu den hellen und es bildeten sich Konturen.
Nach einer Weile spürte ich auch meinen Mund wieder und der war furchtbar trocken.
“Daddy, ich habe Durst. Kann ich bitte etwas zu trinken haben?”
»Sofort Schatz«, sagte er und dann hörte ich ein paar Geräusche, die ich nicht richtig einordnen konnte und spürte kurz darauf etwas an meinen Lippen, das sich wie ein Röhrchen anfühlte. Ich versuchte zu saugen und hatte sofort einen köstlichen Geschmack im Mund. Ich wusste genau was das war und erschrak deswegen.
“Daddy, das ist doch Menschenblut.”
»Ja Liebling und jetzt trink. Du brauchst die Energie.«
“Aber das ist doch falsch.”
»Bitte Nessie, es wird dir helfen und wir wissen doch, dass es dir nicht schaden kann.«
Damit war ich jetzt aber nicht einverstanden und weigerte mich. Ich schob das Röhrchen mit der Zunge aus meinem Mund heraus.
“Das geht doch nicht und seit wann haben wir Blutkonserven im Haus.”
»Bitte Schatz, tu mir das jetzt nicht an.«
»Was ist los?«, hörte ich Mom besorgt fragen.
»Sie will die Blutkonserve nicht.«
»Was? Sternchen bitte, du musst das trinken. Ich bewundere deinen Willenskraft, dass du selbst jetzt das Blut verweigern kannst, aber das ist ganz falsch. Bitte Sternchen, bitte. Tu es für mich.«
Wieder spürte ich das Röhrchen an meinen Lippen und eine kühle Hand, die mein Gesicht streichelte. Wenn selbst Mom der Meinung war, dass ich das trinken sollte, wo sie doch immer strickt dagegen war, dann musste es wohl wirklich wichtig und richtig sein. Also fügte ich mich und trank. Es schmeckte wahrlich hervorragend und es belebte mich zusehends. Plötzlich spürte ich auch etwas kaltes an meiner Hand und versuchte es zu greifen.
»Edward, sie drückt meine Hand«, rief Mom erfreut und ich freute mich mit ihr. »Trink weiter mein Schatz, trink.«
Sie gab mir noch weitere Blutkonserven zu trinken und ich fühlte mich schon ziemlich gut. Ich spürte meine Hände wieder und wenig später auch meine Beine. Mom ließ mich wohl jede Stunde eine weitere Konserve trinken und mein ganzen Körpergefühl schien mit der Zeit zurückzukehren. Bald konnte ich die Finger wieder richtig bewegen und spürte das weiche Bettlaken, aber vor allem Moms Hand, die stundenlang meine hielt und sie nur losließ, um mir wieder etwas zu trinken zu holen. Ich konnte es auch wieder richtig fühlen, wenn sie mein Gesicht streichelte und mich küsste. Auch meine Augen funktionierten wieder besser. Ich konnte zwar noch nicht richtig scharf sehen, aber es war toll, als ich meine Eltern wieder vor mir erkennen konnte und sah, wie glücklich sie mich anlächelten, als ich »hallo« sagte. Meine Stimme klang noch rau und ein wenig fremd, aber das würde sich bestimmt auch bald geben. Wie lange lag ich denn schon hier? Es kam mir wie eine Ewigkeit vor, die zwischen dem ersten klaren Gedanken und dem ersten selbst ausgesprochenem Wort lag.
Ich erkannte jetzt auch, wo ich war. Ich lag in einem Krankenbett in Carlisles Behandlungszimmer, allerdings war mir neu, dass hier so ein Bett stand. Nur warum ich hier war, wusste ich noch nicht. Was war denn mit mir geschehen?
Langsam hob ich einen Arm und fuhr mir mit einer Hand über die Stirn. Ich massierte mir die Schläfen und entdeckte dabei an meinem Handgelenk ein silbernes Armkettchen mit einem Herzanhänger, der vor meinen Augen baumelte. Ich erkannte es und sofort fiel mir wieder ein, dass Gabriel es mir geschenkt hatte. Auf einmal strömte eine Flut von verschwommenen Erinnerungen auf mich ein und ich musste um Luft ringen.
»Was hast du Kleines?«, fragte Mom besorgt und ich schaute sie mit weit aufgerissenen Augen an, noch immer bemüht, meine Gedanken zu ordnen.
»Sie erinnert sich«, meinte Dad und sofort war Carlisle an seiner Seite und musterte mich.
Auch alle Anderen kamen näher, doch ich konnte sie nicht richtig beachten. All die Bilder und Gefühle prasselten auf mich ein und ergaben nur allmählich einen Zusammenhang. Dann wurde es klarer und ich wusste wieder, dass ich mit Gabriel an meinem Platz war und dass Lennox später dazu kam und ihn töten wollte.
»Was ist mit Gabriel?«, rief ich und richtete mich halb auf, doch Carlisle drückte mich sofort wieder zurück ins Bett.
Viele besorgte Augen waren auf mich gerichtet.
»Ganz ruhig, Liebes. Du wirst alles erfahren, was du wissen willst. Gabriel ist wohlauf und bei sich zu Hause.«
»Er ist bei sich zu Hause?«, fragte ich ängstlich. »Aber was ist mit Lennox? Er wird ihn doch bestimmt jagen. Wir müssen Gabriel beschützen.«
Wieder versuchte ich mich aufzurichten, doch Carlisle ließ es nicht zu.
»Es droht keine Gefahr, mein Kind. Sei unbesorgt.«
»Keine Gefahr? Aber wieso? Was ist mit Lennox? Ich … Er … Was ist passiert? … Ich erinnere mich nur noch, dass er mich gebissen hatte.«
Mom und Dad schauten sich gegenseitig an. Manchmal hatte ich das Gefühl, Mom konnte auch seine Gedanken lesen, so wie die beiden vielsagende Blicke wechselten.
»Bitte, sagt es mir«, flehte ich.
»Sternchen, ich…«, fing meine Mom zögerlich an. »…ich habe Lennox getötet.«
»Du hast was?«, sagte ich entsetzt. »Aber warum denn? Ich wollte doch nicht, dass ihm etwas passiert.«
»Ich weiß Liebling, aber ich dachte, er hätte dich ermordet. Du lagst so übel zugerichtet, blutüberströmt und regungslos da, dass ich ihm ohne nachzudenken den Kopf abgerissen habe. Edward hatte noch versucht mich aufzuhalten, doch er konnte es nicht.«
»Nein Liebste, so stimmt das nicht ganz. Ich wollte in erst noch verhören, aber auch ich wollte ihn auf diese Weise gerichtet sehen.«
»Ihn verhören?«, fragte ich. »Warum das denn?«
»Ich war vielleicht eine halbe Minute vor Bella da. Ich hörte keine Gedanken mehr von dir und dachte, dass du tot bist. Lennox kniete neben dir und würgte dein Blut aus sich heraus. Als er mich sah, dachte er kurz, dass sein Auftrag gescheitert sei.«
»Was für ein Auftrag?«
»Genau das wollte ich auch herausfinden, packte ihn, und versuchte ihn dazu zu bringen, an seinen Auftrag zu denken, doch dann kam Bella dazu und beendete seine Existenz. Sein letzter Gedanke war nur, dass es so wohl besser war, als durch die Hand der Volturi.«
Lennox? Ein Auftrag? Die Volturi? Das ergab doch gar keinen Sinn. Er hatte doch so große Angst vor den Volturi, dass er deswegen keinen Kontakt zu meiner Familie haben wollte. Wie konnte das denn sein?
»Vielleicht wollte er nur, dass wir das glauben, denn in Wahrheit befürchtete er wohl, dass ich ihn schnell durchschaut hätte. Was auch immer der Grund war, er hatte versucht dich zu töten und dafür hat er seine gerechte Strafe erhalten.«
Lennox war tot und obwohl er mich fast umgebracht hatte, empfand ich Bedauern deswegen, doch damit wollte ich mich jetzt nicht beschäftigen. Noch andere Gedanken strömten auf mich ein und verlangten nach Antworten.
»Was ist jetzt mit Gabriel. Er hat doch gesehen, wie ich Lennox’ ersten Angriff abgewehrt habe. Habt ihr ihn über uns aufgeklärt?«
»Nein Liebes«, sagte Esme mit ruhiger und einfühlsamer Stimme. »Es war nicht der richtige Zeitpunkt und er war verstört und verängstigt. Ich habe ihm versprochen, dass wir alles aufklären würden und ihn gebeten, bis dahin Stillschwiegen zu bewahren.«
»Aber was denkt er denn jetzt?«
»Nun ja«, fuhr Dad fort. »Ich habe in der Schule seine Gedanken überwacht. Vor allem ist er verwirrt und weiß nicht, was er davon halten soll. Er ist nicht dumm und er hat sehr wohl erkannt, dass du kein normaler Mensch sein kannst und er geht auch davon aus, dass das für die ganze Familie gilt. Das macht ihm ziemliche Angst. Zumindest hat er niemandem davon erzählt, was sehr beruhigend ist. Am Montag ging ich vor der Schule zu deinen Freunden und sagte ihnen, dass du einen Unfall mit dem Fahrrad gehabt hättest. Bei der Version hat er es belassen und sich kurz bei mir nach dir erkundigt. Ich habe ihm gesagt, dass du schwer verletzt bist, dass ihm jetzt aber keine Gefahr mehr droht. Das hat ihn in seiner Annahme bestätigt, dass wir alle keine gewöhnlichen Menschen sein können und ihn sehr nervös gemacht. Auch wenn er verstanden hat, dass Lennox keine Bedrohung mehr für ihn ist, hat das seine Furcht nicht vertrieben. Jetzt in den Ferien war ich auch ein paar Mal in seiner Nähe, doch im Grunde hofft er nur, dass wir ihm nichts tun.«
»Aber wir würden ihm doch nie etwas tun. Hast du ihm das nicht gesagt?«
»Nicht direkt, Liebling. Es ist aber auch normal, dass er verängstigt ist.«
Das gefiel mir gar nicht, dass mein Gabriel sich vor uns fürchtete. Das musste doch nicht sein. Das sollte nicht sein. Das durfte einfach nicht sein. Ich nahm mir vor, die Ferien dazu zu nutzen, um ihm seine Angst zu nehmen. Er würde dann schon bald wissen, dass sich nichts zwischen uns geändert hatte. Aber Moment mal. Hatte Dad nicht gerade davon gesprochen, dass schon Ferien waren? Welches Datum hatten wir denn? Lag ich denn schon lange hier in diesem Bett? War ich die ganze Zeit bewusstlos?
»Wie lange war ich denn … weggetreten?«, fragte ich vorsichtig.
»Du warst sehr schwer verletzt, mein Kind«, meldete sich Carlisle wieder zu Wort. »Ich kam kurz nach Bella mit Emmett und Jasper bei dir an und erkannte, dass du noch am Leben warst. Ich versorgte deine Wunden und richtete deine Frakturen. Dein Wirbelsäule war mehrfach gebrochen, du hattest sehr viel Blut verloren und ich hatte große Sorge, ob deine Selbstheilungskräfte das alles wiederherstellen konnten. Dein starkes Herz schlug aber unermüdlich weiter. Ich besorgte sofort einige Blutkonserven, mit denen wir dich künstlich ernährten, damit du die nötige Energie erhältst, die dein Körper brauchte. Das hat zum Glück funktioniert. Seither sind knapp drei Wochen vergangen.«
Ich war drei Wochen bewusstlos? Das war so merkwürdig. Es fühlte sich nicht so an, als wäre das schon vor Wochen passiert. Eher so, als wäre es erst gestern passiert. Obwohl ich meine Beine wieder spürte, wackelte ich trotzdem vorsichtshalber mit den Zehen. Jetzt wo Carlisle mir von der gebrochenen Wirbelsäule erzählt hatte und ich mich daran erinnerte, wie ich das Gefühl in meinem Körper verloren hatte, wollte ich lieber auf Nummer sicher gehen. Ich lächelte zufrieden, als ich die Bewegungen der Decke sah und auch den Stoff an meinen Zehen spürte. Es fühlte sich eigentlich alles ganz normal an. Vielleicht ein wenig schwach, aber sonst schien es mir doch gut zu gehen.
Die Erinnerung an seine Schläge und Tritte machten mir allerdings doch noch ein wenig Sorge und Dad verzog angewidert das Gesicht, als er meine Erinnerungen mit ansehen musste. Ich betastete zögerlich mein Gesicht und sah dann plötzlich, wie Rose blitzschnell aus dem Zimmer verschwand und mich vier Sekunden später mit einem Spiegel in der Hand anlächelte. Erleichtert seufzte ich und lächelte zurück, als ich mein Spiegelbild betrachtete. Es war nichts zu sehen. Da waren noch nicht einmal Bissspuren an meinem Hals.
»Vampirgift scheint bei dir keine Narben zu hinterlassen«, antwortete Dad auf die nicht gestellte Frage. »Deine äußerlichen Verletzungen waren schon nach gut einer Woche vollständig verheilt und wir sind alle überglücklich, dass du jetzt auch wieder munter bist.«
»Dann bin ich wieder gesund?«
»Fast, Liebes«, antwortete Carlisle. »Du bist noch schwach und ich bitte dich, nichts zu überstürzen.«
»Darf ich vielleicht mal aufstehen und ein paar Schritte gehen?«
Carlisle seufzte und schüttelte lächelnd den Kopf.
»Das ist so ziemlich das Gegenteil von nichts überstürzen.«
»Oh bitte, Opa. Nur ein paar Schritte ja?«
Alle grinsten, weil ich ihn seit langer Zeit mal wieder Opa genannt hatte und obwohl ich genau wusste, dass er das ja eigentlich nicht mochte, sah er trotzdem belustigt aus.
»Also gut, meinetwegen. Aber bitte vorsichtig und langsam.«
Mom und Dad waren sofort ganz nah bei mir und passten auf mich auf. Behutsam richtete ich mich mit dem Oberkörper auf, drehte mich zur Seite und ließ die Beine aus dem Bett baumeln. Im ersten Moment wurde mir kurz ein kleines bisschen schwindelig, doch das legte sich ganz schnell. So zu sitzen fühlte sich schon mal ziemlich gut an und ich lächelte zufrieden. Dann rutschte ich nach vorne und ließ mich sanft auf meine Füße gleiten. Meine Eltern hatten vorsorglich sofort jeweils einen Arm ergriffen und stützten mich.
Meine nackten Füße auf dem kalten Fußboden zu spüren war ein belebendes Gefühl. Ich stand auf und war froh, dass ich gestützt wurde, denn ich war irgendwie wackelig auf den Beinen. Aber auch das legte sich schnell und ich fühlte mich sicher. Ich ging ein paar Schritte und bat meine Eltern dann, mich loszulassen, was sie nur sehr widerwillig taten. Dann ging ich der Reihe nach, so wie sie gerade da standen, von Einem zum Anderen und umarmte jeden. Sie alle lächelten mich glücklich an und erwiderten meine Umarmung sehr vorsichtig. Zuletzt umarmte ich noch mal meine Mom. Erst jetzt erkannte ich, dass ihre Augen sehr dunkel waren und nur noch ein minimaler, schmaler, brauner Rand zu sehen war. Ich erschrak fürchterlich. Solche Augen hatte ich schon einmal gesehen und das im Zusammenhang mit einer meiner schlimmsten Kindheitserinnerungen.
»Momma? Was ist mit deinen Augen? Hast du denn nichts getrunken?«
Sie schüttelte den Kopf und drückte mich dann vorsichtig an sich.
»Sie hat in den letzten drei Wochen nicht einmal diesen Raum verlassen«, erklärte Esme und hörte sich dabei gleichzeitig mitfühlend, als auch tadelnd an.
»Ach Momma«, sagte ich und versuchte sie fester zu drücken, was sie aufseufzen ließ.
Danach legte ich mich wieder ins Bett und Mom reichte mir gleich eine Blutkonserve zum trinken. Ich schaute in die Gesichter meiner Familie und freute mich, dass sie alle da waren und so erleichtert aussahen. Wenigstens hatten alle anderen außer Mom eine gesunde Augenfarbe. Sie hatten also die Jagd nicht vernachlässigt und das freute mich. Da fiel mir ein, dass die Familie doch eigentlich eine Urlaubsreise machen wollte. Sicherlich hatten sie die wegen mir abgesagt. Das war so doof, dass ich immer wieder Schuld daran war, dass sie aus Sorge um mich ihre Pläne änderten.
»Tut mir leid, Emmett«, sagte ich bedauernd und er sah mich überrascht an.
»Was tut dir leid, Süße?«
»Dass du wegen mir deinen Jagdurlaub noch nicht antreten konntest.«
»Jetzt hör’ aber auf«, sagte er, kam schnell zu mir und setzte sich auf die Bettkante.
»Aber ich weiß doch, wie sehr du dich darauf gefreut hast. Das tut mir echt voll leid.«
»Ach Nessie. Das ist doch alles unwichtig. Hauptsache dir geht es wieder gut.«
Während er das sagte, streichelte er mein Gesicht und ich griff gleich nach seiner Hand und schmiegte mich in sie. Ich mochte seine große Pranke so sehr. Schon als kleines Kind hatte ich mich gerne in seinen Arm gekuschelt. Ein wohliges Seufzen stahl sich aus meiner Brust.
»Bitte Emmett. Ich will nicht, dass du wegen mir auf deine Bären verzichten musst. Mir geht es doch wieder gut. Bitte, macht eure Reise, ja?«
»Erst wenn du wieder ganz gesund bist und mitkommst.«
»Aber das kann ich nicht. Wenn ich das richtig mitbekommen habe, dann sind schon zwei Wochen von den Ferien vorbei und jetzt muss ich mich doch um Gabriel kümmern. Ich will nicht, dass er Angst hat. Er soll spüren, dass sich nichts zwischen uns geändert hat. Das verstehst du doch, oder?«
Er schaute mich unglücklich an und das gefiel mir überhaupt nicht. Ich wollte doch, dass er seinen Spaß hatte. Er atmete schwer und sah mir merkwürdig in die Augen.
»Nessie, … als ich dich da so leblos und mit diesen entsetzlichen Wunden in deinen eigenen Blut liegen sah, war das der schlimmste Augenblick in meinem Leben. Ich habe keine Sekunde an irgendeinen bescheuerten Bären gedacht. Ich wollte nur, dass du wieder gesund wirst. Alles andere war unwichtig.«
Rosalie kam zu uns und fuhr ihm mit den Fingern durch das Haar. Dabei sah sie mich auch sehr mitfühlend an und nickte zustimmend.
»Hast du mich auch so gesehen?«, fragte ich sie vorsichtig.
»Nein Süße. Ich war mit Alice unterwegs. Erst als Emmett mich angerufen hat, sind wir sofort zurückgekommen, doch da warst du schon hier gelegen und Carlisle hatte deine Wunden bereits versorgt.«
Auch Alice sah jetzt sehr unglücklich und betroffen aus.
»Alice, du machst dir doch hoffentlich keine Vorwürfe, oder? Du kannst doch nichts dafür.«
»Ich weiß ja, aber es ist trotzdem furchtbar, dass ich dich nicht beschützen kann. Es quält mich.«
»Ach Alice, meine verrückte liebenswürdige Tante. Deine Selbstzweifel sind so was von unnötig. Das gilt für euch alle. Ihr könnt doch nichts dafür, was mir passiert ist. Ich liebe euch so sehr, weil ihr immer für mich da seid, doch ich will nicht, dass ihr euch meinetwegen Vorwürfe macht. Ich will euch glücklich sehen.«
»Das sind wir doch«, sagte Emmett. »Du wirst wieder gesund und das macht uns alle überglücklich.«
»Na, dann zeig’ es mir. Der Emmett, den ich kenne, der hält es vor Vorfreude kaum aus, endlich auf die Bärenjagd zu gehen. Das ist der Emmett, den ich so wahnsinnig gerne habe.«
Alle um mich herum lächelten und plötzlich schien die Stimmung irgendwie gelöster zu sein. Die Erleichterung war jedem anzumerken und alle kamen zu mir ans Bett, um mich noch mal zu Umarmen oder zu streicheln. Es fühlte sich so gut an, aber ich wollte auch unbedingt, dass Emmett, Rose, Alice und Jasper den Jagdurlaub antreten würden. Ich sprach das mehrmals an und forderte ihr Versprechen ein, dass sie bald in die Ferien fliegen. Wir einigten uns darauf, dass sie es tun würden, sobald ich richtig gesund war und selbst wieder jagen konnte. Darauf ließ ich mich gerne ein, denn so wie ich mich von Minute zu Minute besser fühlte, würde es nicht allzu lange dauern.
Ich hatte auch Carlisle gebeten, das nervende Piepsen abzustellen, was er schließlich auch machte. Für solche Überwachungsgeräte gab es nun wirklich keine Notwendigkeit mehr.
Nach einer Weile fragte ich auch in die Runde, ob es denn jemand unbedingt sehen möchte, was mir genau widerfahren war, doch das wollte zum Glück niemand. Ich hatte es auch nur gefragt, um es notfalls schnell hinter mich zu bringen, denn ich wollte es nicht wirklich zeigen, doch ich hätte es getan, wenn es verlangt worden wäre. So war es mir natürlich viel lieber.
Irgendwann wurde ich dann ziemlich Müde und nachdem ich ein paar Mal gegähnt hatte, forderte Carlisle alle auf, den Raum zu verlassen, damit ich schlafen konnte.
Mom weigerte sich und sah mich bittend an. Ich akzeptierte, unter der Bedingung, dass sie morgen wieder auf die Jagd gehen würde. Dem stimmte sie dann seufzend zu. Auch Dad wollte ich hier bei mir haben und der freute sich sehr darüber. Die Anderen küssten und streichelten mich noch mal und wünschten mir eine gute Nacht, bevor sie den Raum verließen. Dann war absolute Ruhe um mich und ich schlief sehr schnell ein.
Als ich wieder erwachte, war es noch dunkel, doch ich fühlte mich ausgeruht und meine Augen funktionierten wieder optimal. Ich konnte trotz der Dunkelheit alles erkennen und sah auch meine Eltern, die auf zwei Stühlen neben meinem Bett saßen, sich an den Händen hielten und die Köpfe aneinandergelegt hatten. Beide lächelten mich glücklich an. Ich reckte und streckte mich und richtete mich auf.
»Was hast du vor?«, fragte Mom besorgt.
»Na, aufstehen. Was sonst?«
»Aber Liebling«, mischte Dad sich ein. »Es ist doch noch mitten in der Nacht. Du solltest noch ein wenig schlafen.«
»Ach Daddy. Ich fühle mich, als hätte ich drei Wochen geschlafen«, sagte ich und grinste ihn verschmitzt an.
Er zog einen Mundwinkel hoch und lächelte mich schief an. Ich wusste, dass Mom dieses Lächeln liebte und auch mir gefiel es unheimlich gut. Schnell sprang ich aus dem Bett und auf seinen Schoß. Meine Eltern hatte meine überraschende Aktion jedenfalls sehr erschreckt und sie sahen mich vorwurfsvoll an.
»Was denn? Wäre es euch lieber, wenn ich zu schwach wäre, das zu machen?«
Dazu konnten sie natürlich unmöglich ja sagen und sie lächelten mich stattdessen halb gequält an. Zufrieden grinsend kuschelte ich mich in Daddys Umarmung und er fing gleich an mich zu streicheln. Mom sah ihn dabei neidisch zu und ich musste noch mehr grinsen.
Als ich das Gefühl hatte, dass sie es keine Sekunden länger aushalten konnte, gab ich meinem Dad einen Kuss und krabbelte auf ihren Schoß. Sie nahm mich sofort sehr behutsam in die Arme, was mir etwas zu behutsam war.
»Mom. Also entweder knuddelst du mich richtig, oder ich gehe wieder zu Daddy.«
»Aber Sternchen. Ich…«
»Was aber? Hast du keine Kraft mehr?«
»Doch aber…«
»Aber du weißt nicht mehr wie es geht?«
»Doch aber…«
»Aber du magst mich nicht mehr?«
»Was? Natürlich, aber…«
»Mom! Wie viele bescheuerte Antworten muss ich mir denn noch auf dein aber einfallen lassen, bis du mich endlich richtig fest in den Arm nimmst?«, fragte ich vorwurfsvoll und drückte sie meinerseits ganz fest, so dass ein kleines »uff« aus ihrem Mund kam.
Dann hatte sie es Gott sei Dank kapiert und ich spürte endlich die innige, liebevolle und kräftige Umarmung, nach der ich mich so gesehnt hatte. Glücklich schmiegte ich mich an sie.
Nachdem ich eine Weile die Nähe meiner Eltern genossen hatte, wollte ich endgültig aufstehen, denn ich hatte das Bedürfnis zu duschen und mich anzuziehen. Ich küsste Mom und Dad jeweils auf die Wange und lief dann schnell in mein Zimmer. Ich zog dieses merkwürdige Krankenhausnachthemd aus, das sie mir wohl angezogen hatten, als ich bewusstlos war. Dann stieg ich unter die Dusche und ließ das heiße Wasser über meiner Haut laufen. Ich wusch mich gründlich und betrachtete mich danach von Kopf bis Fuß im Spiegel. Es war wirklich nichts von dem zu sehen, was mit mir passiert war. Dann zog ich mich an und entschied mich dabei für eine Hose und eine Bluse, denn auf einen Rock hatte ich heute irgendwie keine Lust. Anschließend ging ich wieder nach unten, wo schon die gesamte Familie auf mich wartete. Ich winkte ihnen fröhlich zu und sie alle wirkten sehr glücklich.
Ein Blick auf die Uhr verriet mir, dass es halb fünf am Morgen war.
»Was für ein Tag ist heute eigentlich?«
»Es ist Samstag der 4. August«, antwortete Dad.
»Und wie wird das Wetter heute?«
»Bewölkt mit leichtem Nieselregen«, sagte Alice sofort.
»Na, das ist ja perfekt.«
»Wieso perfekt?«, fragte Rosalie interessiert.
»Weil Samstag doch immer unser Jagdtag ist und Mom muss dringend jagen und ihr macht den Urlaub wie versprochen, wenn ich auch gejagt habe. Das können wir dann heute alles auf einmal erledigen und dann ist alles so, wie es sein soll.«
Einige schüttelten grinsend den Kopf, doch ich ließ keine Widerrede gelten. Ich war fest entschlossen jetzt auf die Jagd zu gehen und meine Familie fügte sich meiner Entscheidung.
Der Jagdausflug war auch richtig toll. Nachdem mir alle dabei zugesehen hatten, wie ich mich an einem stattlichen Hirsch gesättigt hatte, war auch Mom endlich bereit, sich die Beute zu holen, die sie brauchte. Dad war sehr gewissenhaft und prüfte mehrmals ihre Augen. Erst als er wirklich sicher war, dass sie genug getrunken hatte, machten wir uns wieder auf die Heimfahrt.
Wir kamen zur Mittagszeit wieder nach Hause und Emmett machte sich zusammen mit Alice sofort wie versprochen daran, den Flug nach Petropawlowsk zu buchen. Je mehr er sich mit dem Gedanken anfreundete, desto mehr schien er sich jetzt doch auf die Bären zu freuen und das gefiel mir außerordentlich gut. Sie hatten alle so viel wegen mir durchgemacht und sich den Urlaub redlich verdient. Im Grunde wäre ich auch wirklich gerne mitgekommen, doch ich hatte andere Pläne. Ich musste das mit Gabriel wieder geradebiegen und ich wusste noch nicht so recht, wie ich das anstellen sollte. Vielleicht sollte ich mich einfach mal telefonisch bei ihm melden und dann ein Treffen vereinbaren, bei dem ich ihm alles erklären könnte.
Ich besprach mich noch mit meiner Familie, ob ich Gabriel die Wahrheit sagen dürfte, doch die Reaktionen waren nicht so, wie ich es erhofft hatte. Sie waren schon alle froh, dass er die Sache bisher für sich behalten hatte, aber auch sehr skeptisch, ob er das wirklich verstehen und akzeptieren könnte. Letzten Endes überließen sie es mir, ob ich es ihm sagen wollte oder nicht.
Nach der Unterredung ging ich in mein Zimmer, schnappte mir mein Handy und legte mich aufs Bett. Eine Weile lang starrte ich einfach auf das Telefon und überlegte, was ich ihm sagen sollte. Dann drückte ich die Kurzwahltaste eins und wartete auf die Verbindung. Das Freizeichen ertönte und mein Herzschlag beschleunigte sich. Es klingelte mehrmals, doch er ging nicht ran. Sicherlich würde sich gleich die Mailbox melden und ich überlegte schnell, was ich darauf sprechen könnte. Dann war es auch schon so weit.
»Hallo Gabriel, hier ist Nessie. Ich wollte dir nur sagen, dass es mir wieder besser geht und ich würde dich gerne sehen. Ruf’ mich doch bitte zurück, ja? Bis dann.«
Nach etwa fünf Minuten Wartezeit hatte ich die Hoffnung aufgegeben, dass er mich gleich zurückrufen würde und stand seufzend auf. Ich könnte schließlich genauso gut mit meiner Familie zusammen sein, während ich auf seinen Anruf wartete. Kaum, dass ich mein Zimmer verlassen hatte, klingelte meine Handy und ich rannte sofort zurück.
»Hallo Gabriel«, sagte ich voller Freude, gleich nachdem ich das Gespräch angenommen hatte.
»Hallo Nessie«, kam es etwas zögerlich von ihm zurück. »Du hörst dich gut an.«
»Danke, mir geht es auch wieder gut.«
»Das freut mich für dich.«
Seine Stimme klang nervös und ich spürte, dass er sich unwohl fühlte.
»Gabriel … ich möchte dir gerne erklären, was da passiert ist. Können wir uns nicht vielleicht treffen und in Ruhe reden?«
»Ich weiß nicht«, sagte er noch immer sehr nervös.
»Bitte Gabriel. Ich bin immer noch die selbe Nessie und ich vermisse dich. Bitte sag’ ja.«
»Ich möchte aber nicht zu euch kommen.«
»Das ist schon O.K., dann komme ich zu dir.«
»Ka-Kannst du das denn schon?«
»Ja, mir geht es wieder ziemlich gut. Das Schlimmste ist überstanden und ich erhole mich schnell.«
»Schnell. ... Ich verstehe.«
»Darf ich zu dir kommen?«
»Zu mir? … Oh … Na gut.«
»Prima. Dann bis gleich.«
»Wie? Jetzt sofort? … ähm … O.K.«
»Danke Gabriel, ich freu’ mich ja so.«
»Äh, ja. … Ich mich auch.«
So unsicher, wie er sich angehört hatte, konnte ich ihm den letzten Satz nicht glauben, aber ich hoffte sehr, dass er es schon bald wieder auch so meinen würde. Ich beendete das Gespräch, ging gleich zu meinem Dad und bat ihn, mich sofort zu Gabriel zu fahren. Das fand er zwar ziemlich überstürzt, doch er akzeptierte es und fuhr mich hin. Dort blieb er dann eine Seitenstraße entfernt von seinem Zuhause stehen.
»Liebling, ich höre seine Gedanken und er ist furchtbar nervös. Er hat Angst davor, dich zu sehen.«
»Aber das ist ja schrecklich. Er muss doch keine Angst vor mir haben.«
»Vielleicht kannst du sie ihm nehmen, aber du musst behutsam vorgehen.«
»Das werde ich. Danke Daddy. … Und bitte, nicht hier warten, ja? Ich rufe dich an, wenn ich abgeholt werden will, O.K.?«
»Ist gut Schatz«, sagte er seufzend, fuhr mich bis vor die Haustür, ließ mich aussteigen und fuhr gleich weiter.
Ich atmete noch mal tief durch und klingelte. Gleich darauf ging die Tür auf. Gabriel sah mich unsicher an und ich lächelte sanft.
»Hallo Gabriel. Es tut gut dich wieder zu sehen.«
»Ja, dich auch. … Komm’ doch herein.«
Er machte mir Platz und ließ mich eintreten. Dass er mir keinen Begrüßungskuss geben wollte, bedauerte ich sehr, konnte ich aber auch verstehen. Er wies mir den Weg zu seinem Zimmer und ich ging voran. Deutlich hörte ich das Hämmern seines aufgeregten Herzens in seiner Brust und roch seine Angst und Nervosität. Wie konnte ich ihn nur beruhigen? Ich ging in sein Zimmer und setzte mich auf sein Bett. Er stellte sich mir gegenüber an die Wand und schaute mich einfach nur an. Wir betrachteten uns minutenlang schweigend, bis ich es nicht mehr aushielt.
»Gabriel, ich bin immer noch deine Nessie. An meinen Gefühlen zu dir hat sich nichts geändert. Ich will mit dir zusammen sein. Willst du das nicht auch?«
Nervös kratzte er sich am Kopf.
»I-I-Ich bin mir nicht sicher.«
“Oh bitte”, dachte ich halb verzweifelt. Das durfte jetzt einfach nicht wahr sein. Ich wollte doch bei ihm sein, ihn küssen und umarmen. Ich stand auf und ging einen Schritt auf ihn zu und sah mit entsetzten, wie er zusammenzuckte.
»Was hast du denn? Ich würde dir doch nie etwas tun.«
»Bist du sicher? … Ich habe gesehen, wie schnell und stark du bist. … Ich habe auch gehört, wie dieses Rotauge mit dir gesprochen hat. Er hat mich angesehen, als ob er mich fressen wollte.«
»Er kann dir nichts mehr tun. … Er ist tot.«
»H-Hast du ihn getötet?«
»Nein. Meine Mom hat es getan, weil sie dachte, dass er mich umgebracht hat.«
Er schluckte und sah mich ungläubig an, obwohl er eher den Eindruck machte, es nicht wahrhaben zu wollen, als nicht glauben zu können. Er schien verzweifelt nach einer Erklärung zu suchen, mit der er gut leben konnte, doch konnte er sie wohl nicht finden.
»Was seid ihr überhaupt? Seid ihr Mutanten? So wie die X-Men?«
»Gabriel, wenn du das wirklich wissen willst, werde ich es dir sagen, aber ist das denn so wichtig? Ich liebe dich doch. Diese Kraft und Schnelligkeit, die du bei mir gesehen hast, die trage ich schon immer in mir. Es ist nur so, dass ich das geheim halten muss. Nur deshalb habe ich dir nie etwas davon erzählt. Bitte, ich will mit dir zusammen sein.«
Ich streckte ihm die Arme entgegen und bot ihm eine Umarmung an, doch er hob abwehrend die Hände.
»Nein bitte, ich kann das nicht. … Seit diesem Tag habe ich Albträume. Ich sehe seine roten Augen und seine Zähne, die mich jagen und wenn er mich hat und mich beißt, dann bis du es plötzlich. So wie damals, bei dem Unfall. … Das hatte nichts mit Epilepsie zu tun, oder? Ich hatte damals keine Chance dich wegzudrücken und die würde ich wohl niemals haben.«
»Oh Gabriel, es tut mir so schrecklich leid, was damals passiert ist, aber das kommt nie wieder vor. Ich schwöre es dir.«
»Und wenn doch? … Ich dachte, das ist eine Krankheit und du kannst nichts dafür, aber jetzt? Ich habe Angst, dass das wieder passiert.«
»Das wird nie wieder geschehen, das schwöre ich dir. Ich habe mich jetzt viel besser unter Kontrolle. Das hast du doch bestimmt gemerkt, als wir zusammen waren, bevor Lennox gekommen ist.«
»Ja, ich habe gemerkt, wie du zusammengezuckt bist, als ich aus versehen deinen Po berührt habe und wie du dann meine Hände gepackt hast, als ich sie zurückziehen wollte.«
»Aber ich war doch nur kurz erschrocken und wollte nicht, dass du das falsch verstehst. Ich will das so sehr, Gabriel. Bitte, lass’ es mich dir zeigen.«
Ich streckte ihm nur noch eine Hand entgegen und ging langsam auf ihn zu. Er war so furchtbar verängstigt aber rührte sich nicht. Ganz sachte berührte ich seine Wange und schickte ihm dann eine Übertragung. Ich zeigte ihm, wie sehr ich den Moment genossen hatte, bevor Lennox hinzu kam.
Nur einen Augenblick später rutschte Gabriel vor mir auf den Boden und presste sich die Hände gegen den Kopf.
»Ah! … Was machst du da? … Geh’ aus meinem Kopf raus.«
Er schüttelte den Kopf und schien wie von Sinnen.
“Um Himmels Willen, was habe ich getan?”, dachte ich entsetzt und kniete mich vor ihm hin.
»Gabriel, es tut mir leid. Ich wollte dir nur zeigen, wie ich für dich empfinde.«
»Ich will das nicht. Bitte mach’ das weg.«
»D-Das kann ich nicht«, sagte ich niedergeschlagen.
»Was tust du mit mir?«, jammerte er mit Tränen in den Augen. »Bitte hör’ auf.«
»Das habe ich nicht gewollt. Bitte verzeih’ mir.«
»Nein, bitte lass’ mich in Ruhe. Ich flehe dich an. Bitte, bitte, geh’.«
»Aber ich liebe dich doch, Gabriel.«
»Bitte Vanessa, wenn du mich wirklich liebst, dann lass’ mich. Ich kann das nicht. Ich sage auch niemandem etwas, das schwöre ich dir. Bitte töte mich nicht.«
Wie konnte er nur denken, dass ich ihn töten wollte? Das würde ich doch niemals machen. Und warum nannte er mich Vanessa? So hat er mich doch noch nie genannt. Er kauerte vor mir auf dem Boden und schien vollkommen fertig mit den Nerven zu sein. Wie sollte ich jetzt noch die Angst besiegen können, die er vor mir empfand? Ich hatte meine Gabe eingesetzt, um das zu schaffen und genau das Gegenteil erreicht. Langsam rutschte ich weg von ihm und setzte mich auf den Boden, mit dem Rücken am Bett angelehnt. Ich sah ihn an und wusste, dass die Liebe zwischen uns kaputt war und spürte die Tränen, die mir über die Wangen liefen.
Immer wieder warf er mir kurz ängstliche und bettelnde Blicke zu und jeder einzelne versetzte mir einen kleinen Stich ins Herz. Ich hatte ihn verloren und sah keine Chance, ihn zurück zu gewinnen. Langsam stand ich auf, was ihn erneut zusammenzucken ließ und er kauerte sich noch mehr zusammen.
»Es tut mir so leid, Gabriel«, sagte ich schluchzend. »Ich wünschte, ich könnte das alles ungeschehen machen. Ich liebe dich, aber wenn du willst, dass ich dich verlasse, dann werde ich gehen.«
Unsicher schaute er mich an und sah mir hinterher, wie ich sein Zimmer verließ. Ich spürte deutlich, dass er nur sehen wollte, dass ich wirklich ging. Es war ein grausamer Augenblick und ich fühlte eine einsame Kälte in mir. Ich ging aus dem Haus und rannte die Straße entlang. Ich hielt es hier nicht mehr aus und wollte nur noch heim, doch ich wusste auch, dass mich Menschen hier sehen konnten und achtete darauf, nicht zu schnell zu rennen. Unterwegs rief ich Dad an und bat ihn schluchzend, mir entgegenzufahren.
Wenige Minuten später war Dad da und ich sah auch gleich, dass Mom auf der Rückbank saß und setzte mich sofort zu ihr. Heulend warf ich mich ihr um den Hals und zeigte ihr mit einer Übertragung, was passiert war. Das alles noch mal zu sehen war so niederschmetternd. Ich sah einfach keine Chance, das zu heilen, was zwischen Gabriel und mir zerstört wurde und das machte mich todunglücklich.
Warum nur ging bei mir immer alles kaputt? Gab es denn niemanden, der zu mir passte? Ich war halb Mensch und halb Vampir und doch fand ich auf keiner Seite jemanden für mich. Die Einen wollten mich umbringen und die Anderen hatte Angst davor, von mir umgebracht zu werden.
»Aber das stimmt doch gar nicht, Liebling. Es gibt viele Vampire die dich sehr gerne haben und auch viele Menschen, auf die das auch zutrifft. Das weiß du doch ganz genau.«
»Ja Daddy, aber es passt trotzdem keiner zu mir.«
Mom hielt mich im Arm, küsste und streichelte mich und schenkte mir Trost. Die letzten Wochen mussten wirklich hart für sie gewesen sein und doch hatte sie noch immer so viel Kraft, um für mich da zu sein. Ich liebte sie so sehr dafür.
»Danke Momma und auch danke Daddy. Ich wüsste nicht, was ich ohne euch machen sollte.«
Als wir zu Hause ankamen, hatte ich mich schon einigermaßen gefasst. Ich wollte nicht als trauriges Häufchen Elend gesehen werden, sonst würden die Anderen womöglich ihren Jagdurlaub noch ganz absagen. Das wollte ich nun wirklich nicht. Es war aber verdammt schwer, meine Trauer nicht aus mir herausfließen zu lassen, wenn ich von allen so liebevoll in den Arm genommen wurde. Alle sahen mich voller Mitgefühl an, nur aus Emmetts Blick wurde ich nicht ganz schlau. Überlegte er vielleicht, ob er mir vorschlagen sollte, mit auf die Urlaubsreise zu gehen, um auf andere Gedanken zu kommen?
»Genau das«, flüsterte mir Dad ins Ohr und ich musste kurz grinsen.
Mein Emmett hatte einfach seine ganz eigene Art, mit Problemen umzugehen. Für ihn war wohl ganz logisch, dass Spaß das beste Mittel gegen Trauer war und der Gedanke hatte sogar etwas verlockendes, doch ich konnte noch nicht sagen, ob das jetzt das Richtige für mich sein konnte.
»Ich denke darüber nach«, sagte ich zu Em und gab ihm einen Kuss auf die Wange.
Verdutzt schaute er mich an, doch dann verstand er es und freute sich darüber. Er hob mich hoch und drückte mich so fest, dass ich wirklich nur hoffen konnte, dass meine Wirbelsäule vollkommen verheilt war. Auch wenn mir die Luft wegblieb, wollte ich kein bisschen weniger fest von ihm gedrückt werden. Mom hatte da aber ganz massiv etwas dagegen und schimpfte mit ihm und so setzte er mich lieber wieder schnell auf den Boden, bevor ihm auch noch der Kopf abgerissen wird, wie er meinte.
Darüber konnte ich zwar nicht wirklich lachen, aber Rose und Jasper schien das sehr zu amüsieren und das freute mich. Ich wollte endlich wieder richtiges Lachen hören und nicht nur mitleidige Blicke spüren.
Der Rest des Tages verlief zwar trotzdem nicht wirklich fröhlich, aber er war auch nicht so deprimierend, wie ich befürchtet hatte. Ich freute mich sogar etwas darauf, wieder in meinem eigenen Bett zu schlafen und Mom hatte auch bereits den Wunsch angemeldet, in der Nacht bei mir bleiben zu dürfen. Diese eine Nacht wollte ich noch zugestehen, auch wenn es mir übertrieben vorkam. So schlecht ging es mir ja nicht mehr, aber sie hatte mir schließlich so viel gegeben, dass ich ihr die Bitte unmöglich abschlagen konnte. Abgesehen davon war es ja auch schön, in ihren Arm gekuschelt einzuschlafen.
Im Bett dachte ich noch eine ganze Weile über das nach, was zwischen mir und Gabriel schief gelaufen war, doch egal wie oft ich darüber nachdachte, ich fand einfach nichts, das ich wirklich falsch gemacht hätte. Es war doch richtig, ihn vor Lennox zu beschützen, auch wenn ich dadurch mein Geheimnis aufgedeckt hatte. Es war doch auch richtig, ihm die Wahrheit zu sagen, soweit er sie überhaupt hören wollte. Dass ich ihm meine Gabe gezeigt hatte, war vielleicht ein Fehler, aber sie war doch ein Teil von mir und Lissie hatte das so gut gefallen. Überhaupt hatte mich Lissie so akzeptiert, wie ich war, nur Gabriel konnte das wohl nicht.
Warum Lennox sich so verhalten hatte, würde ich wohl auch nie verstehen können. Alle drei hatten mir viel bedeutet und alle drei hatte ich auf unterschiedliche und doch jedes Mal grausame Art und Weise verloren. Wenigstens lebte Gabriel noch und ich hoffte für ihn, dass er glücklich werden würde. An ein gemeinsames Glück konnte ich aber nicht mehr glauben und das stimmte mich traurig.
Womöglich gab es wirklich niemanden, der richtig zu mir passte. Natürlich hatte Dad recht, dass es sehr wohl Menschen und Vampire gab, die mich mochten, aber das war nicht das Selbe. Für Menschen würde ich immer eine Gefahr sein und selbst wenn ich einen finden sollte, der sich in einen Vampir verwandeln wollte, dann wäre er künftig eine Gefahr für mich. War ein anderer Halbvampir denn die einzige Alternative? Eine Beziehung mit Nahuel konnte ich mir wirklich nicht vorstellen, aber ich konnte doch auch nicht die ganze Welt nach weiteren Halbvampiren absuchen. Es war so frustrierend und ich fürchtete, nie meine wahre Liebe finden zu können, aber ich war nicht bereit, die Hoffnung aufzugeben. Bei Dad dauerte es schließlich auch fast 100 Jahre, bis er Mom gefunden hatte und darauf lohnte es sich ja zu warten. Eine Garantie konnte es aber nicht geben, denn Nahuel war ja auch schon über 150 Jahre alt und noch immer alleine und das deprimierte mich.
Nach vielen Seufzern, auf die immer ein Küsschen auf den Kopf und zahlreiche Streicheleinheiten von meiner Mom folgten, schlief ich schließlich ein.
In meinem Traum fand ich mich auf dem Waldboden liegend wieder. Es war nicht der Wald hier, sondern der Wald von Forks. Es war die Stelle, an der ich mich von Seth verabschiedet hatte und so wie in meinen Erinnerungen, hatte ich auch hier Tränen in den Augen. Der große Unterschied war allerdings, dass nicht der Abschied, sondern der Verlust von Lissie, Gabriel und Lennox schuld an diesen Tränen waren und dass nicht Seth sondern Jacob kam, um mich zu trösten. Er kam auch nicht als Wolf, sondern als Mensch und setzte sich neben mich und streichelte mir über das Haar, was sich so gut anfühlte, dass meine Trauer plötzlich wie weggeblasen war.
Es war sehr merkwürdig. Ich wusste genau, dass es ein Traum war und erlebte doch alles ganz bewusste, als ob es real wäre. Es war so ähnlich wie an den Weihnachtsferien in Forks, als ich den Traum mit dem Ritt auf seinem Rücken hatte. Dieser wundervolle Traum, in dem ich mich ihm so nahe gefühlt hatte.
»Quäle dich nicht wegen denen, Nessie«, sprach er mich plötzlich mit sanfter Stimme an, die eine wohlige Wärme in meiner Brust erzeugte. »Auch wenn sie fort sind, ich werde immer für dich da sein, selbst wenn das nur im Traum möglich ist.«
Dann streckte er die Hände nach mir aus und ich nahm die Einladung von ganzem Herzen gerne an, richtete mich auf und kuschelte mich in seine Umarmung. In dem Moment, da er mich liebevoll und zärtlich in seine Arme schloss und meine Stirn küsste, wusste ich plötzlich, dass er mein Schicksal war. Ich sah ihm tief in die Augen und wurde von dem Gefühl beseelt, endlich dort zu sein, wo ich hin gehörte. Mit einem Mal war mir vollkommen klar, dass ich ihn liebte und dass ich es schon immer getan hatte, ohne dass ich es wusste. Er hatte schon immer einen Platz in meinem Herzen, doch ich hatte es immer für Freundschaft gehalten und mich stets gewundert, warum ich keine andere Freundschaft finden konnte, die genauso war. Jetzt wurde mir auch bewusst, warum ich mich nach Jahren der Trennung noch immer so sehr nach ihm sehnte und warum er mich immer wieder in meinen Träumen besuchte.
Ich erinnerte mich an eine Geschichte, die mir Jacob einmal erzählt hatte. Er meinte, dass meine Mom während ihrer Schwangerschaft immer wollte, dass er in der Nähe blieb, bis ich auf der Welt war. Jacob war davon überzeugt, dass ich es in Wahrheit war, der seine Nähe wollte und ich fand das früher einfach nur witzig und schön, konnte es aber nicht ernst nehmen. Das hatte sich jetzt plötzlich geändert. Jetzt glaubte ich es. Jacob und ich, wir waren von Anfang an füreinander bestimmt. Ich war mir dessen auf einmal so sicher und spürte so ein wahnsinniges Glücksgefühl, dass ich es in die Welt hinausschreien und jedem zeigen wollte.
»Ich liebe dich, Jacob«, sagte ich in meinem Traum und dann gab ich ihm einen Kuss, der sich so richtig anfühlte, wie kein anderer Kuss jemals zuvor.
Er erwiderte meinen Kuss und ein warmes und unglaublich starkes, kribbelndes Gefühl durchströmte meinen Körper und ließ mich aufwachen. Es war tiefe Nacht, doch ich erkannte Mom, die vor mir lag. Sie schaute mich überrascht aber lächelnd an und es gab nur eines, dass ich ihr jetzt sagen konnte.
»Momma? Ich weiß, du hältst mich jetzt gleich für vollkommen verrückt, aber ich war mir noch nie einer Sache so sicher wie jetzt. … Ich liebe Jacob.«
Sie schaute mir tief in die Augen und dann seufzte sie und streichelte mir wieder über den Kopf.
»Mom, ehrlich. Ich bin mir ganz sicher.«
»Ich weiß, Schatz.«
»Du weißt es?«
»Ja, du hast es mir gezeigt.«
»Hab’ ich das? Wann denn?«
»Gerade eben. Plötzlich hast du mir deinen Traum geschickt und mich fühlen und erleben lassen, wie du ihn voller Liebe geküsst hast.«
»Echt? Passiert mir das öfters?«
»Leider nein«, sagte sie lächelnd. »Nicht mehr, seit du kein Baby mehr bist. Das war das erste Mal seit Langem, aber es war wirklich wunderschön. Genau so fühlt es sich für mich an, wenn ich Edward küsse.«
»Aber was mache ich denn jetzt? Jacob weiß doch nichts davon, dass ich ihn liebe und ich darf ihn doch auch nicht sehen. Vielleicht liebt er mich ja auch gar nicht und sieht in mir nur seine kleine Freundin?«
»Oh nein, Liebling. Er liebt dich. Das hat er schon immer getan und daran wird sich auch nie etwas ändern.«
»Wie kannst du dir da so sicher sein?«
»Ich zeige es dir.«
Verwirrt schaute ich Mom hinterher, wie sie mein Zimmer verließ, offensichtlich in ihres ging und nach ein paar Raschelgeräuschen mit einem Päckchen unter dem Arm wieder herein kam. Aufgeregt richtete ich mich auf, schaltete das Licht ein und Mom setzte sich mir gegenüber im Schneidersitz auf das Bett. Dad kam auch herein, machte die Tür hinter sich zu und setzte sich auf meinen Schreibtischstuhl.
»Daddy?«
»Vergib mir, Liebling, aber das möchte ich bitte mit eigenen Augen sehen.«
Seine Neugierde machte mich noch nervöser und ich wandte mich wieder Mom zu.
»Was ist denn in dem Päckchen?«
»Das, Kleines, hat mir Jacob geschickt. Er hat mir einen Brief dazugelegt und mir mitgeteilt, dass sich darin ein Geschenk für dich befindet, das seine Gefühle für dich ausdrücken soll. Er traute sich nicht, es dir direkt zu schicken und bat mich, es dir zu geben, wenn der richtige Zeitpunkt gekommen ist.«
»Und der ist jetzt?«
»Ja Schatz«, sagte sie und reichte mir das kleine Paket.
Langsam öffnete ich es. Ich war furchtbar aufgeregt und meine Hände zitterten leicht. Nachdem die Schnüre aufgeknotet waren, hob ich den Deckel ab. Zum Vorschein kam etwas, das in ein Tuch eingewickelt war. Vorsichtig holte ich es heraus und wickelte es aus. Dann sah ich die Skulptur und meine Augen füllten sich mit Freudentränen.
»Das sind Jacob und ich«, sagte ich fassungslos.
Die Figur war so wunderschön. Sie zeigte ihn und mich in einem innigen Kuss vereint. Er hatte die Arme um mich geschlungen und ich sehnte mich aus tiefstem Herzen genau nach dem, was da ins Holz geschnitzt war.
Minutenlang starrte ich mein Geschenk an und streichelte es immer wieder. Ich konnte es kaum fassen. Zeigte diese Skulptur wirklich, was er sich wünschte? Konnte das wirklich wahr sein?
»Da liegt auch noch ein Brief in der Schachtel«, sagte Mom und ich schaute sofort nach.
Tatsächlich. Da war ein Brief und mit bebenden Fingern holte ich ihn heraus. Vorsichtig öffnete ich das Kuvert und nahm einen Hauch von seinem Duft war. Mein Herz raste, als ich den Geruch erkannte. Wie lange schon hatte ich das nicht mehr gerochen? Ich holte den Brief heraus und hielt in mir als Erstes unter die Nase und nahm einen tiefen Atemzug.
Wow. Was für eine belebendes und kribbelndes Gefühl. Nichts auf dieser Welt konnte besser duften und dabei dachte ich immer, Gabriel würde umwerfend riechen. Was für ein Irrtum. Ich klappte den Brief auf und sofort sprangen mir zwei Flecke, die von Tränen stammen könnten, in mein Auge. Hatte er meinetwegen geweint, als er das schrieb? Für meine Tränen gab es jetzt kein Halten mehr. Unaufhörlich liefen sie mir über die Wangen, während ich versuchte, den Brief zu lesen.
Jedes einzelne Wort nahm ich auf und packte es sorgfältig in mein Herz. Diese Worte waren für mich kostbarer als alles Gold der Welt. Nichts war mir wichtiger. Ich spürte jedes einzelne Gefühl, von dem er schrieb. Auch ich sehnte mich mit jeder Faser nach ihm und vermisste ihn unendlich stark. Als ich das Wort Liebe las, platzte mein Herz förmlich vor Glück.
»Er schreibt, dass er mich liebt«, sagte ich zu meinen Eltern, die mich anlächelten und sich wohl mit mir freuten.
»Natürlich schreibt er das«, sagte Daddy. »Er hat dich schon immer geliebt.«
»Aber warum habt ihr mir denn nie etwas gesagt?«, fragte ich leicht vorwurfsvoll, wobei ich im Augenblick viel zu bewegt war, als dass ich irgendjemandem Vorwürfe machen könnte.
»Jacob wollte, dass du dein Leben hier genießt und glücklich wirst. Er glaubte wie wir, dass du das nicht richtig kannst, wenn du von seiner Liebe weißt.«
Ich verstand nicht wirklich, was Mom da sagte, denn für mich war es das größte Glück, den Ausdruck seiner Liebe in den Händen zu halten.
»Was mache ich denn jetzt? Ich muss ihm doch auch irgendwie zeigen, dass ich ihn liebe.«
»Sternchen, ich weiß wie hart das jetzt für dich wird. Genau deshalb habe ich so lange gezögert, dir das Geschenk zu geben. Es hängt so viel davon ab, dass ihr keinen Kontakt habt. Das weißt du doch. Der Friede mit den Volturi ist an diese Bedingung gekoppelt.«
»Aber er muss es doch erfahren«, jammerte ich.
»Ich werde es ihm schreiben.«
»Im Ernst? Du schreibst ihm einen Brief?«
»Ja Schatz, ich schreibe ihm seit wir hier sind jeden Monat einmal und erzähle ihm von dir. Ich benutze den Anwalt, den uns J hier als Kontakt genannt hatte. Er schickt die Briefe nach Seattle und J liefert sie dann per Kurier an Jacob. Auf umgekehrtem Weg schreibt er mir zurück.«
»Aber warum hast du mir das den nie erzählt?«
»Aus dem gleichen Grund, warum ich dir erst jetzt das Geschenk geben konnte.«
»Oh Mom. Wenn ich das früher gewusst hätte, dann hätte ich mich nie auf Lennox und auf Gabriel eingelassen.«
Betroffen schaute sie nach unten auf ihre Hände.
»Es tut mir leid, Sternchen. Ich habe befürchtet, dass du mir das vorwerfen wirst. Ich habe das doch nie gewollt. Wenn ich das nur geahnt hätte. Ich wollte doch nur, dass du glücklich bist.«
»Ach Momma«, sagte ich, setzte mich in die Kuhle ihres Schneidersitzes und legte ihr die Arme um den Hals. »Ich werfe dir überhaupt nichts vor. Wer weiß, was Lennox getan hätte, wenn ich mich von Anfang an abweisend verhalten hätte. Dann wäre ich womöglich gleich bei unserem ersten Treffen getötet worden.«
»Daran will ich gar nicht denken, Sternchen«, sagte sie und drückte mich fest an ihre Brust.
»Und wie soll es jetzt weitergehen?«, fragte ich und blickte abwechselnd von Mom zu Dad.
»Du musst abwarten und durchhalten, Liebling«, meinte Dad zu mir. »Du weißt, dass die Wahrscheinlichkeit sehr hoch ist, dass du ab deinem siebten Geburtstag nicht mehr schwanger werden kannst. Wenn es soweit ist und wir Gewissheit haben, dann können wir die Volturi bitten, die Bedingung aufzuheben. Bis dahin können wir nichts tun, ohne den Frieden und damit das Leben unserer Familie und das der Quileute zu gefährden.«
Das war es also? Noch gut ein Jahr durchhalten und dann mit den Volturi ein neues Friedensabkommen aushandeln? Wie sollte ich das nur schaffen? Es war mir ja fast unerträglich gewesen, von Gabriel getrennt zu sein, doch zu ihm hatte ich mich nicht ansatzweise so stark hingezogen gefühlt, wie zu Jacob. Andererseits konnte ich nicht wegen meiner Sehnsüchte den Frieden und so viele Leben gefährden. Ich würde nicht mal ein einziges Leben deswegen gefährden wollen. Ich hatte also keine andere Wahl.
Nach einem kuscheligen Weilchen auf Moms Schoß raffte ich mich wieder auf, stellte meine neue Skulptur ins Zentrum meiner Figurensammlung und legte den Brief in meine Nachttischschublade. Dabei fiel mir das Schmuckschächtelchen auf meinem Nachttisch auf und dass ich noch immer Gabriels Geburtstagsgeschenk am Handgelenk trug. Ich legte das Armkettchen gleich ab und verstaute es in dem Schächtelchen. Was ich damit machen wollte, wusste ich noch nicht. Allerdings wollte ich es nicht mit dem Brief von Jacob zusammen aufbewahren. Ich packte es stattdessen in eine Schreibtischschublade.
Dann küsste ich meine Eltern noch mal und bat sie höflich aus meinem Zimmer. Mom war auch gar nicht böse deswegen. Bestimmt hatte sie jetzt viel mit Dad zu besprechen. Ich hingegen wurde jetzt wieder ziemlich müde, da sich meine Aufregung etwas gelegt hatte. Dennoch war ich nur von einem Gedanken beseelt. Ich liebte Jacob und daran gab es keinen Zweifel. Das war schon immer so gewesen, auch wenn ich mir dessen nicht bewusst war. Ein Bild aus meiner frühesten Kindheit kam mir plötzlich in den Sinn. Das Bild, als ich als Baby zum ersten Mal in seinen Armen lag. Ein wundervolles Gefühl wurde von diesem Bild begleitet und trug mich in den Schlaf.
Als ich am nächsten Morgen aufwachte, schaute ich nur zur Sicherheit auf meine Figurensammlung und empfand ein unglaubliches Glücksgefühl, dass dort in der Mitte tatsächlich eine neue Skulptur stand. Ich sprang aus dem Bett, nahm die Schnitzerei vorsichtig in die Hand, küsste sie liebevoll und drehte mich vergnügt ein paar mal mit ihr im Kreis. Dabei drückte ich sie zärtlich an meine Brust. Ich konnte mich nicht daran erinnern, mich jemals zuvor so gut gefühlt zu haben, wie in diesem Augenblick. Jacob liebte mich und ich liebte ihn. Jede Zelle meines Körpers wollte auf der Stelle zu ihm und ich hätte nichts lieber getan, als mich sofort in ein Flugzeug gesetzt und mich auf die Reise gemacht. Aber mir war auch klar, dass ich das nicht durfte und dass ich noch über ein Jahr warten musste, bis ich die Chance bekam, ihn zu sehen und hoffentlich in die Arme zu nehmen. Es würde eine harte Zeit werden und dennoch verspürte ich eine solche Freude, dass es mir egal war, wie lange es dauerte, solange es nur wahr werden würde. Bis es soweit war, musste ich mich eben gedulden und zurückhalten.
Behutsam stellte ich mein liebstes Geschenk wieder zurück und machte mich startklar für den Tag. Dann tanzte ich vergnügt durchs Haus und kam mir dabei vor wie Alice, wenn sie fröhlich war. Schnell ging ich in die Küche und frühstückte. Als ich wieder heraus kam, standen meine Eltern mit Emmett und Rosalie vor der Tür. Alle grinsten mich an und mir war klar, dass Mom ihnen wohl schon verraten hatte, was in der Nacht passiert war. Freudig hüpfte ich in Emmetts Umarmung und küsste ihn auf die Wange.
»Wenn Mom und Dad auch wollen, dann fliege ich mit euch nach Kamtschatka.«
»Echt? … Super!«, freute sich Emmett und tanzte jetzt seinerseits mit mir durchs Haus und ich quietschte vergnügt wie ein Kleinkind.
Nun ja, ich war ja auch noch nicht mal sechs Jahre alt und da war das ja wohl auch ganz normal. Unser Herumalbern rief dann schnell auch den Rest der Familie auf den Plan und alle schienen sich mit mir zu freuen, als sie den Grund für meine extrem gute Laune erfuhren. Carlisle wollte dann auch gleich am Montag klären, ob er seinen Urlaub, der jetzt eigentlich zu Ende war, noch unbezahlt um wenigstens zwei Wochen verlängern konnte, denn er und Esme hätten uns auch gerne auf diese Urlaubsreise begleitet. Ich hoffte sehr, dass das klappen würde.
Den ganzen Morgen und Vormittag über war die Familie fröhlich zusammen und endlich hörte ich auch wieder überall das Lachen, das ich gestern noch so vermisst hatte. Die Stimmung war einfach toll, aber ich wollte gegen Mittag dann trotzdem das Kampftraining machen. Das gefiel Mom überhaupt nicht, doch ich war der Meinung, dass ich das, was Lennox mit mir gemacht hatte, hinter mir lassen musste, um mein Leben weiterzuleben. Sonntag war Kampftrainingstag und daran wollte ich nichts ändern. Jasper stimmte dem zu und Emmett war auch auf meiner Seite. Ich bat Mom, mitzumachen, weil es mir einfach viel bedeutete, wenn sie dabei war und so fügte sie sich schließlich meinem Wunsch.
Mit Jasper hatte ich dann noch ein kurzes Gespräch, da ich das Bedürfnis hatte, mich bei ihm zu entschuldigen. Ich hatte gegen Lennox versagt und mich nicht so verhalten, wie Jazz es mir beigebracht hatte. Ich konnte nicht wirklich sagen, was der Grund war, doch im Endeffekt standen mir wohl einfach meine Gefühle für ihn im Wege. Jasper klopfte mir dann aufmunternd auf die Schulter und meinte, dass ich mich dafür nicht entschuldigen müsste, denn es gäbe wohl nichts schwierigeres, als gegen jemanden zu Kämpfen, den man mochte. Außerdem hätte ich wohl eine der brutalsten Lektionen gelernt, die es überhaupt geben konnte und jetzt würde es an mir liegen, was ich daraus machte.
Ich dachte eine Weile darüber nach und hatte tatsächlich recht schnell eine Idee, wie ich aus diesem Erlebnis etwas positives herausziehen könnte. Bei der Kampfübung mit Jasper schickte ich ihm eine Übertragung mit der Erinnerung an meinen gefühllosen und gelähmten Körper und es hatte eine enorme Wirkung bei ihm. Jasper war sich sicher, dass ich jeden Gegner besiegen könnte, wenn es mir gelänge, diese Übertragung einzusetzen. Folglich wollte er künftig mit mir Situationen trainieren, in denen ich genau das tun sollte, ohne dabei meine Verteidigung zu vernachlässigen. Ich sah ihm an, wie er bereits angestrengt darüber nachdachte, wie er das am Besten angehen könnte und ich ahnte, dass harte Trainingseinheiten in Zukunft auf mich warteten.
Am Nachmittag machte ich ein wenig Musik mit Emmett und am Abend saßen wir dann wieder gemütlich zusammen und genossen die gute Stimmung. Es war ein toller Tag, der zu Ende ging und es wartete eine Nacht mit hoffentlich tollen Träumen auf mich.
In der Nacht wachte ich dann mehrmals auf, aber nicht etwa wegen schlechter Träume, sondern weil ich so unglaublich schöne Fantasien hatte. Ich lag dann immer kurze Zeit wach, mit aufgeregtem Herzschlag und verrücktem Kribbeln an ganzen Körper und versuchte schnell wieder einzuschlafen, damit der Traum weitergehen konnte.
Am nächsten Morgen dann konnte Carlisle schon früh klären, dass er und Esme uns bei der Urlaubsreise begleiten könnten. Emmett und Alice machten sich dann sofort daran, die weiteren benötigten Plätze zu buchen und verkündeten dann mit fröhlichen Minen, dass schon heute Abend ein Flug ab London über Moskau für uns gehen würde. Wir trafen also unsere Reisevorbereitungen und konnten es alle kaum erwarten, richtig in die Ferien zu starten.
Für mich waren es aber mehr als nur Ferien. Für mich war es der Abschluss eines ereignisreichen Schuljahres. Ich war mir auch sicher, dass das neue Schuljahr ganz anders sein würde, auch wenn ich noch nicht so richtig wusste, wie ich es angehen sollte. Nur eines war mir ganz klar. Jacob würde sich wünschen, dass ich das Beste daraus machte und das hatte ich auch vor. Dabei gab es eigentlich nur eine Einschränkung. Auf einen anderen Jungen würde ich mich sicherlich nicht mehr einlassen, denn mein Herz gehörte jetzt nur noch Jacob.
“Lieber Jake,
bitte entschuldige, dass ich mich erst jetzt nach über zwei Monaten bei dir melde, doch diese zwei Monate waren sehr ereignisreich und ich konnte dir leider nicht früher schreiben. Das Wichtigste aber gleich zuerst: Renesmee geht es gut. Du kannst dir nicht vorstellen, wie froh ich bin, dass ich dir das schreiben kann. Noch vor gut sechs Wochen war ich total verzweifelt und bangte um ihr Leben.
Ich weiß, dass du wütend auf mich sein wirst, wenn du das hier liest, aber ich will es dir trotzdem nicht vorenthalten. Du hattest recht damit, dass Lennox zurückkehren würde. Ich hätte auf dich hören sollen. Niemals hätten wir ihn ungestraft davon kommen lassen dürfen, auch wenn es Renesmees Wunsch war. Um Haaresbreite hätten wir einen furchtbaren Preis für unsere Untätigkeit bezahlt.
Lennox hatte ihr und ihrem Freund Gabriel im Wald aufgelauert und sie angegriffen. Mutig hat sie sich ihm entgegen gestellt und ihrem Freund die Flucht ermöglicht, doch dafür hat Lennox seine Wut an ihr ausgelassen. Er hatte sie fast umgebracht.
Vergib mir, dass ich dir keine Details schildern kann, aber es war zu schrecklich für mich. Ich dachte wirklich, dass sie tot war und riss diesem Monster dafür den Kopf ab. Eine kleine Genugtuung, aber viel wichtiger war, dass mein kleines Sternchen diesen brutalen Angriff überlebt hat. Drei Wochen war sie ohne Bewusstsein, doch ihr Körper heilte alle Wunden und schließlich erwachte sie wieder. Schon zwei Tage später war sie wieder gesund und munter.
Ihr Freund Gabriel kam mit der Situation allerdings nicht klar. Er hatte solche Angst vor ihr und vor der ganzen Familie, dass er die Beziehung zu Renesmee endgültig beendet hatte. Sie war sehr unglücklich darüber, denn sie hatte alles versucht, um ihm seine Furcht zu nehmen, doch es gelang ihr nicht. Dabei kennt er doch noch nicht einmal unser wahres Geheimnis. Er hat Helensburgh inzwischen verlassen und ist noch vor Beginn des neuen Schuljahres mit seiner Mom nach Glasgow gezogen. Alice ist sich ziemlich sicher, dass er nichts erzählen wird, sondern dass er es nur vergessen will. Ich hoffe für den Jungen, dass er damit klar kommt.
Es ist allerdings auch noch etwas ganz anderes passiert. Etwas, dass dich sicherlich über die Maßen erfreuen wird und das ich dir genauso wenig vorenthalten will, wie die schlimmen Dinge. Nessie hatte einen Traum. Einen sehr intensiven Traum, bei dem sich sogar ihre Gabe im Schlaf aktiviert hat und ich ihn miterleben durfte. Sie hat von dir geträumt, Jacob. Das hatte sie zwar schon des Öfteren, aber noch nie auf diese Weise. Es ist ein ganz besonderer Traum gewesen. Sie hat in diesem Traum erkannt, dass sie dich liebt. Ja, du hast richtig gelesen. Deine kleine Nessie liebt dich mehr, als du zu hoffen gewagt hast. Sie ist sogar darüber aufgewacht und war sich absolut sicher, dass sie dich liebt. Selbst wenn ich den Traum nicht gesehen hätte, so wäre der Blick in ihren Augen Beweis genug gewesen. Sie sieht jetzt mehr als den Freund und Spielkameraden in dir, Jacob. Sie weiß jetzt, dass du die Liebe ihres Lebens bist und sie will unbedingt mit dir zusammenkommen.
Oh ich wünschte, du hättest sie sehen können, als ich ihr dein Geschenk übergab, das du mir kurz nach unserer Abreise geschickt hattest. Sie weinte vor Glück beim Lesen deines Briefes und sie will, dass du das weißt. Auch sie wartet jetzt nur noch auf den Tag, an dem ihr endlich zusammen sein dürft. Ich hoffe von ganzem Herzen, dass euch dieses Glück vergönnt ist.
Bis es soweit ist, hat sie sich fest vorgenommen, das Beste aus ihrer jetzigen Situation zu machen, denn sie ist sich sicher, dass du das von ihr erwartest. Deshalb hatten wir auch gerade einen tollen Urlaub in Kamtschatka verbracht. Sie hat dort zum ersten Mal Elch probiert und er hat ihr hervorragend geschmeckt. Ich glaube aber nicht, dass sie dafür auf Wapitis verzichten würde, vor allem nicht, wenn sie die mit dir zusammen jagen kann.
Ich werde versuchen dir künftig wieder pünktlicher zu schreiben. Bis dahin verbleibe ich
in ewiger Freundschaft
Bella”
Ich liebte es, diesen Brief zu lesen. Ich hatte in schon viele hundert mal gelesen und ich bekam nie genug davon. Dieser Brief war ein Schatz, der meinem Leben einen Schubs in die richtige Richtung gegeben hatte. Als ich ihn bekam und zum ersten Mal las, konnte ich mein Glück kaum fassen. Ich musste ihn stundenlang immer und immer wieder lesen, bis ich glauben konnte, was da stand. Meine Nessie liebte mich und wollte mit mir zusammen sein. Konnte es überhaupt etwas schöneres geben? Ich verspürte einen Optimismus wie noch nie zuvor in meinem Leben. Meine Tage waren nur noch von meiner Sehnsucht nach ihr erfüllt und in meinen Träumen wurde mir dann ein Vorgeschmack auf ein Wiedersehen geschenkt. Ich hatte keine Ahnung, wie ihr Kuss wirklich schmecken würde und wie sich ihre Haut unter meinen Händen jetzt anfühlen würde, doch das, was mir meine Fantasie in den Nächten schenkte, war sensationell. Dieser Brief hatte die Trauer über mein Schicksal in Hoffnung verwandelt und so vergingen Tage, Wochen und Monate, an denen ich ständig lächelnd an sie dachte.
Die zehn Briefe davor und die fünfzehn danach waren auch alle wertvoll, ließen sie mich doch an ihrem Leben teilhaben, doch dieser eine war das besondere Kronjuwel unter vielen Edelsteinen. Ihn las ich jeden Tag seit nunmehr sechzehn Monaten.
Natürlich las ich auch alle anderen Briefe immer mal wieder. Vor allem diejenigen, die ich danach bekommen hatte und in denen Bella mir mitteilte, wie es meiner Nessie seither so ergangen war. Es gefiel mir sehr, dass sie in der Schule keine Probleme hatte, dass sie zahlreiche Freundinnen gefunden hatte und zugegebenermaßen auch, dass sie sich auf keinen Jungen mehr einließ.
Als Bella mir damals von Gabriel erzählt hatte, zerriss es mich innerlich. Ein Teil von mir wünschte sich zwar, dass sie glücklich wurde, doch ich wollte sie auch für mich alleine haben. Bei dem Jungen konnte ich es gerade so noch ertragen, aber bei diesem elenden Blutsauger war ich vollkommen verzweifelt. Es war mir unbegreiflich, wie Bella und Edward das zulassen konnten, ohne den Kerl zu überprüfen. Als sie mir dann auch noch berichtete, was er ihr angetan hatte, war ich außer mir vor Wut. Ich wollte sofort nach Schottland fliegen und das Schwein in Stücke reißen. Es war unsagbar schwer, mich selbst davon abzuhalten und an den Frieden zu denken, den ich damit gefährden würde. Angefleht hatte ich Bella, dass die Cullens den Bastard jagen und zur Strecke bringen sollten, denn ich war mir sicher, er würde zurückkommen und ihr noch schlimmeres antun. Doch sie taten es nicht und ich musste ja unbedingt recht behalten. Oh mein armer kleiner Schatz. Wie schrecklich musste das für dich gewesen sein. Doch Gott sei Dank hattest du das alles gut überstanden und die Freude am Leben schnell wiederentdeckt.
Bella hatte mir auch geschrieben, dass Nessie inzwischen einen Führerschein hat. Die blonde Vampirhexe hatte ihr das Autofahren beigebracht und zum 7. Geburtstag bekam sie einen Mercedes SLS AMG geschenkt. Dass diese Vampire auch immer so übertreiben mussten, aber Nessie hatte sich offensichtlich sehr darüber gefreut und selbst Bella gefiel es, dass ihr Sternchen jetzt ein Auto mit einem Stern fahren würde. Allerdings hatte sie mir auch geschrieben, dass sich Nessie nichts mehr wünschen würde, als endlich mit mir zusammen zu sein. Einen Wunsch, den ich aus tiefster Seele mit ihr teilte.
Ich konnte mich noch gut daran erinnern, als sie in ihren ersten Weihnachtsferien Charlie besuchen kam. Ich hatte mich in einiger Entfernung zu seinem Haus im Unterholz versteckt, so dass ich das Haus gerade so noch sehen konnte. Als sie dann tatsächlich ein wenig allein draußen herumspazierte, wollte ich unbedingt zu ihr und schaffte es kaum, mich zurückzuhalten, doch ich durfte es einfach nicht. Damals ahnte ich noch nicht, dass sie mich wirklich liebte, denn wenn ich das gewusst hätte, wäre ich unmöglich im Stande gewesen, auf Distanz zu bleiben.
Sie sah so wunderschön aus und es fiel mir auch auf, wie sie den Waldrand beobachtete, ja geradezu absuchte. Mein Herz sagte mir schon damals, dass sie nach mir Ausschau hielt, doch mein Verstand meinte, dass das nur Einbildung wäre.
Leider war das das letzte Mal, dass ich sie mit eigenen Augen sehen durfte, denn Bella hielt es für zu riskant, noch einmal mit Nessie zusammen nach Forks zu kommen. Keine Ahnung, ob sie mehr ihrer Tochter oder mir misstraute, doch sicherlich war ihre Sorge nicht unbegründet.
Als kleine Entschädigung schickte sie mir zu Weihnachten eine Zeichnung von Nessie. Ich war mir sicher, dass mein Liebling sich selbst vor dem Spiegel gezeichnet hatte, denn mir fiel auf, dass diese winzigen Unterschiede zwischen der linken und der rechten Gesichtshälfte vertauscht waren. Dennoch sah sie mit ihrem strahlenden Lächeln einfach umwerfend aus. Abgesehen davon roch das Blatt anfangs einfach unheimlich gut und ich bedauerte sehr, dass es mit der Zeit den Duft verloren hatte. Natürlich hatte ich mir dieses Bild über mein Bett gehängt, so dass ich es immer vor dem Einschlafen und gleich nach dem Aufwachen betrachten konnte.
In ihren letzten Briefen hat sie mir auch geschrieben, dass mein kleiner Engel inzwischen wöchentlich von Dr. Cullen untersucht wurde. Es ist wohl tatsächlich so gekommen, dass sie jetzt nicht mehr schwanger werden konnte. Ein wenig bedauerte ich das, denn sie wäre bestimmt eine tolle Mutter geworden, doch vor allem freute ich mich, dass ich die so lang ersehnte Chance bekommen würde.
Nessie hatte einen Brief an die Volturi geschickt und sie inständig gebeten, diese eine Bedingung aus dem Friedensabkommen zu streichen. Seither warteten wir jeden Tag darauf, von den Volturi eine Antwort zu erhalten. Gott wie ich es hasste, von der Gnade dieser alten vertrockneten Blutsauger abhängig zu sein. Was gab es da überhaupt noch zu überlegen? Ihre Befürchtung, dass es ein Kind von mir und Nessie geben könnte, war doch widerlegt. Warum schrieben die nicht einfach, dass wir zusammen sein dürfen? Dann würde ich sie womöglich sogar ein bisschen mögen. Aber nein, die Herren ließen uns lieber schmoren, als ob sie darauf warteten, dass wir einen Fehler machen würden.
Seth meinte, dass die senilen alten Säcke eben Zeit bräuchten, um das Ganze zu überdenken. Vermutlich hatten die schon vergessen, dass es diese Bedingung überhaupt gab und irrten jetzt verwirrt umher und durchsuchten alte Unterlagen. Ein witziger Gedanke über den wir viel gelacht hatten.
Ich war froh, dass Seth oft bei mir war. Er sah jetzt auch wie ein richtiger Mann aus. Die zwei Jahre Verwandlungsverbot hatten ihm gut getan. Jetzt war er erwachsen und durfte nach eigenem Willen wieder die Wolfsgestalt annehmen. Das galt auch für Quil und Embry und es tat gut, wieder mit den Jungs durch den Wald zu hetzen. Sie alle waren jetzt noch größer und stärker und jeder Blutsauger müsste vor Angst erstarren, wenn er uns gegenüberstehen würde.
Leah fehlt mir allerdings. Sie hatte sich in den letzten zwei Jahren auch nicht mehr verwandelt und wollte es auch nie wieder tun. Sie war so glücklich mit ihrem Christopher und hatte ihn vor einem halben Jahr schließlich geheiratet. Es war ein schönes Fest und wir alle freuten uns mit ihr. Inzwischen hatte sie sogar die Hoffnung, vielleicht doch ein Kind bekommen zu können und ich wünschte ihr das von Herzen. Ich hatte ihr auch geraten, sich vielleicht an Dr. Cullen zu wenden. Einen normalen Arzt konnte sie wegen ihrer speziellen Genetik ja nicht aufsuchen und auch wenn er ein Vampir war, so hatte er sich doch mehr als einmal als Freund der Quileute erwiesen. Dennoch meinte sie zu mir, dass sie noch lange nicht so verzweifelt wäre, als dass sie diesen Schritt ernsthaft in Erwägung ziehen könnte.
Auch Seth hatte inzwischen ein Mädchen gefunden. Sie hieß Amanda, war 17. Jahre alt und wirklich sehr hübsch. Ich beneidete ihn darum, dass er sein Mädchen im Arm halten und küssen konnte, doch das würde hoffentlich bald auch für mich gelten.
Außerdem war er nun offiziell mein Beta-Wolf, da Leah den Job ja nicht mehr haben wollte. Quil und Embry akzeptierten das zum Glück, denn sie wussten, was für ein feiner Kerl Seth war und dass man sich immer auf ihn verlassen konnte. Quil hatte ohnehin keine Ambitionen in dieser Richtung. Für ihn war es das Wichtigste, für seine Claire da zu sein. Sein kleiner Sonnenschein ging inzwischen in die Schule und Quil unterstützte sie so gut er nur konnte. Es war ihm herzlich egal, ob sie zusammen quatsch machten, oder ernsthaft für die Schule lernten. Für ihn war es die Hauptsache, in ihrer Nähe sein zu dürfen und das konnte ich nur zu gut verstehen.
Mein guter alter Freund Embry war auch nicht wirklich an den Job des Stellvertreters interessiert. Er meinte zu mir, dass das ohnehin nichts für ihn wäre und dass Seth eine sehr gute Wahl sei. Vermutlich mochte er es nur einfach nicht, im Mittelpunkt zu stehen, aber mir sollte es recht sein.
Seht kam inzwischen auch gut damit klar, dass seine Mom und Charlie ein richtiges Paar geworden waren. Vielleicht gefiel es ihm sogar, denn so hatte er öfters auch mal eine sturmfreie Bude für sich und seine Freundin, wenn Sue bei Charlie übernachtete.
Ein eigenes Haus für mich und meine Nessie zu haben, war auch mein großer Traum und ich hatte jeden Cent gespart, um ihn verwirklichen zu können. Nachdem ich erfahren hatte, dass meine Nessie mich auch liebte, hatte ich einen Antrag beim Ältestenrat gestellt und sie hatten mir schließlich gestattet, in einem entlegenen Teil des Reservates eine Blockhütte bauen zu dürfen.
Ich war mir nicht sicher, ob
mein Schatz es mögen würde, denn schließlich war sie
wesentlich mehr Luxus gewöhnt, aber ich hoffte es trotzdem sehr.
Ich hatte in den vergangenen 12 Monaten jede freie Minute daran
gearbeitet und viele Freunde und Verwandte aus La Push hatten mir
geholfen. Inzwischen war es fertig und ich konnte es kaum abwarten,
dass sie es sehen würde. Einziehen wollte ich dort aber noch
nicht. Dies sollte unser Haus sein und niemals wollte ich alleine
darin wohnen. So blieb ich bis auf weiteres bei meinem alten Herrn,
auch wenn er mir zuweilen furchtbar auf die Nerven ging.
Ich verstaute meinen Lieblingsbrief wieder sicher in der Schublade, schaute gedankenverloren aus dem Fenster und dachte dabei an meinen Engel. Wie lange würde ich wohl noch warten müssen, bis ich sie endlich in meine Arme schließen durfte? Wieder einmal seufzte ich voller Ungeduld und Sehnsucht. Die Warterei ging mir mächtig auf die Nerven, aber ich hatte jetzt schon sechs Jahre gewartet, da würde ich wohl noch ein paar Tage aushalten können.
Draußen hörte ich das Auto unseres Postboten und kurz darauf meinen Vater, der die Tür öffnete und ihn begrüßte. Dann schloss er die Tür wieder und ich hörte seine Stimme.
»Jacob! Post für dich! … Riecht merkwürdig.«
Das machte mich neugierig. Wir hatten Mitte Januar und ich hatte erst vor einer Woche einen Brief von Bella erhalten. Außerdem kamen ihre Briefe immer per Kurier. Das konnte doch unmöglich eine Nachricht von ihr sein.
Ich ging zu ihm und er reichte
mir das Schreiben mit angespannter Mine. Es stank abscheulich und es
war kein Absender angegeben. Mir war klar, dass der Geruch nur von
Vampiren stammen konnte und wenn es nicht die Cullens waren, dann
wurde die Wahl doch verdammt eng. Angewidert, aber auch sehr
aufgeregt, öffnete ich den Umschlag und holte ein übel
riechendes Stück Pergament heraus. Das ganze wirkte fast wie
eine Urkunde und fühlte sich wie alte Haut an. Es war ekelhaft
und an liebsten hätte ich es sofort verbrannt, doch die
Neugierde ließ das nicht zu. Also begann ich zu lesen.
“Mr. Jacob Black wird hiermit aufgefordert, am 19. Januar um 20.00 Uhr Ortszeit vor dem hohen Rat der Volturi zu erscheinen und sich einer Befragung zur Klärung eines Antrages von Renesmee Carlie Cullen auf Änderung des Friedensabkommens zu unterziehen.
Unpünktlichkeit oder Nichterscheinen führt zwangsläufig zu einer unwiderruflichen Ablehnung des Antrages.
Es ist nicht gestattet, eine Begleitung mitzunehmen. Eine Zuwiderhandlung führt zwangsläufig zu einer unwiderruflichen Ablehnung des Antrages.
Bis zu der Entscheidung über
den Antrag sind die bisherigen Bedingungen des Friedensabkommens
unbedingt einzuhalten. Ein Verstoß dagegen führt
unweigerlich zu einer sofortigen Beendigung des Vertrages.
Hochachtungsvoll
Der hohe Rat”
Ich musste den Brief zweimal durchlesen, um ihn zu begreifen und reichte ihn dann wortlos an meinen Vater weiter. In dem Kuvert war noch ein Flugticket für morgen Abend und ein Hinweis, dass ich am Flughafen abgeholt würde.
»Was willst du jetzt tun,
Jake?«
»Was wohl, Dad. Ich fliege da hin.«
»Hältst
du das für klug?«
»Was soll ich denn sonst tun,
hä? Ich will mit Nessie zusammen sein und ich sterbe lieber, als
dass ich sie aufgebe. Es gibt keinen anderen Weg.«
»Warte,
Sohn. Lass’ uns nichts überstürzen. Ich werde den
Ältestenrat einberufen.«
»Ihr könnt darüber
reden so lange ihr wollt, aber ich werde auf jeden Fall morgen
abfliegen.«
»Jetzt komm’ doch zur Vernunft. Wenn
die zulassen wollten, dass du mit Nessie zusammenkommst, dann hätte
sie dir einfach geschrieben, dass es O.K. ist. Aber das hier? Das
riecht nach einer Falle.«
»Ich weiß selbst, dass
das stinkt, aber ich habe keine andere Wahl verdammt.«
»Jacob,
die werden irgendetwas mit dir vorhaben. Vielleicht wollen sie dich
für ihre Pläne benutzen oder töten. Das kannst du doch
nicht riskieren.«
»Doch das muss ich. Mir ist klar,
dass da mehr dahinter steckt, aber ich muss dort hin.«
Wütend schnappte ich mir den Brief und das Flugticket und stapfte in mein Zimmer. Dort versuchte ich mich erst einmal wieder zu beruhigen und das Zittern meines Körpers abzustellen. Verflucht, warum konnten uns diese alten stinkenden Parasiten nicht einfach in Ruhe lassen? Es gab überhaupt keinen Grund mehr, dass Nessie und ich getrennt sein mussten und ich wusste ganz genau, dass mein Vater recht hatte, doch ich würde die Liebe meines Lebens niemals aufgeben können. Das war vollkommen ausgeschlossen. Lieber würde ich mich in einem alten dreckigen Kellergewölbe von halbverfaulten Vampiren zerreißen lassen.
Ich schnappte mein Handy und rief die Jungs an, um mich mit ihnen im Wald zu treffen. Zehn Minuten später war das Rudel zusammen und ich teilte ihnen mit, was geschehen war und was ich vorhatte. Alle standen hinter mir und das half mir sehr. Quil hatte ohnehin vollstes Verständnis dafür, denn er würde für Claire jederzeit das Selbe tun. Embry und Seth fanden das Ganze zwar sehr riskant, aber sie verstanden gut, warum ich so handeln musste. Natürlich hätten sie mich alle gerne begleitet, doch das war erstens nicht erlaubt und zweitens war das meine Sache, nicht ihre.
Nachdem das geklärt war,
übertrug ich Seth die Verantwortung, bis ich zurück kam.
Dann setzte ich mich noch mit Sam in Verbindung, um auch ihn über
die aktuelle Situation zu informieren. Außerdem war ich mir
nicht sicher, ob Seth meinen Platz dauerhaft voll einnehmen könnte,
wenn ich nicht mehr zurückkommen würde, oder ob das Rudel
sich wieder Sam anschließen müsste. Ich besprach das mit
ihm und wir waren uns einig, dass es bei der aktuellen Größe
der beiden Rudel das Beste wäre, wenn es auch in Zukunft zwei
Alphas gäbe, wobei er ganz froh war, dass es Seth und nicht Leah
war, der diese Position dann einnehmen würde. Dennoch hoffte er
natürlich, dass dies nur theoretische Überlegungen wären
und dass ich wohlbehalten zurückkommen würde. Eine
Hoffnung, die ich nur allzu gerne teilen würde, wenn ich das
doch nur könnte.
Ich verbrachte den Rest des Tages alleine im Wald und jagte zum Abschied noch mal ein Wapiti. Womöglich mein letztes, doch das änderte nichts an meiner Entschlossenheit. Ich dachte noch viel darüber nach, wie ich mich angesichts der Vampire verhalten sollte. Wir hatten schon eine ganze Weile keinen Kontakt mehr zu anderen Vampiren gehabt und ich wusste genau, dass es sehr hart werden würde, mich nicht provozieren zu lassen, doch das musste mir einfach gelingen.
Erst spät am Abend kehre
ich nach Hause zurück und ging auch gleich zu Bett, auch wenn
mir klar war, dass der Schlaf nicht so schnell kommen würde.
Dennoch war es gut so, wie es war. Endlich würde sich meine
Zukunft entscheiden. Mein Weg stand vor einer Gabelung. Auf der einen
Seite wartete Nessie und auf der anderen der Tod. So oder so war der
alte Weg zu Ende.
Nach einer unruhigen Nacht betrachtete ich am nächsten Morgen noch eine ganze Weile die Zeichnung von Nessie. Je länger ich sie ansah, desto stärker wurde der Wunsch, sie endlich leibhaftig vor mir zu sehen. Ich wollte das alles nicht mehr. Es musste endlich ein Ende haben, egal wie.
Ich stand auf und ging in die Küche, um zu frühstücken. Mein Vater wartete bereits auf mich und sah mich eindringlich an.
»Ich werde meine Meinung
nicht ändern, Dad.«
»Das weiß ich, Sohn.
Der Rat befürchtet zwar, dass dies ein Ende des Friedens zur
Folge haben könnte, doch wir sind uns auch sicher, dass der
Friede ohnehin nicht von Dauer gewesen wäre, wenn diese Vampire
jetzt eine List anwenden sollten, um einen Verstoß von einem
von uns zu provozieren. Doch es schmerzt mich, dass dir dieser Gang
aufgebürdet wird.«
Ich wusste, wie ernst es ihm mit diesem letzten Satz war, denn seine Augen wurden rötlich und feucht und auch ich verspürte Trauer, dass ich meinen alten Herrn heute möglicherweise zum letzten Mal sehen würde.
»Es gibt noch Hoffnung«, sagte ich und legte ihm einen Hand auf die Schulter.
Er legte seinerseits eine Hand auf meinen Ellenbogen und sah mich nur an. Wir wussten, wie wir zueinander standen, auch wenn wir es nicht mit Worten ausdrückten. Ich liebte meinen Vater und er liebte mich und ein Abschied fühlte sich immer beschissen an, vor allem, wenn er so endgültig zu sein schien.
Eine Sache beunruhigte mich allerdings noch mehr. Wenn der Ältestenrat befürchtete, dass das alles nur ein Vorwand zur Kriegserklärung war, dann mussten die Cullens schnellstmöglich davon erfahren. Wenn sie an der Seite meiner Leute standen, dann hätten sie vielleicht eine Chance.
Ich ging in mein Zimmer, holte mein Handy und suchte im Verzeichnis die Nummer, die ich nun schon seit vielen Jahren nicht mehr gewählt hatte. Nach nur einem Klingeln ging Edward an das Telefon.
»Jacob? Was ist los?«
»Hi
Edward. Es gibt Neuigkeiten. Ich habe einen Brief von den Volturi
erhalten. Ich soll zu ihnen reisen und mich einer Befragung
unterziehen.«
»Was? … Das können die doch
nicht machen.«
Edward klang aufgebracht und wütend. Er
schien überrascht zu sein.
»Nun, wie du siehst, können
sie es doch. Ihr habt wohl keine Post erhalten?«
»So
ist es.«, presste er zwischen den Zähnen hindurch.
»Dachte
ich mir«, sagte ich mit einem bitteren Lachen.
»Was
wirst du jetzt tun?«
»Na, die nette Einladung annehmen
natürlich, aber bevor du etwas dazu sagen willst, ich werde es
auf jeden Fall tun.«
»Ist das Jacob?«, hörte
ich plötzlich im Hintergrund die aufgeregte Stimme meines
kleinen Engels und mein Herz machte einen Freudensprung.
»Ja,
Liebling.«
»Oh bitte, darf ich mit ihm reden?«
»Hast
du sie gehört, Jacob?«
»Natürlich habe ich
sie gehört. Jetzt gib ihr schon das Telefon.«
»Ich
weiß, dass ihr euch das wünscht, aber das ist gefährlich.
Aro wird durch seine Gabe alles wissen, was du weißt und wenn
du jetzt mit ihr sprichst, dann habt ihr Kontakt. Bitte Bruder, bring
dich nicht zusätzlich in Gefahr. Das würde dir als
Vertragsbruch ausgelegt werden.«
»Verdammt noch mal,
was würde das denn jetzt ändern? So eine verfluchte…«
»Jake
bitte«, hörte ich plötzlich Bellas Stimme, die sich
wohl das Telefon gegriffen hatte. »Du musst vorsichtig sein. Du
weißt doch, wie sehr sie dir misstrauen.«
Ich war außer mir und konnte nicht mehr reden. Natürlich war mir klar, dass sie recht hatte, doch vielleicht war das auch meine allerletzte Chance, mit Nessie zu reden. Verzweifelt versuchte ich mich zu beruhigen und wieder klarer zu denken. Es war mühsam, doch nach ein, zwei Minuten hatte ich mich wieder gut genug im Griff.
»Gib mir bitte noch mal
Edward.«
»Ich höre.«
»Mein Bruder,
wenn ich nach Italien reise und nicht zurückkehre, dann schützt
bitte meine Leute, ja?«
»Selbstverständlich. …
Viel Glück.«
»Ich liebe dich!«, hörte
ich einen schluchzenden Schrei aus dem Hintergrund von dem Mädchen,
das mir so unendlich viel bedeutete.
Der Satz ging mir durch Mark und Bein. Wie lange hatte ich mich danach verzehrt, genau diesen Satz aus ihrem Mund zu hören. Tränen schossen mir aus den Augen. Vermutlich würde ich dem Klang ihrer Stimme nie wieder lauschen dürfen, doch ich hatte die süßen Worte wahrhaftig mit eigenen Ohren gehört. Das würde mir niemand mehr nehmen können.
»Ich dich auch, Nessie«, sagte ich mit zittriger Stimme und legte auf.
Ich wischte mir die Tränen ab, nahm die Zeichnung von der Wand, küsste sie und drückte sie mir ans Herz. Minutenlang saß ich auf meinen Bett und versuchte wieder zur Ruhe zu kommen. Es war fast unmöglich. Ohne Unterlass hallte das Echo ihrer Stimme in meinem Kopf wider und ständig sah ich sie mit meinen geschlossenen Augen vor mir stehen. Nein, ich konnte das nicht mehr länger aushalten. Die Entscheidung musste jetzt fallen.
Langsam stand ich auf, griff mir meine Jacke und verstaute meine Papiere, das Flugticket und Nessies Bild in der Innentasche. Dann schnappte ich mir meine Motorradschlüssel und ging zu meinem Dad, um mich zu verabschieden. Wir reichten uns jeweils die rechte Hand und umfassten uns gegenseitig am Unterarm. Dann beugte ich mich zu ihm hinunter und legte meine Stirn an seine, während wir jeweils mit der Linken den Nacken des anderen umschlossen. Sekundenlang verharrten wir so und lösten uns schließlich wieder, als wäre ein lautloses Kommando gegeben worden. Wir nickten uns noch zu und dann ging ich.
Draußen warteten meine
Jungs auf mich und auch Sam, Jared und Paul mit meiner Schwester
Rachel waren dort. Ich reichte allen die Hand zum Abschied, nur
Rachel und Seth ließ es sich nicht nehmen, mich zu umarmen.
Dann setzte ich mich auf meine Maschine und fuhr zum Flughafen.
Natürlich hätte ich auch den Großteil der Strecke in
Wolfsgestalt zurücklegen können und wäre so auch
bedeutend schneller gewesen, doch ich wollte länger für den
Weg brauchen, damit ich einen Grund hatte, früher loszufahren.
Ich wollte hier weg und es endlich hinter mich bringen. Wäre ich
als Wolf unterwegs, hätte mich mein Rudel bestimmt begleitet und
das wollte ich nicht. Doch ohne einen Leitwolfbefehl hätte ich
sie wohl nicht davon abhalten können und den wollte ich noch
weniger erteilen. So schien mir die Motorradfahrt einfach die beste
Lösung zu sein.
Am Flughafen verging die Zeit quälend langsam und da ich trotz Motorradfahrt viel zu früh dort war, musste ich noch stundenlang warten, bis ich gegen Abend einchecken konnte. Als es dann soweit war, wurde ich sehr argwöhnisch gemustert, denn es schien dem Personal wohl unheimlich zu sein, dass ich ein Ticket für die 1. Klasse hatte. Ich verstand das ja selbst nicht. Warum ließen die mich so komfortabel reisen, wenn sie mich doch nur töten wollten? Das Geld hätten sie sich ja wohl sparen können.
Während des Fluges dachte ich darüber nach, wie sich Bella wohl damals gefühlt hatte, als sie auf dem gleichen Weg war, ebenfalls mit der Gewissheit, dass sie sterben würde. Nun ja, sie hatte sich offensichtlich getäuscht, aber ob das auch für mich gelten würde? Sie wollte sich für ihre Nessie opfern und ich wollte sie gewinnen oder sterben. Irgendwie war das wohl doch etwas anderes.
Bis zur Zwischenlandung in Philadelphia war ich so unruhig und im Gedanken vertieft, dass unmöglich an Schlaf zu denken war. Erst im zweiten Abschnitt des Fluges konnte ich einschlafen und noch einmal von meiner Nessie träumen und es war tatsächlich ein wundervoller Traum, auch wenn er vom Abschied handelte. In meinem Traum war es mir wenigsten vergönnt, sie zu umarmen und zu küssen.
Jetzt, da ich wach war, zehrte
ich noch ein wenig davon, doch quälte mich auch die Erkenntnis,
dass ich wohl nie erfahren würde, wie ihre Lippen wirklich
schmeckten. Den Rest des Fluges plagte mich wieder die Ungewissheit
wegen dem, was nun auf mich warten würde.
Die Maschine landete gegen 17.00 Uhr in Rom und ich sah mich erst einmal am Flughafen ein wenig um. Schon nach kurzer Zeit entdeckte ich einen Mann in einer Chauffeur-Uniform, der ein Schild mit der Aufschrift “Mr. Black” hochhielt. Das war dann wohl mein Abholservice. Offensichtlich ein Mensch, denn er stand im Licht der untergehenden Sonne. Als ich näher kam, bemerkte ich aber den leichten Geruch von Vampiren, den er an sich hatte.
Ich ging zu ihm und holte das Schreiben der Volturi aus meiner Jackentasche. Sofort wies er mir wortlos den Weg zum Auto. Nun ja, Auto traf es wohl nicht ganz. Es war eine Luxuslimousine. Warum mussten diese Vampire nur immer so viel Geld haben und ihren Reichtum zur Schau stellen? Hatten die ein Ego-Problem?
Kaum im Wagen, musste ich erst einmal die verdunkelten Scheiben herunterkurbeln. Etwas, das wohl nicht so häufig passierte, denn der Fahrer sah mich irritiert an. Der Gestank in diesem Wagen war aber zu extrem, als dass ich das ohne Frischluftzufuhr ertragen könnte.
Die Fahrt dauerte lang, mindestens zwei Stunden und die Sonne war bereits untergegangen, als wir ankamen. Der Chauffeur fuhr direkt in eine Tiefgarage und passierte noch zwei ferngesteuerte Tore, bis wir nach einigen Minuten endlich am Ziel waren. Der Wagen hielt neben einer Tür, vor der ein junges blondes Mädchen und ein großer muskulöser Typ mit merkwürdiger Hautfarbe und dunklen Haaren standen. Ich erinnerte mich daran, dass ich sie schon mal gesehen hatte. Damals, als dieses Vampirpack in meine Heimat gekommen war, um Nessie und die Cullens zu töten. Ein kleiner Anflug von Wut machte sich in mir breit und ich spürte ein leichtes Zittern, doch ich war nicht hier, um zu kämpfen. Ich brauchte einen Augenblick, um mich zu besinnen und wieder zu beruhigen.
Als ich schließlich ausstieg, verzogen die beiden angewidert das Gesicht. Ja, ich wusste, dass die mich genauso wenig riechen konnten wie ich sie und irgendwie gefiel mir das.
»Mitkommen!«, befahl das Mädchen und klang dabei wahrhaft angeekelt.
Sie ging voran durch die Tür, ich folgte ihr und der andere Typ ging hinter mir her.
Nach einer Weile wurde der Gang zunehmend dunkler. Während er anfangs auch noch normale Betonwände an den Seiten hatte, veränderte sich das Ganze allmählich. Jetzt war es altes Mauerwerk und die Luft wurde unangenehmer. Dann ging es eine Treppe hinauf und wir kamen in einen eher prunkvollen Abschnitt des Gebäudes, der von Kerzenschein erhellt wurde. Ich sah Teppiche und Gemälde, doch das alles interessierte mich herzlich wenig. Vermutlich hätte es das auch nicht getan, wenn es nicht so übel riechen würde.
Das Blondchen öffnete eine Tür, trat ein und ich folgte ihr. Der Raum wirkte eher karg und war nicht sehr groß. In seinem Zentrum stand ein Vampir, den ich sofort erkannte. Sein Name war Aro, wenn ich mich recht erinnerte und er war meines Wissens der Anführer dieser Blutsaugerbande. Direkt hinter ihm stand eine Frau mit dunklen Haaren die kleiner war als er und ängstlich wirkte. Auch sie hatte ich damals gesehen. Offensichtlich musste sie Aro wohl ständig begleiten, was ihr anscheinend keine Freude breitete.
»Ah … da ist ja
unser Gast. … Jane, Felix, wartet bitte draußen.«
»Natürlich
Meister.«
Meine Eskorte verzog sich vor die Tür und schloss diese hinter sich. Jetzt war ich praktisch alleine mit diesem arroganten Kerl und seiner kleinen Begleiterin. Was für eine Verlockung. Eine schnelle Verwandlung, ein gezielter Biss, aber das war undenkbar. Nein, ich musste mich beherrschen. Ich war hier, um die Erlaubnis zu erhalten, mit meiner Nessie zusammen zu sein und nur das zählte jetzt. Da musste ich mich wohl oder übel kooperativ zeigen.
»Nun, Mr. Black. Ich freue mich darauf, sie kennen zu lernen«, sagte er und reichte mir die Hand.
Er klang so verlogen und falsch, dass ich die Hand lieber abbeißen, statt schütteln würde, doch ich hatte keine andere Wahl, als diese Geste zu erwidern.
Was für ein widerwärtiges Gefühl. So ähnlich musste es sich anfühlen, wenn man eine Mumie berührte. Es war so, als würde ich dem Tod selbst die Hand geben und das nicht nur wegen der Kälte, sondern auch, weil ich plötzlich mein ganzes Leben wie in Zeitraffer vor meinem inneren Auge ablaufen sah. Ich hasste diesen Körperkontakt und war froh, als er meine Hand los ließ. Zufrieden lächelnd ging er ein Stück zurück.
»So, so. … Warum
überrascht mich das nicht? … Wie hätten wir von so
einem … Wolfsmann … auch ernsthaft erwarten können,
dass er sich an einen Vertrag hält?«
»Ich habe
den Vertrag eingehalten«, knurrte ich ihn an.
»Ha! Wie
amüsant. Haben wir da nicht eine Kleinigkeit vergessen? Viele
Kleinigkeiten sogar? Kann dein Volk denn nicht bis drei zählen?
Es waren drei Bedingungen und eine lautete: DIE BEZIEHUNG ZWISCHEN
DIR UND IHR MUSS ENDEN!«
Den letzten Satz brüllte er mir geradezu entgegen und ich musste seinen widerwärtigen Atem riechen, der mich leicht erzittern ließ.
»Wir hatten keine
Beziehung, verdammt.«
»Ach nein? Und was war das dann
mit deinen Geschenken? Oder dieser rührseligen Abschiedsszene,
als sie weggezogen ist? Ganz zu schweigen von deinem
Liebesbrief?«
»Na und?! Ich war niemals in ihrer Nähe
und euch ging es doch darum, dass es kein Kind geben sollte.«
»Tza,
tza, tza. … Wie anmaßend. Als ob so ein dahergelaufener
Häuptlingssohn verstehen könnte, worum es den Volturi geht.
… Aber das ist unwichtig. Die Anweisung war klar. Die
Beziehung zwischen euch musste enden, doch ihr habt sie nicht enden
lassen. Das Friedensabkommen wurde von dir schon nach wenigen Monaten
gebrochen und jetzt ist Schluss.«
Ich wusste doch, dass man diesem Schwein nicht trauen konnte.
»Und was hast du jetzt
vor? Willst du mich zur Strafe umbringen?«
»Oh nein.
Mir dir habe ich ganz andere Dinge vor. Dein Wolfspack ist uns lange
genug auf der Nase herumgetanzt. Du kommst in den Kerker und wenn
deine kleine Freundin hier auftaucht - und ich bin mir sicher, dass
sie das wird - dann gilt für sie das Gleiche. Dann werden wir
uns in Ruhe um deine Sippschaft kümmern können.«
»Lasst
meine Nessie in Ruhe!«
»Aber, aber. Willst du sie
nicht wieder in deiner Nähe habe? Du könntest sie
vielleicht sogar hören, wenn sie in der Zelle neben dir sitzt.
Zumindest wenn ihre Schreie laut genug sind. Das wäre doch auch
schon was, oder nicht?«
In dem Moment, als er mir fies und rücksichtslos ins Gesicht grinste, wusste ich, dass es sein Ernst war. Er wollte meine Nessie leiden lassen. Mein Schicksal war mir egal, aber ihres nicht. Der Zorn in mir explodierte und ich nahm die Wolfsgestalt an, während ich ihn ansprang. Ich zielte genau auf seinen Kopf und schnappte zu.
Im nächsten Augenblick schlug ich hart mit dem Kopf gegen die Wand und sackte kurz benommen zusammen. Wie konnte ich ihn nur verfehlen? Sein unverhohlenes Lachen schürte die Wut in mir.
»Und noch ein Verstoß gegen unser Abkommen. Wie vorhersehbar«, verhöhnte er mich.
Er stand schon wieder oder immer noch in der Mitte des Raumes und ich griff ihn erneut an, doch abermals schnappte ich an ihm vorbei und krachte wie zuvor hart in die Wand. Er konnte doch unmöglich so schnell sein.
»Ha, ha, ha … wie unterhaltend. Vielleicht sollten wir einen Reifen zum durchspringen holen? Was meinst du, Renata?«
Ich griff ihn noch ein drittes und viertes Mal an, doch immer wieder ohne Erfolg.
»Genug jetzt. Auf die
Dauer wird das doch langweilig. … Jane? Würdest du bitte
unserem Gast zeigen, wie wir mit impertinenten Störenfrieden
verfahren?«
»Sehr gerne, Meister«, sagte die
kleine Blonde, während sie den Raum betrat.
Jane lächelte nicht weniger
erbarmungslos als ihr Meister und dann fühlte ich plötzlich
einen grausamen Schmerz, als ob mein ganzer Körper zu brennen
schien. Obwohl ich es nicht wollte, jaulte ich laut auf. Es war
entsetzlich und es wollte einfach nicht aufhören. Ich lag sofort
am Boden und zuckte nur noch vor mich hin. Die grauenhafte Qual
dauerte minutenlang und stoppte dann kurz, aber nur für einen
Atemzug und gleich darauf brannte mein Körper erneut.
Ich wusste nicht mehr, wie lange die Folter gedauert hatte, aber irgendwann verlor ich das Bewusstsein. Als ich wieder erwachte, lag ich in einem anderen Raum. Er war klein und stank erbärmlich. Der modrige Geruch war dabei noch der angenehmste, aber mir war klar, dass in diesem Verlies für gewöhnlich Vampire eingeschlossen wurden. Jeder Stein trug ihr ekelhaftes Aroma und der Boden war durchzogen von einem kalten Blutduft.
Es war fast stockdunkel, doch meine Wolfsaugen erkannten den zarten Lichtschimmer, der die Umrisse der Tür erkennen ließ. Sie wirkte sehr massiv und mir war klar, dass sie sicherlich nicht einfach mit roher Gewalt durchbrochen werden konnte, denn sonst hätte sie wohl kaum Verwendung bei einer Zelle für Vampire gefunden. Trotzdem wollte ich mein Glück testen und sprang die Tür an. Wie erwartet rührte sie sich nicht, doch ich wiederholte den Versuch noch ein paar Mal. Jedes Mal hallte es laut durch den Raum, doch das war mir egal, denn ich musste einfach versuchen, hier heraus zu kommen. Dann spürte ich auf einmal wieder diesen entsetzlichen Schmerz und hatte keine andere Wahl, als mich am Boden zusammenzukauern.
»Böser Hund«, hörte ich plötzlich Janes Stimme. »Wenn du nicht brav bist, muss ich dich bestrafen. Also verhalte dich ruhig.«
Das Brennen hörte wieder auf und ich schüttelte mich. Es dauerte eine Weile, bis ich wieder klar denken konnte. Die Tür hatte nicht wirklich etwas abbekommen und selbst wenn ich sie aufbrechen könnte, würde ich wohl nicht sehr weit kommen. Verdammt, wie konnte ich mich nur dazu hinreißen lassen, diesen verfluchten alten Vampir anzugreifen. Das hatte alles nur noch schlimmer gemacht. Ich hätte mich nie so provozieren lassen dürfen. Jetzt musste womöglich auch noch Nessie dafür leiden.
Oh Gott, warum habe ich nicht vorher daran gedacht, meinem kleinen Engel für alle Fälle einen Abschiedsbrief zu schreiben? Ich hätte ihr verbieten können, in einer solchen Situation hierher zu kommen. Jetzt konnte ich nur noch hoffen, dass Edward und Bella die Gefahr erkannten und verhinderten, dass Nessie hierher kam.
Ruhelos lief ich in meiner Zelle im Kreis. Es wäre gut gewesen, wenn ich von hieraus Zugang zu den Gedanken des Rudels gehabt hätte, doch dafür war die Entfernung wohl zu groß. Ich versuchte auch zu Sam in Kontakt zu treten, aber das funktionierte ebenfalls nicht. Verflucht, ich hatte einfach keine Chance sie zu warnen. Gut, meine Leute würden ohnehin davon ausgehen, dass ich gefangen oder getötet wurde, wenn ich nicht zurückkam und mich nicht meldete. Dann würden sie sich sicherlich auf einen Angriff vorbereiten. Hoffentlich würden sich die Cullens ihnen wieder anschließen. Mehr Sicherheit könnten sie Nessie ohnehin nicht bieten.
Wenn ich doch nur auch etwas tun könnte. Stattdessen muss ich hier in der Dunkelheit ausharren und abwarten, was als nächstes passieren würde. Die Ungewissheit war schrecklich und ich spürte die Einsamkeit, die mich ergriff. Ich war in Wolfsgestalt und hatte mich noch nie zuvor so alleine gefühlt, wenn ich diese Gestalt gewählt hatte. Ich vermisste die Stimmen meiner Freunde in meinem Kopf und die Gerüche des Waldes. Das Gefühl des Waldbodens unter meinen Füßen und das Gezwitscher der Vögel. Vor allem aber vermisste ich meinen kleinen Schatz, doch hoffte ich um ihretwillen, dass wir uns nie wieder sehen würden. All diese Gedanken waren viel quälender als die Folter durch Jane.
Trotz meiner Hoffnungslosigkeit
spürte ich mehr und mehr, dass ich hungrig war, doch ich würde
niemals um etwas zu Essen bitten. Das Knurren meines Magens war auch
eine willkommene Ablenkung von meinen zermürbenden Gedanken.
Abgesehen davon schien mir der Hungertod eine gute Lösung zu
sein, um mein Schicksal frühzeitig zu beenden. Der Tod im Kampf
würde mir hier wohl ohnehin nicht vergönnt sein. Für
alle Fälle würde ich in der Wolfsgestalt bleiben, denn wenn
sich eine Gelegenheit bieten würde, einem dieser verkommenen
Dreckskerle den Kopf abzubeißen, würde ich sie nutzen.
Wenn nicht, würde ich als Wolf wenigstens schneller meine
Kraftreserven aufzehren und so mit etwas Glück früher den
Tod finden.
Endlose Stunden verbrachte ich in diesem finsteren Gefängnis und hatte jegliches Zeitgefühl verloren. Ich hatte sogar zwischenzeitlich den Kampf gegen die Müdigkeit verloren und war eingeschlafen. Als ich wieder erwachte, war es genauso dunkel wie zuvor. Nichts schien sich um mich herum zu verändern. Ich spürte nur eine Veränderung. Ich wurde allmählich schwächer. Nie zuvor hatte ich ausprobiert, wie lange ich wohl als Wolf ohne Nahrung auskommen könnte. Wozu auch. Allzu leicht überließ ich dann meinen Instinkten die Kontrolle und jagte etwas. Doch jetzt? Wie lange würde ich wohl noch aushalten?
Plötzlich spürte ich gar nichts mehr. Was war jetzt auf einmal mit mir los? Ich konnte nichts hören, nichts riechen, nichts ertasten. Ich spürte noch nicht einmal mehr meinen Hunger. Es war so, als wären mir alle Sinne genommen worden. Fühlte sich so sterben an? Konnte das wirklich so schnell gehen und so friedlich sein?
Ich schwebte minutenlang durch das Nichts, doch mit einem Mal kamen meine Sinne wieder zurück. Es war extrem hell und meine Augen brannten so sehr, dass ich sie zusammenkneifen musste. Ich spürte, dass ich auf einem glatten, kalten Boden lag und nicht mehr in meiner Zelle war. Meine Fußgelenke schmerzten, als ob sie gequetscht worden waren. Wo hatte man mich hingebracht? Die Gerüche von Vampiren stiegen mir in die Nase und einige davon kamen mir sehr vertraut vor. Dann erkannte ich eine ganz besondere Duftnote und sprang auf. Das war der Geruch meiner Nessie.
»Platz!«, hörte ich Jane sagen und im nächsten Augenblick kam das Feuer über mich.
Ich versuchte mich dagegen zu stemmen, doch ich hatte nicht die Kraft und keine Chance.
»Lasst ihn in Ruhe!«, brüllte die Stimme, die ohne Umweg direkt in mein Herz eindrang.
Dann verschwand der Schmerz und stattdessen fühlte ich die Umarmung meines Engels. Ich wusste sofort, dass sie es war, auch wenn ihre Hände und Arme inzwischen größer waren. Ihr herrlicher Geruch war unverkennbar und ihre Nähe fühlte sich unglaublich gut an. Sie war hier bei mir und ich wusste, dass das die schlimmste Katastrophe für uns beide war. Nichts hatte ich mehr ersehnt und nichts mehr gefürchtet.
»Bitte verschont ihn«, hörte ich die jammernde Stimme meiner Nessie. »Ich flehe euch an. Lasst mich mit ihm gehen. Wir werden euch nie wieder belästigen oder euch Ärger machen. Habt doch bitte Mitleid.«
Mitleid? Oh Kleines, ich wusste nur zu gut, dass diese Dreckskerle kein Mitleid kannten, doch ich klammerte mich an die Hoffnung, dass ihr ein besseres Schicksal vergönnt war, als mir. Wenigstens durfte ich noch mal ihre Berührung spüren und dem Klang ihrer melodischen Stimme lauschen.
»Marcus, ich beschwöre dich. Gib der Liebe doch bitte eine Chance. Du weißt doch bestimmt, wie es sich anfühlt, wenn man liebt. Bitte, hab’ doch Erbarmen.«
Erneut herrschte kurzes Schweigen, nachdem mein Schatz um Gnade gefleht hatte, doch die Stille währte nur kurz und wurde dann von Aros grausamer Stimme durchbrochen.
»Tötet den Wolf«, hörte ich ihn sagen.
Nun war es also soweit. Mein Ende war beschlossen, doch es wurde nur mein Tod befohlen, nicht ihrer. Das war sehr gut. Ich musste gehen, aber Nessie durfte leben. Das war mir ein großer Trost.
“Lebewohl mein Engel”, dachte ich zum Abschied und bereitete mich innerlich auf mein Ende vor.
Als ich erwachte, fiel mir gleich das etwas andere Licht in meinem Zimmer auf. Irgendwie war es heller als sonst. Gut, es war auch etwas später, denn an Samstagen konnte ich schließlich ausschlafen, aber trotzdem hatte ich so eine Ahnung, was der Grund sein könnte.
Ich sprang aus dem Bett und lief zum Fenster. Tatsächlich! Es hatte geschneit. Normalerweise gab es hier ja keinen Schnee aber in diesem Winter war es ungewöhnlich kalt. Das war auch das Gesprächsthema Nummer 1 in der Schule gewesen. Dank der Informationen von Alice wusste ich natürlich schon vorher, dass es schneien würde, doch so richtig konnte ich es erst jetzt glauben, wo ich es mit eigenen Augen sah. Ob ich am Montag meine Freundinnen in der Schule zum Bau eines Schneemanns überreden könnte?
Mein erstes Trimester in der Sixth Form war ziemlich interessant gewesen. Endlich lernte ich auch mal etwas wirklich Neues in der Schule. Toll war auch, dass ich neue Freundinnen kennen gelernt hatte. Da viele die Schule nach dem letzten Jahr verlassen hatten, wurden die Klassen neu zusammengestellt. Nun saß ich zwischen Rebecca und Mary und freundete mich mit den beiden auch gleich an. Wir hatten viel Spaß zusammen und natürlich saßen sie auch in der Kantine mit an unserem Tisch. Platz hatten wir inzwischen ja genug. Susis Freund ging mittlerweile auf die Universität in Glasgow, wie auch Alice und Jasper, die jeden Morgen dorthin fuhren. Connie und Nathan hatten Berufsausbildungen begonnen und waren auch nicht mehr an unserer Schule. Wir trafen sie ab und zu an den Wochenenden, doch der Kontakt brach allmählich ab. Gabriel war schon vor über einem Jahr weggezogen und ich hatte ihn auch nie wieder gesehen. Sicherlich war das für ihn auch das Beste so.
Paulina hatte sich wiederum vor vier Monaten von Simon getrennt. Ich hatte das ja schon eine ganze Weile kommen sehen, da er sich schon länger komisch verhalten hatte und die beiden kaum noch wirklich wie ein Paar gewirkt hatten, als es dann aber soweit war, kam es doch überraschend. Nun ja, so hatten wir jetzt jedenfalls einen reinen Mädchentisch und das war mir sehr recht. Es wurde zwar reichlich gegackert und es verging nicht eine Woche, in der man nicht erfolglos versucht hätte, mich mit einem Jungen zu verkuppeln, aber es war wirklich lustig mit den Mädels. Vor allem Paulina war mir sehr ans Herz gewachsen und wir trafen uns eigentlich jeden Samstag, um etwas miteinander zu unternehmen. Das wollten wir heute Nachmittag wieder machen und Rebecca und Mary würden auch dabei sein.
Mit meinen Freundinnen etwas zu unternehmen war immer eine gute Ablenkung. Seit ich Jacobs Liebesbrief erhalten hatte, verzehrte ich mich so sehr nach ihm. Jede Nacht träumte ich von ihm und jeden Tag musste ich gegen den Drang ankämpfen, zum Flughafen nach Glasgow zu fahren und einfach die nächste Maschine nach Seattle zu nehmen. Es war so verlockend und so einfach und doch absolut unmöglich. Die ganze Familie litt mit mir, doch Jasper am meisten von allen. Er spürte meine Sehnsucht ganz deutlich und deshalb machte er auch kein Emotionstraining mehr mit mir. Er meinte, dass meine ständige Gegenwehr gegen meinen Herzenswunsch, den ich mir doch nicht erfüllen durfte, mehr als genug Training sei. Stattdessen absolvierte er jetzt häufiger ein Kampftraining mit mir, damit ich den Einsatz meiner Gabe perfektionieren konnte, mich aber auch nicht blind darauf verließ. Ihm fiel immer wieder etwas Neues ein und jedes Mal, wenn ich gerade dachte, dass ich den Dreh raus hatte, machte er wieder etwas vollkommen Überraschendes. Er wusste so unglaublich viel über das Kämpfen, dass es vermutlich 100 Jahre dauern würde, bis er mich alles gelehrt hätte. Trotzdem versuchte ich so viel wie möglich von ihm zu lernen, denn ich wollte möglichst gut darin werden. Einerseits wusste ich ja nicht, ob das irgendwann vielleicht mein Leben oder das eines anderen retten könnte und andererseits fühlte sich ein Lob von Jasper immer unheimlich toll an.
Manchmal war das Training mit ihm aber auch sehr unangenehm. Es machte mir nichts aus, wenn er mich körperlich bis zum äußersten forderte und ich hinterher vollkommen erschöpft war, aber manchmal verlangte er Dinge, die ich wirklich nicht machen wollte. So forderte er einmal von mir, dass ich ihm richtig in die Kehle beißen sollte. Das war echt schlimm. Ich wollte ihn doch nicht verletzen, aber er meinte, ich müsste erfahren, wie das ist, damit ich im Ernstfall keinen Fehler machte.
Anfangs traute ich mich nicht ihn wirklich zu beißen und dafür schrie er mich an und war so gemein zu mir, obwohl ich gut gekämpft hatte. Irgendwann war ich dann richtig wütend auf ihn, dass ich tatsächlich mit aller Kraft zubiss. Es war ein merkwürdiges Gefühl, als das Gewebe unter dem Druck meiner Zähne nachgab. Sie glitten tief in seinen Hals und dann riss ich ihm ein großes Stück heraus. Es knirschte, als ob ich in einen Stahlträger beißen würde und schmeckte seltsam nach Metall und Stein. Vielleicht so ähnlich wie Eisenerz.
Ich war mir sicher, dass Jasper höllische Schmerzen haben musste, doch er ließ sich fast nichts anmerken. Gott, ich war selbst geschockt deswegen, aber er nahm das so souverän, ja fast gelassen hin, als wäre das gar nichts. Im ersten Moment hatte ich furchtbare Angst, dass er ausrasten könnte, doch er tat es nicht. Er kam ganz ruhig, wenn auch mit angespannter Mine, auf mich zu, nahm das Stück Hals in die Hand, besprühte es mit seinem Gift und drückte es anschließend auf die Wunde. Dann meinte er nur noch »gut gemacht« zu mir und klopfte mir auf die Schulter. Man, war das eigenartig. Eine verrückte, aber sicherlich auch sehr wertvolle Lektion.
Alice war deshalb aber eine Zeit lang richtig böse mit mir, weil ihr Jasper jetzt eine neue Narbe hatte. Das war sehr schlimm für mich, denn sie war noch nie so sauer auf mich gewesen und ich war total verzweifelt deswegen. Zum Glück hatte Jasper ihr immer wieder gesagt, dass ich genau das gemacht hätte, was er von mir wollte und Gott sei Dank vergab sie mir schließlich, verlangte aber, dass so etwas nie wieder vorkommen dürfte. Das versprach ich ihr natürlich sehr gerne, denn ich wollte das auch nicht noch mal erleben.
Das absolut Wichtigste für mich war aber die Frage, ob ich jetzt noch schwanger werden konnte oder nicht. In den letzten Wochen vor meinem siebten Geburtstag hatte sich meine Entwicklung so stark verlangsamt, dass sich Carlisle anfangs nicht sicher war, ob ich mich danach immer noch langsam weiterentwickelte, oder ob die Veränderung meines Körpers wirklich aufgehört hatte. Er untersuchte mich jede Woche äußerst gründlich, um ja kein Detail zu übersehen. Erst jetzt, vier Monate später, war er wirklich davon überzeugt, dass alles unverändert blieb. Ein kleines bisschen bedauerte ich, dass ich somit nie ein Kind bekommen konnte und ich konnte jetzt besser verstehen, warum Rose darunter litt. Dennoch verspürte ich deswegen aber vor allem Glück und Hoffnung, denn jetzt war endlich die entscheidende Voraussetzung gegeben, damit wir die Volturi bitten konnten, die letzte Bedingung des Friedensabkommens aufzuheben. Wir hielten es für das Beste, wenn ich eine förmliche Bittschrift an den hohen Rat schicken würde und wir hatten ein ganzes Wochenende zusammen an dem Brief herumgebastelt, bis er nahezu perfekt war. Dann fasste Carlisle noch eine medizinische Abhandlung über mich ab und die schickten wir zusammen mit dem Schreiben an die Volturi.
Am liebsten wäre ich selbst hingeflogen, um den Brief persönlich zu übergeben und sie wenn nötig auf Knien anzuflehen, uns diese Gnade zu gewähren, doch meine Familie hielt mich davon ab. Diese Option hätte ich schließlich immer noch, wenn mein Gesuch abgelehnt würde, aber wir hofften natürlich alle, dass das nicht passierte.
Inzwischen warteten wir seit zwei Wochen auf eine Antwort, doch es kam keine.
Alice konnte da beim besten
Willen nichts sehen, zumal die Entscheidung etwas mit mir und Jacob
zu tun hatte und da war sie, wie sie selbst sagte, blind wie ein
Maulwurf. Carlisle versuchte mir hingegen Mut zu machen und meinte,
dass das vielleicht gar kein schlechtes Zeichen sei. Offensichtlich
würden sie intensiv darüber nachdenken und das war
sicherlich besser, als wenn sie es ohne zu zögern sofort
abgelehnt hätten. Also warteten wir Tag für Tag und ich
versuchte weiterhin, wie die letzten knapp eineinhalb Jahre auch,
immer das Beste daraus zu machen.
Seufzend löste ich mich wieder von dem schönen winterlichen Ausblick, küsste wie jeden Morgen meine liebste Holzfigur und machte mich startklar für die Jagd. Dann ging ich hinunter ins Wohnzimmer, wo die Anderen schon auf mich warteten. Wir begrüßten gerade einander, als plötzlich Dads Handy piepste. Schnell holte er es heraus, blickte überrascht auf das Display und ging dran.
»Jacob? Was ist los?«
Jacob? Hatte er eben Jacob gesagt? Augenblicklich schlug mein Herz bis zum Hals und dann hörte ich tatsächlich Jacobs Stimme am Telefon. Oh, ich wollte unbedingt dieses Handy haben. Jetzt sofort. Ich zitterte geradezu vor Aufregung und war gespannt wie die Sehne eines Bogens, kurz bevor der Pfeil abgeschossen wurde. Ich spitzte die Ohren und hörte ganz genau zu, wie Jacob davon berichtete, dass die Volturi ihn zu einer Befragung geladen hätten.
»Was? … Das können die doch nicht machen«, sagte mein Dad ungehalten und sprach mir damit aus der Seele.
Warum nur luden die Volturi meinen Jacob ein und mich nicht? Hatte der Brief an mich etwa Verspätung? Brauchte die Post von Italien aus nach Schottland denn länger als in die USA? Was hatte das zu bedeuten?
Dad wirkte sehr verärgert deswegen und Jacobs Lachen klang sarkastisch. Sie redeten einfach weiter, ohne mich zu beachten. Ich platze fast vor Ungeduld und verstand einfach nicht, warum Dad mir nicht das Telefon gab. Er musste doch wissen, wie gerne ich mit ihm reden würde. Das war doch Jacobs Stimme, dich ich da hörte, oder? Da hatte ich mich doch unmöglich getäuscht. Wer sonst hätte eine Einladung von den Volturi bekommen sollen. Ich hörte doch, wie er sagte, dass er die Einladung annehmen wollte und dass ihn nichts davon abbringen könnte. Das bildete ich mir doch nicht ein. Warum reagierte Dad nicht auf meine Gedanken? Allmählich wurde ich richtig unsicher.
»Ist das Jacob?«,
fragte ich aufgeregt.
»Ja, Liebling.«
»Oh
bitte, darf ich mit ihm reden?«
»Hast du sie gehört,
Jacob?«
»Natürlich habe ich sie gehört.
Jetzt gib ihr schon das Telefon.«
“Oh Gott ja, bitte, ich will so gerne mit ihm reden. Bitte Daddy. Bitte, bitte, bitte”, dachte ich und fühlte mich, als wäre ich kurz vor dem Durchdrehen.
»Ich weiß, dass ihr euch das wünscht, aber es ist gefährlich. Aro wird durch seine Gabe alles wissen, was du weißt und wenn du jetzt mit ihr sprichst, dann habt ihr Kontakt. Bitte Bruder, bringe dich nicht zusätzlich in Gefahr. Das würde dir als Vertragsbruch ausgelegt werden.«
Was? Dad wollte mich nicht mit ihm reden lassen? Ich war furchtbar enttäuscht und hörte Jacob laut ins Telefon fluchen. Dann griff sich plötzlich Mom das Handy. Würde sie es mir vielleicht erlauben? Das hoffte ich sehr.
»Jake bitte. Du musst vorsichtig sein. Du weißt doch, wie sehr sie dir misstrauen.«
Nein, Mom würde mir das Telefon auch nicht geben. Frustriert setzte ich mich aufs Sofa und kämpfte mit meinen heraus brechenden Tränen ein aussichtsloses Gefecht.
Eine Weile herrschte Schweigen und nur mein leises Weinen war überdeutlich zu hören. Dann bekam mein Dad wieder das Telefon. Erneut hörte ich die deprimiert klingende Stimme meines Jacobs.
»Mein Bruder, wenn ich nach Italien reise und nicht zurückkehre, dann schützt bitte meine Leute, ja?«
Er erwartete zu sterben? Um Himmels Willen, bitte nicht. Meine Augen liefen über und ich schluchzte laut auf.
»Ich liebe dich!«,
schrie ich in Richtung des Telefons und hoffte, dass mein Jacob es
hören würde.
»Ich dich auch, Nessie«, kam es
mit zittriger Stimme zurück und dann legte er auf.
Jämmerlich heulend ließ ich mich auf die Lehne des Sofas fallen und ergab mich der Trostlosigkeit, die ich gerade so furchtbar intensiv verspürte. Alles Glück war aus meinem Herzen verschwunden. Die Hoffnung auf ein Wiedersehen war nur noch schwach und brüchig, wie ein ausgetrockneter Ast eines toten Baumes. Jeder gute Vorsatz, aus meiner Zeit hier das Beste zu machen, hatte sich in Nichts aufgelöst.
Mom und Rose waren gleich an meiner Seite und auch die Anderen waren ganz in der Nähe. Ich spürte, wie Jasper versuchte mir etwas Zuversicht zu schenken, doch das war sinnlos. Ich wusste es besser.
»Hab’ Mut, Sternchen. Noch ist nichts verloren«, sagte Mom sanft und streichelte mir über das Haar.
Ich ließ ihre Worte auf mich wirken und suchte krampfhaft nach einem rettenden Strohalm, der mir etwas Vertrauen geben könnte, aber das schien so aussichtslos zu sein. Ich hatte das Telefonat doch mitbekommen und genau gespürt, wie angespannt und pessimistisch alle waren. Dass Jacob und nicht ich zu den Volturi gebeten wurde, war ein schlechtes Zeichen. Ein sehr schlechtes Zeichen. Die Liebe meines Lebens würde sich einer schrecklichen Gefahr aussetzen und das war kaum zu ertragen. Wenn er sterben sollte, wäre auch mein Leben zu Ende, das fühlte ich ganz genau. Ich könnte nicht weitermachen, ohne die Hoffnung auf ein Zusammenleben.
Je mehr ich darüber nachdachte, desto klarer wurde mein Entschluss, dass ich dabei nicht tatenlos zusehen konnte. Mein Platz war an seiner Seite und ich musste auch nach Volterra. Ich wischte die Tränen ab und erhob mich vom Sofa.
»Mom, ich muss zu ihm. Ich
fliege auch nach Italien.«
Entsetzt sah sie mich an.
»Was?
… Das ist viel zu riskant. Ich verbiete es dir.«
»Nein
Mom«, sagte ich ruhig und entschlossen. »Ich liebe ihn
nicht weniger als du Daddy liebst. Ich habe schon viel zu lange
versucht, ohne ihn zu leben. Ich muss bei ihm sein, gerade jetzt. Du
kannst mich nicht aufhalten.«
»Aber Sternchen, bitte.
Das kannst du mir doch nicht antun.«
»Ach Momma, ich
will dir überhaupt nichts antun, aber ich muss zu ihm. Verstehst
du das denn nicht? Er braucht mich und ich brauche ihn. Wir gehören
zusammen und das schon mein ganzes Leben. Bitte Momma, versuche nicht
mich aufzuhalten.«
»Aber … du … dann
komme ich mit dir.«
»Das ist unklug, Bella«,
meldete sich plötzlich Jasper zu Wort und wir schauten ihn alle
an. »Ich verstehe ja, dass du ihr helfen und beistehen willst.
Das wollen wir alle, aber wir helfen ihr mehr, wenn wir für Aro
eine Gefahr werden, sollte er ihr etwas antun. Uns ihm auszuliefern
und auf seine Gnade zu hoffen ist taktisch unklug. Wir sollten unsere
Verbündeten um uns sammeln und nach Forks reisen. Wenn er Nessie
dann tatsächlich etwas antun würde, könnten wir
zurückschlagen und das wäre ihr bester Schutz. Du bist
dabei unerlässlich, das weißt du.«
Mom schaute ihn finster an und ging schnaubend auf ihn zu. Sie schien unglaublich wütend zu sein.
»Jasper, du hast sie ja
wohl nicht mehr alle. Erwartest du ernsthaft von mir, dass ich meine
Tochter Aro ausliefere, um mich selbst für einen Kampf zu
motivieren?«
»So habe ich das doch gar nicht gesagt.
Ich meine…«
Mit einer energischen Handbewegung schnitt sie ihm das Wort ab und ließ ihn nicht ausreden.
»NIEMALS!«, brüllte sie ihn an. »Kennst du mich so schlecht? Was glaubst du, würde Aro dann machen? Er würde Jane anweisen, Renesmee zu foltern. Das könnte ich nicht ertragen. Dir mag ihr Leid vielleicht egal sein, aber für mich wäre das die Hölle, also komm’ mir nicht mit deiner verfluchten Taktik.«
Jasper war geschockt und ich konnte ihm deutlich ansehen, dass er Moms Vorwurf als ziemlich unfair empfand. Ihm war mein Leid sicherlich nicht egal, aber er würde es wohl als notwendiges Übel eingehen und ich auch, wenn es Jacob retten könnte. Alice war auch sofort an Jaspers Hand und sah nicht weniger bestürzt aus. Überhaupt wirkten alle sehr betroffen.
»So kommen wir nicht weiter«, ergriff Carlisle das Wort. »Jasper, wir kennen dein militärisches Genie, aber diesen Wege können wir nicht gehen, auch wenn er der sicherste wäre. Aro kennt uns. Er weiß, dass wir nicht wirklich einen Krieg wollen und er würde das ausnutzen. Genauso wenig können wir Renesmee und Jacob ihrem Schicksal überlassen. Vielleicht sollten wir alle zusammen gehen.«
»Stopp!«, rief ich
dazwischen. »Ich will nicht, dass ihr euch alle meinetwegen in
Gefahr begebt. Das ist doch nur meine Sache.«
»Nein
Liebes«, sagte Esme sanft und doch eindringlich zu mir. »Wir
sind eine Familie und halten zusammen. In der Freude und im Leid. Das
ist nicht allein deine Sache, das betrifft uns alle. Wir tun das
nicht nur für dich, sondern auch für Jacob, deine Eltern
und uns selbst. Wir alle könnten es uns nie verzeihen, wenn dir
wegen unserer Untätigkeit etwas zustoßen würde, das
muss dir doch klar sein.«
»Aber…«, setzte
ich an, wusste jedoch nicht, was ich sagen sollte.
Ich blickte in all die besorgten Gesichter und erkannte in ihren Augen nichts als Zustimmung zu dem, was Esme gesagt hatte.
»Kein aber, Kleines«, fuhr Esme gütig lächelnd fort und kam dabei zu mir, um einen Arm um mich zu legen. »Du bist ein Teil von uns wir können dich nicht deinem Schicksal überlassen.«
Mom ergriff meine Hand und drückte sie so fest, als würde sie versuchen, Esmes Worte in mich hinein zu quetschen, aber ich hatte es auch so kapiert.
»Dann wollt ihr jetzt alle mit mir kommen?«
Ich sah sie an und außer Jasper nickte mir jeder zu. Es war nicht so, dass er seine Zustimmung verweigerte, sondern er schien zu sehr im Gedanken vertieft zu sein und Dad schaute ihn aufmerksam an. Dann blickte Jasper kurz zu ihm auf und er nickte.
»Darf ich euch dann einen Plan B vorschlagen?«
Mom seufzte kurz auf, doch Dad nahm sofort ihre Hand und sie nickte schließlich ebenfalls.
»Gut. … Wenn nur
wir zu den Volturi reisen, ist das Risiko sehr groß für
uns. Wir sind Aro schon lange ein Dorn im Auge und jetzt hätte
er sicherlich eine gewisse Legitimation, uns alle zu töten. Eine
sehr verlockende Situation für ihn. Wir könnten unsere
Erfolgsaussichten deutlich erhöhen, wenn wir unsere Freunde an
unserer Seite hätten. Sie alle wären ohnehin in größter
Gefahr, wenn die Volturi uns vernichten sollten und ich denke, die
meisten würden sich uns anschließen. Vor allem Zafrina,
Maggie und Benjamin könnten sehr hilfreich sein, wenn sie uns
beistehen würden.«
»Du solltest Siobhan nicht
vergessen«, ergänzte Carlisle noch lächelnd.
Jasper nickte ihm zu, aber ich hatte den Eindruck als würde er es nicht ganz so sehen wie Carlisle. Was dahinter steckte war mir ohnehin unklar, aber klar war, dass viele Vampire wegen mir ihr Leben riskieren sollten und das gefiel mir nicht. Außerdem würden sie doch nicht alle so schnell zu uns kommen können.
»Aber Jasper, wir können
sie doch nicht alle diesem Risiko aussetzen.«
»Das
sieht du falsch, Nessie. Ihr Risiko wird erheblich kleiner, wenn sie
sich uns anschließen und wir dadurch das Ganze friedlich lösen
können, so wie damals vor sieben Jahren. Nur auf die Wölfe
müssen wir dieses Mal leider verzichten, denn sie würden
als Provokation empfunden werden.«
»O.K., das verstehe
ich, doch wie sollen die alle so kurzfristig hierher kommen? Wir
müssen doch so schnell wie möglich nach Italien.«
»Nein,
nicht so schnell wie möglich, sondern so stark wie möglich.
Du willst doch Jacob retten, oder?«
»Natürlich
will ich das«, sagte ich fast vorwurfsvoll, denn die Frage war
ja wohl überflüssig.
»Dann musst du einsehen, dass
wir nur dann dazu eine Chance bekommen, wenn wir mit vereinten
Kräften antreten.«
Das gefiel mir nicht, doch ich hatte wohl keine andere Wahl.
»Wann können wir denn
dann endlich dorthin reisen?«
»Wenn wir uns aufteilen
und schnellstmöglich aufbrechen, dann schaffen wir es vielleicht
in drei Tagen.«
»Drei Tage?«, wiederholte ich
etwas mutlos.
Eine sehr lange Zeit für Jacob in der Gewalt der Volturi und damit auch eine viel zu lange Zeit für mich, doch ich sah keine Alternative. Mir blieb nichts anderes übrig, als Jasper zu vertrauen.
Nachdem das geklärt war, wurde schnell das weitere Vorgehen besprochen. Carlisle und Esme sollten nach Irland reisen und den irischen Zirkel aufsuchen. Alice und Jasper würden nach Ägypten fliegen und Benjamin und Tia suchen. Emmett und Rosalie würden sich auf den Weg zu den Denalis machen und ich sollte mit Mom und Dad die Amazonen überzeugen. Danach sollten wir nach Perugia fliegen, da nur wenige diesen Flughafen für Reisen zu den Volturi nutzten und er daher vermutlich nicht überwacht wurde. Jasper befürchtete zwar, dass wir auch jetzt überwacht würden, doch er hielt diese Vorsichtsmaßnahme trotzdem für sinnvoll.
Alice machte sich sofort daran, am PC die Reisen für uns zu buchen und ich sagte schnell telefonisch meine Verabredung mit meinen Klassenkameradinnen ab. Ich fragte Jasper, warum wir unsere Vampirfreunde nicht auch einfach anrufen würden und er meinte dazu, dass wir die Amazonen so zum Beispiel nicht erreichen könnten und dass das, was wir hier verlangten, nun wirklich nichts wäre, das man am Telefon besprechen sollte. Die Erfolgsaussichten wären bei einem persönlichen Gespräch Auge in Auge ohnehin deutlich höher. Das war natürlich einleuchtend und ich kam mir ziemlich dämlich vor, dass ich das überhaupt gefragt hatte.
Im Anschluss gingen wir noch auf einen schnelle Jagd und brachen dann gleich zum Flughafen auf. Alice hatte unterwegs versucht so gut es ging alle möglichen Gefahren auf unseren Reisen zu erkennen und uns Tipps zu gegeben. Nun ja, mir natürlich nicht und Mom und Dad konnte sie nicht wirklich viel sagen, da sie ja mit mir reisten, aber die Anderen sollten ziemlich sicher sein.
Dann verabschiedeten wir uns voneinander. Unser Flug war der Erste und darüber war ich sehr froh, denn unsere Reise war ja auch die längste. Gut, die Reise zu den Denalis war auch nicht viel kürzer, aber Emmett und Rose mussten ja auch nicht stundenlang durch den Dschungel rennen.
Den ganzen Flug über war ich furchtbar ungeduldig und versuchte mehrmals erfolglos mich selbst wieder zu beruhigen. Das Treffen mit unseren Freundinnen machte mir eigentlich keine großen Sorgen, denn ich wusste, wie gerne Zafrina mich hatte. Im Grunde war es mir gerade deshalb unangenehm sie darum bitten zu müssen, aber Dad meinte zu mir, dass es für sie bestimmt noch viel schlimmer wäre, wenn sie irgendwann davon erfahren würde und wir sie nicht um Hilfe gebeten hätten. So verrückt wie das klang, so sicher war ich mir doch, dass er damit vollkommen recht hatte.
Er erzählte mir während
des Fluges auch so ziemlich alles, was er über die Wachen der
Volturi wusste. Er beschrieb mir, wie sie aussahen und welche
Fähigkeiten sie hatten und ich versuchte alles so gut es ging
aufzunehmen und mir zu merken. Einige hatte ich ja schon damals vor
knapp sieben Jahren gesehen, als ich noch fast ein Baby war. Ich
hatte noch ein paar Erinnerungen daran und zeigte Dad die Bilder,
damit er mir sagen konnte, wer welcher Vampir war. So konnte ich
wenigstens ein paar Gesichter zuordnen.
Die Reise dauerte praktisch einen ganzen Tag und ich hatte zwischendurch nur kurz und sehr schlecht geschlafen. So war es anschließend unheimlich anstrengend, durch den Urwald zu rennen. Ich musste mich praktisch voll verausgaben und war ziemlich erschöpft, als wir ihr Lager erreichten. Zum Glück waren sie alle in der Nähe und hatten unser Kommen bemerkt.
Die anfängliche überraschende Wiedersehensfreude wich ziemlich schnell der Verärgerung über die Volturi, nachdem wir sie über den Grund unseres Besuchs informiert hatten. Wie erwartet waren alle drei sofort bereit uns zu begleiten. Leider ging unser Rückflug erst am nächsten Tag und so entschieden wir uns dafür, die Wartezeit hier im Urwald zu verbringen. Das war mir eigentlich sogar sehr recht, denn ich war ziemlich K.O.
Zafrina wollte natürlich alles über mich und meine Liebe zu Jacob erfahren und ich schickte ihr noch einige meiner wichtigsten Erinnerungen, bevor ich sie bat, ein bisschen schlafen zu dürfen. Sie lächelte mich sanft an und dann schickte sie mir eine Illusion in der Jacob in einem Bett schlief und ich mich an ihn kuscheln und bei ihm schlafen durfte. Auch wenn sich dieser Jacob nicht so ganz echt anfühlte, so war es doch wunderschön und ich schlief sehr schnell und wahnsinnig glücklich ein.
Als ich erwachte, war da noch immer die Illusion von meinem schlafenden Jacob und es war unheimlich verlockend, einfach bei ihm liegen zu bleiben. Aber ich wusste auch, dass das nicht real war.
»Du kannst jetzt aufhören,
Zafrina«, sagte ich laut und stellte im nächsten Moment
verwundert fest, dass ich von ihr getragen wurde, während sie
schnell durch den Wald lief.
»Was ist hier los?«,
fragte ich überrascht.
»Alles in Ordnung. Du hast nur
so süß geschlafen, dass ich dich nicht wecken wollte. Wir
sind gleich da.«
»Am Flughafen?«
»Ja.
Du hast ziemlich lange geschlafen. Es ist aber noch genug Zeit für
ein Frühstück«, sagte sie und setzte mich ab.
Ich jagte schnell einen Tapir, was für mich das einzige halbwegs vernünftige Beutetier in der Nähe war und dann gingen wir auch schon weiter Richtung Flughafen.
Mom besorgte in einem Geschäft noch schnell ein paar normale Outfits für unsere Amazonen. Ich störte mich ja nicht im Geringsten an ihrer Kleidung, die aus Leder und Fellen bestand, doch wenn wir nicht allzu großes Aufsehen erregen wollten, sollten sie sich umziehen. Widerwillig stimmten sie dem zu, da sie die Notwendigkeit einsehen mussten. Die Jeans und T-Shirts waren nun ja auch nichts wirklich schlimmes. Alice hätte ihnen wohl ganz andere Sachen zum Anziehen besorgt und ich schmunzelte vor mich hin, als ich mir das vorzustellen versuchte.
Meine kurze Erheiterung fand allerdings ein jähes Ende, als wir eincheckten und mich die Realität wieder einholte. Jacob musste längst angekommen sein und ich war sehr besorgt um ihn. Mom und Zafrina versuchten mir Mut zu machen und Dad informierte uns nach ein paar Telefonaten, dass auch die Anderen erfolgreich Kontakt zu unseren Freunden aufgenommen hätten und auf dem Weg zum Treffpunkt wären. Es lief also alles wie geplant und ich hoffte nur noch, dass wir nicht zu spät kommen würden.
Auf der Reise beschäftigte ich mich damit, den Amazonen viele Erinnerungen zu zeigen, was sie alle sehr erfreute. Es war auch für mich schön, dass ich ihnen wenigstens ein kleines Geschenk für das machen konnte, was sie für mich taten.
Die letzten acht Flugstunden über schickte mir Zafrina dann noch mal das schöne Traumbild mit dem schlafenden Jacob und ich nahm die Einladung gerne an. So war ich schließlich gut erholt und ausgeschlafen, als wir gegen Abend in Perugia ankamen.
Esme erwartete uns am Flughafen und führte uns zu dem Treffpunkt mit den Anderen. Wir waren die Letzten und ich wurde sehr herzlich von allen begrüßt. Es war wirklich rührend und es bedeutete mir viel, doch ich konnte nur hoffen, dass sie ihre Unterstützung nicht bereuen mussten.
Jasper informierte uns über den grundlegenden Plan. Wir wollten nur Stärke demonstrieren und waren nicht auf einen Kampf aus. Im Ernstfall sollte vor allem Zafrina unseren Rückzug ermöglichen und die Wachen ablenken. Benjamin könnte dann mit seiner Fähigkeit auch Blockaden errichten. Wenn es allerdings zum Kampf kommen musste, dann wären Alec, Jane und Chelsea die Prioritätsziele. Ohne die würden es die Volturi schwer haben, die Vampirwelt so in Angst und Schrecken zu versetzen wie bisher.
Ich verstand, was er meinte. Ohne diese Vampire hätten die Quileute gute Chancen, sich gegen einen Angriff zu wehren. Das wäre sicherlich in Jacobs Sinn und ich war bereit zu tun, was getan werden musste.
Bevor wir aufbrachen, ging ich noch mal zu jedem Einzelnen und bedankte mich bei allen dafür, dass sie gekommen waren. Es belastete mich schon, dass sie sich wegen mir dieser Gefahr aussetzten, doch die meisten winkten einfach ab. Die Denalis hofften sogar auf eine Gelegenheit, sich bei Caius für den Mord an Irina zu rächen und Benjamin und Tia ging es fast ähnlich wegen Caius Ehefrau Athenodora und der Ermordung von Amun und Kebi. Sie sagten mir aber alle zu, dass sie nichts tun würden, das meinen Jacob gefährden könnte. So machten wir uns dann schließlich auf mehrere Mietwagen verteilt auf den Weg nach Volterra.
Carlisle hielt es für das Beste, wenn wir direkt vorne zum Haupteingang hineingehen würden, denn wir wollten den hohen Rat ja besuchen und nicht überfallen, obwohl einige von uns das anscheinend gerne anders gesehen hätten. Es fügten sich aber alle seinem Entschluss. Noch bevor wir eingetreten waren, kam Dad an meine Seite und informierte mich, dass er Jacobs Gedanken hören könnte. Er lebte also noch und eine gewaltige Last fiel von meinen Schultern. Ich spürte sogar etwas Zuversicht, als wir hinein gingen.
Der junge Mann am Empfangstresen wurde geradezu bleich vor Schrecken, als er uns sah. Mom ging direkt auf ihn zu und sprach italienisch mit ihm. Nachdem sie die letzten Jahre intensiv diese Sprache gelernt hatte, beherrschte sie diese inzwischen nahezu perfekt. Der ergänzende Sprachunterricht in der Schule hatte ihr offensichtlich auch gut getan. Manches konnte ich verstehen, da im spanischen einige Wörter sehr ähnlich waren, aber mir war auch so relativ klar, was sie sagte und wollte. Ein Telefonat später wurden wir gebeten einen Augenblick zu warten und das taten wir natürlich auch. Mom kam dann gleich wieder zu mir und hielt meine Hand. Rose stand auf der anderen Seite und hatte den Arm um mich gelegt. Auch der Rest der Familie blieb in meiner unmittelbaren Nähe.
Nach etwa zehn Minuten kamen zwei Vampire einen Gang entlang und forderten uns auf, ihnen zu folgen. Dad nickte dem zu und so machten wir uns auf den Weg. Es ging einen lang gezogenen Korridor entlang und schließlich eine breite Wendeltreppe hinunter. Dann folgten weitere verwinkelte Gänge und schließlich kamen wir in einen prunkvollen und mit Kerzen erleuchteten Bereich des Anwesens. An den Wänden hingen Gemälde von alten Meistern, die sicherlich von unschätzbarem Wert waren. Bei einigen war ich mir auch ziemlich sicher, die Maler zu erkennen, obwohl ich die Bilder selbst nie zuvor gesehen hatte. Vermutlich hingen sie schon seit Jahrhunderten hier und waren der Menschheit schlichtweg nicht bekannt.
Dann wurde eine große doppelte Schwingtür geöffnet und wir betraten den dahinter liegenden Raum. Er war sehr geräumig und erinnerte auf den ersten Blick an einen Thronsaal. Zahlreiche Vampire standen zu beiden Seiten an den Wänden. Schnell erfasste ich, dass es dreißig Wachen waren. Zahlenmäßig waren sie uns schon mal überlegen und dabei hatte ich den Rat und seine Leibgarde noch gar nicht mitgerechnet. Wollte Jasper nicht, dass wir Stärke demonstrierten? Im Augenblick schien mir das Gegenteil der Fall zu sein und ein mulmiges Gefühl machte sich in mir breit. Instinktiv drückte ich Moms Hand fester und sie schaute mich kurz besorgt an. Ich war sehr froh, dass sie an meiner Seite war und hoffte inständig, dass alles gut ausgehen würde.
Wir gingen direkt auf eine Empore zu, auf der die drei Ratsmitglieder und im Hintergrund zehn weiter Vampire standen. Aro trat vor und eine kleinere ängstlich wirkende Vampirfrau blieb dicht hinter ihm. Das musste Renata sein, von der mir Dad erzählt hatte. Sie schützte Aro mit ihrer Gabe. Auch andere erkannte ich aus Dads Beschreibungen und meinen Erinnerungen. Bei Jane und Alec war ich mir ganz sicher. Auch Chelsea, Felix, Santiago und Demetri glaubte ich zu erkennen.
»Was für ein
überraschender Besuch«, sagte Aro mit einem merkwürdigen
Lächeln auf den Lippen. »Carlisle, mein alter Freund. Wenn
ich es nicht besser wüsste, könnte man annehmen, du hättest
eine kleine Armee hierher geführt.«
»Ich grüße
dich, Aro und auch alle anderen Anwesenden«, sagte Carlisle
freundlich.
»Ach, wie unhöflich von mir. Wo habe ich
nur meine Manieren gelassen? Seid gegrüßt, liebe Gäste
und du ganz besonders, alter Freund.«
Aro ging direkt auf Carlisle zu und reichte ihm die Hand. Natürlich erwiderte er die Geste und gab Aro, wonach er verlangte.
»Nun, ihr seid wegen dem
Wolfsmann gekommen, nicht wahr?«
»So ist es. Wir sind
hier, um euch zu bitten, Das Friedensabkommen zu ändern. Wir
wären euch sehr dankbar, wenn ihr die Beziehung zwischen Jacob
und Renesmee genehmigen würdet.«
»Ja … ja
… das dachte ich mir. … Leider gibt es da ein kleines
Problem. Der Wolf hat das Abkommen bereits gebrochen. Es gibt also
nichts zu ändern.«
»Nein!«, rief ich halb
verzweifelt aus und Mom legte sofort einen Arm um mich, um mich zu
halten.
Das durfte doch einfach nicht wahr sein. Oh bitte nein. Es musste doch einen Weg geben. Aro blickte mich an und kam lächelnd auf mich zu. Renata blieb immer dicht hinter ihm.
»Doch mein Kind und du weißt das bestimmt besser als jeder Andere. Wäre es nicht so, wärst du nicht hier. Keiner wäre jetzt hier.«
Er reichte mir die Hand und obwohl ich mich dagegen sträubte, wusste ich, dass ich im Grunde keine andere Wahl hatte. Ich löste mich von Mom und gab ihm meine Hand. Er lächelte nur kurz und sah dann gleich ziemlich enttäuscht aus.
»Bella, das ist nicht sehr kooperativ von dir«, äußerte er verärgert.
Was? Mom schirmte mich ab? Das war jetzt aber völlig falsch.
»Lass’ das, Mom. Er soll alles sehen.«
Kritisch schaute sie mich an, seufzte dann kurz und nickte mir zu. Im nächsten Moment spürte ich, wie Aro Zugriff auf meine Erinnerungen nahm. Es war fast so, als würde er alle auf einmal erfassen und sie dann durch einen Energieschlauch aus mir herausziehen. Ich kannte das Gefühl, denn es war dem sehr ähnlich, wenn ich meine Gabe einsetzte, nur mit dem Unterschied, dass ich nicht alle Erinnerungen auf einmal erfassen konnte, sondern immer einzelne auswählen musste. Ich fragte mich, ob ich das auch hinbekommen könnte. Es würde mir vielleicht helfen, die anderen Ratsmitglieder schneller von meiner Liebe zu überzeugen.
»Das war sehr
interessant«, sagte ich. »Ich konnte fühlen, wie du
das machst.«
»Wirklich? … Faszinierend, doch im
Augenblick nicht von Belang. … Du bist dir dessen bewusst,
dass dieser Jacob gegen das abkommen verstoßen hat. Stimmst du
mir zu?«
»Aber wir lieben uns doch. Hast du das nicht
erkannt?«
»Darum geht es nicht. Hätte er sich an
das Verbot gehalten, wäre Lennox wohl nicht gescheitert und das
Ganze hier hätte vermieden werden können. Nun ja, der
Versager hat die Strafe für sein Unvermögen ja schon
erhalten.«
»Lennox? … Dann ist es also wahr,
dass er von euch geschickt wurde, um mich zu töten?«
»Aber
nicht doch, liebes Kind. Warum sollten wir das wollen? Nein, Lennox
hatte eine andere Aufgabe. Er hatte ein faszinierendes Talent. Er
konnte jeden dazu bringen, sich in ihn zu verlieben und ihm blind zu
vertrauen. Das sollte er mit dir machen, damit du ein neues Leben an
seiner Seite führst und diesen Wolf vergisst. Nur wahre Liebe
konnte er nicht durchbrechen. Er dachte sicherlich, dass du diesen
Menschenjungen liebst und wollte ihn deshalb töten, damit seine
Gabe bei dir wirkt. Was er dir allerdings angetan hat, weil du seinen
Plan durchkreuzt hast, war nie unser Wunsch. … Tja, so etwas
passiert eben manchmal, wenn man sich auf Amateure verlässt.«
War er tatsächlich ehrlich zu mir? Unsicher blickte ich kurz zu Maggie, die jede Lüge erkennen konnte, doch sie zeigte keine entsprechende Reaktion. Es war wohl tatsächlich nicht gelogen, aber vermutlich auch nicht die ganze Wahrheit.
»Bitte, dass Jacob mir Geschenke gemacht hat, spielt doch keine Rolle. Ich hatte ihn schon immer geliebt, auch wenn ich es erst vor gut einem Jahr erkannt habe. Niemals hätte ich ihn vergessen können. Wir haben uns doch an euer Verbot gehalten und keine Beziehung geführt. Könnt ihr uns die kleinen Fehler denn nicht vergeben? Jetzt kann ich doch nicht mehr schwanger werden. Ich flehe euch an, darf ich jetzt bitte meinen Jacob wieder sehen?«
Aro musterte mich mit einem undefinierbaren Lächeln im Gesicht und ging schweigend zurück auf die Empore zu den anderen Mitgliedern des Rates. Doch er tat dies nicht, um sich mit ihnen abzustimmen, sondern er drehte sich gleich wieder uns zu.
»Nun, diese kleinen Fehler mögen wir vielleicht vergeben können, doch das war nicht der einzige Vertragsbruch, der von eurem Wolfsfreund begangen wurde. … Alec, nimm zwei Wachen mit und bring ihn her. Sie sollen es sehen.«
Während sich die Dreiergruppe auf den Weg machte, ging Aro auf und ab. Dad stöhnte ab und zu unmerklich auf und mir war klar, dass das nichts Gutes bedeuten konnte. Nach etwa einer Minute wandte sich Aro plötzlich an meine Mom.
»Bella. Ich weise dich darauf hin, dass ich es nicht tolerieren kann, wenn du den Wolf mit deiner Gabe schützt. Wenn du das tust, lasse ich ihn sofort töten.«
Mom schluckte, sah mich kurz an und erwiderte dann: »Ich habe verstanden und werde nichts dergleichen tun.«
Kurze Zeit später öffnete sich wieder die Tür und die beiden Wachen trugen einen gewaltigen Wolf mir rotbraunem Fell herein. Meinen Wolf, den ich über alles Liebte. Jeder der beiden Vampire hatte je zwei Pfoten mit einer Hand fest umschlossen. Er hing zwischen ihrem Griff und schien bewusstlos zu sein. Er sah immer noch genauso aus, wie ich ihn in Erinnerung hatte und es tat furchtbar weh, ihn so wehrlos zu sehen. Sie trugen ihn an uns vorbei und ein Hauch seines Duftes stieg mir in die Nase und ließ mich innerlich erzittern. Dann musste ich mit ansehen, wie sie ihn achtlos neben der Erhebung zu Boden fallen ließen. Sein harter Aufschlag ging mir durch und durch und meine Augen füllten sich unweigerlich mit Tränen.
»Wie ihr seht, hat er auch gegen das Verwandlungsverbot außerhalb seines Reservates verstoßen und nicht nur das. Er hat mich auch angegriffen.«
Ein Raunen ging durch unsere Gruppe und mehrere Blicke wurden auf Maggie gerichtet, die jedoch abermals keine Lüge erkennen konnte. Verzweiflung stieg in mir auf. Wieso hatte Jacob das nur gemacht? Was hatte Aro ihm angetan, um ihn dazu zu bringen?
»Gib in frei, Alec.«
Jacob bewegte sich ein wenig und ich sah, wie er seine Augen zusammenkniff. Bestimmt hatten sie ihn die ganze Zeit in einer dunklen Zell gefangen gehalten. Dann richtete er sich plötzlich ruckartig auf, doch im gleichen Augenblick ertönte Janes helle Stimme.
»Platz!«, rief sie ihm zu und ich verzweifelte fast, als ich sah, wie mein Jacob unter Schmerzen zuckend zusammenbrach. Warum nur quälten sie ihn so? Er war doch nur aufgestanden. Die Tränen verließen meine Augen und liefen über mein Gesicht. Alles in mir wollte zu ihm und ich konnte einfach nicht mehr tatenlos zusehen.
»Lasst ihn in Ruhe!«, brüllte ich aus tiefsten Herzen und wollte loslaufen, doch Mom hielt mich fest.
Ihr Hand war zu straff um meine geschlossen, als dass ich mich einfach so hätte losreißen können, aber ich musste jetzt zu Jacob. Ich schickte Mom ganz kurz eine Erinnerung an meinen Albtraum, als Lissie starb. Darin fühlte ich mich so unheimlich schwach und das genügte auch, um mich aus ihrem Griff zu befreien. Schnell rannte ich zu ihm und kniete mich vor ihn hin. Flehend blickte ich zu Jane und nahm meinen Liebsten sachte in den Arm.
Wie sehr hatte ich mich danach gesehnt. Es fühlte sich so gut an, endlich wieder sein Fell zwischen meinen Fingern zu spüren. Er hatte wohl keine Schmerzen mehr und lag jetzt ganz ruhig da. Ich nahm seinen Duft mit einen tiefen Atemzug in mich auf. Wenn ich nicht so schreckliche Angst um ihn hätte, könnte das der schönste Augenblick meines Lebens sein.
Ich fühlte mich so hilflos und schaute bettelnd zu Aro, doch er wirkte kalt und herzlos. Oh Himmel hilf mir. Was konnte ich denn nur tun?
»Bitte verschont ihn«, jammerte ich. »Ich flehe euch an. Lasst mich mit ihm gehen. Wir werden euch nie wieder belästigen oder euch Ärger machen. Habt doch bitte Mitleid.«
Aro zeigte keine Reaktion und Caius wirkte eher ablehnend. Nur Marcus machte den Eindruck, als würde er etwas Mitgefühl für uns aufbringen. War es nicht seine Gabe, Beziehungen zu erkennen und müsste er dann nicht sehen, was wir füreinander empfanden? Vielleicht könnte ich ihn dazu bewegen, für uns Partei zu ergreifen.
»Marcus, ich beschwöre dich. Gib der Liebe doch bitte eine Chance. Du weißt doch bestimmt, wie es sich anfühlt, wenn man liebt. Bitte, hab’ doch Erbarmen.«
Überraschend hörte ich meinen Dad, wie er auf einmal scharf Luft durch die Zähne einzog. Ich schaute zu ihm und bemerkte, dass sein Blick auf Aro geheftet war. Der wiederum wirkte nun merkwürdig beunruhigt und hektisch und sah meinen Dad an. Dann geschah das unfassbare.
»Tötet den Wolf«,
erklang Aros grausame Stimme und ich fürchtete den Verstand zu
verlieren.
Wie konnte er nur so herzlos sein und den Tod meines Jacobs anordnen? Auch wenn sich noch keine der Wachen rührte, da Aro meinen Dad anstarrte und den Befehl so keinem konkreten Empfänger erteilt hatte, so wusste ich doch ganz genau, dass ich niemals dazu in der Lage sein würde, die Liebe meine Lebens gegen die Wachen der Volturi verteidigen zu können. Ein leises Winseln, das sich so furchtbar intensiv nach Abschiedsgruß anhörte, drang zu meinen Ohren. Ich fühlte diese quälende Hilflosigkeit, die meine Augen brennen ließ und wusste einfach nicht, was ich tun sollte. Fast gleichzeitig verspürte ich aber auch einen unglaublichen Zorn in mir. Der ganze Raum erstrahlte für mich auf einmal in rotem Licht und mir war klar, dass ich etwas tun musste und zwar sofort. Ich durfte der Unsicherheit, die ich so stark verspürte, nicht nachgeben und musste irgendetwas tun, um meinen Jacob zu retten. Nur noch ein Gedanke beherrschte mich. Ich hasste Aro aus tiefster Seele dafür, dass er Jacob töten lassen wollte und musste ihn mit allen Mitteln aufhalten.
»DU MONSTER!«, brüllte ich mit Tränen in den Augen, stürmte los und sprang ihn an.
Renata hatte ihre Hand an seinen Rücken gelegt und Aro sah mich kurz überrascht aber diabolisch grinsend an. Ein Grinsen das in seinem Gesicht festfror, als er plötzlich meine Zähne an seiner Kehle spürte und meine Hand an seinem Nacken, die ihm eine Übertragung der Lähmung schickte.
Ich biss mit aller Kraft zu, riss ein großes Stück aus seinem Hals und stemmte gleich darauf meine Beine gegen seine Brust. Seinen Kopf fest im Griff, stieß ich mich mit aller Kraft von ihm ab. Ein metallisches Knirschen war zu hören, als sich sein Haupt vom Rest des Körpers löste und ich ein paar Meter durch die Luft flog und dann zwischen ihm und meiner Familie landete.
Sein Rumpf stand von Renata
gestützt regungslos da und wurde plötzlich ganz grau und
von vielen Rissen überzogen. Der Fetzen in meinem Mund, den ich
seinem Hals entrissen hatte, zerbröselte zu Staub und hinterließ
einen widerlichen Geschmack. Ich spürte auch eine Veränderung
an dem Schädel in meinen Händen und schaute hinunter. Aros
tote Augen starrten mich an. Als ob sein Haupt in Zeitraffer
vertrocknen würde, zog sich plötzlich ein tiefer Riss quer
über sein Gesicht und spaltete eines seiner Augen. Erschrocken
ließ ich den Kopf fallen und er zersprang in tausende kleiner
Splitter, als er am Boden aufschlug. Dann kippte auch sein Körper
vorne über und zerbarst auf der Treppe zur Empore.
Totenstille herrschte im Thronsaal und keiner rührte sich. Renata starrte mich entsetzt und fassungslos an. Viele Augen waren auf mich gerichtet und die Anspannung in dem Raum war so extrem zu spüren, dass ich es fast knistern hören konnte.
Was hatte ich getan? Hatte ich tatsächlich Aro getötet? Wie konnte mir das überhaupt gelingen? Ich dachte, Renatas Schild würde alle Angriffe abwehren? Wieso hat sie das nicht verhindert? Würden sie uns jetzt alle vernichten, für das, was ich getan hatte?
»Wachen!«, brüllte plötzlich Caius und alle Köpfe drehten sich zu ihm.
»Wartet!«, rief mein Vater dazwischen. »Ihr wisst nicht, was Aro gedacht hatte, kurz bevor er befahl, Jacob zu töten, aber ich schon. Marcus, es ging dabei um dich.«
Markus hob die Hand und schien damit zu signalisieren, dass sich alle bereithalten, aber noch abwarten sollten. Caius schien das nicht zu gefallen, aber er hielt sich zurück.
»Was?«, fragte er
knapp.
»Als Renesmee dich um der Liebe willen anflehte,
dachte er kurz, dass er ganz genau wusste, dass du die Liebe sehr
wohl kennst und dass er es bedauerte, Didyme damals töten zu
müssen.«
»Was sagst du da?«
»Ich
weiß nicht, was es bedeutet, aber Aro war entsetzt, dass ich
diesen Gedanken von ihm aufschnappen konnte und wollte sofort eine
Eskalation unserer Lage hervorrufen, weshalb er den Befehl gab, Jacob
zu töten. Er wollte dafür sorgen, dass ich in dem folgenden
Gefecht getötet würde, weil du das nie erfahren solltest.«
»Didyme war meine Frau und
Aros Schwester«, zischte Marcus. »Ich kann nicht glauben,
dass er das getan hat.«
»Frage Caius«, erwiderte
Dad. »Er weiß davon.«
»Caius? Ist das
war?«
Marcus sah plötzlich unglaublich beeindruckend und einschüchternd aus. Ihn umgab auf einmal eine Aura der Macht, die ich nie bei ihm vermutet hätte und auch Caius sah verunsichert aus. Im Hintergrund bemerkte ich, wie Chelsea sich konzentrierte und immer wieder zwischen den beiden hin und her blickte. Vermutlich versuchte sie mit ihrer Gabe die Bindung zwischen ihnen zu festigen, doch die hatte jetzt tiefe Risse.
Caius schien nach einer passenden Antwort zu suchen und wollte sich vielleicht herausreden, doch auch ohne die Fähigkeit Gedanken zu lesen, konnte man an seiner Körpersprache deutlich erkennen, dass er sich ertappt fühlte. Er blickte um sich und musste wohl einsehen, dass er das nicht mehr leugnen konnte.
»Ich kann das erklären«, fing er an. »Ja, Aro hatte mich nach der Tat eingeweiht, doch ich musste ihm schwören, dir niemals etwas davon zu sagen. Er hatte es bedauert, das musst du mir glauben. Wenn du es erfahren hättest, wären wir auseinander gebrochen und es hätte womöglich wieder einen Krieg gegeben, wie damals gegen die Rumänen. Das konnte ich nicht riskieren. Es tut mir leid.«
Marcus schien vor Wut zu brennen, lief auf und ab und blickte immer wieder abwechselnd zu Caius und den Überresten von Aro.
»Weiß sonst noch
jemand davon?«, fragte er scharf nach und sofort hatten Caius
Gedanken ihn verraten und er warf meinem Dad einen wütenden
Blick zu.
»Unserer Frauen haben es später auch
erfahren, doch auch sie mussten schweigen.«
»Er sagt die Wahrheit«, rief Maggie plötzlich Marcus zu und lenkte die Aufmerksamkeit dadurch wieder auf uns.
»Das war eine verfluchte Verschwörung«, knurrte Marcus voller Zorn.
»Marcus«, sprach
Carlisle ihn mit verständnisvoller Stimme an. »Ich kann
nur erahnen, wie du dich jetzt fühlen musst, doch ich bitte
dich, jetzt nicht unbesonnen zu handeln. Caius ist nicht dein Feind
und auch wir streben eine friedliche Lösung an.«
Wieder vergingen endlose Augenblicke des Schweigens und die Ungeduld in mir wuchs unerträglich an. Ich wollte unbedingt zu meinem Jacob, doch ich durfte jetzt keine falsche Bewegung machen. Ich schaute einfach nur sehnsüchtig zu ihm und er saß dort auf dem Boden, genau so regungslos wie ich und blickte nicht weniger verlangend zu mir.
»Bruder«, sprach
Caius erneut Marcus an. »Wir müssen jetzt zusammenhalten
sonst bricht alles auseinander und unsere Welt versinkt in Chaos und
Anarchie.«
»Und warum sollte mich das kümmern?
Ich wollte schon vor einem halben Jahrtausend gehen. Freue dich doch.
Jetzt hast du die Macht für dich alleine. War das nicht immer
dein Traum?«
Seine Worte klangen vorwurfsvoll und es schwang viel Enttäuschung mit. Caius wirkte betroffen und es überraschte mich, dass er nicht einfach die Gelegenheit ergriff, die Macht zu übernehmen. Wollte er das wirklich nicht? Ich hoffte es sehr, denn wenn dieser Wolfshasser die Volturi anführen würde, gäbe es keine Hoffnung mehr für Jacob und mich.
»Es hat immer einen Rat
gegeben, Bruder«, erwiderte Caius.
»Ja, hatte es und
Aro war der Anführer, doch nun ist er tot und das Einzige, das
ich bedauere, ist die Tatsache, dass nicht ich es war, der ihn
gerichtet hat.«
»Das verstehe ich ja, doch jetzt ist
es an uns, die Volturi zu führen. Du bist zu wichtig, Marcus.
Willst du den Rumänen die Macht überlassen? Du weißt,
sie warten nur auf eine solche Gelegenheit, um uns alle in einen
neuen großen Krieg zu stürzen. Das kannst du doch nicht
wirklich wollen.«
Marcus sah Caius lange und eindringlich an. Er dachte über dessen Worte nach und wirkte hin und her gerissen.
»Höre auf ihn, alter
Freund«, sprach Carlisle ihn ruhiger und freundlicher Stimme
an. »Die Volturi brauchen einen Rat, der sie führt. Das
Schicksal unserer Art hängt jetzt von dir ab.«
»Du
hast gut reden, Carlisle. Du gehst wieder mit deiner Familie nach
Hause und führst dein beschauliches Leben, doch von mir
erwartest du, dass ich weitermache wie bisher und einfach so
fünfhundert Jahre des Betruges und der Verlogenheit vergesse?
Wie soll ich jetzt noch ohne Misstrauen mit Caius zusammenarbeiten?
Wer soll Aros Platz einnehmen? Willst du es machen?«
»Nein,
will ich nicht«, sagte Carlisle bestimmt.
»Vielleicht
solltest du das aber«, meldete sich plötzlich Garrett zu
Wort. »Ich war bei der französischen Revolution dabei. Ein
großer Umbruch, der viel Leid verursacht hatte, auch wenn die
Ziele ehrenhaft waren. In unserer Welt steht uns nun etwas Ähnliches
bevor. Es braucht Anführer wie dich, um so etwas zu
bewältigen.«
»Garrett, ich strebe keine solche
Machtposition an. Das habe ich noch nie gewollt.«
»Gerade
deshalb bist du dafür prädestiniert«, rief Eleazar
dazwischen. »Dein Einfluss könnte die Volturi wieder zu
dem machen, was sie einmal waren. Die Beschützer unserer Welt,
die bewundert und geachtet werden.«
Carlisle wirkte nicht wirklich glücklich über diese Ideen, doch schien ihm im Augenblick kein Gegenargument einfallen zu wollen.«
»Nun Carlisle«,
sprach Marcus ihn an und hatte sogar ein leichtes Lächeln auf
dem Gesicht. »Wenn du Aros Platz einnimmst, bleibe ich. Deine
Entscheidung.«
»Das ist niemals alleine meine
Entscheidung. … Esme, würdest du das wollen?«
»Mein
Platz ist an deiner Seite, Darling«, sagte sie und streichelte
ihm über den Arm. »Ich werde unsere Familie sehr
vermissen, doch wenn wir so einen Krieg mit all dem Leid verhindern
können? Was für eine Wahl haben wir dann? Es muss ja nicht
für immer sein.«
Nachdenklich schaute er seiner Frau tief in die Augen und gab ihr dann einen zärtlichen Kuss. Danach wandte er sich Caius zu.
»Wie siehst du das? Ist das auch dein Wunsch?«
Es war ihm anzusehen, dass das nun wirklich nicht gerade sein Herzenswunsch war, doch er wirkte ratlos. Er sah wohl keine Alternative und nach einigen Momenten des Zögerns nickte er schließlich und abermals ging ein Raunen durch den Raum.
»Und was machen wir jetzt mit diesem Wolf und Aros Mörderin?«, fragte Caius scharf.
Angst ergriff mich. War ich das wirklich? Eine Mörderin? Was für ein entsetzlicher Gedanke. Ich hatte das doch niemals geplant und wollte doch nur meinen Jacob beschützen. Ihn würden sie doch hoffentlich verschonen, denn er konnte doch nichts dafür.
»Was sollen wir mit denen
schon machen?«, sagte Marcus fast gelangweilt. »Wir
lassen sie gehen. Ich hege keinen Groll gegen sie.«
»Aber
Marcus. Sie hat ein Mitglied es Rates getötet. Das können
wir doch nicht ungestraft lassen.«
»Aro hat den Tod
verdient!«, erwiderte er jetzt deutlich aggressiver. »Ich
bin nur enttäuscht, dass ich nicht sein Scharfrichter sein
durfte. Nein, dieses Mädchen hat mir einen Gefallen getan, denn
ohne ihr Handeln, hätte ich wohl nie von diesem Verrat
erfahren.«
»Dennoch war er unser Bruder. Sein Tod
fordert Vergeltung.«
»Der Mord an unserer Schwester
Irina auch«, zischte Tanya ihn an.
»Und auch der Mord
an Amun und Kebi«, ergänzte Benjamin.
Aufruhr brach im Saal aus und lautes Geschrei ertönte aus verschiedenen Richtungen. Überall schien man sich auf den bevorstehenden Kampf vorzubereiten und es fehlte wohl nur noch ein entscheidender Befehl und die Hölle würde losbrechen. Carlisle stieg schnell die Erhebung hinauf, wandte sich uns und den Wachen zu und hob beide Hände. Marcus stellte sich an seine Seite. Schlagartig endeten die Wortgefechte und es wurde still.
»Meine Freunde«, sprach Carlisle mit eindringlicher und doch bedächtiger Stimme. »Viele schlimme Dinge sind passiert, doch Rache macht sie nicht ungeschehen. Wir können jetzt einen Neuanfang wagen, doch dazu müssen die alten offenen Rechnungen vergessen werden. … Caius, wenn du den Tod von Renesmee forderst, wird auch der Tod von dir und deiner Frau zurecht gefordert werden. Ist dein Wunsch nach Vergeltung so stark, als dass du diesen Weg gehen willst?«
Caius sah ihn zornig an und für einen Moment dachte ich wirklich, dass er “ja” schreien würde, doch er hielt sich zurück und dachte nach. Schließlich sprach er mit überraschend ruhiger Stimme.
»Du erwartest also, dass
ich auf das Recht der Rache verzichte?«
»Ja. Ich
erwarte, dass wir alle die alten Differenzen beilegen und einen
Neuanfang wagen. Tanya, Kate, Carmen, Benjamin, Tia. Wäret ihr
im Interesse eines dauerhaften Friedens dazu bereit?«
Sie schauten sich kurz gegenseitig an und nickten dann Carlisle zu.
»Ich danke euch. … Caius, bis du auch bereit dazu?«
Erneut zögerte er kurz, bevor er antwortete.
»Nun, ich kann nur für
mich sprechen und ich bin dazu bereit, doch ob das auch für
Sulpicia gilt, kann ich nicht sagen.«
»Das lässt
sich einfach herausfinden«, sagte Marcus. »Demetri,
bringe Sulpicia und Athenodora zu uns.«
»Warum auch
meine Frau?«, zischte Caius ihn an.
»Weil das etwas
ist, das alle angeht. Außerdem will ich genau wissen, wie tief
sie beide in Aros Verschwörung zum Mord an meiner Didyme
verstrickt waren.«
»Verdammt, Marcus. Sie haben erst
viel später davon erfahren.«
»Dennoch habt ihr
mich alle zum Narren gehalten!«
Wieder war Unruhe in Saal und Chelsea schien mit der Situation vollkommen überfordert zu sein. Ob sich die Volturi gerade in zwei Lager spalteten?
»Beruhige dich«, sagte Carlisle und legte Marcus eine Hand auf die Schulter. »Sie sind nicht für die Taten von Aro verantwortlich, aber du hast recht, dass das hier alle etwas angeht. Sie sollten hier sein.«
Carlisle nickte Demetri zu und der schaute nur kurz zu Caius, wartete aber keine Reaktion ab und verließ gleich darauf den Raum. Beeindruckt sah ich ihm hinterher. Hatte er wirklich schon Carlisle als Mitglied des Rates akzeptiert? Wie mir ging es wohl auch anderen, denn es war überall Getuschel und Geflüster zu hören. Chelsea sah nun allerdings sehr viel entspannter aus, doch im Grunde war mir das egal.
Es gab viel wichtigeres für mich und erneut schaute ich sehnsuchtsvoll zu Jake, der noch immer still an seinem Platz saß und das Treiben um sich herum aufmerksam beobachtete. Ansonsten versuchte er absolut unauffällig zu sein.
Eine Minute später kam Demetri mit den beiden Frauen zurück, die mit weit aufgerissenen Augen die große Versammlung bestaunten. Eine von beiden ging sofort zu Caius. Das musste wohl seine Frau Athenodora sein. Die Andere blieb vor der Empore stehen, sah verwundert auf Marcus und Carlisle und entdeckte dann Aros Kleidung in seinen zu Staub verfallenen Überresten. Entsetzt hielt sie sich die Hand vor den Mund und sank auf die Knie. Athenodora, die erst Augenblicke später erkannte, was der Grund für Sulpicias verhalten war, ging gleich zu ihr und legte ihr einen Arm um. Dann ertönte ein jämmerlicher Aufschrei voller Trauer und Verzweiflung. Ihr Gesicht war vor Qual verzerrt.
Nie hätte ich erwartet, dass ich mit meiner unüberlegten Tat solches Leid verursacht hatte. Ihre Wehklage ging mir durch und durch und ließ die Tränen aus meinen Augen strömen. Ich bedauerte aus tiefster Seele, was ich dieser Frau angetan hatte. Der ganze Saal schwieg und schaute mit Mitgefühl auf Sulpicia, deren Kummer uns alle berührte. Einen Kummer, für den ich verantwortlich war.
»Wer hat das getan?«,
fragte sie mit zittriger Stimme und blickte dabei zu Marcus und
Carlisle auf.
»Ich war es leider nicht«, sagte Marcus
mit ruhiger Stimme. »Doch sei dir dessen bewusst, dass ich es
ohne zu zögern getan hätte, um den Mord an meiner Didyme zu
rächen.«
Entsetzt blicken die beiden Frauen ihn
an.
»Ja, ich habe es heute erfahren und ich weiß, dass
ihr auch davon wusstet, doch mir nie etwas gesagt habt. … Aro
wurde von dieser jungen Frau da getötet, weil er den Befehl
erteilt hatte, den Wolfsmann dort, den sie über alles liebt,
hinzurichten.«
Während er das sagte, zeigte er auf mich und ihre Köpfe drehte sich zu mir um. In Athenodoras Blick spiegelte sich mehr Hass, als in dem vom Sulpicia, dabei war es doch ihr Mann, der tot war.
»Er tat dies jedoch nur, um sein verfluchtes Geheimnis zu wahren. Er wollte alle hier umbringen lassen, damit sein Verrat an mir nicht aufgedeckt wurde. Für diese schändliche Tat hat er nun den gerechten Lohn erhalten.«
Die Frauen lösten den Blick wieder von mir und richteten ihn auf Marcus. Selbst Caius hat sich nun neben Carlisle gestellt, um Einigkeit zu demonstrieren. In dem Moment war nun allen definitiv klar, dass dies nun der neue Rat der Volturi war.
»Sulpicia, Athenodora. Ihr kennt mich beide. Marcus und Caius haben mich in den Rat aufgenommen und wir wollen alle Differenzen begraben. Es soll einen Neuanfang geben, doch dazu müssen alte Streitigkeiten beigelegt werden. Marcus ist bereit, euch allen eure Verschwörung gegen ihn zu vergeben. Die Denalis sind bereit, auf ihre Rache an Caius für die Tötung von Irina zu verzichten und Benjamin und Tia wollen sich nicht mehr an dir, Athenodora, für den Mord an Amun und Kebi rächen. Das wird aber nur möglich sein, wenn ihr den Tod von Aro als rechtmäßige Strafe akzeptiert. … Seid ihr dazu bereit? … Nur so kann ein zerstörerischer Krieg vermieden werden.«
Athenodora blickte kurz unsicher zu Caius und nickte dann Carlisle zu. Sulpicia war allerdings nicht in der Lage, auf die Frage zu antworten. Sie starrte wieder auf Aros Überreste, zog seinen Umhang zu sich heran, was die Asche leicht aufwirbeln ließ und vergrub dann schluchzend ihr Gesicht in dem Kleidungsstück.
»Vielleicht solltest du sie wieder in ihre Gemächer begleiten«, sagte Caius zu seiner Frau und Marcus und Carlisle nickten zustimmend.
Dann hob sie Sulpicia auf ihre Arme und trug sie hinaus.
»Und nun?«, frage
Marcus Carlisle.
»Wir müssen Sulpicia die Zeit geben,
die sie braucht, um den Verlust zu verarbeiten. Du weißt besser
als wir alle, wie hart das für sie wird.«
»Und
der Wolf?«
»Ihr wisst, ich kenne die Quileute seit
nunmehr knapp 80 Jahren und sie haben sich über Generationen als
zuverlässig erwiesen. Der Friede zwischen ihnen und meiner
Familie existiert schon lange und zuletzt hatten wir sogar ein
Bündnis geschlossen, obwohl wir so gegensätzlich sind. Ich
weiß nicht, wie Aro Jacob dazu gebracht hat, ihn anzugreifen,
aber Jacob hat das sicherlich nicht ohne Grund getan.«
»Wenn ihr erlaubt, Meister?«, meldete sich Renate mit unsicherer Stimme zu Wort und sofort richteten sich alle Blicke auf sie. »Aro hat ihm gesagt, dass der Frieden zwischen den Volturi und den Wölfen bereits beendet wäre, weil er gegen die Bedingung des Kontaktverbotes verstoßen hätte. Dann verkündete er ihm, dass wir ihn einkerkern und seine Sippe vernichten würden. Zuletzt sagte er noch, dass wir seine Freundin ebenfalls einsperren und foltern würden. Das war dann der Auslöser für seinen Angriff.«
Das hatte er also meinem Jacob gesagt, um ihn zu provozieren? Kein Wunder, dass er so reagiert hatte. Das sahen vermutlich auch viele andere wie ich, denn es war von überall her entsprechendes Gemurmel zu hören.
»Ich danke dir für
diese Information, Renata. Doch nenne mich bitte nicht Meister. Mein
Name ist Carlisle.«
»Ja Meister … Verzeihung,
Carlisle.«
Er lächelte sanft und wandte sich dann wieder den anderen Ratsmitgliedern zu.
»Caius? Bist du auch bereit deinen Hass gegen die Gestaltwandler zugunsten des Neuanfangs hinter dir zu lassen?«
Caius stöhnte kurz, bevor er antwortete.
»Ja und Ja, um auch gleich
deine nächste Frage zu beantworten. Die letzte Bedingung des
Abkommens kann ebenfalls gestrichen werden. Doch ich bestehe darauf,
dass die Wölfe ihr zugewiesenes Revier niemals in Wolfsgestalt
verlassen dürfen und dass sie sich niemals außerhalb
verwandeln.«
»Ein akzeptabler Kompromiss. …
Marcus?«
»Einverstanden.«
»Gut. Dann
wäre das geklärt.«
“Geklärt?”, wiederholte ich im Gedanken. Was bedeutete das jetzt? Carlisle drehte sich zu mir um und kam lächelnd auf mich zu.
»Nun, worauf wartest du
noch, Liebes?«
»Worauf? Ich verstehe nicht.«
»Da
wartet ein Wolf auf dich. Willst du nicht zu ihm?«
»Da-Da-Darf
ich jetzt etwa?«
»Natürlich. Ihr habt die
Erlaubnis.«
»Oh Danke«, rief ich voller Freude
aus und fiel Carlisle um den Hals und küsste ihn auf die Wange.
Ich schaute noch kurz zu meiner Familie die mich angrinste und rannte dann sofort zu meinem Jacob, der sich aufsetzte, damit ich ihn umarmen konnte. Ich warf mich auf die Knie und schlitterte an seine Brust. Freudentränen liefen über mein Gesicht, als ich endlich frei von Sorgen meine Arme um ihn schlingen und meine Finger in seinem Fell vergraben durfte.
»Hast du gehört, Jacob? Wir dürfen zusammen sein!«
Er leckte mir mit seiner rauen Zunge über das Gesicht und ich fand das kein bisschen eklig. Ganz im Gegenteil, doch ich hätte jetzt viel lieber etwas anderes.
»Jacob bitte. Kannst du dich nicht zurückverwandeln? Ich möchte dich so gerne küssen.«
Er winselte lang anhaltend und legte seinen Kopf auf meine Schulter.
»Was hast du denn?«
»Es
ist ihm peinlich«, sagte Dad mit einem überdeutlichen
Schmunzeln in der Stimme. »Natürlich will er das auch,
aber er hat nichts anzuziehen.«
»Oh!?«, sagte
ich überrascht.
Daran hatte ich überhaupt nicht gedacht und sicherlich hatte niemand von uns Ersatzkleidung für ihn dabei.
»Ich glaube, da kann ich helfen«, sagte plötzlich eine überaus schöne Vampirfrau, bei der es sich wohl um Heidi handeln musste.
Dann rannte sie schnell hinaus und ich streichelte so lange Jacobs Fell und knuddelte ihn. Eine wundervolle Art und Weise, die Wartezeit zu überbrücken.
Vielleicht eine oder zwei Minuten später kam sie zurück und hatte einige Kleidungsstücke dabei. Sie rochen allerdings mehr nach Mensch, als nach Vampir.
»Hier bitte«, sagte
sie und überreichte mir die Anziehsachen.
»Woher sind
die?«, fragte ich.
»Das willst du nicht wissen«,
sagte Dad sofort, bevor Heidi antworten konnte.
Im Grunde war mir das auch egal, aber ich hatte so eine dunkle Ahnung, dass es sich dabei womöglich um Kleidung ihrer Opfer handeln könnte. Doch das spielte jetzt keine Rolle.
Jacob zog sich vorsichtig mit den Zähnen eine Hose aus dem Stapel und drehte sich um. Ich hockte auf meinen Beinen und sah zu, wie er sich vor mir verwandelte und mir seine nackte Rückseite präsentierte. Über mich selbst erschrocken, weil ich ihn kurz angestarrt hatte, hielt ich mir die Hände vor die Augen. Mein Gott, sah er gut aus. Diesen Anblick würde ich wohl in meinem Leben nicht mehr vergessen und ich spürte einen heißen Schauer, der durch meinen Körper rauschte.
Ich hörte, wie er sich anzog, doch ich traute mich nicht, die Augen wieder zu öffnen. Es war so peinlich und mein Gesicht kochte, weil ich so furchtbar aufgeregt war. Dann spürte ich plötzlich warme Hände an meinen. Unter der Berührung fing meine Haut gleich an zu prickeln. Behutsam zog er meine Hände von den Augen, doch ich hatte sie noch immer fest zugedrückt.
“Das ist alles nur ein Traum”, sagte ich mir selbst und fürchtete, dass ich aufwachen würde, wenn ich jetzt die Augen öffnete.
Dann plötzlich spürte ich seine warmen, weichen Lippen auf meinen und riss die Augen auf. Das war mein Jacob und er küsste mich unendlich zärtlich, was mich sofort wieder die Augen schließen ließ. Ich erwiderte den sanften Kuss, den ich mir mehr als alles andere auf der Welt gewünscht hatte.
Es war mir so was von egal, dass uns gerade schätzungsweise 60 Vampire dabei zusahen, wie wir uns küssten. Ich liebte ihn so unglaublich stark, dass ich einfach nicht aufhören konnte und auch nicht wollte. Sein Geruch, sein Geschmack, seine Nähe. Das alles war überwältigend. Ich löste meine Hände aus seinen, um ihm durch die Haare fahren zu können. Sie fühlten sich seidig weich an und es war ein irres Gefühl, sie zu packen, um den Kuss noch intensivieren zu können. Er schlang die Arme um mich und drückte mich an seine Brust.
Oh, war das schön. Genau da
gehörte ich hin und ich wollte nie wieder irgendwo anders sein.
Nach einem endlos scheinenden Kuss lösten wir unsere Lippen voneinander und lächelten uns an. Ich streichelte das Gesicht, das ich schon so viele Jahre nicht mehr gesehen hatte und doch nie vergessen konnte. Er hatte sich kein bisschen verändert. Wie neu musste es wohl für ihn sein, wie ich jetzt aussah? Er streichelte mit seinen zärtlichen Händen auch mein Gesicht und ich genoss die Berührung.
»Ich liebe dich, Jacob«,
sagte ich mit all der Sehnsucht, die nun endlich erfüllt
wurde.
»Ich liebe dich, Nessie«, antwortete er mir und
seine Worte drangen ohne Umweg direkt in meine Brust und schürten
das Feuer, das wohlig in mir brannte. Ich konnte einfach nicht
widerstehen und holte mir einen weiteren langen und intensiven Kuss.
Irgendwann mussten wir schließlich einsehen, dass wir nicht ewig auf diesem kalten Marmorboden knien und uns küssen konnten, auch wenn mir das gar nichts ausmachen würde. Also standen wir auf, nahmen uns glücklich lächelnd an die Hand und gingen die paar Schritte zu meiner Familie und allen Freunden. Mein Glück spiegelte sich in ihren Augen und alle Pärchen hielten sich verliebt im Arm.
»Das hast du ja toll
hingekriegt«, sagte Carlisle an Siobhan gewandt. »Aber
war es denn unbedingt nötig, dass ich jetzt dem Rat beitreten
musste?«
»Also ehrlich Carlisle. Ich habe nicht die
Gabe, dass sich meine Wünsche erfüllen.«
»Ach
nein? Was hast du dir denn gewünscht?«
»Nur, dass
wir alle lebend aus der Sache heraus kommen.«
»Na
siehst du? Hat doch geklappt.«
»Jetzt hör auf,
Carlisle. Wir hatten wahnsinniges Glück. Wenn Renesmee nicht Aro
getötet hätte, wären wir garantiert vernichtet worden.
Nicht mein Wunschdenken, hat uns alle gerettet, sondern ihr beherztes
Handeln.«
»Das denke ich auch«, meinte Jasper
dazu. »Dein schneller Angriff hatte mich allerdings sehr
überrascht, Nessie.«
»Wie meinst du das?«
»Du
hast so entschlossen gewirkt, obwohl ich die Gefühle von allen
im Saal beeinflusst hatte. Jeder musste sich unsicher und zögerlich
fühlen. Dadurch wollte ich etwas Zeit gewinnen, um die richtige
Entscheidungen treffen zu können. Dich hat das allerdings nicht
aufgehalten. Warst du denn nicht unsicher?«
»Doch
natürlich, aber ich musste das doch tun, um Jacob zu retten. Du
hast mir doch beigebracht, dass ich mich nicht von meinen Gefühlen
davon abbringen lasse, das zu tun, was ich für das Richtig halte
und es gab in dem Moment für mich nichts richtigeres, als Aro
sofort anzugreifen, bevor er einen neuen Befehl erteilen
konnte.«
»Das hast du super gemacht. Ich kann dir gar
nicht sagen, wie stolz ich auf dich bin.«
»Danke
Jasper«, sagte ich glücklich und umarmte ihn.
Ein Lob von Jasper war immer etwas besonderes und zu hören, dass er stolz auf mich war, fühlte sich irre gut an.
»Wie konntest du ihn überhaupt erwischen?«, fragte mich Jacob. »Als ich ihn angegriffen hatte, bin ich immer irgendwie an ihm vorbei gesprungen und gegen die Wand geknallt. Ich bekam ihn einfach nicht zu fassen.«
Ich hatte keine Ahnung und zuckte mit den Schultern. Auch meine Familie sah eher ratlos aus.
»Ihr wisst das nicht?«,
fragte Eleazar.
»Nein, du etwa?«, wollte Carlisle
wissen.
»Natürlich. Ich dachte, euch wäre bewusst,
dass ihre Gabe Schilder brechen kann.«
»Aber ich
dachte, das gilt nur für Bellas mentalen Schutzschild«,
meinte Dad.
»Nein, sie kann jeden Schild durchdringen, wenn
sie ihre Fähigkeit einsetzen will. Du hattest doch vor, deine
Gabe bei ihm einzusetzen, oder?«
»Ja klar, ich wollte
ihm eine Übertragung schicken, die ihn paralysiert. Das hatte
ich mit Jasper trainiert«, antwortete ich.
»Seht ihr,
dadurch ist es ihr gelungen, Renatas Schild zu durchdringen. Es ist
doch egal, wie der Schild wirkt. Ihre Gabe lässt nicht zu, dass
sich ihr jemand entzieht. Bei manchen von uns ist die Gabe mehr als
eine Fähigkeit, die wir bewusst einsetzen können. Sie ist
Teil unserer Persönlichkeit. Bei Renesmee ist es auch so. Es ist
quasi etwas physisches, wie sie sich ihrer Umwelt mitteilt. Jeder
hier im Raum hat ganz genau gespürt, wie sie gelitten hat, wie
sie wütend wurde und wie sehr sie ihren Jacob liebt. Dem konnte
sich niemand entziehen und deshalb konnte auch Renata sie nicht
abwehren. Wie bist du nur auf die Idee gekommen, dass das nur für
Bellas Schild gilt, Edward?«
»Na, weil ihre Gabe
irgendwie das Gegenteil von meiner ist und Bella sie nicht abwehren
kann. Da dachte ich, dass sie auch das Gegenteil von Bellas Fähigkeit
hat.«
»Ah, das war deine Theorie. Vielleicht ist es
teilweise tatsächlich so, aber wenn man das so sehen will, hat
sie eigentlich ja eher das Gegenteil von Aros Gabe. Sie braucht für
den vollen Einsatz ihres Talents auch Körperkontakt. Sie greift
auch nicht wie du auf Gedanken, sondern auf Erinnerungen zu, nur dass
sie diese im Gegensatz zu Aro sendet und nicht
empfängt.«
»Interessant«, meinte Emmett.
»Sag’ mal, Ed. War Aro damals zufällig in der Nähe,
als ihr eure Flitterwochen hattet?«
»Halt die Klappe,
Em.«
Wir lachten herzhaft und ich kuschelte mich an Jacobs Brust.
»Dann hatte es gar nichts
damit zu tun, dass ich sie abgeschirmt habe?«, fragte
Mom.
»Ach, hast du das?«, erwiderte Eleazar und Mom
nickte. »Nun, das könnte natürlich auch dazu
beigetragen haben. Es ist sehr wahrscheinlich, dass Renatas Gabe auch
bei dir nicht hundertprozentig funktioniert. Tja, gegen euch beide
war sie ja offensichtlich machtlos.«
Mom nickte zufrieden, doch mir war das im Grunde egal. Ich ließ meinen Blick über den Raum schweifen und bemerkte, dass kaum noch Wachen da waren. Das war irgendwie merkwürdig.
»Carlisle? Wo sind denn
die Wachen hin?«, wollte ich wissen.
»Wir haben sie
weggeschickt, als du … beschäftigt warst. Der Konflikt
ist schließlich beigelegt.«
»Bekomme ich jetzt
noch irgendwie ärger, wegen … Aro?«
»Nein
Liebes. In dem Punkt ist sich der Rat absolut einig. Es wäre mir
lieber gewesen, die Sache hätte vollkommen friedlich gelöst
werden können, aber das war letztlich ausgeschlossen. Es tut mir
leid, dass du es warst, der diese Tat begehen musste, doch das ist
nicht zu ändern. Im Grunde hast du uns alle damit
gerettet.«
»Ich fühle mich aber …
irgendwie schuldig«, sagte ich kleinlaut und Jake streichelte
meinen Rücken.
»Das verstehe ich gut. Es ist eine
schwere Last, wenn man ein Leben genommen hat, selbst wenn es
notwendig und richtig war. Du wirst lange brauchen, bis du wieder
ganz mit dir im Reinen bist.«
Ich nickte. Das war mir irgendwie klar. Es gab da allerdings noch etwas, das ich nicht verstand.
»Eleazar? Hat die Art, wie
Aro gestorben ist, auch mit meiner Gabe zu tun.«
»Ich
glaube, das kann ich beantworten«, sagte Dad. »In Marcus’
und Caius’ Gedanken habe ich gelesen, dass sie das nicht zum
ersten Mal gesehen haben. Es hat etwas mit dem Krieg gegen die
Rumänen zu tun. Soweit ich es verstanden habe, gab es damals
einen Vampir mit der Gabe, anderen Vampiren die übernatürlich
Regenerationsfähigkeit zu nehmen. Dem waren alle drei
ausgesetzt. Deshalb habe sie auch diese milchig trüben Augen.
Ihre Körper sind verändert worden.«
»Danke
Dad. Ich fand das ziemlich erschreckend.«
»Das
verstehe ich gut, Liebling.«
Jacob streichelte mir noch immer über den Rücken und küsste mich auf den Kopf. Himmel, es fühlte sich so gut an, in seiner Nähe zu sein. Aber wie sollte es jetzt weitergehen?
»Carlisle, was wird jetzt
passieren?«, fragte ich.
»Nun, so wie es aussieht,
muss ich wohl die nächste Zeit hier bleiben und mich mit meinem
neuen Amt vertraut machen. Die Vampirwelt muss erfahren, dass die
Ordnung weiterhin aufrechterhalten wird. Ich hoffe auch, dass wir
Sulpicia helfen können, mit der Situation klarzukommen. Dann
müssen wir sehen, ob wir mit Reformen die Volturi neu ausrichten
können, denn ich möchte das Leben mit meiner Familie nicht
dauerhaft aufgeben. Ich vermisse euch jetzt schon.«
»Also
wenn du willst, können wir bei dir bleiben und dich
unterstützen«, sagte Jasper und drückte Alice an
seine Seite, die jedoch deswegen unglücklich wirkt.
»Das
ist lieb von dir«, bemerkte Esme, »aber deine Frau ist
darüber nicht sehr erfreut.«
»Alice? Was hast du?
Willst du Carlisle und Esme nicht helfen?«
»Doch Jazz,
natürlich will ich das. Wir haben den beiden so viel zu
verdanken, aber das wird sehr schlimm für dich.«
»Für
mich?«
»Ja. Du weißt doch, dass sich hier alle
von Menschen ernähren.«
»Oh!? Ich verstehe, du
hast gesehen, dass ich versage und auch wieder Menschenblut
trinke.«
»Nein Liebling, das nicht. Ich habe gesehen,
dass es dich sehr quälen wird und so viel Kraft kostet, dagegen
anzukämpfen. Das wird die Hölle für dich.«
»Aber
ich schaffe es?«
»Soweit ich das sehen konnte, ja.
Doch es wird wirklich hart für dich. Glaube mir.«
»Also
wenn ich das schaffen kann und du an meiner Seite bist, dann sollten
wir bleiben und helfen. Du musst dir doch nicht so viele Sorgen um
mich machen, Schnuckelchen.«
»Schnuckelchen?«,
platzte es kichernd aus mir heraus und Alice rollte mit den
Augen.
»Eigentlich darf er mich so nur nennen, wenn wir
alleine sind. Untersteht euch, mich auch so zu nennen.«
»Das
würden wir doch nie tun, Schnuckeltante«, sagte ich
feixend und alle lachten mit, als Alice mir die Zunge herausstreckte
und dann ebenfalls schmunzelte.
»Was meinst du, Rose? Wenn
Alice und Jasper bleiben, sollten wir dann nicht auch?«
»Ach
Emmett. Du willst doch nur deine Kraft mit den Wachen messen. Gib es
ruhig zu.«
»Und wenn schon, Babe. Ist Italien nicht
auch für Mode und tolle Autos berühmt? Florenz ist nicht
weit weg und bis Mailand ist es auch nur ein Katzensprung. Denk’
doch mal an die tollen Ferraris und Lamborghinis. Komm schon Rosy,
das wird lustig.«
»Aber was wird aus Edward, Bella und
Nessie?«
»Mein Platz ist bei Jacob«, sagte ich
sofort. »Und seiner ist in La Push. Ich werde mit ihm
gehen.«
»Dann kommen wir mit euch«, sagte Mom an
mich gewandt.
Es wäre schon schön, meine Eltern bei mir zu haben, aber konnte das denn überhaupt funktionieren? Sie konnten doch nicht mehr in Forks leben. Die Quileute würden mich vielleicht in La Push akzeptieren, aber doch bestimmt nicht meine Eltern. Außerdem waren beide doch garantiert sehr wichtig für Carlisle. Nein, ich fand das irgendwie nicht richtig, dass sie mich begleiten wollten.
»Ich weiß nicht,
Momma. Du kannst doch dort nicht das Leben führen, das dich und
Daddy glücklich macht. Du solltest auch hier bleiben.«
»Nein
Sternchen. Ich will in deiner Nähe sein. Ich muss in deiner Nähe
sein.«
»Ach Momma, ich will ja gar nicht von dir
getrennt sein, aber du und Dad, ihr seid zweifellos sehr wichtig für
Carlisle und ihr wollt ihm doch helfen, oder? Dad will das ganz
bestimmt, auch wenn er dir überall hin folgen würde. Er
würde es wohl nie zugeben, aber ich bin mir sicher, er wäre
hin und her gerissen, wenn er mit dir nach Forks ziehen müsste.«
Sie schaute kurz in sein Gesicht und wir erkannten beide, dass ich mit meiner Vermutung recht hatte. Ich sah Mom an, wie sie das Gefühl hatte, sich zwischen mir und Daddy entscheiden zu müssen. Das gefiel mir überhaupt nicht und es fühlte sich einfach nur furchtbar an.
»Ich bin doch nicht aus
der Welt, Momma. Wir können uns ganz oft gegenseitig Besuchen
oder gemeinsam einen Urlaub verbringen.«
»Das ist
nicht genug«, sagte sie fast trotzig.
»Doch Mom und
das weißt du.«
»Nein. Ich habe dich gerade mal
sieben Jahre gehabt. Andere Mütter dürfen ihre Töchter
drei mal so lange bei sich haben. Ich will auch noch 14 Jahre.«
»Ach
Mom«, sagte ich, ging zu ihr und schloss sie in meine Arme.
»Anderer Mütter können ihre Töchter aber auch
nicht 100 Jahre lang und länger immer wieder besuchen.«
»Ich
will dich nicht verlieren, Sternchen.«
»Ich weiß
Momma, ich dich doch auch nicht, aber ich will nicht, dass du und
Daddy euer Leben aufgebt, nur um in meiner Nähe zu sein. Ich
gehöre zu Jacob und ihr solltet bei Carlisle und Esme und der
ganzen Familie bleiben. In Forks kennt mich außer Opa niemand,
aber ihr müsstet euch immer versteckt halten. Das ist nicht das
Leben, das ihr führen wollt und mit dem ihr glücklich
werdet. Ihr müsst dort auf zu vieles verzichten und das ertrage
ich nicht. Bitte, Momma. Mach’ es mir nicht noch
schwerer.«
»Das müssen wir doch jetzt nicht
sofort entscheiden, oder?«, fragte sie unsicher nach.
»Das
ist schon entschieden Mom. Es gibt nur diesen Weg.«
Sie drückte mich fest an
sich, als wollte sie damit verhindern, dass ich jemals weggehen
könnte und ich ließ sie gewähren, so lange sie es
brauchte. Im Grunde brauchte ich es auch, denn es fühlte sich
ganz schlimm nach Abschied an. Dennoch war ich felsenfest davon
überzeugt, dass ich richtig entschieden hatte.
Nach einer sehr langen Zeit schaffte es Mom schließlich sich von mir zu lösen und flüchtete sofort in Dads Umarmung. Erst dann kamen all unsere Freunde zu mir, um mich zu beglückwünschen. Einige sprachen mich darauf an, dass sie eine Einladung zur Hochzeit erwarten würden, aber das fand ich ziemlich albern. Einerseits hatte ich noch nie ans Heiraten gedacht und andererseits wäre es eine Selbstverständlichkeit, dass ich sie alle einladen würde.
Ich beobachtete, wie zwei der Wachen Aros Asche einsammelten und in einer prunkvoll verzierten Urne gaben. Diese trugen sie dann hinaus. Ich fragte mich, ob sie dafür einen speziellen Platz hatten, oder ob sie das Gefäß Sulpicia übergeben würden.
Mir fiel auch auf, dass unter unseren Freunden eine gewisse Unruhe aufkam und ich schnappte aus ein paar Unterhaltungen Hinweise auf, dass einige jetzt wohl gerne wieder nach Hause gehen würden. Ich machte Carlisle darauf aufmerksam und der sprach dann zu allen.
»Liebe Freunde. Habt vielen Dank für eure hochgeschätzte Unterstützung. Wieder einmal habt ihr euch als treue Weggefährten und wertvolle Verbündete erwiesen. Ich stehe tief in eurer Schuld und werde euch wohl kaum vergelten können, was ihr für meine Familie getan habt. Wer von euch noch bleiben mag, ist herzlich dazu eingeladen, doch wer den Ruf der Heimat verspürt, der kann dem jetzt auch gerne nachgeben.«
Die Amazonen wollten sich gleich als Erste wieder verabschieden und Heidi kümmerte sich sofort um die Buchung der Flugtickets und den Shuttleservice zum Flughafen. Die drei drückten mich alle noch mal zum Abschied und meinten noch, dass sie es kaum abwarten könnten, wieder normale Kleidung zu tragen. Dann luden sie mich noch ein, sie zu besuchen, wann immer ich wollte und natürlich dürfte ich auch Jacob mitbringen. Ich bedankte mich natürlich dafür. Irgendwann würde sich das sicherlich einrichten lassen.
Auch Benjamin und Tia, sowie die Denalis wollten nicht bleiben und verabschiedeten sich. Ich spürte, dass auch ich nicht hier bleiben wollte. Jacob sagte zwar nichts, aber mir war klar, dass er sich hier äußerst unwohl fühlen musste und mir widerstrebte es auch, an dem Ort zu bleiben, an dem ich Aro getötet hatte.
»Mom, Dad? Ich will auch
mit Jacob gehen. Ich fühle mich an diesem Ort nicht wohl.«
»Was?
… Sternchen, bitte. Verlass’ mich doch nicht gleich.«
Schon wieder sah sie mich so unglaublich traurig an, dass es mir im Herzen weh tat. Esme bemerkte das und kam zu uns.
»Hört mal. Warum
fliegen wir nicht erst mal zusammen nach Schottland in unser Haus?
Ich muss mich dort sowieso um einiges kümmern, denn wir werden
wohl nicht dorthin zurückkehren. Und du kannst doch bestimmt
auch einige deiner Sachen in La Push gebrauchen, Liebes.«
»Wäre
das O.K. für dich, Momma?«
Sie nickte nur, sagte aber nichts.
»Entschuldigt bitte«,
bemerkte Jacob. »Ich weiß nicht, ob ich ein Flugzeug
besteigen kann. Ich hatte meine Papiere bei mir, doch die habe ich
hier wohl mit meinen Klamotten verloren.«
»Na, die
lassen sich doch bestimmt wieder finden«, meinte Carlisle und
winkte Jane zu sich her.
Ihrem Gesichtsausdruck nach zu urteilen, war ihr das äußerst unangenehm, doch sie wagte es nicht, die Aufforderung zu ignorieren.
»Ja Meister?«, sagte
sie unsicher.
Carlisle lächelte sie an.
»Also erst
einmal ist mein Name Carlisle. Das gilt nicht nur für Renata
sondern auch für dich und alle anderen. Ich möchte nicht
mit Meister angesprochen werden. Dann wollte ich dich fragen, ob du
weißt, wo die Sachen von Jacob sind, die er bei sich
hatte.«
»Ja, das weiß ich, Herr.«
»Herr
ist genauso unangebracht wie Meister. Wenn du aber auf Förmlichkeiten
bestehst, dann wäre Dr. Cullen am ehesten angebracht, doch ich
würde einfach Carlisle bevorzugen.«
»Ich weiß
nicht, ob ich das kann, Dr. Cullen.«
»Nun, wir haben
Zeit, das herauszufinden. Für den Moment würde ich dich nur
bitten, mir die Sachen von Jacob zu bringen.«
»Selbstverständlich,
Dr. Cullen«, sagte sie und beeilte sich, den Raum zu verlassen.
Carlisle schaute ihr noch lächelnd und kopfschüttelnd hinterher und wartete mit uns auf ihre Rückkehr. Es dauerte auch nur ein paar Sekunden, bis sie zurück kam. Mit einem leicht angewiderten Gesichtsausdruck trug sie auf ihren ausgestreckten Armen sie die zerrissenen Überreste von Jacobs Kleidung, die sie Carlisle übergab.
»Ich danke dir«, sage er und gab sie gleich an Jacob weiter. Der durchsuchte kurz die Taschen und holte seine Pässe heraus und auch ein Stück Papier, das ich sofort als die Zeichnung erkannte, die ich ihm vor über einem Jahr geschickt hatte.
»Die hast du
mitgenommen?«, stellte ich erfreut fest.
»Natürlich,
so warst du immer bei mir.«
Oh, ich musste ihn einfach wieder küssen und tat es einfach. Er ließ die Kleiderfetzen fallen und umarmte mich.
»Darf ich mich wieder
entfernen, Dr. Cullen?«
»Selbstverständlich Jane.
… Oder wünschst du eine andere Anrede?«
»Nein,
Dr. Cullen. Jane genügt völlig.«
»Wie du
wünschst.«
Gerade als sie von uns wegging, löste sich Jacob kurz von mir und sprach sie an.
»Jane?«
Abrupt blieb sie stehen und drehte sich um. Sie wirkte merkwürdig unsicher und schien sogar etwas Angst zu haben.
»Ich wollte dir nur sagen,
dass auch das zwischen uns von meiner Seite aus vergeben und
vergessen ist und ich hoffe, dass es keine Wiederholung
gibt.«
»Danke«, sagte sie zu meiner großen
Überraschung und zögerte noch einen Moment, als ob sie
abwarten wollte, ob sonst noch etwas ergänzt würde und
drehte sich dann um und ging schnell zu ihrem Bruder.
»Was war das denn?«,
fragte Mom überrascht.
»Sie hat Angst«, antwortet
Dad.
»Angst?«
»Ja … Ist das so
überraschend? Überlege doch mal. Sie ist Körperlich
eigentlich noch ein Kind. Genau genommen ist sie ein unsterbliches
Kind und oft genug verhält sie sich mit ihrer sadistischen Ader
auch so. Eigentlich dürfte sie nach den Gesetzen der Volturi
nicht existieren und das weiß sie. Da es aber Aro war, der sie
verwandelt und seither protegiert hatte, war sie in Sicherheit.
Deshalb ist sie ihm auch immer bedingungslos gehorsam gewesen. Jetzt
hat sie Angst, dass das Gesetz doch noch bei ihr Anwendung findet,
zumal sie glaubt, dass Carlisle für sie keine Verwendung haben
wird. Das habe ich deutlich gehört.«
»Und
Alec?«
»Der hat auch Angst, aber um seine Schwester,
nicht um sich selbst. Er glaubt, dass seine Gabe durchaus noch
Verwendung finden könnte und hofft natürlich, dass man ihm
seine Schwester lässt. Er liebt sie sehr und würde wohl
lieber mit ihr sterben, als alleine weiterzuexistieren.«
»Danke
für den wertvollen Hinweis«, sagte Carlisle und lächelte
seinen Sohn erfreut an. »Ich werde ihr bei Gelegenheit ihre
Sorge nehmen.«
Ich konnte deutlich in Moms Gesicht erkennen, dass es ihr jetzt vollkommen klar war, dass Dad hier gebraucht wurde und dass sie sich damit im Interesse der ganzen Familie arrangieren musste.
Ich sah Jane noch einen Moment
lang nach und bemerkte, wie sie sich aufgeregt mit ihrem Bruder
unterhielt. Doch dann konnte ich den beiden nicht mehr zusehen, weil
Jacob nachdrücklich die Fortsetzung des unterbrochenen Kusses
einforderte. Dem gab ich gerne nach, denn das war ja auch viel
interessanter, als Jane zu beobachten.
Nach einer Weile gingen wir mit Esme und meinen Eltern zu Heidi und ließen Flüge nach Glasgow buchen. Gleich morgen früh sollte eine Maschine abfliegen und wir entschieden uns, frühestmöglich aufzubrechen.
Je näher der Zeitpunkt unseres Abschieds rückte, desto schlimmer wurde meine innere Unruhe. Schließlich konnte ich die schmerzliche Verabschiedung nicht länger vor mir herschieben. Sie alle bedeuteten mir doch so unglaublich viel. Was hatte ich Carlisle nicht alles zu verdanken? Jetzt musste er sogar wegen mir sein Leben radikal ändern und das betraf die ganze Familie. Alice war mir immer so eine gute Freundin gewesen, die nichts unversucht ließ, um mir eine Freude zu bereiten. Rosalie war jederzeit für mich da gewesen und praktisch wie ein zweite Mom zu mir. Emmett verstand es immer meisterlich mich aufzuheitern und auf andere Gedanken zu bringen, wenn ich traurig war. Jasper wiederum hatte so viel Energie darauf verwendet, mich so gut er nur konnte bei meiner Entwicklung zu fördern.
Sie alle hatten einen großen Platz in meinem Herzen eingenommen und mich von ihnen trennen zu müssen tat sehr weh. Ich hatte keine Chance die Tränen zurückzuhalten und wieder einmal war ich die Einzige, die weinte. Trotzdem sah ich in jedem einzelnen Gesicht, dass sie nicht weniger darunter litten als ich.
Mir war klar, dass ich sie alle schrecklich vermissen würde, doch ich tröstete mich damit, dass ich sie ja jederzeit besuchen konnte und bestimmt würde ich das auch machen. Im Grunde gab es aber keine Alternative zu dem Abschied, denn ich wollte bei Jacob sein und das war mir jedes Opfer wert.
Eine Limousine brachte uns dann zum Flughafen und dort fragte Jacob, ob wir wohl einen Abstecher in ein Schnellimbissrestaurant machen könnten, da er schon seit Tagen nichts mehr zu essen bekommen hatte. Natürlich schimpfte ich mit ihm, dass er das erst jetzt erwähnte und dann wurde das sofort erledigt. Er vertilgte Unmengen an Hamburgern, Pommes und Cola, trank zwischendurch aber auch mal ein Mineralwasser. Amüsiert schauten wir ihm bei essen zu und hin und wieder genehmigte ich mir auch ein Kartoffelstäbchen, wenn er mir gütiger Weise eines überlassen wollte.
Es stimmte mich fröhlich, ihn essen zu sehen. Es gehörte zu den vielen Dingen, die ich vermisst hatte, seit ich mich von dem Freund meiner Kindheit trennen musste. Jetzt hatte ich ihn zurück, doch jetzt war er weitaus mehr als das.
Er telefonierte auch noch mit seinem Vater und ich konnte deutlich hören, wie glücklich er dabei klang. Dann folgte noch ein Anruf bei Seth und auch der war außer sich vor Freude, die guten Neuigkeiten zu hören. Danach hielt er mich eine ganze Weile einfach nur fest im Arm, als ob er das brauchte, um alles wirklich begreifen zu können. Dafür stellte ich mich liebend gerne zur Verfügung, ging es mir doch genauso.
Im Flugzeug setzte ich mich
gleich nach dem Start auf seinen Schoß und dort blieb ich auch,
bis ich mich beim Landeanflug wieder auf meinen eigenen Platz setzen
musste. Wir schmusten ein wenig, aber vor allem wollte ich meinen
Kopf an seine Brust legen, seinem Herzschlag lauschen und seinen Duft
in mich aufnehmen. Es war so schön, wie er mich dabei liebevoll
über das Haar streichelte, mir ab und zu kleine Küsse auf
den Kopf gab und mich immer wieder mal fest an sich drückte. Mir
war fast alles um uns herum egal und ich musste mich regelrecht dazu
überwinden, wenigstens zwischendurch ein wenig mit Mom zu
plaudern. Für den Moment schien es ihr aber genug zu sein,
einfach daneben sitzen zu dürfen und uns zuzusehen.
In Glasgow war die Sonne schon aufgegangen, aber das Wetter meinte es gut mit uns und tiefe Regenwolken schützten meine Familie vor der Sonne. So hatten wir keine Probleme, sofort die Heimfahrt anzutreten, wobei es sich für mich nicht nach Heimfahrt anfühlte. Es war eher ein Abschiedsbesuch.
Ich zeigte Jacob das Haus, mein Zimmer und mein Auto, von dem ich mich auch gleich verabschiedete. In La Push würde ich dafür sicherlich keine Verwendung haben. Schade eigentlich, denn es war ein sehr schönes Auto, aber dennoch vollkommen unwichtig. Er sah sich alles bewundernd an, doch irgendwie hatte ich den Eindruck, dass er dabei mehr mich anschaute, als die Dinge, die ich ihm zeigte.
Dann lief ich noch mit Jacob zusammen in den Wald, was Mom nun überhaupt nicht gefiel, da sie schließlich ohnehin nur noch so wenig Zeit mit mir hätte. Als ich ihr zum Ausgleich versprach, dass wir eine Nacht hier bleiben würden und erst morgen Abend wegfliegen wollten, war sie allerdings sofort wieder versöhnt.
Im Wald gelang es mir glücklicher Weise ziemlich schnell mein Reh aufzustöbern. Es schreckte auch nicht vor Jacob zurück, doch er hielt sich vorsichtshalber im Hintergrund. Ich streichelte es und fütterte es noch mit einem Apfel und einer Karotte, die ich extra dafür mitgenommen hatte. Dann gab ich ihm einen Abschiedskuss und lief mit Jacob zu meinem besonderen Platz.
Jacob war auch in menschlicher Gestalt ziemlich schnell zu Fuß, was aber kein Vergleich zu seiner Geschwindigkeit als Wolf war. Es machte trotzdem Spaß, mit ihm durch den Wald zu laufen, auch wenn ich mich stark zurückhalten musste.
An meinem Platz angekommen,
setzte ich mich mit ihm auf den Baumstamm und dann erzählte ich
ihm alles, was sich hier zugetragen hatte und mehr als das. Ich gab
ihm jedes Detail meiner Beziehung zu Gabriel und zu Lennox. Ich
schämte mich dafür, dass ich mich auf die beiden
eingelassen hatte, doch ich wollte keine Geheimnisse von Jacob haben.
Er sollte alles wissen und ich konnte nur hoffen, dass er dann nicht
allzu sehr von mir enttäuscht sein würde. Nachdem er sich
alles angehört und mehrere Übertragungen angesehen hatte,
schloss er mich wieder in seine Arme und versicherte mir, dass nichts
von alledem jemals zwischen uns stehen würde. Ich hätte
nichts falsches gemacht, denn er wollte ja, dass ich mein Leben
genieße. Ich spürte allerdings, dass er in Bezug auf
Lennox wütend war. Nicht auf mich, sondern auf meine Familie,
weil sie mich nicht vor ihm beschützt hatten, doch auch darüber
sprachen wir viel, denn letzten Endes war alles gut so, wie es war.
Wer weiß, wenn Lennox nicht gewesen wäre und ich nicht
diese Erinnerung mit der Lähmung gehabt hätte, wäre
ich vielleicht nicht imstande gewesen, Aro zu besiegen. Darauf ließen
wir es dann beruhen, denn wir wollten beide nicht über Aro
nachdenken.
Als wir wieder zurück kamen, hatten Mom, Dad und Esme bereits einige Regale und Schränke ausgeräumt und den Inhalt in Umzugskartons verstaut. Sie stoppten mit der Arbeit allerdings sofort, als wir da waren. Dad hatte ein Feuer in einem der offenen Kamine angefacht und wir machten es uns in einer Sitzgruppe davor gemütlich. Wir unterhielten uns stundenlang und meine Eltern und Jacob erzählten ein paar Geschichten von vor meiner Geburt. Es war wirklich schön und ich genoss den Abend sehr.
Mit der Zeit wurde ich allerdings ziemlich müde und gähnte ständig, was auch Jacob ansteckte. Ich konnte Mom ansehen, dass sie nicht wollte, dass der gemeinsame Abend schon endete und versuchte so lange wie möglich durchzuhalten. Dann hatte sie allerdings endlich Mitleid mit mir.
»Vielleicht solltest du
jetzt doch besser ins Bett gehen, Sternchen.«
»Gerne
Mom, ich bin hundemüde«, sagte ich, sah Jacob an und
musste plötzlich lachen.
Verwirrt schauten mich alle
an.
»Entschuldigung Jake, aber bist du vielleicht auch
“hundemüde”?«, fragte ich neckisch und dann
verstand er und lachte mit.
»Ich bin sogar wolfsmüde. …
Wo kann ich denn schlafen?«, fragte er an Esme gewandt.
Was war denn das für eine absurde Frage?
»Bei mir natürlich«,
sagte ich sofort, denn das war ja wohl logisch.
»Bist du dir
sicher?«, fragte er vorsichtig.
»Jacob, ich träume
seit eineinhalb Jahren von nichts anderem. Natürlich bin ich mir
sicher. Komm.«
Ich stand auf und reichte ihm
die Hand. Er zögerte kurz, blickte vorsichtshalber noch zu Mom
und Dad, die jedoch keine Einwände geltend machten - was mich
auch gewundert hätte - und ging dann mit mir.
In meinem Zimmer angekommen blieb ich vor meinem Bett stehen und bekam plötzlich doch ein mulmiges Gefühl und wusste nicht so recht, was ich jetzt tun sollte.
»Ich kann auch woanders
schlafen, Nessie. Das ist überhaupt kein Problem.«
»Nein,
ich will das du hier bleibst. Ich weiß nur nicht, wie ich mich
verhalten soll. Ich bin so schrecklich nervös.«
»Das
bin ich auch.«
»Wirklich?«
»Natürlich,
mir geht es nicht anders als dir.«
»Und was machen wir
jetzt?«, fragte ich unsicher.
Ȁhm, wollten wir
nicht schlafen gehen?«
»Ja schon…«
Gott, war das schwierig. Sollten wir etwa mit den Klamotten ins Bett gehen oder beide nackt? Die Vorstellung, nackt neben ihm zu liegen machte mich total kribbelig. Oder war wuschig nicht das Wort, das Emmett mal dafür benutzt hatte? Egal, es war jedenfalls extrem aufregend und irgendwie kam für mich nichts anderes in Frage.
»Jake? Würdest du
vorher noch mit mir duschen gehen?«
»Zusammen?«
»Wenn
es dir nichts ausmacht?«
»Nein, nein, ganz im
Gegenteil. … Glaube ich zumindest. … O.K., machen wir.«
Meine Knie fühlten sich ein wenig wackelig an, als ich mit ihm in mein Badezimmer ging. Dann standen wir dort noch minutenlang fast regungslos und sahen uns gegenseitig an. Die Müdigkeit war wie weggeblasen und mein Herz schlug mir bis zum Hals. Irgendwann wurde mir klar, dass das doch total albern war. Ich liebte ihn über alles und ich wollte das wirklich. Ich atmete noch mal tief durch und dann zog ich meine Bluse und die Hose aus. Er schaute mir dabei zu und das war unglaublich erregend, so dass ich sofort eine Gänsehaut bekam. Es kribbelte mich überall und dann zog auch er sein T-Shirt über den Kopf und ich konnte seinen nackten Oberkörper sehen. Ich zögerte kurz bei meinem BH, doch dann zog ich auch den aus und gleich darauf mein Höschen. Dann stand ich nackt vor ihm und spürte, wie sein Blick erst kurz über meinen Körper huschte und dann fast wie erstarrt auf meinen Augen verweilte. Es war merkwürdig und ich wurde unsicher. Warum zog er sich denn nicht auch ganz aus? Wollte er das jetzt doch nicht mehr machen? Gefiel ich ihm etwa nicht?
»Jake? … Willst du
doch nicht?«, fragte ich unsicher.
»Oh man, Nessie.
Ich will ja, aber…«
Ich schaute kurz an ihm herunter und bemerkte die dicke Beule in seiner Hose. O.K. das war ein untrügliches Zeichen dafür, dass ich ihm gefiel und ein Lächeln huschte über mein errötetes Gesicht. Ich gab ihm einen schnelle Kuss und drehte mich dann um und stieg unter die Dusche.
»Es wäre wirklich schön, wenn du mit mir duschen würdest, aber es ist auch O.K., wenn wir nacheinander duschen«, sagte ich, schloss die Duschkabine und drehte das Wasser auf.
Ich genoss das heiße prickeln auf meinem Körper und versuchte mich zu entspannen. Kein einfaches Unterfangen, wo doch die Liebe meines Lebens vor der Dusche stand und sich nicht traute, zu mir zu kommen. Schließlich hörte ich, wie seine Hose zu Boden fiel und mein Herz fing augenblicklich an doppelt so schnell zu schlagen und dabei war es vorher nicht gerade langsam unterwegs.
Ich drehte mich nicht um, als die Kabinentür hinter mir geöffnet wurde und er die Dusche betrat. Ich hörte, wie angestrengt er atmete und bemerkte, dass es mir ganz genau so ging. Dann endlich spürte ich seine Hände an meinen Schultern und seufzte wohlig auf. Er streichelte mir über die Arme und den Rücken und ich spürte seine Erregung oberhalb meines Pos. Es kribbelte mich wie verrückt und ich konnte nicht anders, als einen Schritt nach hinten zu gehen und meinen Rücken gegen ihn zu drücken. Ich lehnte meinen Kopf gegen seine Brust und griff mit den Händen nach hinten, um seine muskulösen Beine zu berühren.
Seine Hände waren an meinen Oberarmen wie festgenagelt und ich spürte seinen keuchenden Atem auf meinem Kopf. Wie sehr wünschte ich mir, dass er endlich anfangen würde, mit seinen Händen meinen Körper zu erforschen, doch ich merkte, dass ich mich selbst dabei zurückhielt, das bei ihm zu machen. Ich nahm all meinen Mut zusammen und ließ meine Hände nach hinten über seine Hüfte zum Po gleiten und ich spürte augenblicklich ein Zucken in seinem ganzen Körper. Es war so elektrisierend und dann endlich traute er sich auch und ließ seine Hände nach vorne zu meinen Busen gleiten.
Es fühlte sich so wundervoll an. Seine Berührung war so viel schöner als alles, was ich bisher erlebt hatte. Mein Beine zitterten vor Erregung und ich wünschte mir noch viel mehr.
Ich drehte mich zu ihm um, vergrub wieder die Hände in seinen Haaren, was ich so unglaublich gern tat und spürte dann seine Hände meinen Rücken hinunter gleiten, bis sie dann auf meinem Po verweilten. Sanft streichelte er mich dort und unser Küssen war mehr ein Keuchen, doch es war der helle Wahnsinn. Alle Zellen meines Körpers, von denen sich jede Einzelne so sehr nach ihm gesehnt hatten, machten einen Freudensprung bei seinen Berührungen. Die Schmetterlinge in meinem Bauch wurden offensichtlich in den Wahnsinn getrieben und hielten sich wohl für Überschallflugzeuge.
Wir wuschen uns gegenseitig und erforschten so den Körper des anderen. Seinen athletischen Body überall zu berühren und dabei auch seine Hände zu spüren war schön, aufregend, verrückt, berauschend und einfach nur geil. Ich konnte mir kaum etwas schöneres vorstellen und so duschten wir ziemlich lange.
Als wir wirklich sicher waren, dass wir sehr, sehr gründlich dafür gesorgt hatten, dass wir beide absolut sauber waren, stiegen wir schließlich aus der Dusche und trockneten uns ab. Ich fönte mir kurz die Haare, was aber wie immer sehr schnell ging. Jake hatte das nicht nötig, denn seine kurzen Haare waren im nu mit dem Handtuch trocken gerubbelt.
Dann nahm ich ihn an die Hand und führte ihn zu meinem Bett. Ich kroch unter die Decke und er folgte mir. Anschließend kuschelte ich mich sofort in seine Umarmung und wir küssten und streichelten uns ohne Unterlass. Seine Berührungen jagten einen prickelnden Schauer nach dem anderen über meinen Körper und ich fühlte mich wie eine Bombe, die kurz vor der Explosion stand.
Ich wollte ihn so sehr, doch hatte ich auch etwas Angst davor. Die Erinnerung an das schmerzhafte Erlebnis mit Lennox kam in mir hoch und ich schaffte es nicht, es vollständig zu verdrängen. Mit Jacob würde es doch bestimmt komplett anders sein, da war ich mir ganz sicher, doch trotzdem war ich furchtbar unruhig.
»Jake? Willst du es mit
mir tun?«
»Oh Schatz, natürlich will ich das,
aber bist du wirklich bereit dazu?«
»Ja, aber ich bin
auch total nervös. Du weißt, mein erstes Mal war
schrecklich.«
»Dann sollten wir vielleicht besser
damit warten.«
»Nein, ich will nicht warten, ich will
dich jetzt, aber ich habe auch ein bisschen Angst davor.«
Er drehte mich sachte auf den Rücken und legte sich auf mich. Atemlos schaute ich ihm in die wundervollen brauen Augen und spürte seinen Körper, der mich einfach überall berührte. Dann nahm er meine rechte Hand, küsste die Innenseite und hielt sie sich an die Wange.
»Sage oder zeige mir sofort, wenn dir etwas weh tut, ja?«
Ich nickte nur und dann küsste er mich wieder. Ich wartete angespannt auf den Augenblick, an dem ich ihn in mir spüren würde und konnte die Nervosität einfach nicht abstellen. Jacob hingegen küsste und streichelte mich liebevoll und zärtlich, was eine kribbelnde Welle nach der anderen über meinen Körper laufen ließ. Er glitt etwas an mir herunter und erforschte meinen Körper mit seinen Lippen und seiner Zunge und trieb mich damit fast in den Wahnsinn. Es war eine unglaublich süße Qual und ich sehnte mich gleichermaßen nach Erlösung, wie auch danach, dass es niemals enden würde. Ich war so unglaublich empfindsam und es fühlte sich so fantastisch an und doch konnte ich es kaum aushalten. Ein Feuer brannte tief unten in meinem Bauch und verlangte danach, gelöscht zu werden und doch war die Hitze intensiv und wundervoll. Bei jeder seiner sanften Berührungen durchzuckte es mich und ich wand mich unter ihm fast verzweifelt hin und her. Es war kaum zu ertragen und doch wollte ich noch mehr.
»Jacob«, wimmerte ich fast. »Bitte.«
Dann rutschte er wieder langsam unter vielen prickelnden Berührungen an mir hoch, schaute mir kurz tief in die Augen, küsste, nein leckte und saugte meinen Lippen und ließ mich ihn dann an meiner intimsten Stelle spüren. Sanft glitt er in mich und füllte mich plötzlich aus. Ein unglaublich überraschendes und atemberaubendes Gefühl. Dann hielt er inne, hob seinen Kopf an und schaute mir erneut forschend in die Augen. Ich brauchte einen Moment, bis ich keuchend weiteratmen konnte und vergrub die Hände tiefer in seinen Haaren. Dann zog ich seinen Kopf wieder zu mir und küsste ihn mit aller Leidenschaft, die ich empfand. Langsam fing er wieder an sich zu bewegen und ich schlang die Beine um ihn. Himmel, war das toll. Ich stöhnte die schönen Gefühle aus mir heraus und er tat es mir gleich.
Konnte ich mir vorhin unter der Dusche noch nichts schöneres vorstellen, wurde ich jetzt eines Besseren belehrt. Unsere Körper schienen perfekt zu harmonieren und die Erregung stieg ins Unermessliche in mir an. Ich schlang meine Hände um seinen Rücken und drückte mich fest an ihn. Ich stand von Kopf bis Fuß unter Strom und war davon überwältigt. Mein Hirn wollte nicht mehr denken, nur noch fühlen und ich hatte nie zuvor etwas großartigeres gefühlt. Ihn zu spüren, wie er sich auf und in mir bewegte, das Spiel seiner Muskeln unter der Haut, sein Geruch, der meine Sinne benebelte, sein keuchender Atem an meinem Ohr, das alles zog mich in seinen Bann und ließ mich nicht mehr los. Das Feuer in meinem Bauch griff auf den ganzen Körper über und dann überrollte mich eine Armee von Schmetterlingsfüßen, die jeden Quadratzentimeter meiner Haut auf einmal bitzeln ließ und ein verrücktes Zucken in mir auslöste. Völlig überrumpelt von dem intensiven Erlebnis stöhnte ich laut auf und biss ihm in die Schulter. Auch er stöhnte auf und zuckte in mir, doch ich wusste nicht, ob vor Lust oder vor Schmerz.
Ich wusste was ich da tat, als sich meine Zähne in seine Schulter bohrten, doch ich konnte mich dem Drang nicht erwehren. Ich versuchte nur, nicht zu fest zuzubeißen, doch ich schmeckte sein wahnsinnig köstliches Blut und bekam sofort ein unheimlich schlechtes Gewissen. Ich wollte das doch gar nicht und ich verzweifelte fast, dass ich das auch noch genoss, doch ich wurde von unaufhaltsamen bebenden Wellen erschüttert und konnte nicht anders, als mich krampfhaft an ihm festzuklammern und meinen Mund auf die Bissstelle zu drücken.
»Au! Du kleine Wildkatze. Hörst du wohl auf.«
Das Zucken meines Körpers ließ endlich wieder nach und machte einem wundervollen erlösenden Gefühl platz. Etwas, wofür ich mich unheimlich schämte, hatte ich das wegen des Bisses doch nicht verdient. Wenigstens konnte ich mich wieder von seiner Schulter lösen und schaute ihm um Entschuldigung flehend in die Augen.
»Tut mir leid, Jacob. Ich habe das nicht gewollt. Ich konnte nicht…«
Er ließ mich nicht ausreden, sondern verschloss meine Lippen sofort mit einem intensiven Kuss. Schmeckte er so nicht sein eigenes Blut? Machte ihm das denn gar nichts aus? Sein Kuss war jedenfalls wundervoll und wenn er mich jetzt küssen wollte, dann wollte ich ihm auch geben, wonach er verlangte. Dann löste er sich wieder von meinen Lippen und funkelte mich mit seinen braunen Augen neckisch an.
»Du hast Glück, dass
ich mich hier nicht verwandeln darf, sonst würde ich zurück
beißen.«
»Ist das dein Ernst?«, fragte ich
unsicher, ob das jetzt ein Spaß war oder nicht, doch er ließ
mich weiter zappeln.
»Das findest du heraus, wenn du mich
bei mir zu Hause beißt«, sagte er und küsste mich
dann wieder.
Ich genoss seine Liebkosungen
und er ließ mich spüren, dass mein Biss nicht wirklich
schlimm für ihn war. Irgendwie schien es so, als ob es ihm gar
nichts ausgemacht hätte und das erleichterte mich sehr.
Allmählich fiel die Anspannung vollständig von mir ab und
schon kurz nach diesem unglaublichen Liebesspiel gaben wir beide der
Müdigkeit nach und schliefen bald darauf tief und fest ein.
Die Sonne war schon aufgegangen, als ich am nächsten Morgen in Jacobs Armen erwachte. Gott, wie wundervoll fühlte es sich an, so von Liebe umfangen zu werden, wenn man die Augen aufschlug. Würde das ab jetzt immer so sein? Nun ja, ich wollte nicht zu gierig sein und mich mit dem zufrieden geben, was ich im Moment hatte und das war auch alles, was ich mir wünschte.
Ich drehte mich zu Jacob um und auch er schlug die Augen auf und lächelte mich an. Wir begrüßten uns mit einem zärtlichen Kuss. Sein Geschmack brachte mein Blut sofort wieder in Wallung und ich nahm einen tiefen Atemzug seines Duftes in mich auf. Es war einfach herrlich und ich seufzte zufrieden. Am Liebsten hätte ich gleich da weitergemacht, wo wir gestern aufgehört hatten, doch ich hatte Mom versprochen, dass sie heute auch noch etwas von mir haben würde.
Ich war gerade dabei mich aufzurichten, als er mir mit seinen verträumten Augen tief in meine blickte und mich dann ganz nah an sich heran zog. Er legte seinen Kopf auf meinem Oberschenkel ab und streichelte sanft mein Bein. Wohlig seufzend schmiegte ich mich an ihn und genoss noch einmal in vollen Zügen die Wärme seiner Haut und lauschte seinem ruhigen Herzschlag. Ein kleinwenig schmusen würde Mom mir doch noch zugestehen, oder?
Nachdem wir noch ein paar Minuten eng umschlungen gekuschelt hatten, standen wir schließlich schweren Herzens auf und zogen uns an. Es dauerte aber eine ganze Weile, weil wir es beide nicht lassen konnten, uns ein paar mal dabei gegenseitig zu necken. Ich nutzte auch die Gelegenheit, um einen flüchtigen Blick auf seine Schulter zu werfen, doch die Bissstelle war schon gut verheilt und fast nicht mehr zu sehen, was mich sehr beruhigte.
Dann gingen wir hinunter in die Küche und ich gab Jacob erst einmal eine große Schüssel Müsli und frühstückte mit ihm. Anschließend begaben wir uns ins Wohnzimmer und trafen dort meine Eltern und Esme an. Ich lief gleich zu ihnen und küsste alle drei.
»Na Liebling, eine schöne
Nacht gehabt?«, fragte mich Dad mit einem verschmitzten Grinsen
und ich wurde schlagartig knallrot.
»Hast du etwa
zugesehen?«, fragte ich entsetzt.
Es war mir gestern nicht im Traum eingefallen, Mom vorher darum zu bitten, uns abzuschirmen. Das, was da passiert war, hatte ich ja auch gar nicht geplant. Woher hätte ich das den wissen sollen?
»Nein Schatz, natürlich
nicht. Wofür hältst du mich denn. Als ich bemerkt habe, wie
sich euer Abend entwickelte, habe ich natürlich sofort Bella
gebeten, euch abzuschirmen.«
»Stimmt«, sagte Mom
ebenfalls grinsend. »Aber das hat nicht dagegen geholfen, dass
man euch im ganzen Haus gehört hat.«
Oh Gott, wie peinlich. Mein Gesicht kochte geradezu, doch Jacob schien es mit Humor zu nehmen, zog mich lächelnd in seine Arme und schenkte mir viele kleine Küsse.
Als nächstes begleiteten mich alle in mein Zimmer, wo ich meine Koffer packte, um alles mitzunehmen, was ich brauchen konnte, beziehungsweise wovon ich mich nicht trennen wollte. Dazu gehörten natürlich alle meine Schnitzereien. Den Brillanten, der einmal ein Geschenk von Aro war, wollte ich jetzt aber nicht mehr haben und gab ihn Mom zurück. Sie nahm in an sich, doch ihrem Blick nach zu urteilen, hätte sie lieber ein anderes Andenken gehabt. Ich lächelte sie an und dann fragte ich sie einfach.
»Mom? Was soll ich dir da
lassen? Was wünschst du dir?«
»Nein, nein,
Sternchen. Du musst mir nicht da lassen.«
»Jetzt sag
schon.«
»O.K., vielleicht eine der Figuren, wenn es
dir nichts ausmacht?«
Ausgerechnet das, aber irgendwie überraschte mich das nicht. Ich überlegte kurz, welche Schnitzerei ich ihr überlassen sollte und entschied mich dann für die letzte, die ich bekommen hatte und hielt sie ihr hin.
»Magst du die?«
»Was?
Die würdest du mir geben? Aber das ist doch deine
Lieblingsfigur.«
»Stimmt, aber jetzt habe ich
schließlich das Original. Also? Was ist? … Nun, wenn du
nicht magst…«
Ich tat so, als wollte ich sie wieder in den Koffer legen, doch da nahm sie schnell die Skulptur an sich und lächelte mich dankbar an.
»Aber gut darauf
aufpassen, Mom. Ich komme regelmäßig vorbei und
kontrolliere das.«
»Verlass’ dich drauf«,
sagte sie nur und schien sich wirklich unglaublich zu freuen.
Dad nahm Mom liebevoll in den Arm und mir wurde klar, dass ich auch ihm ein Abschiedsgeschenk machen wollte. Es sollte etwas ganz besonderes sein, das ihm viel bedeuten würde. Ich wusste auch, was es sein sollte, doch war ich mir nicht sicher, ob ich das schaffen konnte.
»Mom? Schirmst du mich
eigentlich noch vor Dad ab?«
»Ja Schatz, natürlich.«
Dad sah etwas unglücklich deswegen aus, doch ich lächelte ihn an.
»Daddy? Ich würde dir
auch gerne ein Abschiedsgeschenk machen, aber ich weiß nicht,
ob ich das hinbekomme. Würdest du dich … für ein
Experiment zur Verfügung stellen?«
»Ein
Experiment? … Natürlich mein Engel. Ich hoffe, es
klappt.«
Er schenkte mir ein aufmunterndes, halbes, schiefes Lächeln und ich ging zu ihm und legte beide Hände an seinen Nacken. Dann schloss ich die Augen und konzentrierte mich.
Ich wusste noch ganz genau, wie sich Aros Gabe angefühlt hatte und ich wollte das nachahmen. Ich erspürte meine Erinnerungen als Ganzes und versuchte sie zu greifen. Es war schwierig, denn es waren so viele. Ich atmete langsam und tief und fühlte mich fast wie in Trance. Ich empfand ganz deutlich nach, wie Aro auf meine Erinnerungen Zugriff genommen hatte und dann erkannte ich auf einmal, wie ich es anstellen musste. Es war wie die Erschaffung einer leuchtenden Kugel in meinem Kopf, die eine Kopie meines Gedächtnisses darstellte und ich konzentrierte mich darauf.
Dann war es soweit. Ich war mir ganz sicher, dass sich all meine Erinnerungen in dieser Kugel spiegelten und ich zwängte sie einen glühenden Lichtstrahl entlang aus mir heraus. Meine Arme fingen an zu vibrieren und ich zitterte am ganzen Körper als ich die Kugel in Dads Kopf schickte.
Es war unglaublich anstrengend und kaum, dass ich die Übertragung abgeschlossen hatte, wurde mir etwas schwindelig und meine Beine gaben nach. Dad zog scharf Luft ein und Jacob fing mich sofort auf und stützte mich.
»Alles in Ordnung,
Nessie?«
»Ja Jake, alles O.K.«, antwortete ich
schwach.
Gebannt schauten wir auf meinen Dad, der mit weit aufgerissenen Augen fast regungslos vor mir stand. Seine Pupillen sprangen wild hin und her und er atmete schwer. Dann schloss er plötzlich seine Augen und sein Atem beruhigte sich.
»Edward? Geht es dir gut?«, fragte Mom besorgt und auch ich fühlte mich ziemlich unsicher, doch Dad hob kurz eine Hand und signalisierte damit, dass wir warten sollten.
Minutenlang stand er dort und wir beobachteten ihn gespannt. Immer wieder lief ein leichtes Zucken durch seinen Körper, doch es wurde immer schwächer und verschwand schließlich ganz. Danach öffnete er seine Augen und schaute mich an, wie er mich noch nie zuvor angesehen hatte. Noch bevor ich etwas sagen konnte, hatte er mich auch schon in seine Arme geschlossen und drückte mich fest an sich.
»Was hat sie dir denn
gezeigt, Liebling«, frage Mom neugierig und Dad löste sich
kurz von mir.
»Alles, Bella. Einfach alles. Sie hat mir ihr
ganzes Leben gezeigt. Es ist einfach wundervoll. … Ich danke
dir Liebling. Das war ein wunderschönes Geschenk.«
»Ich
bin so froh, dass es geklappt hat, Daddy. Ich hatte viel zu lange
Geheimnisse vor dir und das soll nie wieder so sein. Ich liebe dich,
Daddy.«
Dad schien unfassbar glücklich
zu sein und ich freute mich wahnsinnig darüber, dass ihm mein
Geschenk so gut gefiel. Er nahm mich noch mal ganz fest in den Arm
und Mom lächelte uns beseelt an. Wir genossen noch einige
Augenblicke diesen innigen Moment der Verbundenheit, bis wir uns
schließlich wieder lösten, um meine Koffer fertig zu
packen.
Nachdem wir die Reisevorbereitungen erledigt hatten, verbrachten wir noch einen schönen Tag zusammen. Wir unterhielten uns viel und alle drei hatten mehrfach das Bedürfnis, mich zu umarmen. Mir ging es ganz genau so, denn mehr und mehr wurde mir bewusst, was ich da eigentlich zurücklassen wollte.
Gegen Nachmittag wurde es dann Zeit und wir brachen zum Flughafen auf. Mom hielt die ganze Fahrt über meine Hand und knetete sie durch. Ich wusste ja, wie schwer ihr der Abschied fallen würde und das machte es für mich auch noch schlimmer. Immer wieder sagte ich zu mir selbst, dass ich meine Familie ganz oft besuchen würde, doch das half nur ein kleines bisschen gegen den Abschiedsschmerz, der langsam in mir anwuchs.
Ich liebte meine Momma und meinen Daddy so sehr und ich bekam richtig Bammel, dass ich furchtbar Heimweh bekommen würde. Trotzdem genügte nur ein Blick in die braunen Augen meines Jacobs und ich wusste mit absoluter Sicherheit, dass ich mein künftiges Leben mit ihm führen wollte und das ging nur dort, wo er sein Zuhause hatte.
Schon lange vor der letzten Umarmung am Flughafen konnte ich meine Tränen nicht mehr aufhalten. Als es dann soweit war, lag ich noch minutenlang weinend in den Armen meiner Mom, meines Dads und meiner lieben Esme.
»Ich … werde … euch … alle … schrecklich … vermissen«, sagte ich schluchzend zum Abschied und ging dann mit Jacob zum Flugzeug.
Er schenkte mir viel Trost und ich beruhigte mich allmählich. Im Grund freute ich mich ja auch sehr, mein neues Leben mit ihm zu beginnen, aber es war trotzdem Traurig, das alte hinter mir zu lassen.
Während des Fluges saß ich wieder die meiste Zeit auf seinem Schoß und schmuste mit ihm. Seine Nähe tat mir so unendlich gut. Mit jedem Kuss und mit jeder Zärtlichkeit füllte sich mein Herz mehr und mehr mit seiner Liebe. Unsere Liebkosungen wurden mit der Zeit immer intensiver, doch wir versuchten uns zurückzuhalten, was aber gar nicht so einfach war, weil wir beide ständig an unser gestriges Liebesspiel denken mussten. Andererseits hätte die Stewardess aber bestimmt nicht mehr lange ein Auge zugedrückt, wenn wir es übertrieben hätte.
Wir entschlossen uns dazu, die
letzten Flugstunden nach dem zweiten Zwischenstopp etwas zu schlafen
und das klappte auch ganz gut. Anfangs wollte es mir nicht gelingen,
doch als Jacob eingeschlafen war und ich seinem ruhige Atem und dem
langsamen Herzschlag lauschte, dämmerte auch ich allmählich
weg.
Am Flughafen nahm uns dann überraschend mein Opa in Empfang. Mom musste ihn angerufen haben und ich fragte mich, warum ich nicht selbst daran gedacht hatte. Das ärgerte mich ein wenig, aber ich freute mich so sehr ihn zu sehen, dass ich ihm gleich um den Hals fiel. Auch er schien sehr Glück zu sein, auch wenn ich den Eindruck hatte, dass er nicht so ganz hundertprozentig damit einverstanden war, dass ich ab sofort bei Jacob leben wollte. Dennoch akzeptierte er es und dafür war ich ihm sehr dankbar.
Als ich während der Fahrt im Auto aus dem Fenster sah und die bekannte schneebedeckte Landschaft betrachtete, hatte ich das Gefühl, nach Hause zu kommen. Es war sehr schade, dass meine Familie nicht bei mir war und ich vermisste sie, doch dafür war Jacob an meiner Seite und gab mir halt. Gerne hätte ich einen kleinen Jagdabstecher gemacht und mit Jacob ein Wapiti geteilt, doch das hätte Opa wohl nicht verstehen können. Das würde ich aber sicherlich bald nachholen.
Wir fuhren direkt nach La Push und stoppten vor dem Haus der Blacks, wo schon Jacobs ganzes Rudel und wohl auch das von Sam, sowie der Ältestenrat auf uns wartete. Viele der Gesichter kamen mir bekannt vor, doch hatten sich die meisten sehr verändert. Opa begrüßte seine Sue mit einem liebevollen Kuss und das gefiel mir sehr. Ich wurde wie Jacob von allen herzlich begrüßt und umarmt. Vor allem Seth wirkte überglücklich und ich verdrückte ein paar Freudentränen, als ich ihn in meine Arme schloss. Dann stellte er mir seine Freundin Amanda vor. Ich mochte sie sofort, denn sie war total nett und hatte ein herzliche und offene Art.
Es war wirklich schön und ich fühlte mich, als wäre ich in eine Großfamilie aufgenommen worden. Allerdings musste ich auch kurz an meine Freundinnen in Schottland denken und daran, dass ich mich nicht von ihnen verabschieden konnte. Ich nahm mir fest vor, sie alle zumindest anzurufen, sobald ich mich in den nächsten Tagen mit Esme abgestimmt hatte, welche Geschichte ich erzählen sollte.
Wir verbrachten noch einige Stunden zusammen und dann meinte Jacob zu mir, dass er mir ja unbedingt noch zeigen müsste, wo wir künftig wohnen würden. Darüber hatte ich noch gar nicht nachgedacht, beziehungsweise ich war davon ausgegangen, dass wir wohl zunächst bei seinem Vater im Haus wohnen sollten. Da lag ich allerdings falsch, wie ich schon bald herausfinden durfte.
Wir verabschiedeten uns von den Anderen und dann führte er mich in einen entlegenen Teil von La Push. Ich fragte mich, wo wir hier denn leben sollten, bis ich dann nach einer Biegung ein tolles Blockhaus entdeckte. Aus dem Schornstein stieg Rauch auf und ich fragte mich, wessen Haus das wohl war und zu wem wir da ziehen durften. Keiner seiner Freunde war mit uns gekommen und das war mir ein echtes Rätsel. Eigentlich war mir das aber auch egal, denn das Haus war einfach nur schön. Es passte perfekt zu diesem Ort und gefiel mir unglaublich gut. Im Grunde wirkte es wie für uns gemacht und ich bedauerte ein wenig, dass wir es nicht für uns alleine hatten. Andererseits war ich aber auch einfach nur dankbar, dass uns jemand in dieses Haus mit einziehen lassen würde.
»Gefällt es dir, mein
Engel?«
»Ja Jacob, das ist super toll. Es sieht aus,
als wäre es wie für uns geschaffen.«
»Na,
das hoffe ich doch. Schließlich habe ich es mit meinen Freunden
für uns gebaut.«
»Das hast du gebaut?«,
fragte ich und war restlos beeindruckt und vollkommen überrascht.
»Und wer wohnt da jetzt?«
»Na wir, wenn du
willst.«
»Und wer noch?«
»Ähm …
niemand.«
»Echt? Aber der Kamin raucht doch? Ich
dachte, da lebt schon jemand.«
»Natürlich raucht
der Kamin. Seth hat sich darum gekümmert. Du sollst dich doch
gleich richtig wohl fühlen.«
»Oh Jacob!«,
rief ich voller Freude und fiel ihm um den Hals. »Das ist
wirklich unser Haus? Ganz für uns alleine?«
Er nickte und strahlte, weil ich mich so freute. Wie sollte ich mich auch nicht freuen, wo er doch ein Haus für uns gebaut hatte, obwohl er doch gar nicht wissen konnte, ob wir es jemals beziehen könnten. Mein Herz platzte fast vor Glück und ich konnte es kaum erwarten, es endlich zu betreten. Ich war ganz zappelig vor Ungeduld. Dieses Haus war etwas vollkommen anderes als das in Schottland, denn das hier war tatsächlich nur für mich gebaut worden.
»Komm schon, Jake. Ich will es von innen sehen.«
Er lächelte mich glücklich an und führte mich zur Eingangstür.
»Einen Moment«,
sagte er, öffnete die Tür und hob mich auf seine Arme. »Wir
sind zwar noch nicht verheiratet, aber wenn du erlaubst, würde
ich dich trotzdem gerne über die Schwelle tragen.«
»Ich
erlaube es ja, aber jetzt lass’ mich da endlich rein.«
Lächelnd trug er mich durch den Eingang und ich schaute mich um. Er hielt mich immer noch auf seinen Armen und ich ließ mir das gerne gefallen. Im Wohnzimmer brannte Feuer in einem offenen Kamin und das Holz knisterte leise. Davor stand eine gemütliche Sitzgruppe und ein Couchtisch. Als nächstes zeigte er mir die Küche und ich versuchte mir vorzustellen, dort mit ihm zu frühstücken und dabei aus dem Fenster in die wunderbare Natur zu blicken. Dann ging es hinüber in das Badezimmer und auch dort war eine geräumige Dusche, bei deren Anblick ich schmunzeln musste. Auch Jacob grinste, denn er hatte wohl den gleichen Gedanken. Zum Schluss trug er mich in das Schlafzimmer, in dessen Zentrum ein sehr großes gemütliches Bett stand. Natürlich war es viel größer als mein altes Bett, denn mein Jake war ja auch gut zwei Meter lang und da war das ja wohl auch richtig so.
Jeder Raum strahlte eine wohnliche Atmosphäre aus und ich fühlte mich pudelwohl in diesem Haus.
»Rachel, Emily und Amanda
haben bei der Einrichtung geholfen. Gefällt es dir?«
»Es
ist fantastisch, Jake. Dürfen wir jetzt wirklich hier
wohnen?«
»So lange du willst.«
Ich drehte mich in seinem Arm so, dass ich die Beine um seine Hüfte schlingen konnte und küsste ihn leidenschaftlich. Er trug mich zum Bett und legte sich mit mir darauf und konzentrierte sich dann voll und ganz auf das Spiel unserer Lippen. Es war so wundervoll. Zärtlich streichelte er mich und sofort rollte ein wohliger Schauer über meinen Körper. Es fühlte sich an, als hätten sich alle meine Träume auf einmal erfüllt und ich war einfach nur vollkommen glücklich. Ich wusste plötzlich mit absoluter Gewissheit, dass ich endlich genau dort war, wo ich hingehörte. Hier war jetzt mein Zuhause und hier hatte ich alles, was ich wirklich brauchte: Jacob.
Hallo liebe Leserin / lieber Leser. Wenn du hier angekommen bist, dann hast du wohl tatsächlich auch mein zweites Buch bis zum Ende durchgelesen. Das freut mich sehr und ich hoffe, ich konnte dich erneut begeistern und du hast beim Lesen mit Nessie gehofft, gebangt, gelacht und gelitten, wie ich, als ich es geschrieben habe. Abschließend würde ich mich freuen, von dir ein Feedback zu erhalten. Nur eine Bitte dabei: Wenn du mir einen öffentlichen Kommentar einstellst, dann verrate bitte keine wesentlichen Inhalte aus dem Buch, wie zum Beispiel die Sache mit Lissie oder dem Happyend. Nicht, dass anderen Lesern die Spannung genommen wird. Wenn du mir aber gerade dazu etwas mitteilen willst, dann schreibe mir doch bitte eine persönliche Nachricht. Das würde mich freuen und dafür danke ich dir schon mal im voraus.
Texte: siehe "Vorwort"
Bildmaterialien: Das Cover hat die BookRix-Userin "lostinlove" für mich erstellt.
Tag der Veröffentlichung: 25.12.2010
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Ich widme dieses Buch Anja, der Liebe meines Lebens, denn ich bin vom Schicksal auf sie geprägt worden.