Cover

Vorwort

Dies ist eine FanFiction, die auf der Twilight-Reihe von Stephenie Meyer basiert und zu nicht kommerziellen Zwecken von mir geschrieben und hier veröffentlicht wurde. Die aus den Bis(s)-Büchern entnommenen Charaktere sowie die Grundidee sind selbstverständlich geistiges Eigentum von Stephenie Meyer oder wem auch immer sie die Rechte übertragen hat. Meine Storyline und meine Ideen zu diesem Buch gehören mir und dürfen nicht ohne meine Zustimmung zu kommerziellen Zwecken verwendet werden.
Soviel zum Thema “Urheberrechte”.

Da Frau Meyer die Reihe nicht weiterschreiben will, habe ich dieses Buch als Fortsetzung von “Bis(s) zum Ende der Nacht” verfasst. Meine Geschichte beginnt ein Jahr nach Bellas Verwandlung. Im Verlaufe des Buches gebe ich mögliche Antworten auf diverse offene Fragen aus dem letzten Band.

Hat Bella ihren Durst wirklich unter Kontrolle oder hatte sie einfach nur Glück, dass sie bislang nie direkt dem Duft von menschlichem Blut ausgesetzt war?

Wie entwickelt sich Renesmee und wie sehr ist sie sich ihrer Position zwischen der Welt der Vampire und der Menschen bewusst? Wie kommt sie damit klar und welche Seite ist stärker?

Aber vor allem: Hat die Bedrohung durch die Volturi nun ein Ende oder war deren Rückzug nicht mehr als das Abwarten auf eine bessere Gelegenheit?

Das Ganze wird dann noch mit einen Bund kleiner Nebengeschichten, einer großen Intrige, einem Schuss “Weiterentwicklung der Charaktere”, einer Prise Erotik, eine Messerspitze Witz und einem ordentlichen Schlag Liebesglück und -leid und Dramatik gewürzt.

Ich denke, mein Buch ist insgesamt gut für Leser(innen) ab 14 Jahren geeignet. Du solltet jedoch mindestens 12 Jahre alt sein.

Damit, lieber(r) Leser(innen), genug zum Vorgeplänkel. Lass dich nun erst einmal in die “Heile Welt” entführen, die am Ende von Band 4 herrschte und dir erzählen, wie die Cullens inzwischen ihr Leben rund um Nessie organisiert haben. Und dann viel Spaß an meinen Ideen und der neuen Geschichte. Das Buch ist übrigens abgeschlossen. Du musst also nicht auf Fortsetzungen warten.

Chris

Kapitel 1 - Ein neuer Tag im neuen Leben

Der Anbruch eines neuen Tages stand kurz bevor. Nicht mehr lange und der Sonnenaufgang würde ihn ankündigen. Noch bevor ein erster vollkommener Sonnenstrahl durch das östliche Fenster fiel, bemerkte ich schon ein Spiel merkwürdiger Farben an der Wand. Ich vermutete, dass es sich um die Farben des äußeren Spektrums des Lichts handelte, das in der Atmosphäre gebrochen wurde. Wie viel schönes mir doch meine neue Welt zu bieten hatte.

Ich lag an Edwards makellose Brust gekuschelt, die ich als warm und weich empfand und lauschte dem Rhythmus seines Atems. Wie er die Luft durch seine vollkommenen Nasenflügel rauschen ließ, um jedes noch so kleine Duftmolekül von mir in sich aufnehmen zu können. Seine Brust hob und senkte sich gleichmäßig, als ob er mich in den Schlaf wiegen wollte. Seine Haut fühlte sich unter meiner Wange und meiner Hand so weich wie Seide an und hatte dieses verführerische Aroma, das mich an Honig, Flieder und die Sonne erinnerte. Immer wieder wurden meine Sinne berauscht. Ich ließ meine Fingerkuppen sanft über seine Brust und seinen Bauch streichen. Hmm, sein Atem hatte sich etwas beschleunigt. Ein gutes Zeichen, das mich innerlich kichern ließ.

Ich liebte diese Augenblicke mit ihm. Diese und die tausend anderen, die alle auf ihre Art und Weise einmalig und wundervoll waren. Ich freute mich auf den Anbruch des neuen Tages. Einen Tag zum genießen, wie viele, eigentlich alle Tage der letzten Monate. Genauso wie die Nächte. So wie die nun fast vergangene Nacht, bei deren Anbruch wir Renesmee ins Bett brachten, sie noch mal mein Gesicht berührte, so wie fast jeden Abend, und mir eine Welle von Bildern schenkte, um ihre Erlebnisse und Eindrücke des vergangenen Tages mit mir zu teilen. Edward hörte in Gedanken mit, legte mir den Arm um die Taille und genoss wie ich den Augenblick. Dann gingen wir zu Bett, lauschten zusammen ihrem immer ruhiger werdenden Atem und genossen dann praktisch die ganze Nacht unsere Zweisamkeit.

Erstaunlich, dass dieser Genuss nie nachzulassen schien. Darauf hatte ich so etwas wie einen Durst, der immer aufflammte, wenn sich eine Gelegenheit bot und anhielt, so lange wir so nah zusammen waren. Anders als bei der Jagd, war dieser Durst nicht brennend - eher kitzelnd - und es stellte sich auch nie ein sattes Gefühl ein, irgendwann genug getrunken zu haben, um sich wieder anderen Dingen zuzuwenden. Nein, dieses Gefühl, oder besser, diese Zufriedenheit war ganz anders. Ich verspürte keinen Drang, keinen Zwang. Es war einfach so, als ob mein Herz immer größer werden würde, um jedes neue Gefühl des Glücks einzufangen und sicher zu verwahren. Eine Vorstellung von unendlichem Glück und unendlicher Liebe konnte unmöglich stärker sein, als das was uns verband.

Die Sonne zog unaufhaltsam weiter ihre Bahn und ein erster vollständiger Sonnenstahl fiel in unser Schlafzimmer. Wieder einmal konnte ich nicht widerstehen und streckte meine Hand in das Licht und ließ meine Haut mit meinem Ehering um die Wette funkeln. Bunte Lichtpunkte wurden an die Wände und die Decke reflektiert. Anfangs war mir der Unterschied diese Reflexionen meiner Haut und meines Ringes gar nicht aufgefallen. Erst mit der Zeit wurden mir die Eigenarten der unterschiedlichen Lichtpunkte bewusst. Wieder eine neue Erfahrung in meinem neuen Leben. Ein leichtes zufriedenes seufzen entwich meiner Brust.

»Guten Morgen Mrs. Cullen«, hauchte mir Edward sanft zu und küsste dabei mein Haar.
»Guten Morgen Mr. Cullen«, erwiderter ich, schaute zu ihm auf und reckte mich ihm entgegen, damit sich unsere Lippen treffen konnten.
»Auch auf die Gefahr hin, die Stimmung zu ruinieren…«, begann er mit einem schmunzelnden Unterton, »alles Gute zum Geburtstag.«
»Wieso Geburtstag?«, sagte ich. Das konnte doch nicht sein. Hatte mein Zeitgefühl mich im Stich gelassen? Heute war doch nicht mein Geburtstag.

“Halt stop!”, schoss es durch meine Gedanken. Natürlich, heute vor genau einem Jahr war meine Verwandlung zum Vampir abgeschlossen. Mein erster Tag meines neuen Lebens.

Edward grinste vor sich hin. Ich dachte kurz nach, ob ich meine gewohnte Reaktion auf meine Geburtstage abrufen sollte und etwas schmollte, kam dann aber zu der Überzeugung, dass das tatsächlich ein Grund zum feiern war.
»o.k. diesmal darf Alice eine Party machen«, sagte ich, »aber nur in kleinem Rahmen. Nur die Familie, versprochen?«
Edward schaute mich überrascht an. Offensichtlich hatte er meine übliche Reaktion erwartet, schien sich aber darüber zu freuen.
»Oh, ich denke damit wird sie einverstanden sein«, erwiderte er und wartete kurz. »Ja, sie ist einverstanden. Sie hat auf ihre Vision gewartet, ob du uns deinen Geburtstag feiern lässt und freut sich schon darauf.« Edward lachte leise. »Obwohl Alice unter “kleinem Rahmen” wohl etwas anderes versteht als du.«
»Ich habe es geahnt…«
»Na dann, auf in die Höhle der Löwin.«

Wir standen auf und zogen uns an. Zur Feier des Tages und weil Alice sich sicherlich darüber freuen würde, wollte ich ausnahmsweise eines ihrer Designer-Stücke auswählen, obwohl ich mich bei dieser aberwitzigen Auswahl kaum entscheiden konnte. Alice meinte, dass ich langsam anfangen sollte die Sachen zu tragen, bevor alle aus der Mode kommen würden. Einen Rat, den ich für gewöhnlich geflissentlich ignorierte. Was sollte ich bloß anziehen? Ich kam mir vor, wie eines dieser verwöhnten Mädchen, die vor einem riesigen Kleiderschrank standen und jammerten, dass sie nichts anzuziehen hätten. Ich konnte mich mal wieder nicht entscheiden.

Inzwischen war auch Renesmee aufgestanden und zu uns gestoßen. Sie und Edward waren bereits fertig angezogen und warteten grinsend vor meinem begehbaren Kleiderschrank, oder sollte ich besser “Kleiderhaus” sagen?
»Ich glaube das würde dir gut stehen Momma«, sagte mein kleiner Engel mit seiner klingenden Stimme und zeigte auf ein rückenfreies seidig glänzendes Abendkleid. Schlicht, aber sehr elegant.
»Ein Abendkleid schon morgens?«, fragte ich vor mich hin und blickte zu meiner kleinen Modeexpertin.

Vielleicht verbrachte sie doch zu viel Zeit mit Rosalie und Alice? Durch ihre fast täglichen Modeschauen und Fototermine mit ihren Tanten - ich stellte mir vor, wie Rosalie ausflippen würde, wenn ich sie vor Renesmee als Tante bezeichnen würde - hatte mein Liebling inzwischen einen deutlich besseren Draht zur Mode entwickelt, als ich wohl jemals haben würde. Die Fotoalben ihres ersten Jahres erweckten jedenfalls den Eindruck, dass hier ein heranwachsendes Kind über mehrere Jahre hinweg abgelichtet worden war. Hin und wieder haben sie sogar gestellte Geburtstagsfotos gemacht. Immer dann, wenn sie wieder ein Jahr älter zu sein schien.

»Aber heute ist doch dein Geburtstag, hat Daddy gesagt und da darf man das. Außerdem sieht das so schön aus und du willst dich ja bestimmt nicht noch mal umziehen, oder?«
Sie kannte mich wirklich gut.
»Na gut, für dich zieh’ ich es an«, sagte ich, und wieder entfleuchte mir ein kleiner Seufzer.
»Und für Daddy.«
»Ja, auch für Daddy«, der mich mit seinem verträumten goldbraunen Augen anlächelte und es anscheinend kaum erwarten konnte, mich in dem Kleid zu sehen.

Kaum waren wir im Familienhaus angekommen, hallte uns auch schon Alice’ glockenklare Stimme entgegen.
»Alles Gute zum Geburtstag, Bella!«
»Danke Alice, aber übertreibe es nicht mit der Party, ja?«
»Ja, ja, ich weiß, Bella. Ich habe es gesehen… Heute Abend gibt es eine Party, eine gaaanz kleine.«

Alice kicherte vor sich hin und tänzelte durch den Raum in Richtung ihres Zimmers. Es erstaunte mich immer wieder, wie einfach es doch manchmal war, sie glücklich zu machen. Oder besser, was für kleine Opfer reichten, um sie glücklich zu machen. Wie sollte ich da auch jemals nachtragen sein?
»Kleine Nervensäge«, rief Edward Alice hinterher und schenkte mir ein kleines schiefes Lächeln.

Na ja, abgesehen davon schlug man auch immer gleich zwei Fliegen mit einer Klappe, denn wenn Alice glücklich war, war es Jasper auch. Das war unverkennbar, wenn sich seine ansonsten so häufig trübe Miene plötzlich aufhellte und seine gute Stimmung sich dann nicht selten auf die ganze Familie übertrug.

Es freute mich, dass ich Jasper auch hin und wieder etwas Gutes tun konnte. Im vergangenen Jahr hatte ich sein Weltbild, was Neugeborene und damit sein früheres Leben betraf, ziemlich aus den Angeln gehoben, was ihm immer noch viel schwerer zu schaffen machte, als irgendeinem anderen der Familie. Es war ihm einfach unbegreiflich, wie ich mich so unter Kontrolle halten konnte. Meistens jedenfalls, aber ich hatte auch nur wenige kritische Momente. Er hätte sich wohl nie träumen lassen, dass er die Wette, was die Anzahl meiner “Opfer” betraf, verlieren könnte, das ich in meinem ersten Jahr sogar keinen einzigen Menschen “das Leben aussaugen” würde, wie Emmett es gerne ausdrückt. So gesehen hatte eigentlich keiner die Wette gewonnen.

Wenn ich daran zurück dachte, ärgert es mich sogar ein wenig, dass keiner so wirklich ganz auf mich gesetzt hatte. o.k. damals, als sie mir von dem schwierigen ersten Jahr erzählten, hätte ich auch nicht auf mich gesetzt und bei meinem ersten Jagdausflug wäre es ja auch beinahe schief gegangen, aber ich fürchtete immer am Meisten, dass ein Fehltritt von mir, meinem Edward mehr Kummer bereiten würde, als mir selbst. Denn auch wenn er noch immer nicht restlos davon überzeugt war, dass meine Seele nicht verloren gegangen ist, nachdem er mich verwandelt hatte, war er doch immer sehr darauf bedacht, mein Seelenheil nicht weiter zu gefährden. Aber das war ein Thema, über das nur schwer mit Edward zu reden war.

Ich mochte es nicht, wenn er nur von meiner Seele sprach, die er schützen wollte. Meine Überzeugung, dass unser beider Seelen auf immer miteinander verbunden waren und dass uns nicht mal Himmel und Hölle trennen könnten, wollte er nicht mit mir teilen. Auch mein, wie ich fand, unschlagbares Argument, »wie soll das denn für mich der Himmel sein, wenn du nicht bei mir bist?«, konnte ihn noch nicht ganz überzeugen. Das würde wohl noch ein paar Jahre dauern.

Jedenfalls war er sehr darauf bedacht, mich nicht noch einmal in Versuchung zu führen und überprüfte unser Jagdrevier immer besonders gründlich. Ich war mir aber sicher, dass ich mich wieder bremsen könnte, sollte ich während der Jagd erneut einen menschlichen Geruch aufschnappen.


Unsere gemeinsame Zeit, all die friedlichen Tage und Nächte des vergangenen halben Jahres, hatten uns doch tatsächlich einander noch näher gebracht. Das hätte ich nie für möglich gehalten, als ich noch ein Mensch war. Ich erinnere mich noch immer an das unbeschreibliche Glück vor meiner Verwandlung, das ich in seinen Armen empfinden durfte. Wenn er mich mit seinen kalten Marmor-Händen streichelte, mir unsagbar sanfte Küsse auf hauchte, dass ich öfter die Beherrschung verlor, als anfangs als Neugeborene. Ich erinnerte mich aber auch an den Schmerz, wenn er nicht bei mir war. Ganz zu schweigen von dem Loch in meiner Brust, als ich fürchtete, nein glaubte, nein wusste, dass ich ihn verloren hatte.
“Uah! Daran will ich gar nicht denken”, schoss es mir durch den Kopf.

Schon damals fiel es mir schwer überhaupt weiter zu machen, irgendwie weiter zu leben. Aber jetzt, da mein Glück noch so viel vollkommener war, um wie viel schrecklicher wäre es dann, ihn noch mal zu verlieren? Nein, dass würde ich nie erfahren. Wenn unsere Zeit enden würde, dann zusammen.

Wenn mir solche Gedanken durch den Kopf huschten, dann hatte ich spontan auch immer das Bild von Victorias Gesicht vor Augen. Ein Gesicht, das von Rachlust geprägt war. Ein Gesicht, dass ich zwar nur aus meiner menschlichen Erinnerung heraus kannte und das deshalb irgendwie undeutlich und verschwommen war, das ich aber wohl nie vergessen würde. Die leuchtend roten Augen einer tödlichen Kämpferin und die rötlichen Haare im Wind, die ihr bedrohliches Auftreten noch verstärkten. Damals war das für mich der Racheengel, der mir alles wegnehmen wollte und damit meine ich nicht nur mein Leben. Nein, das hätte ich gerne hingegeben, wenn ich dadurch Edward hätte schützen können.

Daran hatte sich auch nichts geändert, außer der Gewissheit, dass Edward sich niemals so schützen lassen würde. Inzwischen war ich mir dessen absolut bewusst, weil ich genauso empfand. Wenn ich nicht mehr wäre, würde Edward mich rächen wollen und entweder beim Versuch oder danach durch die “Hilfe” der Volturi sein Ende finden. So wie es schon einmal fast geschehen wäre. Aus diesem Blickwinkel betrachtet, hegte ich sogar ein wenig Verständnis für Victoria. Ich konnte nun ihren Schmerz weit aus besser verstehen als damals. Im Grunde tat sie mir nur noch leid und ein Teil von mir hoffte für sie, dass sie im Tod ihren Frieden gefunden hatte.

»Könntest du vielleicht bitte kurz deinen Schild fallen lassen?«, sagte Edward und schaute mich dabei fragen an. »Ich wüsste zu gerne was dich gerade so beschäftigt.«
»Ach nichts, nur ein paar trübe Erinnerungen. Aber jetzt hast du wieder meine volle Aufmerksamkeit.«

Ich lächelte ihn an und küsste ihn auf die Wange. Hmm, wenn ich ihm so nahe war und seinen süßen Duft einatmete, fiel es mir immer sehr schwer mich zu beherrschen. Wie von selbst wanderten meine Lippen zu seinem Ohrläppchen, an dem ich sanft knabberte und ihm dann »ich liebe Dich« ins Ohr flüsterte, was ihn offensichtlich auch aus der Ruhe brachte.

»He, hallo, hier sind noch unschuldige Kinder mit im Raum«, rief uns Emmett mit einem breiten Grinsen zu und nickte rüber zu Renesmee, die inzwischen mit Rosalie am Tisch saß und etwas skizzierte.

Die Struktur eines Stilllebens, wie ich erkennen konnte. Das Malen und Zeichnen war eine neue Leidenschaft, die sie kürzlich entdeckt hatte. Vor zwei Tagen hatten wir ihren ersten Geburtstag gefeiert, obwohl sie inzwischen wohl eher wie eine Fünfjährige aussah. Natürlich hatte sie zur Ausübung ihres neuen Hobbys gleich eine Profi-Ausstattung von Esme geschenkt bekommen. Das kam mir zwar etwas übertrieben vor, aber bei dem Tempo, mit dem sie lernte, würde es nicht mehr lange dauern, bis ihre Staffelei und all die Pinsel und Farben zielgerichtet zum Einsatz kämen.

Es war verrückt, was sie in ihrem ersten Jahr alles gelernt hatte. Nachdem sie schon in ihren ersten Monaten das sprechen und lesen erlernt hatte, dauerte es auch nicht mehr lange, bis sie schreiben und rechnen konnte. In eine Schule konnten wir sie wegen ihrer auffällig rasanten Entwicklung natürlich nicht schicken und so arbeitete Esme einen Lehrplan für sie aus. Jeder aus der Familie übernahm dabei andere Themen und sie lernte genauso schnell wie sie wuchs, wenn nicht sogar noch schneller.

Eigentlich hatte ich damit gerechnet, dass Rosalie mit Emmett und Alice mit Jasper sich von uns eine Zeit lang trennen würden, um zu studieren oder einfach nur wieder eine Weile alleine zusammen zu leben, doch sie wollten bei uns bleiben und miterleben, wie Nessie sich weiterentwickelte. Sie wollten auch nicht einfach nur zusehen, sondern mitmachen. So übernahm Rosalie den Unterricht in Kunst und Kunstgeschichte, Emmett die Fremdsprachen, Jasper Geschichte, Carlisle natürlich Biologie und Chemie, Esme Architektur und Physik und Edward Mathematik und Musik.

Ich hatte die schönste Aufgabe und nahm mit ihr Literatur durch. Dann machten wir es uns gemütlich, lasen ein Buch und diskutierten es danach. Alice wiederum hatte eine ganz eigene Art zu unterrichten. Bei ihr war es Geographie und Meteorologie, aber irgendwie schaffte sie es immer, das Mode-Thema mit einzubauen.

Edward hatte mir erzählt, dass er in Esmes Gedanken gelesen hatte, dass sie überglücklich war und dass Renesmee das Beste war, was unserer Familie passieren konnte. Alle schienen noch enger miteinander verbunden zu sein und jeder freute sich über diese neue Aufgabe. Selbst Emmett, der eigentlich mehr mit ihr herumalberte als sie zu unterrichten, schien die großer-Bruder-Rolle sichtlich zu genießen und das lag sicherlich nicht nur daran, dass seine Rose das wirklich gerne sah.

Ich setzte mich zu Edward ans Klavier und ließ mich von ihm unterweisen. Auch wenn er kein zweites Händepaar benötigte, um ein vierhändiges Musikstück zu spielen, so war er doch ganz begeistert von meiner Bitte, ob er mir das Klavierspielen beibringen würde, damit wir vielleicht mal etwas zusammen spielen könnten. Die Theorie hatte ich auch schnell erlernt. Schon als Mensch hatte ich selten Probleme damit, theoretische Grundlagen zu erlernen. Solches Wissen konnte ich schon immer wie ein Schwamm aufsaugen und jetzt als Vampir war es noch einfacher. Ich kannte die Noten, die Tasten und die Klänge der einzelnen Saiten. Ich hätte sogar ein Klavier stimmen können. Was mir aber noch Schwierigkeiten bereitete, war das Timing. Es geht ja nicht nur darum, bestimmte Tasten in einer bestimmten Reihenfolge anzuschlagen. Vielmehr kommt es auf den richtigen Rhythmus und den richtigen Krafteinsatz an. Ich musste also lernen, mit menschlicher Geschwindigkeit zu spielen. Auch wenn wir uns üblicher Weise flinker bewegten und schneller redeten, so galt das doch nicht für die Musik. Hier waren andere Gesetze am Werk. Musik musste im richtigen Tempo gespielt werden, um sie genießen zu können. Das war viel schwieriger, als ich erwartet hatte.

Im Gedanken hatte Edward schon angefangen ein neues Lied für vier Hände zu komponieren. Er erzählte mir davon und spielte gelegentlich ein paar Auszüge seiner Ideen. Mein Schlaflied spielte er zwar immer noch gerne für mich, aber dann hatte er immer so etwas Sentimentales in seinen Augen. Das Lied erinnerte ihn einfach viel zu stark an die Zeit vor meiner Verwandlung und da ich keinen Schlaf mehr brauchte, war er fast besessen von der Idee, dass ein neues, gemeinsam gespieltes Lied, besser zu unserem neuen, gemeinsamen Leben passen würde. Oh je, ich hoffte inständig, dass ich ihn dabei nicht enttäuschte.

»Opa?«, rief plötzlich Renesmee und wir alle wussten, dass damit Carlisle gemeint war.

Sehr zu seinem Leidwesen, denn als Opa fühlte er sich trotz seines stattlichen Alters, das man ihm natürlich genauso wenig ansehen konnte, wie einem anderen von uns, nun wirklich nicht. Abgesehen davon konnte er angesichts des allgemeinen Schmunzelns und im Falle von Emmett offenem Gelächters nur noch resigniert seinen Kopf schütteln.

»Schatz, könntest du dich vielleicht dazu durchringen mich Carlisle zu nennen?«, fragte er mit einem hoffenden Blick?
»Hmm… nein!«, und ein verschmitztes Lächeln, dem keiner widerstehen konnte, breitete sich auf ihrem Gesicht aus.

Carlisle atmete schwer durch, wohl mehr als Geste der Resignation, als dass er wirklich um Luft ringen müsste. Wir alle versuchten diese menschlichen Verhaltensweisen immer zu trainieren, obwohl ich die Einzige zu sein schien, die das noch bewusst trainieren musste. Bei den anderen sah das einfach viel natürlicher aus, was mich manchmal wirklich nervte. o.k. für menschliche Augen mag der Unterschied kaum zu erkennen sein. Aber in meinen Augen war er viel zu groß. Meine Bewegungen waren einfach nicht ganz so fließend und koordiniert und anscheinend unbewusst gesteuert, wie das bei jedem anderen Mitglied der Familie der Fall war. In gewisser Weise war ich wohl doch der tollpatschigste Vampir der Welt, wenn auch nicht ganz so schlimm, wie ich vor meiner Verwandlung befürchtet hatte. Natürlich nicht. Meine neue Tollpatschigkeit konnte ich genauso wenig mit meiner alten vergleichen, wie sich ein Spitzensportler mit einem zweijährigen Kind vergleichen konnte. Ich war nun der Spitzensportler - wobei ich mich früher wohl nie so bezeichnet hätte - der sich mit anderen Weltklasse-Athleten messen wollte und dabei doch immer nur als Letzter ins Ziel kam. Echt frustrierend. Ich fragte mich manchmal, ob ich wohl besser darin wäre, wenn ich schon als Mensch mehr Sport getrieben hätte. Wenn ich vielleicht Joga oder ähnliches gemacht hätte, um ein besseres Körpergefühl zu bekommen. Nun ja, ich hatte mir jedenfalls vorgenommen, mein Training so lange fortsetzen, bis es bei mir auch ganz natürlich aussah.

»Nun gut, was kann ich für die junge Dame tun?«, fragte Carlisle an Renesmee gewandt.
»Ich habe Durst«, erwiderte sie.
»Na, dann solltest du etwas trinken.«
»Aber es ist nichts mehr da«, meinte Renesmee mit einem Blick, der eine Mischung aus hoffen und bangen war, und sah in Richtung Kühlschrank.

Dort hatte Carlisle bislang immer einen Rest von Blutkonserven als Reserve aufbewahrt. Nur für alle Fälle, wie er damals meinte, falls Renesmee die vegetarische Ernährung in ihrem Wachstum vielleicht doch nicht ausreichen sollte. Es hatte sich aber schnell gezeigt, dass diese Sorge unbegründet war. Sie entwickelte sich nach wie vor sehr gut. Leider auch sehr schnell, aber wir wussten ja, dass es nur etwa sieben Jahre dauern würde, bis sie ausgewachsen war und da sich ihr extrem schnelles Wachstum ganz allmählich verlangsamte, meinte Carlisle, dass sie wohl wie 17 oder 18 aussehen würde, wenn sie dann ausgewachsen ist. Das wäre dann schon in sechs Jahren. Kaum vorstellbar, aber dann hätte sie uns, ihre Eltern, quasi eingeholt.

Nun waren dieser Vorrat aber trotzdem aufgebraucht. Renesmee hatte sie sozusagen für den kleinen Hunger zwischendurch gerne genutzt und irgendwie konnte ihr das keiner abschlagen. Dann hatte Carlisle aber entschieden, dass er keine weiteren Blutkonserven besorgen würde, um unnötige Verführung abzustellen, wie er meinte.

»Aber darüber haben wir doch schon gesprochen, Liebes. Wenn dein Durst so groß ist, dann solltest du etwas jagen gehen. Ich begleite dich auch gerne«, meinte Carlisle.
»Na gut, aber ich gehe mit Fido.«

Da gab es für Emmett kein halten mehr. Er kugelte sich geradezu vor lachen auf dem Boden. Auch Rosalie kicherte vor sich hin und Edward konnte seine Belustigung kaum verbergen. Ich stieß ihm mit dem Ellenbogen in die Seite, aber ohne ihm ernsthaft dabei weh zu tun bzw. ihn überhaupt verletzen zu können. Die Zeiten meiner Neugeborenenkräfte waren inzwischen zu Ende. Eigentlich viel zu schnell, aber auf jeden Fall viel schneller als erwartet. Schon nach einem halben Jahr hatte ich das Gefühl, dass meine Kraft allmählich nachließ. Allerdings auch - und das war das Gute daran - die manchmal kaum zu kontrollierenden Wutausbrüche, über die ich mich dann hinterher immer selbst am Meisten ärgerte. Zur gleichen Zeit stellte ich auch fest, dass die Röte in meinen Augen immer mehr zurück ging und sich in einen Braunton verwandelte. Erst ein dunkles Rotbraun und dann in vielen Facetten hin zu dem fast gleichen Goldbraun der anderen, wenn auch noch immer mit einem leichten rötlichen Ton. Jasper meinte, dass das wohl daran liegen würde, dass ich kein menschliches Blut trank. Dadurch würde sich mein eigenes Blut in meinem Körper schneller abbauen, als das normal wäre. Na toll, wieder etwas wobei ich nicht “normal” war.

Als mich dann vor gut zwei Monaten Emmett endlich beim Armdrücken besiegen konnte - sehr zu seiner großen Freude - war klar, dass mein Superwoman-Status seinem Ende entgegeneilte.

Der Seitenhieb, den Edward gerade von mir erhalten hatte, hätte zwar bei einem Menschen gereicht, ihm die Rippen zu brechen, aber Edward nahm ihn ziemlich gelassen hin, versuchte sich aber zu beherrschen und sein Schmunzeln wieder abzustellen. Ob das an meinem Stupser lag, oder an dem mürrischen Blick, mit dem ich ihn anfunkelte, konnte ich nicht sagen. Jedenfalls fiel es ihm sichtlich nicht leicht, was wohl an den witzigen Gedanken von Emmett und Rosalie lag.

»Renesmee, das ist nicht nett, wenn du Jacob so nennst«, meinte Esme, die gerade die Treppe heruntergekommen war.
»Ach, das macht meinem Jacob nichts aus«, erwiderte Renesmee.

“Meinem Jacob.” Die Worte kannte ich nur zu gut, auch wenn sie wie aus einem anderen Leben zu sein schienen. Auch Edward zog die Stirn in Falten bei diesen Worten. Er hatte sich zwar inzwischen an Jacob mehr als gewöhnt. Die beiden verband inzwischen sogar fast so etwas wie Freundschaft oder eher wie eine Kameradschaft. Manches schien sie zu verbinden, als wären sie Brüder und anderes wiederum entzweite sie. Er wusste jedenfalls, dass Jacob immer gut auf Nessie aufpassen würde, wenn sie mit ihm unterwegs war. Er wusste es, weil er es in seinen Gedanken hören konnte und ich wusste es, weil er einmal mein Jacob war.

»Rose, findest du nicht, dass es allmählich an der Zeit ist, diese Schüssel wegzuräumen?«, sagte Esme und zeigte dabei zum Boden auf den Fressnapf neben der Küche.

Den hatte Rosalie vor etwa einem Jahr aus einer Stahlschüssel geformt und mit der Aufschrift “Fido” versehen, um Jacob widerwillig etwas zu essen zu bringen und ihn dabei nach Möglichkeit auch zu ärgern. Doch Rosalie war in dieser Hinsicht ziemlich unnachgiebig und schüttelte trotzig den Kopf.

»Nein, das war mein Geschenk an Jacob und außerdem gefällt er Nessie«, erwiderte sie.
Ein Argument das von Renesmee sofort mit einem zustimmenden nicken und grinsen untermauert wurde.
»Außerdem ist es doch eine gute Tarnung. Viele Menschen halten Hunde.«
Seufzend resignierte Esme und beschäftigte sich damit, die Blumen neu zu arrangieren.

Viel zu schnell für ein Kind rannte Renesmee zu Tür, aber sie war ja auch zu Hause und hier störte das keinen. Wenn sie bei Charlie zu Besuch war, hatte sie es allerdings erstaunlich gut unter Kontrolle und bewegte sich tatsächlich absolut unauffällig. Nun ja, sie musste sich ja nicht bemühen so zu tun, als ob sie atmete und durch ihren echten Blutkreislauf war ihr Körper tatsächlich ganz natürlich immer etwas in Bewegung. Dennoch stellte ich gelegentlich fest, dass sie das Geschwindigkeitsproblem doch tatsächlich so gut beherrschte, dass ich mir noch tollpatschiger vorkam.

Charlie hatte sich inzwischen mit dem rasanten Wachstum seiner Enkelin abgefunden. Jedes mal, wenn er sie wieder sah und feststellen musste, dass sie schon wieder größer war, murmelte er nur etwas von »nur was ich unbedingt wissen muss«, vor sich hin und nahm sie dann doch freudestrahlend in den Arm. Durch ihre herzliche Art, machte sie es ihm auch leicht, sie so zu akzeptieren und zu lieben, wie sie war.

Von draußen hörte ich Renesmee nach Jacob rufen und ein Hecheln als Begrüßung und kurz darauf seine schweren Schritte Richtung Wald davon eilen. Er war meistens in der Nähe des Hauses und wartete darauf gebraucht zu werden oder einfach nur so etwas Zeit mit ihr verbringen zu dürfen. Dabei war er üblicher Weise in Wolfsgestalt, um mit dem Rudel in Kontakt zu bleiben. Wenn Rudel-Aufgaben seine Anwesenheit forderten, dann gab er uns immer Bescheid und meldete sich danach gleich wieder zurück.

Natürlich war Jacob auch immer im Hause willkommen. Bei den meisten jedenfalls. Er zog es aber vor, draußen zu bleiben, auch wenn er unseren Geruch dank seiner Verbundenheit zu Renesmee bei weitem nicht mehr als so schlimm empfand, wie das früher der Fall war. Sein Rudel, mit Ausnahme von Seth, mochte es aber ganz und gar nicht, dass ihr Leitwolf öfters mal nach Vampir stank. Daher vermied er es nach Möglichkeit ins Haus zu kommen. Er meinte dazu einmal, dass man manchmal als Leitwolf auch Opfer bringen müsste. Nur wenn Renesmee ihn eindringlich darum bat, mit ins Haus zu kommen, konnte er natürlich nicht abschlagen. Esme war auch immer bedacht, ihm etwas zu essen bereitzustellen, nur für alle Fälle, wie sie meinte. Außerdem freute es sie, dass sie dadurch häufiger Gelegenheit hatte, die Küche zu benutzen, während es für den Rest der Familie eher unangenehm war, Essensgerüche im Haus zu haben.

Emmett bezeichnete ihn gerne als unseren treuen Wachwolf. Er und Rosalie hatten ihm auch schon mal eine überdimensionale Hundehütte gebastelt, vor dem Haus platziert und ein Schild “Vorsicht vor dem Wolf” daneben gestellt. Das ging Esme dann aber doch zu weit und die beiden haben es widerwillig wieder abgebaut.

Emmett ließ aber auch keine Gelegenheit aus, um sich aus der Situation einen Spaß zu machen. Gerne ärgerte er Edward mit den Worten »Hey Eddy, dein zukünftiger Schwiegerwolf ist wieder da.« und wenn er dann erst mal so richtig in Fahrt war, gab es für ihn kein Halten mehr. o.k., in Anwesenheit von Renesmee beschränkte er sich meistens darauf, seine Späße zu denken, um damit nur Edward zu ärgern. Wenn ich das bemerkte, ging ich gerne dazwischen und schirmte Emmett mit meinem Schild heimlich ab, was außer Edward natürlich niemand wusste. Dann lächelte er immer dankbar vor sich hin und Emmett meinte, er würde versuchen seine gedachten Sticheleien mit Humor zu nehmen.

Auch wenn ich selbst gerne viel Zeit mit Renesmee verbrachte, so sah ich es doch auch gerne, wenn sie mit Jacob unterwegs war. Seine Naturverbundenheit übertrug sich auf sie und einige der Älteren der Quileute, die sie auch ins Herz geschlossen hatten, machten sie mit den ungewöhnlichen Pflanzen und Heilkräutern in den Wäldern ihrer Heimat vertraut. Nicht, dass sie das jemals für sich brauchen würde, aber ihre Neugier schien grenzenlos zu sein. Ich weiß noch, als sie vor einigen Wochen von einem Ausflug mit Jacob mit einem kleinen Strauß Kräuter nach Hause kam und ihn Carlisle gab. »Die können bei den Menschen Fieber senken«, sagte sie zu ihm. Carlisle freute sich wirklich darüber und untersuchte die Pflanzen und meinte so etwas wie »Wissen der Naturvölker…«.

Außerdem konnte ich, wenn Nessie mit Jacob unterwegs war, ungestört mit Jasper oder Emmett trainieren. Ich wollte mich nie wieder so wehrlos fühlen, wie damals als Neugeborene angesichts der Volturi. Klar, ich hatte meinen Schutzschild und trainierte den auch fleißig. So schenkte ich hin und wieder Edward auch mal eine Stunde ganz ohne fremde Gedanken, in dem ich alle anderen von ihm abschirmte. Das war für ihn eine ganz außergewöhnliche Erfahrung, wie er einmal bestätigt hatte, im Kreise seiner Familie zu sein und doch die Ruhe im Kopf genießen zu können.

Er war zwar auch in der Lage einzelne Gedanken bewusst auszublenden, aber das war doch meist recht anstrengend für ihn. Nicht körperlich, aber ich kannte die mentale Erschöpfung noch gut von meinem Training damals, als die Volturi auf dem Weg zu uns waren. Manchmal gingen wir auch zu unserer Lichtung und genossen die Abgeschiedenheit.

Natürlich trainierte ich es auch, meinen Schutzschild ganz von mir weggedrückt zu halten, damit er meine Gedanken lesen konnte. Meistens hielt das aber nicht lange an, denn wenn ich wollte, dass er meine Gedanken lesen konnte, dann in Situationen, in denen ich ohnehin intensiv an ihn dachte und das führte fast immer dazu, dass er mich mit seinen Liebkosungen aus der Konzentration riss.

Emmett und Jasper nutzten ebenfalls gerne meine Gabe, denn nun konnte ich sie ja vor Edwards unfairem Talent schützen, wenn sie etwas spielen wollten. Da war ich dann auch immer ganz unparteiisch. Die kleine Schweiz der Cullens. Kaum zu glauben, wie schwer es Edward fiel, plötzlich ohne die Kenntnis über die Gedanken der anderen zu spielen. Am Anfang hatte er fast immer verloren, was mir so manchen missmutigen Blick eingebracht hatte, aber er hatte nie aufgegeben und kam inzwischen viel besser damit klar. Wenn er jetzt gewann, schien sein Triumph noch größer zu sein, wobei die anderen mir dann immer unterstellten, ich hätte den Schild heimlich fallen lassen, was ich natürlich vehement abstritt.

Nur wenn sie ihr Kampftraining machten, weigerte ich mich meinen Schild einzusetzen. Nur ein Mal hatte ich das gemacht und obwohl der Kampf mit Emmett trotzdem recht ausgeglichen war, hatte Edward einen üblen Treffer abbekommen. Von da an konnte ich dabei einfach nicht mehr mitmachen. Genauso wenig, wie Edward mit mir ein Kampftraining machen konnte.

Ab und zu probierte ich auch einfach mal etwas Neues aus. Zum Beispiel, ob ich eigentlich alle anderen von Edward abschirmen musste, oder ob ich meinen Schild eventuell auch umdrehen und wie eine Käseglocke über ihn stülpen könnte. Vielleicht könnte so etwas ja irgendwann mal nützlich sein. Na ja, jedenfalls bekam ich das bislang nicht hin, aber so schnell wollte ich nicht aufgeben.

Das Training mit Jasper war mir sehr wichtig, obwohl ich den Eindruck hatte, nicht wirklich viel besser zu werden. Jasper meinte einmal zu mir, dass ich nicht so ungeduldig sein sollte. Schließlich hätte ich meine Neugeborenenkräfte erst vor kurzem verloren. Es würde einfach seine Zeit brauchen, sich daran zu gewöhnen und es würde Jahre dauern, ein guter Kämpfer zu werden. Letztlich tröstete er mich damit, dass ich Fortschritte machen würde, denn meine Körperbeherrschung würde immer besser werden. Das stimmte sogar. Wenn er mich mal wieder scheinbar mühelos überlistete und durch die Gegend schleuderte, landete ich wenigstens meistens auf meinen Füßen oder konnte meine Landung sanfter gestalten. Nessie war sehr froh darüber, dass ich nicht ständig die Bäume an unserem Übungsplatz demolierte. Sie war eben inzwischen äußerst naturverbunden.

Mir war auch aufgefallen, dass ich beim Rennen jetzt zwar nicht mehr so große und kraftvolle Schritte machen konnte, wie noch als Neugeborene, dafür aber kleinere und schnellere. Insgesamt war ich dadurch sogar noch etwas schneller geworden, obwohl ich gegen Edward nach wie vor keine Chance hatte.

Ich war auch bei der Jagd nicht mehr so plump wie zu beginn und schonte meinen Kleidervorrat. Meistens jedenfalls. Alice fand es nämlich gar nicht so lustig, dass ich gerne mal eines der Designer-Stücke für die Jagd anzog, nur um danach mit einer Unschuldsmiene sagen zu können, dass mich der Puma wirklich überrascht hätte und leider das Kleid dabei zerfetzt wurde. Aber viel wichtiger als dieser Spaß mit Alice war, dass es Edward jedes Mal aus dem Konzept brachte, wenn ich mal wieder mit halb zerrissenem Kleid vor ihm stand. Das konnte unsere Jagdausflüge ganz schön in die Länge ziehen. Vermutlich wusste Alice das auch und nahm mir meinen Mode-Feldzug deshalb nicht wirklich übel.

Wie Edward hatte auch ich eine Schwäche für Pumas entwickelt. Überhaupt standen alle Raubkatzen für mich ganz oben auf der Speisekarte. Ich jagte lieber einen kleinen Luchs als einen großen Hirsch. Edward, ganz Gentleman, überließ mir natürlich immer den ersten Puma, den wir aufspürten. Das konnte ich ihm einfach nicht ausreden. Ich bestand aber darauf, dass er dann jeden zweiten bekommen musste. Damit konnte er leben.

Ich dachte auch schon darüber nach, ob es denn möglich wäre, sich einen Puma zu teilen, aber das stellte sich als weitaus schwieriger heraus, als ich erwartet hatte. Wenn ich mich für die Jagd ganz auf meine Instinkte verließ, dann war ich nicht in der Lage, meine Beute zu teilen. Wir hatten es ein paar mal versucht, aber wenn er mir dann zu nahe kam, knurrte ich ihn unweigerlich an, was mich meistens dann sofort dermaßen ärgerte, dass ich gar keine Lust mehr auf die Jagd hatte. Es spielte auch keine Rolle, ob er oder ich den Puma erlegt hatte. Es war so frustrierend und er lächelte mich dann auch noch so verständnisvoll an oder bezeichnete mich scherzhaft als sein wütendes Kätzchen. Wie kam er nur auf diesen Vergleich? Er meinte nur, mein Gesichtsausdruck würde ihn an frühere Zeiten erinnern, was auch immer damit gemeint war. Ich wollte unbedingt in der Lage sein, einen Puma mit ihm zu teilen, dass ich es regelmäßig trainierte, von meiner Beute wieder abzulassen, bevor ich sie ganz ausgesaugt hatte. Ich zwang mich regelmäßig dazu, egal wie stark mein Durst war. Doch letztlich war das bei weitem noch nicht das, was ich wirklich wollte. Es war irgendwie total doof, ihm einen halb leeren Puma überlassen zu wollten. Nein, da sollte er lieber den nächsten alleine bekommen.

Manchmal ging ich auch einfach bewusst mit anderen auf die Jagd. Dann mussten wir beide nicht die Pumas teilen. Ich trennte mich zwar ungern von ihm, selbst wenn es nur für wenige Stunden war, aber dafür war das Wiedersehen um so schöner. Am liebsten ging ich dann zusammen mit Alice, meiner besten Freundin, die ich wirklich gerne als meine Schwester bezeichnete. Wie sollte ich da auch widerstehen können wenn sie sagte »wollen wir heute zusammen Jagen gegen? Ich weiß wo zwei Pumas auf dich warten.«

Aber auch mit Emmett konnte es sehr lustig sein. Seine Art Bären zu jagen hatte etwas von einem Kind, das mit Zoo-Kräckern spielte. Aber auch ansonsten, wenn er nicht so versessen darauf war, den Pausenclown zu spielen, war es schön mit ihm Zeit zu verbringen. Ich verstand immer besser, warum Edward meinte, dass man keinen besseren Bruder haben könnte. Trotz seiner Späße und Sticheleien bestand kein Zweifel an seiner aufrichtigen Liebe zur Familie. Er würde alles für einen tun, ohne eine Gegenleistung zu fordern. Ich hatte ihn wirklich sehr gerne.

Carlisle und Esme waren auch für mich inzwischen so etwas wie Eltern geworden. Schwiegermama, egal wie liebevoll es gemeint war, wollte Esme aber auf keinen Fall genannt werden. Aber Mom konnte ich sie auch nicht nennen. Das war und ist immer Renée für mich und außerdem ist Esmes Mutterliebe, die ich als absolut aufrichtig empfand, doch irgendwie ganz anders als die meiner Mom. Tja und mein Dad, das ist Charlie. Das ging für Carlisle also auch nicht. Bis auf weiteres würde ich sie wohl weiterhin einfach Carlisle und Esme nennen. Damit konnten die beiden auch bestens leben. Schließlich kam es nicht auf die Worte an, sondern auf die Beziehung, die wir zueinander hatten.

Mit Renée war ich auch wieder in Kontakt. Anfangs nur E-Mail, da ich mir sorgen machte, dass ich meine Stimme nicht unter Kontrolle haben könnte, wenn ich mit ihr telefonieren würde. Inzwischen klappt das aber ganz gut. Die Geschichte mit der langwierigen Tropenkrankheit und der anschließenden Langzeit-Reha hatte sie mir abgekauft. Es war ihr auch klar, dass ich deshalb noch nicht mein Studium aufnehmen konnte, wunderte sich aber, dass ich es zuließ, dass Edward bei mir blieb und ebenfalls ein Jahr verlor. Wenn sie wüsste…

Schweren Herzens hatte ich ihr nichts von Renesmee erzählt und würde es wohl auch nie tun können. Vermutlich durfte ich sie auch nie wieder in den Arm nehmen. Sie würde die Welt, in der ich nun lebte, nicht verstehen, es nicht so akzeptieren können wie mein Dad. Es war so schwer für mich, bei aller Liebe für meine Mom, ihr nicht die Wahrheit erzählen zu dürfen.

Hin und wieder schickte ich ihr Fotos von mir und Edward, die ich vorher am PC entsprechend bearbeitet hatte, um sie menschlicher aussehen zu lassen. Edward meinte, dass wir ja mal zu ihr fliegen könnten, damit ich sie wenigstens heimlich beobachten und einfach mal wieder sehen könnte, aber das würde vermutlich noch schmerzhafter sein. Dann lieber eine Fernbeziehung. Für immer.

“Huch!”, Edward streichelte plötzlich mit seinen Fingerspitzen meine Wirbelsäule entlang. Ob er deshalb so begeistert von dem rückenfreien Kleid war? Ich blickte ihn an und schaute in zwei wunderschöne goldbraune, aber leider besorgt dreinblickende Augen.

»Ist alles in Ordnung? Du wirkst so traurig?«
»Ach es ist nichts«, log ich. »Ich musste nur gerade an meine Mom denken.«
Meine ausnahmsweise positive Geburtstagsstimmung war plötzlich verflogen.
»Spielst du etwas Fröhliches für mich, damit ich wieder auf andere Gedanken komme?«
Er lächelte liebevoll, dachte kurz nach und schon flogen seine Hände über die Tasten und die Melodie nahm mich allmählich mit auf eine Reise. Ich wünschte, ich könnte annähernd so gut spielen wie er.

Ich bemerkte einen leichten Lufthauch, als Alice wieder aus ihrem Zimmer kam und blickte flüchtig zu ihr auf und sah sofort ihr besorgtes Gesicht. Zeitgleich hörte ich draußen aus größerer Entfernung einen Wolf heulen.

»Das ist Jacob!«, schrie ich und rannte zur Tür hinaus.
Edward war sofort an meiner Seite. Dann standen wir vor dem Haus und sahen uns um.
»Ich kann ihn nicht hören. Er ist zu weit weg«, fluchte Edward leise.
» Alice, was ist los!«, schrie ich ins Haus. »Ich dachte du kannst Jacob und Renesmee nicht sehen. Was ist passiert?«
Alice, die nun auch an der Tür stand, sah mich verwirrt an.
»Ich weiß nicht was mit Jacob und Renesmee ist. Ich hatte eine Vision von einem Nomaden, etwa 25 Meilen außerhalb von Forks. Er schien ziellos unterwegs zu sein, stieß dann auf eine kleine Familie beim Camping und entschied sich, sie zu jagen.«

25 Meilen? So weit würde Jacob ohne unser Wissen nicht mit Renesmee weggehen. Gab es da überhaupt einen Zusammenhang?

»Carlisle«, fuhr Alice fort. »Die Familie die angegriffen wird. Das ist Dr. Kims Familie.«

Ich kannte Dr. Kim nur flüchtig. Er war eine Kollege von Carlisle. Soweit ich wusste, mochten die beiden sich. Ich hatte ihn ein paar mal auch bei Newtons gesehen, als ich dort noch arbeitete. Er war wohl so ein Camping-Fanatiker.
Carlisle blickte erschrocken zu Alice.
»Dr. Kims Familie? Seine Frau und sein Sohn? Hat er sie…«
Seine Stimme versagte.
»Ich weiß es nicht, meine Vision ist plötzlich verschwommen. Ich habe nur seinen Entschluss zum Angriff gesehen.«

6 Sekunden waren inzwischen vergangen, seit ich Jacob gehört hatte. Ich konnte nicht länger hier bleiben. Ich musste wissen, was mit Renesmee los war. Warum hatte Jacob sein Wolfsgeheul erklingen lassen? Ich rannte in den Wald, in die Richtung, aus der ich seinen Ruf vernommen hatte. Ich war mir nicht sicher, schließlich war ich zu dem Zeitpunkt im Haus und auch mein verbessertes Gehör funktionierte durch die Wände nicht 100%ig zielgenau, doch ich hatte zumindest eine Ahnung davon, wohin ich rennen musste.

Zum Glück war Jacobs Fährte noch frisch. Dieser merkwürdig erdige Geruch, mit der lecker-süßlichen Note von Renesmee vermischt.

Edward hatte mich bereits eingeholt. Wir rannten Seite an Seite und die Bäume flogen nur so an uns vorbei. Es überraschte mich noch immer, dass ich die Struktur der Rinde, des Moosbewuchs, ja jedes einzelnen Blattes eines Farns bei diesem Tempo erkennen konnte, doch schon im nächsten Moment ärgerte ich mich darüber, dass mich so etwas ablenken konnte, wo doch meine Tochter in Gefahr war.

»Jacob!«, brüllte ich viel zu laut für einen Menschen. Ich war etwas besorgt, dass mich vielleicht jemand anderes hätte hören können, aber meine Sorge um Renesmee war um ein vielfaches größer.

»Dort entlang. Er ist in der Richtung.«
Offensichtlich hatte Edward nun Jacobs Gedanken aufgeschnappt. Dann konnte er nicht mehr weit weg sein.
»Jetzt sag schon was los ist«, grummelte Edward vor sich hin. Jacobs Gedanken waren wohl nicht sehr informativ.
»Oh! Er spricht mit Sam.«
»Sam ich auch dort?«, fragte ich überrascht.
»Nein, das ist diese Leitwolf-Kommunikation. Sam ist Meilenweit entfernt. Warte kurz… ich verstehe…. Sam sagte, dass drei der Jüngsten aus seinem Rudel einen Nomaden aufgespürt haben und ihn verfolgen. Vermutlich der Nomade aus Alice’ Vision.«
»Was! Edward das sind Kinder. Die kann Sam doch nicht ernsthaft gegen einen Vampir kämpfen lassen.«
Ich war außer mir vor Wut, dass Sam so etwas zulassen konnte.
»Ich weiß Bella. Sam rennt gerade dort hin und ruft seine Leute zusammen.«

Endlich konnte ich Jacob und Renesmee entdecken. Sie liefen uns entgegen. Ich schnappte Renesmee von seinem Rücken herunter und drückte sie an mich.

»Alles in Ordnung Momma, nur so eine Wolfssache.«
Renesmee streichelte meinen Arm als wollte sie mich beruhigen. Meine Wut war augenblicklich fast wie weggeblasen und ich war sehr erleichtert, dass es ihr gut ging. Dennoch erstaunte mich ihr Verhalten. Ob sich das vererbt hatte? So ähnlich hätte ich wohl früher auch gegenüber Renée reagiert, wenn sie zu besorgt um mich gewesen wäre.

Jacob und Edward blickten sich kurz in die Augen.
»Alles klar«, sagte Edward und Jacob schaute noch mal kurz nach Renesmee, drehte sich dann weg und schoss davon.
»Was ist klar?«, fragte ich ungeduldig.
»Sams und Jacobs Rudel teilen sich die Patrouillen rund um Forks. Wenn die einen eine Verfolgung aufnehmen, sichern die anderen deren Gebiet mit ab. Nur für alle Fälle. Jacob muss das regeln.«
Edward schaute kurz suchend in den Wald hinein und schien weitere Gedanken aufgeschnappt zu haben.
»Carlisle ist mit Alice und Jasper auf dem Weg zu Dr. Kims Familie. Sie sind sehr besorgt und befürchten das Schlimmste.«
»Weiß du wo es ist?«, fragte ich Edward.
»Ja, ich habe es in Alice’ Gedanken gesehen.«
»Dann lass uns schnell Renesmee nach Hause bringen und sehen, ob wir helfen können«, sagte ich und rannte schon zurück.
»Bella warte, ich weiß nicht ob das eine so gute…«
»Edward!«, fuhr ich ihn an, und Renesmee zuckte leicht auf meinem Arm zusammen. »Da draußen ist ein gefährlicher Vampir, vermutlich frisch gestärkt von dem Blut unschuldiger Menschen und dann noch drei Kinder-Wölfe und ein Teil unserer Familie. Du willst mir nicht ernsthaft sagen, dass es keine gute Idee wäre zu helfen?«

Ich fasste es nicht, dass er mich aufhalten wollte und rannte um so schneller. Edward seufzte schwer. Er musste sich wohl geschlagen geben. Meine Argumente waren stärker als seine Sorge um mich.


Kaum am Haus angekommen, übergab ich Renesmee an Rosalie, gab ihr einen schnellen Abschiedskuss auf den Kopf und lief wieder in den Wald.

»Was ist los?«, fragte Rosalie und Emmett eilte zu ihr.
Ich antwortete nicht und rannte mit Edward weiter. Hinter mir hörte ich noch Renesmee »Momma macht sich sorgen um Kinderwölfe«, sagen. Rosalie schnaubte und Emmett lachte vor sich hin.

Edward lief schweigend vor mir her. Er hatte wohl kein besseres Argument gefunden und wies mir den Weg. Wir hetzten so schnell wir konnten oder besser, so schnell ich konnte. Alice, Jasper und Carlisle hatten vielleicht 30 Sekunden Vorsprung. Ich wollte nicht, dass der noch größer wurde. Wir überquerten den Highway an einer unübersichtlichen Stelle und so schnell, dass uns kein Autofahrer bemerkte und rannten auf der anderen Seite wieder durch den Wald.

Kurze Zeit später waren wir kurz vor der Stelle, an der der Überfall stattgefunden haben musste. Ich erkannte bereits Alice und Jasper nebeneinander stehend. Mir fiel auf, dass Alice ganz auf Jasper fixiert war. Etwa 50 Meter daneben kniete Carlisle am Boden.

Ich überließ mich meinen Instinkten und atmete schneller, wollte so viele Geruchsinformationen aufnehmen, wir nur irgendwie möglich, um mir ein möglichst umfassendes Bild der Situation machen zu können.

Dann traf es mich plötzlich wie ein Schlag. “Was für ein Geruch”, schoss es mir durch den Verstand. Nie zuvor hatte ich etwas ähnlich Köstliches gerochen. Mein Mund füllte sich augenblicklich mit Gift. Ich schluckte und meine Kehle brannte wie nie zuvor, als ob ich glühende Lava trinken würde. Ich verspürte einen Durst, den ich so nicht kannte und der mich völlig überraschte. Instinktiv ging ich leicht in die Hocke - in Angriffsstellung - und taxierte meine Umgebung.

Mein Verstand raste. Ich versuchte alles gleichzeitig wahrzunehmen, gleichzeitig mehrere Gedankengänge zu führen. Da lag sie, die Quelle dieses köstlichen Geruchs. Meine Beute, nur 37 Meter vor mir. Der Junge lebte noch, hatte offene Wunden und sein Blut tropfte auf den Boden.

“Was für eine Verschwendung”, dachte ich.
Carlisle versuchte ihm zu helfen.
“Wozu? Er soll die Finger von meiner Beute lassen.”

All meine Gedanken waren auf diese leckere Mahlzeit ausgerichtet. Es fiel mir unsagbar schwer, mich weiter umzusehen, um mögliche Gefahren zu entdecken, bevor ich mich über meine Beute her machen konnte. Ich blickte um mich und bemerkte, wie Jasper seinen Blick von dem Jungen löste und zu mir sah. Ein ernst zu nehmender Konkurrent, den ich nicht aus den Augen lassen durfte. Alice folgte seinem Blick und riss erschrocken die Augen auf.

»Bella, nicht…«

Ich sah sie genau an. Würden sie mich hindern wollen? Könnten sie das überhaupt? Sie waren beide nicht kampfbereit und wären nicht schnell genug, wenn ich mir jetzt meine Beute schnappen würde. Carlisle war zu sehr abgelenkt. Er wäre zu überrascht, um mich aufzuhalten. Mein Plan nahm Gestalt an. Es würde funktionieren, wenn ich schnell handelte. Jedes Zögern verringerte meine Erfolgsaussichten.

Mein Blick fiel auf Edward. Er stand auf halbem Weg zwischen mir und meiner Beute. Unweigerlich fauchte ich ihn an. Aber was bedeutet das? Sein Gesicht …, es wirkte so geschockt. Wegen des Geruchs? War da noch etwas, das ich nicht bemerkt hatte? Ich sah mich weiter um und holte noch mal tief Luft, um festzustellen, ob mir etwas entgangen war.

“Ahrg!” Dieser Schmerz in der Kehle. Die Luft war voll dieses köstlichen Duftes. Nichts anderes konnte ich riechen. Der Geschmack der Luft war berauschend und wie von selbst richteten sich meine Sinne wieder auf meine Beute aus. Noch mehr Gift lief mir im Mund zusammen und quälte meine arme Kehle, die sich so sehr nach der Linderung sehnte, die das Blut dieses Jungen versprach.

Wieder blickte ich zu Edward. Immer noch erstarrt, sah er mich an. Bittend. Flehend. Verzweifelnd. Er wollte mich doch wohl nicht ernsthaft darum bitten, ihm die Beute zu überlassen? Bei aller Liebe, aber das konnte er doch nicht von mir verlangen.

Oh dieser Durst. Mein Verstand drohte sich komplett auszuschalten.

»Bella, Liebste, bleib bei mir. Konzentriere dich.«

Bleib bei mir? Dachte er, ich wollte gehen? Ich wollte nirgendwo hin gehen. War ihm denn das nicht klar? Alles was ich wollte, lag da vor mir auf dem Boden. Ein kleiner Junge, voll mit herrlich köstlichem Blut. So wie Edward dastand, würde er mich nicht aufhalten können. Ich könnte an ihm vorbei zischen und mir die Beute schnappen. Oder wollte er mich vielleicht nur in Sicherheit wiegen? War das ein Trick, eine Falle?

Das Bild in meinem Kopf fing an merkwürdig zu werden. Was war los mit mir? Ich konnte nicht klar denken. Ich wollte den Jungen, wollte sein Blut schmecken, aber etwas hielt mich zurück.

Ich sah mich um. War etwas hinter mir? “Nein - nichts.”

Edwards Blick hatte sich nicht verändert. Seine Lippen formten noch mal die Worte »Bella, Liebste, bleib bei mir.«

Ich wusste, was er sagte, auch wenn ich es fast nicht hörte, nicht richtig wahrnehmen konnte, denn der Durst rauschte laut in meinen Ohren. Ich hielt mir die Hände an den Kopf. Ich brauchte doch mein Gehör. Wie sollte ich denn so meine Beute behaupten?

Entsetzte Gesichter sahen mich an. Edward, Alice, Jasper. Auch Carlisle blickte zu mir. Verzweiflung stieg in mir auf. Nein hier stimmte etwas nicht. Ich versuchte mich zu konzentrieren. Es fiel mir so unendlich schwer. Dieser Duft. Dieser Durst. Der Geschmack in der Luft. Immer wieder schoben sie sich in den Vordergrund.

»Bella, Liebste…«

Die Verzweiflung in Edwards Worten war greifbar. Ich wollte nicht, dass er so verzweifelt war. Das war irgendwie nicht richtig. Wer war schuld daran? Ich würde denjenigen in der Luft zerreißen. Doch alle Blicke waren nur auf mich gerichtet.

Aber… ich…. das konnte doch nicht sein. War ich der Grund? Ging es um die Beute? Ich erinnerte mich, dass er mir schon so viele Pumas überlassen hatte. Wollte er jetzt eine Gegenleistung? Mein köstliche Beute, die dort auf dem Boden lag, im Tausch gegen jede Menge Pumas? … Warum eigentlich Pumas?

Die Erkenntnis, was hier vor sich ging, durchzuckte mich wie ein Blitzschlag. Ich wollte kein Menschenblut trinken. Aber warum nur wollte ich das denn nicht? Wusste ich nicht, wie köstlich es roch?

Wenn meine Kehle doch nur aufhören würde zu brennen, damit ich klarer denken konnte. Ich schaute wieder um mich. Keiner machte Anstalten, mir meine Beute entreißen zu wollen. Aber warum nur? Ich versuchte meinen Atem zu stoppen um einen klareren Kopf zu bekommen, nicht mehr so vom Durst benebelt zu sein.

Ich wollte so sehr trinken, nur einen Schluck, nur ein Mal. Wäre das denn zu viel verlangt? Sagte Jasper nicht immer, dass Neugeborene dem nicht widerstehen könnten? Oh wie recht er hatte.

Ich wusste, dass ich nicht so ein Vampir sein wollte, aber nicht warum. Könnte ich nicht eine Ausnahme machen? Würden sie mir das vorwerfen? Jasper doch nicht, oder? Und Emmett und Rosalie? Die würden mir das doch gönnen? Esme hätte bestimmt auch Verständnis. Und Edward?

“Oh Edward.”

Ich sah ihm in die Augen und erkannte wie sehr er litt. Er würde mir vergeben, ganz sicher, aber er würde leiden, so sehr leiden. Ich wollte nicht, dass er leidet. Was konnte ich nur tun?

»Edward, bitte hilf mir!«, krächzte ich durch meinen brennenden Hals.

Mit erhobenen Händen, als ob er mir zeigen wollte, dass er unbewaffnet war - als ob er seine Waffen ablegen könnte - kam er ganz langsam auf mich zu und schob sich zwischen mich und den blutenden Jungen.

Das gefiel mir nicht. Ich wollte doch meine Beute haben. Aber ich wollte Edward nichts tun. Weder direkt noch indirekt. Ich hielt weiter die Luft an, unterdrückte das Knurren, das aus meiner Brust aufzusteigen drohte und rührte mich nicht.

Eine weitere Welle der Verzweiflung überflutete mich. Warum nur? Warum war ich denn nur so verzweifelt? War ich das überhaupt oder kam das von Jasper?

»Jasper, das ist nicht hilfreich!«, fauchte ich hinüber.

Jasper zuckte zusammen. Alice versuchte ihn zu beruhigen und das Gefühl der Verzweiflung ließ allmählich nach. Das war gut. Es half mir, mich zu konzentrieren, doch der Preis dafür war hoch gewesen. Ich hatte den Rest der Luft in meiner Lunge verbraucht, um Jasper anzusprechen. Jetzt hatte ich keine Luft mehr in mir und ich konnte nicht mehr reden. Ich hätte atmen müssen, um noch mal etwas sagen zu können, doch ich wolle nicht atmen. Noch eine Dosis dieses köstlichen Duftes würde ich nicht mehr aushalten.

Flehend blickte ich zu Edward. Ich war wie erstarrt und konnte mich nicht bewegen.

»Edward, bring sie hier weg«, hörte ich Carlisle sagen.

Ich sah ihn nicht und seine Stimme verschwamm in dem Rauschen in meinen Ohren. Edward stand zwischen mir und Carlisle und dem Jungen. Er war jetzt ganz nah. Direkt vor mir. Ich wollte so gerne seine Haut riechen. Das würde mir ganz bestimmt helfen, aber ich traute mich nicht zu atmen. Das Risiko war einfach zu groß.

»Bella, Liebste. Darf ich dich hier weg bringen?«

Er fragte so vorsichtig und sanft. Seine Engelsstimme durchdrang das Rauschen in meinen Ohren, drückte es beiseite und streichelte mein Trommelfell. Wollte er mir eine Wahl lassen, um mich nicht zu verängstigen, nicht zu verärgern? Ich fühlte mich nicht wohl. Ich wollte weg, aber ich wollte doch auch meine Beute. Es zerriss mich fast. Ich konnte mich nicht rühren, weder vorwärts noch rückwärts. Alles in mir war angespannt und schien darauf zu warten, welches Verlangen in mir gewinnen würde.

Edward wollte mich wegbringen und hatte mich um Erlaubnis gebeten. Aber konnte ich ihm vertrauen? Jetzt? Hier? Oder war das alles Teil eines hinterlistigen Planes, weil er tatsächlich nur die Beute für sich haben wollte? Nein, dann könnte er mich ja nicht wegbringen. Das brächte ihn ja auch von der Beute weg. Es musste einfach anders sein und einen anderen Grund haben. Eine laute Stimme in mir, die direkt aus meinem Herzen zu kommen schien, schrie mir zu, dass ich meinem Liebsten bedingungslos vertrauen konnte. Ich schaute ihm in die liebevollen Augen und wusste, dass diese innere Stimme recht hatte. Ganz leicht nickte ich ihm zu.

Langsam, unendlich langsam hob er mich sachte auf seine Arme. Mein Kopf lehnte an seiner Brust, unter seinem Kinn und ich spürte seinen Atem auf dem Haar.

Warum nur machte ihm das nichts aus? Wie konnte er nur so ruhig dastehen und atmen? War der köstliche Duft etwa verschwunden? Ich traute mich nicht es zu überprüfen. Ich fühlte mich nicht stark genug.

Edward trug mich weg. Ich konnte mich noch immer nicht rühren. Ich spürte, dass sich sein Tempo ganz leicht steigerte, aber nur sehr behutsam. Ich lauschte seinem gleichmäßigen Atem. Wie gerne hätte ich in seinen Takt eingestimmt und mit ihm zusammen geatmet, das Gleiche gerochen wie er. Vor allem aber seinen Duft gerochen.

»Bella, Liebste…«

Ganz langsam hob ich den Kopf, sehr darauf bedacht, keine hastigen Bewegungen zu machen, bis ich ihm in die Augen sehen konnte. Die Sorge und das Mitleid in seinen wunderschönen Augen beschämten mich. Ich fühlte mich so schlecht.

»Du kannst jetzt wieder atmen.«
Unsicher blickte ich ihn an.
»Vertrau mir. Es ist gut.«

Wie sollte ich ihm auch nicht vertrauen können, meinem Edward. Ich zog übertrieben vorsichtig ein wenig Luft durch den Mund. Sie hatte nicht mehr von dem köstlichen Geschmack an sich. Ich atmete langsam durch die Nase. Da waren nur die bekannten Gerüche des Waldes, die von Edwards Duft überlagert wurden.


Mein vernebelter Verstand begann sich aufzuklaren. Das rauschen in den Ohren ließ nach und war Augenblicke später ganz verschwunden. Ich begriff nun, was da gerade passiert war. Mir wurde bewusst, dass ich kurz davor gewesen war, einen kleinen, vielleicht 10 Jahre alten Jungen zu töten, um meinen Durst zu stillen. Meine Kehle brannte bei dem Gedanken daran noch einmal kräftig auf.

Ein starkes Gefühl von Scham und Selbstzweifel überrollte mich. Ich fühlte mich so elend. Ich wollte weinen, aber meine Augen hatten keine Tränen für mich, mit denen ich das Gefühl hätte wegwaschen können. Nur ein Schluchzen, ein unaufhaltsames durchdringendes Schluchzen kam aus meinem Mund. Edward drückte mich noch enger an sich und küsste mir das Haar.

»Bella, es ist alles wieder in Ordnung. Ich bringe dich nach Hause.«

Nach Hause? Ich wollte so nicht nach Hause. Ich hatte sie bestimmt alle mit meinem Verhalten beschämt und entsetzt. Ich wollte jetzt nicht ihre wütenden Gesichter sehen. Mir ging es auch so schon schlecht genug.

»Nein, bitte … bitte bring mich nicht nach Hause.«
Edward stockte.
»Aber Bella, wohin…«

Ich musste nicht lange darüber nachdenken und wusste sofort, wo ich hin wollte. An einen Ort, mit dem ich so viele schöne Erinnerungen verband, wo wir alleine wären. Der Ort, an dem ich mit Edward zum ersten mal im Sonnenlicht auf der Wiese lag.

»Bringst du mich zu unserer Lichtung, Bitte?«, flehte ich ihn an.

Er zögerte nicht, änderte die Richtung und lief immer schneller werdend los.

Ich drückte meinen Kopf immer noch an seine Brust und atmete leicht seinen Duft ein. Er beruhigte mich. Fast schwerelos lief Edward durch den Wald, immer weiter bergauf zu der Lichtung. Dort setzte er sich in die Mitte der Wiese, mich immer noch auf seinen Armen tragend, meinen Kopf an seiner Brust.

Still saßen wir da und bewegten uns nicht. Ein Mensch hätte uns vermutlich für die Marmor-Skulptur einen Liebespaares gehalten. Ein Liebespaar? Konnte dieses Wort dem gerecht werden, was wir waren und dem, was Edward für mich bedeutete? Ohne ihn hätte ich heute meinen Verstand verloren, dessen war ich mir sicher. Er hatte sich wieder einmal als mein Rettungsanker, mein Fels in der Brandung erwiesen. Der Mittelpunkt meiner Welt. Nie hatte ich mehr Dankbarkeit für seine Liebe empfunden, als jetzt in diesem Moment.


Die Zeit verging. Wir rührten uns kaum, doch beobachtete ich die Schatten, wie sie langsam ihre Länge und Richtung veränderten. Wir waren wohl stundenlang hier gesessen. Ich hatte nicht wirklich darauf geachtet. Ich hatte das, was heute passiert war, immer wieder vor meinem inneren Auge ablaufen lassen. Der köstliche Geschmack in der Luft. Der furchtbar brennende Durst der unnachgiebig verlangte gestillt zu werden. Die entsetzten Gesichter von Jasper und Alice. Und natürlich das gequälte Gesicht von Edward, der mich schließlich aus dieser Falle retten konnte. Ich seufzte jedes Mal tief, wenn meine Erinnerungen wieder an diesem Punkt angekommen waren. Edward saß still da, mich immer noch sicher in seinen Armen wiegend und küsste mir das Haar. Wenigstens war es jetzt ein Seufzen und kein Schluchzen mehr.

»Ich glaube, ich weiß jetzt, was du damals gemeint hast, als du dich selbst als Monster bezeichnet hattest.«
Edward zuckte zusammen, als ich mit diesen Worten das Schweigen brach.
»Bella, du bist doch kein Monster! Du hast nichts getan, wessen du dich schämen müsstest.«
»Doch Edward. Ich wollte sehr wohl etwas tun, das ich mir wahrscheinlich niemals hätte verzeihen können. Wärst du nicht gewesen, hätte nichts mich aufhalten können.«
»Bella, Liebste. Ich habe fast nichts getan. Du allein hattest entschieden, was du tust. Ich habe nur ein wenig zu helfen versucht.«
»Du hast ja keine Ahnung. Nur du, deine Anwesenheit, dein Gesicht, deine Stimme, nur das hat mich von diesem abscheulichen Verbrechen abhalten können.«
»Bella glaube mir, nichts und niemand hätte einen einjährigen Vampir davon abhalten können diesem Durst nachzugeben. Nur deine außerordentliche Willenskraft hat das zustande gebracht.«
Er konnte es nicht lassen. Selbst in meine größte Niederlage interpretierte er noch einen Sieg hinein.

»Hast du denn nicht Jaspers Qual gesehen und seine Verzweiflung gefühlt?«, fuhr er fort. »Er ist seit so vielen Jahren ein Vegetarier, trainiert seit Jahrzehnten, seinen Durst zu kontrollieren und konnte sich trotzdem bei dem Duft dieses Jungen kaum zurückhalten. Alice musste ihre ganze Kraft aufbringen, um ihn zu beruhigen.«
»So wie du bei mir!«, ergänzte ich trotzig.
»Bella, was ich sagen will ist: Du hast es geschafft, nicht ich.«
»Aber dir hat es nichts ausgemacht, diesen Jungen zu riechen«, erwiderte ich. »Du bist ein weit besserer und selbstbeherrschterer Vampir als ich.«
»Oh Bella, wäre ich in deinem Alter in eine solche Situation gekommen, hätte mich niemand, auch nicht Carlisle aufhalten können. Du weißt, dass ich eine Zeit lang Menschen gejagt habe.«
»Ja, aber nur die Bösen«, erwiderte ich. »Außerdem bin ich älter als du. Schon vergessen? Du bist 17.«

Es überraschte mich selbst, dass ich jetzt scherzen konnte. Nahm ich das etwa nicht ernst genug? Hatte ich schon vergessen, dass ich erst vor wenigen Stunden ein Kind töten wollte? Die Schuldgefühle kamen mit großer Wucht abermals in mir hoch und ich musste erneut schluchzen.

Edward wartete einen Moment, bis ich mich wieder gefasst hatte und fuhr fort.
»Dennoch hätte ich damals einer solchen Versuchung nicht standhalten können. Ich bin unsagbar stolz auf dich.«
»Ach jetzt hör’ auf damit. Ich bin nichts worauf man stolz sein könnte.«
Meine Stimme wurde allmählich wieder fester. Edward musste sich ein Kichern unterdrücken aber ich spürte die leichte Vibration seiner Brust.
»Bella, Bella«, sagte er kopfschüttelnd und schmunzelnd. »Wann wirst du endlich anfangen dich selbst richtig zu sehen.«
Das war wohl nicht wirklich eine Frage, aber ich wollte sie nicht einfach so stehen lassen.
»Ich denke, ich sehe mich ziemlich richtig und heute habe ich mich als Monster gesehen.«
Ich wollte richtig trotzig klingen, aber bei dem Wort “Monster” versagte meine Stimme und ich hörte mich nur noch kläglich an.
»Bella, wenn ich dich nicht davon überzeugen kann, wie toll du heute warst, vielleicht glaubst du dann den anderen?«

Oh je, ihre wütenden Gesichter standen gleich wieder vor meinem inneren Auge. Edward würde sich täuschen, da war ich mir sicher.

»Also gut, gehen wir«, sagte ich und versuchte aufzustehen, doch er hielt mich fest.

Fragend blickte ich in seine Augen. Seine wundervollen goldbraunen Augen, die jetzt endlich wieder Zuversicht ausstrahlten, wenn auch vergebens, wovon ich absolut überzeugt war. Er küsste mir die Stirn, die Augen, die Nasenspitze und abschließend die Lippen. Ein wundervolles Gefühl, auch wenn ich nicht begreifen konnte, wie er mich jetzt, da ich offensichtlich ein Monster war, noch so küssen konnte. Hatte das seiner Liebe denn keinen Abbruch getan? Konnte er womöglich blind vor Liebe sein? Ich seufzte, musste aber feststellen, dass seine Liebkosungen mir tatsächlich etwas Hoffnung geschenkt hatten. Ohne ihn wäre ich heute zugrunde gegangen. Das stand definitiv fest und ich liebte ihn noch mehr dafür.


Wir rannten nicht, sondern schlenderten eher Händchen haltend zurück. Ich hatte es nicht wirklich eilig, denn ich war immer noch von der Enttäuschung der anderen überzeugt. Doch Edwards Nähe gab mir Kraft. Genug, um mich meiner Verantwortung zu stellen.

Es war schon später Nachmittag, als wir zu Hause ankamen. Edward öffnete die Tür, ich trat ein und stellte fest, dass alle versammelt waren und auf uns warteten. Renesmee stürzte auf mich zu.

»Momma, Momma, du bist wieder da!«

Sie sprang an mir hoch und riss mich aus meinen Gedanken. Ich schloss sie fest in meine Arme, spürte ihren Herzschlag an meiner Brust und eine Welle von Gefühlen überkam mich. Den ganzen Tag war ich in Edwards Armen gelegen, dachte über mein Versagen nach und hatte meine Tochter dabei völlig aus dem Sinn verloren. Wie konnte ich nur. Noch vor wenigen Stunden sagte ich zu mir selbst, dass Edward der Mittelpunkt meiner Welt wäre und wurde nun Lügen gestraft. Meine Welt hatte, so merkwürdig wie das auch klang, zwei Mittelpunkte. Ich schämte mich, schämte mich für mein Versagen, schämte mich dafür, dass Renesmee in den letzten Stunden nicht in meinen Gedanken war und dass ich ihr damit so unverzeihlich unrecht getan hatte, ohne dass sie es wusste.

Wieder hatte ich das grausame Verlangen, dass sich doch meine Augen mit Tränen füllen sollten, doch wieder taten sie es nicht. Sie konnten es einfach nicht. Nur das unaufhaltsame Schluchzen war wieder da. Ich wollte ihr sagen, dass es mir leid tat, dass ich sie alleine gelassen hatte, doch ich bekam keinen Ton heraus.

Renesmee drückte sich fester an mich. Streichelte mein Gesicht und schickte mir Bilder um mich zu trösten. Glückliche Bilder. Das Bild, als ich sie zum ersten Mal in meinen Armen hielt. Das Bild von meinem Gesicht, als sie das erste Mal zu mir sprach. Ein Bild von ihr, mir und Edward vor einem Spiegel, als wir ihren Geburtstag feierten.

Die Flut der Bilder und der Gefühle, die sie ausdrückten, war überwältigend. Jetzt fühlte ich mich noch schuldiger, dass ich sie die letzten Stunden unabsichtlich ausgeblendet hatte. Wie konnte mir das nur passieren? Sie und Edward waren zwei Sterne die umeinander kreisten und das Zentrum meines Universums bildeten. Ich drückte sie fester an mich, nahm ihre Hand von meinem Gesicht und legte sie auf meine Brust. Ich konnte nicht noch mehr Bilder ertragen. Ich hatte nicht das Gefühl, dass ich diese liebevolle Geste verdient hatte.

Ich blickte über die Gesichter im Raum und war … verwirrt. Jasper und Alice standen neben der Küche. Jasper hatte einen merkwürdig reumütigen Blick aufgesetzt und starrte zum Boden. Alice zerfloss geradezu in Mitleid. Emmett saß auf der Couch und schien krampfhaft nach einem Witz zu suchen, der die ernste Stimmung auflockern könnte, doch im Grunde spiegelte sich nur brüderliche Liebe in seinen Augen, als ob er mir sagen wollte, dass er für mich da wäre, egal was passierte. Rosalie saß neben ihm. Sie schien merkwürdiger Weise mit der Situation nicht umgehen zu können. Warum nur? Ihre Reaktion auf unvorhergesehenes, insbesondere wenn es die Familie bedrohte, war normaler Weise einfach. Es war Wut und einen Wutausbruch hätte ich verdient. Doch nichts. Unsere Augen trafen sich kurz und dann schaute sie auf ihre Hände.

Esme und Carlisle standen oben an der Treppe. Hand in Hand, die Finger ineinander verschränkt. Mit der anderen Hand streichelte sie sanft seinen Unterarm. Ihrem Gesicht nach zu urteilen war sie hin und her gerissen, ob sie zu mir kommen sollte, um mich in den Arm zu nehmen, was ich ebenfalls nicht verstehen konnte, oder ob sie bei Carlisle bleiben sollte, der ebenfalls ihre Fürsorge brauchte.

Warum brauchte Carlisle ihre Fürsorge? Ich sah in sein Gesicht und stellte fest, dass er abwesend und nachdenklich wirkte. Etwas beschäftigte ihn und machte ihm schwer zu schaffen. Ich hatte es befürchtet. Carlisle litt unter meinem Versagen genauso schwer wie ich. Ich musste unweigerlich wieder schluchzen.

Edward streichelt mir über den Rücken. Seine weiche Hand auf meiner Haut spendete mir etwas Trost. Renesmee kuschelte sich stärker in meinen Arm und umschloss mit ihrer Hand, die ich noch immer an meine Brust hielt, meinen Daumen. Ein warmes Gefühl der Liebe und des Trosts wurde mir von meinen beiden Sternen geschenkt, obwohl ich das nicht verdiente.

Ich sah Edward in die Augen. Sein Blick war auf Carlisle geheftet und sein Gesicht zuckte. Die Gedanken die er las, schienen ihn zu bedrücken.
»Ist er sehr enttäuscht von mir?«, fragte ich Edward unsicher, doch er schüttelte den Kopf.
»Es ist nicht wegen dir, es ist wegen des Jungen.«

Das verstand ich zwar nicht, aber ich wollte jetzt auch nicht zu neugierig sein, das Ganze nicht noch schlimmer machen. Mir fiel nur auf, dass außer mir wohl alle Bescheid wussten. War das der Grund für die traurige Stimmung, der sie die Wut, die sie auf mich haben müssten, vergessen ließ?

»Carlisle?«, fragte Edward. »Möchtest du es ihr sagen oder soll ich?«
Carlisle zögerte kurz. Blickte mich an und sah dabei ebenso gequält aus, wie ich mich fühlte.
»Bella«, fing er an. »Schön dass du wieder hier bist. Wie geht es dir?«

Das spielte doch nun wirklich keine Rolle. Wer will schon wissen, wie ein Monster sich fühlt. Nun ja, Carlisle wollte es wissen. Das konnte ich ihm wohl nicht abschlagen.

»Nicht gut … ich fühle mich … schuldig … ich schäme mich für das, was passiert ist.«

Die Worte kamen nur stotternd aus meinem Mund. Alle Augen waren auf mich gerichtet. Von allen Seiten nahm ich die Bestürzung über meine Worte wahr. Das Mitgefühl, das sie mir entgegenbrachten, war überwältigend. Hatte Edward vielleicht doch recht?

»Bella, mein Kind«, antwortete er mir. »Es ist wahrlich nichts passiert, wessen du dich schämen müsstest.«
Er schenkte mir ein leichtes Lächeln, wirkte aber nicht sehr überzeugend sondern immer noch abwesend.
»Das hat Edward auch gesagt.«
»Und. Hast du ihm geglaubt?«
Ich schüttelte den Kopf.
»Ich habe wie ein Monster gedacht. Das war furchtbar«, gab ich zu.
Emmett konnte sein Grinsen nicht zurückhalten und Carlisles Lächeln war jetzt deutlicher, echter.
»Bella, entscheidend sind nicht unsere Gedanken, die wir in uns tragen, sondern unsere Taten und was du tatest, hätte ich nicht für möglich gehalten.«
Ich schaute ihn fragend an und er fuhr fort.
»Ich weiß, du kannst das nicht mehr hören, aber kein Vampir hat schon nach einem Jahr seinen Durst so unter Kontrolle wie du.«
»Außer dir«, erwidere ich.
»Womit bewiesen wäre, dass so etwas nur alle paar 100 Jahre vorkommt.«
Womit er die Diskussion praktisch beendet hatte.
»Wir alle sind so stolz auf dich, Kind«, warf Esme ein, deren Zuneigung das Haus zu sprengen drohte. »Alice hat uns alles erzählt.«
Alice sprang auf mich zu und umarmte mich.
»Oh Bella. Wie kannst du nur glauben, dass du ein Monster wärst? Ich habe deinen schwankenden Entscheidungen gesehen, Bella. Du hast dich für die einzig Richtige entschieden. Du warst so tapfer.«

Edward grinste selbstzufrieden vor sich hin und hatte so einen “hab ich es nicht gesagt?”-Blick in seinen Augen, aber ich gab mich damit noch nicht zufrieden.
»Aber warum bis du dann so bedrückt, … Carlisle?«
Ich hätte ihn wirklich gerne Dad genannt, konnte es aber einfach nicht.
»Es ist wegen des Jungen. Er hatte Bissverletzungen von dem Nomaden und das Gift breitete sich bereits in seinem Körper aus.«
»Dann wird er jetzt einer von uns?«, fragte ich überrascht. »Wo ist er?«
Esme streichelte wieder Carlisles Arm und schaute mitfühlend in sein Gesicht.
»Nein Bella, ich konnte das nicht zulassen. Ich konnte ihn nicht retten.«
Jetzt verstand ich sein Leid. Er konnte das Leben des Jungen nicht retten. Aber warum konnte er ihn sich nicht verwandeln lassen?
»Wieso konntest du es nicht zulassen?«
Ich setzte nur ungern nach, aber es war zu wichtig, diese Entscheidung verstehen zu können.
»Bella, er war noch ein Kind. Du weißt wie die Volturi über unsterbliche Kinder denken. Selbst wenn sie uns deshalb nicht den Krieg erklärt hätten, das Kind hätten sie auf jeden Fall vernichtet.«
»Ich hab es gesehen Bella«, sagte Alice dazwischen. »Sie wären gekommen. Ganz sicher.«
»Alles was ich tun konnte«, fuhr Carlisle fort, »war sein Leiden zu beenden.«

Ein Teil von mir verstand, was er sagte, aber ein anderer Teil konnte es nicht verstehen. Wollte es nicht verstehen. Das war ein unschuldiges Kind. Es konnte nichts dafür. Es hätte eine Chance verdient gehabt. Es war doch kein unkontrollierbarer Dreijähriger. Wut stieg in mir auf.
»Warum? … Warum können die Volturi einfach so über das Schicksal von Unschuldigen bestimmen? Das ist nicht richtig.«
Alle Blicke waren auf mich gerichtet.
»Ich verstehe, dass die Volturi das Geheimhaltungsgesetz durchsetzen. Aber ihre Rücksichtslosigkeit macht mich krank.«
»Was sollen wir tun?«, fragte Emmett grinsend. »Den Volturi den Krieg erklären? Ich bin dabei.«
Rosalie warf ihm einen finsteren Blick zu.
»Was denn, Rosy? Wenn Bella mich mit ihrem Schild beschützt, was soll mir da schon passieren?«
»Nun ja«, erwiderte ich. »Mal abgesehen davon, dass ich Gewalt verabscheue, seit heute weiß ich jedenfalls, dass sie mir nur einen blutenden Jungen vor die Füße werfen müssten und ich würde den Schild vergessen.«

Rosalie verdrehte die Augen. Alice und Edward sahen mich fragend an, ob ich das wirklich so gemeint hätte, wobei ich mir da auch nicht mehr so ganz sicher war. Jasper schüttelte den Kopf. Vermutlich passte meine Antwort mal wieder nicht zu einer Einjährigen.

»Da hast du wohl recht Bella-Monster. Vielleicht sollten wir dir einen Raumanzug besorgen?«, meinte Emmett jetzt noch breiter grinsend.

Ein guter Scherz. Die Stimmung im Raum war spürbar gelöster als einige sich das vorzustellen versuchten. Selbst Carlisle vergaß kurz seinen Kummer und Esme schaute dankbar auf Emmett. Selten genug, dass so etwas bei einem seiner Witze der Fall war. Mir war jedenfalls klar, dass ich diese Schwäche besser in den Griff bekommen musste. Alles andere konnte warten.

Draußen hörte ich Jacob. Er hatte gerade die Gestalt gewechselt und kam zum Haus. Er öffnete die Tür, verzog die Nase, holte noch mal tief Luft und trat dann ein. Ich spürte seinen fragenden Blick auf mir ruhen.

»Er will wissen, wie es dir geht. Er war im Unterholz und hat deinen … Kampf … gesehen.«

Oh nein, nicht Jacob. Hatte er jetzt das Monster erkannt, das er immer befürchtet hatte, seit ich beschloss, ein Vampir zu werden? Er sagte nichts. Normalerweise schnauzte er Edward immer an, wenn der seine Gedanken ausplauderte, aber nicht heute, nicht in diesem Moment. Litt er auch darunter?
»Bella? Geht es dir wieder besser?«
»Etwas Jacob, danke.«
»Na ja, das Meiste von eurer Unterhaltung habe ich von draußen gehört.«
»Und, sieht du jetzt in mir das Monster?«
»Ja Jake, ist sie nicht ein tolles Schwieger-Monster?«

Die Worte kamen vom Emmett der sich gerade wegwarf vor lachen. Rosalie schlug ihm kräftig auf den Oberschenkel, konnte selbst aber ein Schmunzeln nicht unterdrücken. Jake funkelte die beiden böse an, wandte sich dann aber gleich wieder mir zu.
»Nein Bella. Du hast mich genauso überrascht wie die anderen. Bist halt immer noch die alte Bella. Zumindest teilweise. Irgendwie. Jedenfalls immer für eine Überraschung gut.«
»Danke Jake.«

Ich war tatsächlich erleichtert. Ich wollte nicht, dass er schlecht von mir dachte. Plötzlich fiel mir etwas viel wichtigeres ein.
»Was ist mit Sams Rudel? Gab es … Verletzte?«
Ich brachte es nicht über mich nach Toten zu fragen.
»Nein, alle wohlauf. Der Blutsauger hat Fersengeld gegeben. Sams Nachwuchswölfe haben versucht ihn einzuholen, schafften es aber nicht. Sie sind noch zu klein. Er ist Richtung Kanada geflohen.«
Ich war erleichtert, dass es keine weiteren Opfer gab.
»Sam war ziemlich sauer auf die drei«, fuhr Jacob fort.

Hatte der sie noch alle? Wollte er ernsthaft, dass sich drei Kinder in den Kampf mit einem Vampir werfen? Zorn stieg in mir auf und es fiel mir schwer, ihn zu verbergen. Instinktiv legte ich die Arme schützend um Renesmee. Jacob bemerkte meine Reaktion, dachte kurz nach und lachte leicht auf.

»Bella! Du denkst doch hoffentlich nicht, dass Sam die Kleinen kämpfen sehen wollte?«
»Wollte er nicht?« Ich beruhigte mich etwas. »Warum war er dann sauer?«
»Sie haben ihre Patrouille nicht ordentlich abgelaufen, haben sie abgekürzt und sind stattdessen kurz baden gegangen. Sie hatten einfach die Gelegenheit genutzt, dass Sam gerade nicht in Wolfsgestalt war und davon nichts mitbekam. Deshalb hat er sie zur Schnecke gemacht.«
»Du meinst, der Angriff hätte verhindert werden können?«, schnaubte Rosalie dazwischen.
»Nein, das nicht«, erwiderte Jacob gereizt. »Aber sie haben ihre Pflicht vernachlässigt und hätten ihn sonst danach vielleicht so lange verwirren können, damit wir ihn erwischen.«
Ich war irritiert.
»Was ist denn mit diesem Leitwolf-Befehl? Ich dachte, der muss befolgt werden.«
»Ja«, sagte Jacob leicht lachend, »aber wie du aus unserer Vergangenheit weißt, gibt es da auch Hintertürchen. Die drei waren clever. Sie haben den Befehl ja nicht direkt gebrochen, nur etwas anders interpretiert. Pausen waren schließlich nicht ausdrücklich verboten und die Route nicht detailliert festgelegt. Sie hatten sich halt nichts dabei gedacht. Sind eben Kinder. Seit Monaten war kein Blutsauger mehr in unserem Revier. Abgesehen davon, nutzen wir den Leitwolf-Befehl nicht bei jeder Gelegenheit. Es wäre nicht fair, ihren freien Willen ständig zu unterdrücken.«

Dem musste ich natürlich zustimmen, aber da war noch etwas, das mir in den Sinn kam. Etwas Merkwürdiges.
»Ich dachte die drei hätten den Nomaden bei seinem Angriff gestört, und dass er deshalb den Jungen nicht getötet hat.«
»Nein Bella, von dem hat er, aus was für einem Grund auch immer, abgelassen.«

Schweigen breitete sich im Haus aus. Warum sollte der Nomade, wenn er ungestört war, einen Jungen nur beißen, aber nicht töten? Wollte er ihn verwandeln? Warum hatte er das gemacht? Warum hatte er den Jungen dann einfach liegen lassen und nicht mitgenommen? Heute würden wir wohl keine Antworten auf diese Fragen erhalten.

Jedenfalls war nun auch keinem mehr zum Feiern zumute. Meine Geburtstagsparty wurde stillschweigend abgesagt, was mir sehr recht war. Wir standen noch eine Weile zusammen und mutmaßten darüber, was wohl der Grund gewesen sein könnte, doch es kam nichts plausibles dabei heraus. Inzwischen hatte sich der aufgewühlte Tag in eine ruhige Nacht verwandelt und Renesmee war in meinen Armen eingeschlafen. Meine schlummernde Tochter im Arm zu halten schenkte mir immer so viele schöne Gefühle. Ich ging mit Edward und meinem kleinen Schatz in unser Haus, legte sie schließlich ins Bett und suchte gleich anschließend die Umarmung meines Edwards. Es gab vieles, worüber ich nachdenken musste. Wir legten uns auf unser Bett und er sah mich fragend an und hoffte wohl, dass ich ihn an meinen Gedanken Teil haben lassen würde. Ich wusste nicht, ob ich das schaffen konnte, aber ich wollte es versuchen.

Kapitel 2 - Ich muss etwas tun!

Die vergangene Nacht gehörte definitiv nicht in die Top-10 meiner schönsten Nächte. Die Erinnerungen an den vergangenen Tag lasteten schwer auf mir und Edward bat mich immer wieder, ihm doch Einblick zu gewähren. Es fiel mir nicht leicht, ihm das zu offenbaren, aber ich wusste natürlich, dass er mir dabei nur helfen wollte und ich vertraute ihm bedingungslos. Doch trotzdem war es hart für mich.

Ich redete viel mit ihm darüber und versuchte schließlich auch meinen Schild weggedrückt zu halten, währen ich die gestrigen Ereignisse noch einmal vor meinem inneren Auge ablaufen ließ. Immer wieder, wenn ich an eine der besonders schmerzenden und quälenden Erinnerungen ankam, verlor ich die Konzentration und der Schild rauschte wieder zurück. Für Edward war das jedes Mal so, als ob man ihm ein Buch, das er wirklich lesen wollte, ständig vor der Nase zuschlagen würde. Dennoch zeige er keine Verärgerung oder Ungeduld. Er spürte wohl sehr genau, wie bedrückend das alles für mich war und schenkte mir viel Trost mit seiner Nähe, den zahllosen kleinen Küssen und vielen Zärtlichkeiten.

Wir hatten es sicherlich ein paar Dutzend mal versucht. Insgesamt hatte er nun durch die ganzen Fragmente wohl einen ganz guten Überblick darüber, wie ich mich gestern dabei gefühlt hatte und wie es mich noch immer belastete. Leicht war es ihm nicht gefallen, das konnte ich ihm ansehen. Er verspürte den Durst wie ich. Litt die gleichen Qualen mit mir. Jedes mal, wenn ich den Schild nicht mehr wegdrücken konnte, wenn die Erinnerungen zu schmerzhaft wurden, nahm er mich fester in den Arm und wurde es nicht müde, mir Mut zuzusprechen und seinen Stolz über meine Willenskraft zu erwähnen.


Die Sonne war inzwischen aufgegangen, aber es war zu bewölkt, als dass ich mein Farbspiel hätte beobachten können. Heute hatte ich aber ohnehin keine Lust dazu. Ich stand auf und während ich mir etwas Normales anzog, fasste ich den Entschluss, mit Carlisle über einen Ausweg aus meinem Dilemma zu sprechen.

»Edward? Wartest du bis Renesmee aufgewacht ist? Ich muss mit Carlisle reden.«

Er nickte stumm und warf mir einen weiteren mitfühlenden Blick zu. Er war manchmal einfach viel zu besorgt. Ich drückte noch mal meinen Schild herunter, dachte intensiv “ich liebe dich”, was mit einem Lächeln belohnt wurde und verließ unser Haus. Auf dem Weg kam mir in den Sinn, dass Alice vielleicht eine Vision von dem bekommen könnte, was mir bevor stand. Ich wusste zwar nicht, wohin mich mein Entschluss führen würde, aber ich wollte nicht, dass Edward sofort etwas von Alice’ Vision erfährt oder von meinem Gespräch mit Carlisle und konzentrierte mich kurz, um die beiden abzuschirmen, sobald sie in meiner Reichweite waren. Warum nur war es so viel einfacher andere abzuschirmen, als meinen eigenen Schild von mir wegzudrücken? Das kostete mich kaum Konzentration und ich konnte das stundenlang machen.

Drüben angekommen ging ich die Treppe nach oben zu Carlisles Arbeitszimmer. Dank meiner Gabe wusste ich immer, wer sich wo in meiner Umgebung befand. Ich musste nur kurz daran denken, meinen Schild auszuweiten und schon konnte ich klar sehen, wo sie sich aufhielten. Wie kleine flackernde Punkte auf einem Lageplan. Fast alle waren noch in ihren Schlafzimmern bis auf Carlisle. Alice kam gerade aus ihrem Zimmer und schaute mich prüfend an.

»Bella, willst du das wirklich tun?«

Hmm. Alice hatte also tatsächlich eine Vision davon, wohin mich meine Entscheidung führen würde. Wieder einmal wusste sie mehr als ich, aber das war ja irgendwie klar. Nur ich selbst tappte mal wieder im Dunkeln, einzig mit der Gewissheit, dass ich etwas tun musste.

Alice schaute mich abwartend an und erwartete wohl eine Antwort, die ich ihr nicht geben konnte.

»Bella, ich habe gesehen was du dir antun willst. Glaub mir, das wollte ich nicht sehen.«
»Hast du auch gesehen, ob es funktioniert?«
Ich hatte zwar keine Ahnung, was sie gesehen hatte, aber wenn es schon so schlimm werden würde, dann doch bitte nicht vergebens.
»Das kann ich nicht sagen, Bella. Zu viele ungewisse Entscheidungen bis dahin. Aber du bist fest entschlossen. Das sehe ich.«
»Na das ist doch was«, sagte ich und versuchte dabei hoffnungsvoll zu klingen.
»Oh Bella, du bist so eine Perfektionistin. Es wird Edward aber nicht gefallen, was du vorhast.«
Das war mir klar, auch ohne genaueres über Alice’ Visionen zu wissen. Edward gefiel prinzipiell gar nichts, das hart für mich sein könnte. Allein der Gedanke quälte ihn und laut Alice würde es ja sehr schlimm werden.

Mehr als ein Schulterzucken war mir im Moment nicht möglich und ich wollte auch gar nicht so genau wissen, was sie gesehen hatte. Das würde ich schon selbst herausfinden. Wenn es meine Zukunft war, würde ich sie ja so oder so sehen. Ich ging also weiter zum Arbeitszimmer und klopfte an.

»Ja bitte?«
Ich öffnete ein wenig die Tür und steckte vorsichtig meinen Kopf ins Zimmer.
»Bella, komm doch herein.«

Er war offensichtlich von meiner immer noch schüchternen Art amüsiert, stand auf und kam um den Schreibtisch. Sein Gesichtsausdruck war aber nicht wirklich glücklich. Auch bei ihm wirkten die gestrigen Ereignisse nach. Ich ging hinein und er lehnte sich lässig an den Schreibtisch. Wow, er hatte es wirklich drauf, so menschlich zu wirken. Kein Vampir hatte das Bedürfnis, sich irgendwo anzulehnen oder sich hinzusetzen. Es gab noch so vieles, das ich von ihm lernen konnte.

»Guten Morgen, Carlisle. Wie geht es dir?«, fragte ich, obwohl ich die Antwort schon erahnen konnte.
»Der heutige Tag in der Klinik wird … anstrengend werden, wenn sich die Nachricht von Dr. Kims Tod herumspricht.«
Stimmt ja. Daran hatte ich gar nicht gedacht. Nicht nur Carlisle wird von seinem Tod betroffen sein. Wie unaufmerksam von mir.
»Das tut mir leid, Carlisle. Ich hoffe, es wird nicht allzu hart werden.«
Er seufzte schwer.
»Ja, das hoffe ich auch, aber es wird für viele ein Schock sein.«
»Entschuldige bitte die Frage, aber was für eine Geschichte wird denn erzählt werden?«
»Nachdem … nichts mehr zu retten war, habe ich die toten Körper in ihr Zelt gelegt und die Kampfspuren beseitigt. In der Nacht ist dann Alice mit Jasper noch mal dorthin gegangen und hat eine brennende Kerze im Zelt umgeworfen. Es wird so aussehen, als wären sie unvorsichtig gewesen und in den Flammen umgekommen. Die Polizei wird wohl gerade von der Rauchsäule alarmiert worden sein und den Unfallort untersuchen.«
»Dann wird Charlie dort sein?«

Ich vermied es, Charlie vor Carlisle “Dad” zu nennen. Er würde das zwar sicherlich hinnehmen, aber ich war mir sicher, dass er auch gerne von mir Dad genannt werden würde, doch das konnte ich einfach nicht. Noch nicht. Also wollte ich unnötige Konflikte vermeiden. Das änderte im Augenblick aber nichts daran, dass mir die Vorstellung nicht gefiel, dass mein Dad da mit hinein gezogen wurde.

»Ja Bella, aber sei unbesorgt. Charlie wird es für einen menschlichen Unfall halten. Schlimmsten Falls für einen merkwürdigen Zwischenfall, worüber er aber eigentlich nicht mehr wissen und auch nicht sprechen will. Außerdem wird er dafür keine Spuren finden. Es wird sehr deutlich nach Unfall aussehen. Er wird es so akzeptieren. Alice hat es gesehen.«
»Es tut mir so leid Carlisle.«
Ich hätte ihn gerne tröstend in den Arm genommen, aber etwas in mir hielt mich zurück. Zumindest ein aufmunterndes Lächeln wollte ich ihm schenken und das schien ihm sogar etwas gut zu tun und er erwiderte es.
»Danke Bella, aber jetzt verrate mir mal, warum du hier bist.«

Er ahnte wohl, dass ich seinen Rat oder seine Hilfe brauchte. Natürlich, denn wenn einer zu ihm ins Arbeitszimmer kam, dann meistens mit einem Anliegen. Ich schämte mich dafür, dass ich noch nie zu ihm gekommen war, ohne dass ich irgendetwas von ihm wollte. Selbst jetzt, da ihm mein Trost vielleicht gut getan hatte, war das nicht der Grund gewesen, warum ich ihn aufgesucht hatte. Nein, ich war wieder einmal hier, weil ich etwas von ihm brauchte.

Wie oft war ich schon bei ihm gewesen und hatte seine Hilfe in Anspruch genommen? Da waren diverse Behandlungen von Verletzungen oder das Gespräch, in dem er mir versprach, mich nach dem High-School-Abschluss zu verwandeln, falls Edward es nicht tun wollte. Ganz zu schweigen davon, wie oft er sein Leben und das seiner Familie riskiert hatte, um mich zu beschützen. Ich musste ihm dafür wirklich mal danken. Ich beschloss, ihm einen Dankesbrief zu schreiben. Na ja, Esme auch … und Alice. Oh je, ich muss wohl allen Briefe schreiben, da ich jedem in der Familie so viel zu verdanken hatte, doch das musste noch etwas warten. Vorher wollte ich erledigen, weshalb ich zu ihm gekommen war.

»Carlisle, ich weiß ja, dass ihr mich alle wegen meiner Willenskraft gerne lobt, aber dennoch kommt ihr alle besser als ich mit dem Blutgeruch klar. Ich weiß auch, dass das an eurer jahrelangen Übung und Erfahrung liegt.«
Ich hielt kurz inne, denn es fiel mir nicht leicht, so offen darüber zu reden, aber es musste sein.
»Und deshalb habe ich mich gefragt, ob es denn eine Möglichkeit gibt, diese Erfahrung nachzuholen, komprimiert, ohne dass ich Menschen gefährde.«
»An was hast du dabei gedacht?«
Carlisle legte den Kopf schief und schaute mich prüfen an.
»Ehrlich, ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass Edward zu besorgt um mich ist und mich ständig davor zu beschützen versucht, so dass ich vermutlich 400 Jahre brauchen werde, um die nötigen Erfahrungen zu machen.«
Carlisle zog eine Augenbraue hoch und lächelte mich an. Das konnte er sich wohl gut vorstellen.
»Also gut Bella, ich werde mir etwas überlegen, aber das wird Edward ganz und gar nicht gefallen. Ich bin mir sicher, er hätte es lieber, wenn es 400 Jahre dauern würde.«
»Ich weiß, aber wie soll ich denn mit ihm ein normales Leben führen können? Wie sollen wir denn zusammen studieren gehen, wenn immer die Gefahr besteht, dass sich jemand das Knie aufschlägt und ich über ihn herfallen will? Ich will das nicht mehr Carlisle. Ich möchte mich nicht immer so fühlen müssen wie gestern. Ich will nicht Angst vor dem Monster in mir haben. Ich…«

Plötzlich stand Carlisle ohne Vorwarnung vor mir und legte mir einen Finger auf den Mund. Ich zuckte kurz zusammen. Seine menschliche Tarnung war wirklich so perfekt, dass er mich mit seiner Vampir-Geschwindigkeit total überrascht hatte. Damit hatte ich absolut nicht gerechnet.

»Ich verstehe es Bella. Ich werde auch mit Esme darüber sprechen, bevor ich eine Entscheidung treffen kann, aber du wirst mit Edward sprechen müssen.«
Aufmunternd legte er mir die Hand auf die Schulter und lächelte mich an.
»Danke Carlisle.«

Ich sah so viel Fürsorge in seinem Blick und war ihm sehr dankbar. Eine Umarmung von mir würde ihm sicherlich gefallen und irgendwie wollte ich das auch machen. Etwas zögerlich überbrückte ich die kleine Distanz zwischen uns und nahm Carlisle kurz in den Arm. Es fühlte sich richtig an und es tat gut, dass er die Umarmung erwiderte.

»Du weißt doch, dass ich in dir so etwas wie einen Vater sehe? Nicht so wie Charlie. Es ist anders, aber ähnlich.«
Sein warmes Lächeln wirkte nun wirklich glücklicher und zufriedener.
»Ja, Bella, und ich bin froh, dich als Tochter gewonnen zu haben.«
Ich lächelte zurück.
»Wirst du gleich mit Esme reden?«
»Nein, das mache ich heute Abend, wenn ich wieder komme.«
Gut, dann musste ich nicht den ganzen Tag Esme abschirmen bevor ich mit Edward gesprochen hatte.


Ich verließ sein Arbeitszimmer, um nach unten zu gehen. Alice rief mir noch “danke für den Brief” zu, als ich an der Tür ihres Zimmer vorbei ging. Ich lächelte kopfschüttelnd und stieg die Treppe hinunter.

Edward stand am Fuße der Treppe mit Renesmee an seiner Seite und sah mich misstrauisch an. Es war ihm nicht entgangen, dass er die Gedanken von Alice und Carlisle nicht hörte. Ich drückte kurz meinen Schild weg, ohne dabei die Abschirmung der anderen fallen zu lassen und dachte “ich erkläre es dir später. Versprochen.”

Seiner Miene nach zu urteilen war es nicht gerade das, was er sich erhofft hatte. Dennoch gab er sich für den Augenblick damit zufrieden.

»Machst du jetzt Mathe mit mir, Daddy?«
Renesmee war sehr darauf bedacht ihren Lehrplan einzuhalten.
»Natürlich Schatz. Setzt dich an den Schreibtisch.«

Edward warf mir noch mal einen missmutigen Blick zu und konzentrierte sich dann auf Renesmee. Als Lehrer war er wirklich fantastisch. Da er ihre Gedanken hören konnte, erkannte er immer sofort, ob sie auf dem richtigen Lösungsweg war oder wo sie einen Fehler machte. So wusste er immer ganz genau, was er ihr noch mal erklären musste und was sie definitiv verstanden hatte. In seinem Unterricht schien sie noch schneller zu lernen, als bei den Anderen.

Ich setzte mich an den Wohnzimmertisch und begann die Dankesbriefe zu schreiben.

Die meisten Briefe gingen mir gut von der Hand. Mir wurde beim schreiben wieder richtig bewusst, was ich allen zu verdanken hatte. Ich dankte jedem für die vielen Male, in denen sie so viel für mich riskiert hatten. Dafür, dass sie mir dieses neue Leben ermöglicht hatten. Dafür, dass sie mich in ihre Familie aufgenommen hatten und mich unterstützten, wo sie nur konnten.

Alice dankte ich speziell dafür, dass sie so eine tolle Freundin war.
Jasper für die Geduld, die er bei meinem Training aufbrachte.
Emmett dafür, dass er der große Bruder war, den ich mir gewünscht hätte.
Rosalie für ihre bedingungslose Unterstützung während meiner Schwangerschaft.
Esme dafür, dass sie vom ersten Tag an nie einen Zweifel daran gelassen hatte, dass ich hier willkommen war.
Carlisle für das Vertrauen, das er in mich setzte und dafür, dass ich immer mit meinen Problemen zu ihm kommen durfte.

Edward und Renesmee Briefe zu schreiben war hingegen nicht einfach. Das was ich für sie empfand, war weit mehr als Dankbarkeit. Natürlich liebte ich auch jedes einzelne Familienmitglied der Cullens, aber das Band zu Renesmee und Edward war intensiver, dicker, stärker. Ich entschloss mich ihnen Briefe zu schreiben, die dem Bild der zwei Sonnen im Zentrum meines Universums annähernd gerecht wurden.

Ich dankte auch Jacob dafür, dass er in der schwersten Zeit meines früheren Lebens an meiner Seite war, dass er mein neues Leben akzeptiert hatte und dass ich mich trotz allem immer auf ihn verlassen konnte.

Meinem Dad dankte ich für den Rückhalt und seine Liebe, die er mir geschenkt hatte. Ganz besonders natürlich dafür, dass auch er mein neues Leben akzeptierte, ohne Fragen zu stellen.

Auch Renée schrieb ich einen Brief. Meiner liebevollen chaotischen Mom. Ich hätte ihr so gerne geschrieben, dass ich das Band der Liebe, das Mutter und Tochter verbindet, nun von beiden Seiten her kannte, aber das war mir leider nicht möglich. Das schwierigste an dem Brief an Mom war aber meine Handschrift. Sie hatte sich wie so ziemlich alles an mir verändert. Ich musste ein paar ältere Handschriften vom mir zu Hilfe nehmen, um sie nachzuahmen.


Ich wartete einen günstigen Zeitpunkt ab, zu dem keiner in seinem Zimmer war und platzierte dort jeweils die Briefe. Jacobs Brief legte ich draußen unter einen Baum. Er würde ihn bestimmt riechen. Dann fragte ich Alice, ob es für mich sicher wäre, jetzt den Brief an Charlie bei ihm einzuwerfen und den Brief an Renée zur Post zu bringen. Sie schloss kurz die Augen, wartete einen Moment und nickte mir schließlich zu.

»Darf ich dich begleiten?«, fragte mich Edward, der offensichtlich meine Frage an Alice gehört hatte.

Er wirkte nicht besorgt. Warum auch. Aber die Anspannung in seinem Gesicht, die er zu verbergen suchte, ließ mich vermuten, dass er gleich vor Ungeduld platzte und endlich mehr über mein Gespräch mit Carlisle erfahren wollte.

»Klar, du kannst gerne mitkommen, aber ich fahre.«

Wir stiegen in meinen neuen Audi. Ich hatte Edward vor Monaten gebeten, den Ferrari, den er mir geschenkt hatte, in ein etwas unauffälligeres Fahrzeug umzutauschen. »Mit dem kann ich doch nicht durch Forks fahren. Denk an unsere Tarnung«, hatte ich zu ihm gesagt. Das hatte ihn schließlich überzeugt, obwohl diese neue Luxuslimousine in Forks nur um Nuancen weniger auffällig war. Aber irgendwie mochte ich mein neues Auto, auch wenn ich Rose nicht davon abhalten konnte, ihr Tuning vorzunehmen.

Eigentlich dachte ich, dass ich jetzt wie die anderen auch so ein Autonarr werden würde, aber in dieser Beziehung schien ich auch kein normaler Vampir zu sein.

Edward zappelte geradezu vor Ungeduld neben mir. War das früher auch schon so? Einem menschlichen Auge würden die kleinen Bewegungen vermutlich nicht auffallen. Ich musste schmunzeln und beschloss, ihn noch ein wenig zappeln zu lassen. Ich fuhr zuerst zu meinem Dad, der allerdings nicht zu Hause war und warf den Brief bei ihm ein. Dann fuhr ich zur Post und gab den Brief an meine Mom auf.

Auf dem Rückweg dann, platzte es aus Edward heraus.
»Bella, bitte. Sag es mir!«
Oh ja, ich wusste genau was er wissen wollte.
»Ich liebe dich - falls es das ist, was du hören willst«, sagte ich grinsend.
»Nein … ja, doch natürlich … aber … ich meine … Bella, was planst du?«

Ich musste es ihm wohl sagen. Er hatte das Recht es zu erfahren. Ich hatte mir wohl unbewusst mit dem Briefeschreiben stundenlang Zeit gelassen, um diesen Moment noch hinaus zu zögern. Inzwischen war es früher Nachmittag. Nur noch wenige Stunden und Carlisle würde nach Hause kommen und mit Esme reden. Am besten entführte ich Edward eine Weile.

»Also gut, Edward. Lass uns zu unserer Lichtung fahren und dort reden.«

Ich fuhr soweit die Straße es zuließ und ging dann mit ihm Hand in Hand bergauf zu unserem besonderen Platz. Ich ging absichtlich ziemlich langsam, was seine Ungeduld nur noch weiter steigerte. Allmählich konnte ich den Spaß verstehen, den Emmett dabei hatte, wenn er Edward ärgerte. Allerdings wuchs auch in mir die Anspannung, mit jedem Schritt, den wir näher kamen. Wie sollte ich ihm nur sagen, was ich vorhatte, wo ich es doch selbst nicht so genau wusste?


Als wir dann bei der Lichtung ankamen, legten wir uns hin und schauten in die Wolken, die langsam über uns hinweg zogen.

“Schade, dass die Wolkendecke heute nicht aufreißen wird”, dachte ich kurz, denn ich sah uns so gerne glitzern.

Aber deswegen waren wir nicht hier und ich wollte Edward nicht länger auf die Folter spannen. Ich seufzte kurz, drückte meinen Schild herunter und rief die Erinnerungen an meine heutigen Gespräche mit Alice und Carlisle ab.

Danach blickte ich ihn an und dachte: “Versprich mir, dass du das zulassen wirst, Edward. Ich muss es tun. Was immer es mich kostet.”
»Ich hätte lieber Alice’ Visionen und Carlisles Gedanken selbst gesehen, um zu wissen, was dir bevorsteht.«
»Genau deshalb sind wir hier. Damit du es nicht weißt. Das darf keine Rolle spielen.«
Während ich das sagte, setzte ich mich auf und schaute ihm tief in die Augen. Er war zweifellos besorgt. Diesen Blick kannte ich zu gut.
»Edward, ich fühle mich wie eine wandelnde Zeitbombe. Glaube mir, dass ich auch deshalb leide. Die Angst, durch einen dummen Zufall kurz vor dem Verlust der Selbstkontrolle zu stehen, das Monster nicht im Zaum halten zu können, ist für mich genauso schlimm, wie das Monster in mir selbst zu fühlen. Kannst du das denn nicht verstehen?«

Ich sah ihm an, dass er es verstehen konnte. Sein Blick erinnerte mich daran, wie wir uns damals zum ersten Mal im Biologie-Unterricht begegneten oder wie er sich nach unserem ersten Kuss von mir los riss oder welche Angst er vor unserem ersten Mal hatte. Angst die Kontrolle zu verlieren, obwohl er schon rund 70 Jahre lang die Kontrolle behielt.

»Edward, du weißt was ich meine. Du kennst die Angst, die Beherrschung zu verlieren. Soll ich dir ein paar Erinnerungen von mir zeigen?«
»Nein, bitte Bella. Ich verstehe auch so.«

Schweigen. Er dachte nach und ich ließ ihm Zeit. Sein Gesicht sprach Bände. Offensichtlich versuchte er verzweifelt abzuwägen, welches das kleinere Übel wäre.

Schließlich sprach er wieder.

»Bella, Liebste, wenn es dir so wichtig ist, dann werde ich deinen Wunsch respektieren. Versprich mir nur, dass ich dir dabei etwas helfen darf.«
»Und wenn du mir am besten helfen könntest, indem du dich fern hältst?«

Oh je, sein gequälter Blick brach mir fast das Herz. Wie konnte ich das nur sagen? War mir denn nicht klar, dass ihn das an die Zeit unserer schmerzhaften Trennung erinnern würde? Als er glaubte, dass ich gestorben sei?

»Edward, bitte verzeih mir, so habe ich das nicht gemeint.«
Ich streichelte sein Gesicht, küsste in kurz und lehnte meine Stirn an seine.
»Ich will nie wieder von dir getrennt sein, nie, dass du dich von mir fern hältst. Ich will immer mit dir zusammen sein. Ich glaube nur, dass ich das so ziemlich alleine durchstehen muss, damit es funktioniert. Mit dir in meiner Nähe, aber dennoch alleine.«

Sein Gesicht entspannte sich etwas, aber nur etwas.

»Bella ich liebe dich. Wenn du mich durch die Feuer der Hölle schicken willst, gehe ich ohne zu zögern. Aber wenn du selbst durch die Hölle gehen willst, ohne mich, dann kann ich das kaum ertragen.«

Ja, ich wusste das. Mir ging es doch genau so. Ich wollte ja gerade deshalb dieses Vorhaben umsetzen, damit ich ihn nicht mehr in Situationen brachte, die ihn quälen konnten.

»Edward, lass uns sehen, wie es läuft.«
Ich versuchte aufmunternd zu lächeln und ergänzte noch: »Stell dir doch einfach die Zukunft vor, wenn der Durst für mich nicht mehr so eine Belastung ist wie jetzt, wenn es für mich so ist, wie für dich.«
»Bella, diese Zukunft sehe ich auch so, ohne dass du dich jetzt so quälen musst. Sei doch nicht so ungeduldig. Wir haben die Ewigkeit vor uns.«
Au! Das hatte gesessen. Aber noch wollte ich mich nicht geschlagen geben.
»Ich weiß, Edward. Wenn es sein müsste, würdest du mich Jahrhunderte lang vor mir selbst schützen und du wärst für mich da, wenn das Monster in mir mich einen Mord begehen lassen würde. Du würdest mich noch lieben, wenn ich mich selbst hassen würde. Aber Edward, wären Jahrhunderte zusammen ohne dieses Problem nicht tausendmal schöner?«
»Ich genieße auch so jeden Tag mir dir. Jetzt und in tausend Jahren. Egal was kommt, solange wir nur zusammen sind.«
Er war wirklich gut.
»Edward, so lange ich dieses Monster in mir nicht an die Kette legen kann, werde ich mich nie als vollwertiges Mitglied dieser Familie fühlen. Lass es mich bitte auf meine Weise versuchen. Wenn es nicht klappt, machen wir es auf deine. o.k.?«
Er seufzte tief.
»Ich glaube zwar nicht, dass irgendeiner dich nicht als “vollwertiges Mitglied” der Familie sieht, Mrs. Cullen, aber wenn es sein muss … auf deine Weise.«
»Danke Liebster.«

Ich schlang die Arme um seinen Hals und küsste ihn leidenschaftlich. Seine weichen wohlschmeckenden Lippen, sein Kinn, die Wangen. Ich spürte seinen Atem an meinem Nacken und das ließ einen prickelnder Schauer über meinen Körper laufen.

»Ich hätte da so eine Idee, was wir die nächsten Stunden machen könnten«, hauchte ich ihm ins Ohr und drückte meinen Schild weg um sie ihm zu zeigen.

Er drückte mich fest an sich, küsste meinen Hals und wanderte mit den Lippen zu meinem Schlüsselbein. Hmm, meine Idee schien ihm zu gefallen und gerne gab ich mich seinen Liebkosungen hin.


Wenige Stunden später, die Zeit war wieder einmal viel zu schnell vergangen, stand der Sonnenuntergang kurz bevor und tauchte die Wolken in ein graues Lila. Die Blumen auf der Wiese schlossen sich und veränderten den Geschmack der Luft. Die Lichtung schien sich auf die kommende Nacht vorzubereiten. Wir alberten noch ein wenig herum, bis uns der Ernst meines Entschlusses wieder eingeholt hatte und machten uns schließlich auf den Heimweg.

Carlisles Auto stand in der Garage. Ob er schon mit Esme gesprochen hatte? Edward blieb stehen und sein Gesicht verzog sich. Offensichtlich hörte er, was dort geplant wurde.

»Das können sie doch nicht ernsthaft in Erwägung ziehen!«, zischte er durch die Zähne.
»Du hast es mir versprochen und ich vertraue Carlisle und Esme.«
»Aber Bella…«
»Kein Aber. Meine Entscheidung, meine Wahl, auf meine Weise. Vergessen?«
Edward schnaubte und versuchte seinen offensichtlichen Ärger herunterzuschlucken.
»Da wusste ich aber das noch nicht«, knurrte er.

Würde es wirklich so schlimm werden? Sollte ich es mir vielleicht doch noch mal überlegen? Nein. Ich hatte meine Entscheidung getroffen. Wenn es hart werden sollte, dann nur deshalb, weil es so sein musste. Daran hatte ich keine Zweifel.

»Deshalb haben wir unsere Vereinbarung auch davor getroffen. Das war kein Geheimnis.«
Er grummelte immer noch vor sich hin und öffnete die Tür.
»Nach dir.«

Renesmee rannte freudestrahlend auf mich zu und sprang mir in die Arme.
»Buenas Noches, Mamá.«
Sie lächelte und schaute in mein überraschtes Gesicht.
»Ich habe heute spanisch mit Emmett gelernt.«
»Sehr gut Liebling. Du hörst dich an, als wärst du in Spanien aufgewachsen.«
»Emmett ist auch ein echt toller Lehrer. Er hat mir sogar Witze auf spanisch erzählt.«
»Natürlich Nessie. Für dich gebe ich nur mein Bestes«, ergänzte Emmett mit einem breiten Grinsen und schaute dann wieder zum Base-Ball-Spiel im Fernseher.

Ich setzte mich mit Renesmee auf die Couch neben Emmett. Rose war mal wieder am Basteln in der Garage und Alice mit Jasper in ihrem Zimmer. Carlisle und Esme waren noch im Arbeitszimmer, vermutlich um mein Vorhaben zu besprechen.

Edward setzte sich ans Klavier und spielte etwas, das seine bedrückte Stimmung widerspiegelte. Er verzog mehrmals das Gesicht, wenn ihm die Gedanken aus dem Arbeitszimmer nicht gefielen, was recht häufig vorkam. Ich überlegte kurz, die beiden noch mal von ihm abzuschirmen, entschied mich aber dagegen. Das würde nichts ändern und ich wollte ihn nicht auch noch zusätzlich ärgern.

Mein kleiner Engel kuschelte sich an mich. Es war so schön ihren Herzschlag zu spüren und ihrem ruhiger werdenden Atem zu lauschen. Wenn sie dann allmählich der Müdigkeit nachgab, mich mit ihren kleinen Händen tätschelte, sich tiefer in meinen Arm kuschelte, zufrieden seufzte und schließlich an meiner Brust langsam einschlief, war das eines der schönsten Gefühle, die ich überhaupt kannte.

Ich drückte sie sachte an mich und ging mit ihr in unser Haus, um sie zu Bett zu bringen. Dann blieb ich noch kurz bei ihr, um sicherzugehen, dass sie wirklich fest eingeschlafen war. Ich hatte nicht wirklich ein Problem damit, sie hier alleine zu lassen. Edwards Gedanken-Alarmanlage war der beste Schutz, den man sich vorstellen konnte. Ich mochte es nur nicht, dass sie vielleicht aufwachen könnte und niemand bei ihr im Haus wäre. Also wartete ich, bis ich mir wirklich sicher war, dass sie tief und fest schlief, bevor ich zurück zu den anderen ging. Dort angekommen stellte ich gleich fest, dass die komplette Familie am Esstisch versammelt war und auf mich wartete. Ich setzte mich stumm dazu und Carlisle ergriff das Wort.

»Für diejenigen, die es noch nicht mitbekommen haben, Bella hat mich gebeten, ihr bei ihrem Durst-Problem zu helfen.
»Ihrem monstermäßigen Durst-Problem«, korrigierte Emmett.

Ich fragte mich, wie ich wohl sein Grinsen abstellen konnte und trat ihm ans Schienbein. Damit hatte er nicht gerechnet und zuckte zusammen.
»Hey, nicht gleich brutal werden, Bella-Monster.«
Er tat so, als hätte er schreckliche Angst. Ich verdrehte die Augen und er grinste noch breiter.
Carlisle wich nicht von seiner geschäftsmäßigen Miene ab und fuhr fort.

»Bella ist der Meinung, dass sie der Familie zuliebe ihren Durst besser unter Kontrolle bringen muss und hat mich um Hilfe gebeten.«

Esme und Alice sahen mich missmutig und mitleidig an. Wie Edward schienen sie hin und her gerissen zu sein, ob sie mich nun unterstützen oder davor bewahren sollten. Rosalie wirkte teilnahmslos und Jasper abwartend.

»Nun wir alle kennen ihren Mut, ihren Willen und ihre Entschlossenheit, denn sonst säße sie heute nicht hier bei uns. Ich möchte sie daher bei ihrem Vorhaben unterstützen.«

Ich war erleichtert. Carlisle auf seiner Seite zu wissen, nachdem er mit Esme gesprochen hatte, bedeutete in der Regel beide auf der eigenen Seite zu haben. Es würde also geschehen.

»Was genau hast du vor, Carlisle?«, fragte Jasper.
Wollte er überprüfen ob eine Einjährige nach seiner Vorstellung das schaffen konnte?
»Das Jasper, wird in gewisser Weise eine Herausforderung für uns alle.«
Rosalie schien das befürchtet zu haben und schnaubte verächtlich. Wieder einmal musste Rose wohl etwas für mich tun, was ihr nicht gefiel.
»Ich stehe auf Herausforderungen«, erwiderte Emmett. »Nur her damit.«
Diesmal hatte ich nichts gegen sein Grinsen.
»Warts ab, Em«, brummte Edward.
»Oh, jetzt sei doch nicht so mürrisch, Eddy. Das wird schon.«

Emmetts positive Grundhaltung gab mir zusätzlichen Mut. Drei waren definitiv auf meiner Seite und Edward hatte mir versprochen, es mich auf meine Weise versuchen zu lassen. Gespannt lauschte ich den weiteren Erklärungen von Carlisle. Was hatten sie sich wohl für mich ausgedacht?

»Esme wird einen Anbau an unserem Haus vornehmen. Einen separaten, luftdichten Raum. Dort wird Bella trainieren. In diesem Raum werden wir Bella dem Blutgeruch aussetzen. Ich werde Blutkonserven besorgen und wir werden das Ganze allmählich steigern.«
»Na, das hört sich für uns doch gar nicht so schlimm an«, meinte Emmett.
»Wenn sie sich stundenlang in einem von Blutduft getränkten Raum aufhält, was denkst du, wie sie dann für uns riechen wird?«

Die Worte kamen aus Jaspers Mund aggressiver, als es meiner Meinung nach hätte sein müssen. Er stand wohl ziemlich unter Anspannung. Natürlich wollte ich nicht, dass er darunter leiden musste. Ich würde machen was ich konnte, um es für ihn so unproblematisch wie möglich zu gestalten.

»Bella, willst du das wirklich?«, fragte Alice und wirkte dabei sehr besorgt. »Das ist eine Folterkammer für Vampire. Du wirst das Blut riechen, es schmecken und sehen. Es wird in deiner Reichweite sein, aber du wirst es nicht trinken dürfen und das vielleicht stundenlang.«
Esme teilte ihre besorgte Miene und Edward zog sich immer tiefer in sich selbst zurück.
»Aber genau darum geht es doch«, erwiderte ich.
Verstanden sie das denn nicht? Ich war so unglücklich. Die ganze Familie war wegen mir entweder besorgt oder wütend und alle ihre Augen ruhten auf mir.
»Ihr kennt mein Ziel. Ich möchte dem Blutduft widerstehen können, der mich paralysiert. Ich möchte das aber erreichen, ohne einen Menschen zu gefährden. Damit ich nie Menschen gefährde. Aber euch möchte ich auch nicht damit belasten.«

Außer Emmett wirkten alle etwas besorgt. Selbst Rosalie schien die Vorstellung um meinetwillen nicht zu mögen. Bei Jasper war ich mir nicht sicher. War er vielleicht um sich selbst besorgt? Ich musste versuchen etwas aus ihm herauszukitzeln.

»Jasper? Du hast die meiste Erfahrung mit Neugeborenen. Was denkst du?«
Er atmete schwer. Sein Gesicht wirkte sehr angespannt und er war offensichtlich nervös.
»Meine Erfahrung nützt hier nichts, Bella. Ich kenne keinen Neugeborenen, der gestern nicht über den Jungen hergefallen wäre. Ich kenne viele erfahrene Vampire, die nicht widerstehen hätten können. Ich selbst habe kaum widerstehen können.«
Er holte noch mal tief Luft und fuhr fort.
»Ehrlich gesagt, war ich sehr stolz auf mich selbst, dass ich mich gestern zurückhalten konnte. Alice hat mir sehr geholfen.«
Sie schmiegte sich an seinen Arm und lächelte ihn an, während er weiter sprach.
»Dich dort zu sehen, mit deiner bewundernswerten Selbstkontrolle. Du, zum ersten mal bei einem solchen Blutgeruch und dann noch viel näher dran als ich. Das Blut vor deinen Augen. Das hat mich an meinen eigenen Fortschritten zweifeln lassen. Ich war sehr frustriert.«
Also das war der Grund für diese Aura der Verzweiflung.
»Das, was du vorhast, wird auch für mich hart, Bella. Dich ständig wieder mit menschlichem Blutgeruch wahrzunehmen, wird hart für mich. Dir zuzusehen, wie du etwas tust, wozu ich keinen Mut habe, wird hart für mich. Ich werde das dann wohl auch als mein Training betrachten müssen.«

Ich war erstaunt. So ging es wohl allen. Jasper, der härteste Vampirkrieger, den man sich vorstellen konnte, gestand seine Selbstzweifel und seine Furcht ein. Esme warf ihm einen liebevollen und aufmunternden Blick zu. Sie schien stolz auf ihn zu sein, dass er sich so geöffnet hatte.

»Nun ja, Jasper, ich verspreche dir, dass ich mich nach dem Training gründlich abduschen werde.«
»Sag mal, Bella, kann es sein, dass du das Ganze ein bisschen zu locker nimmst?« Rosalies Teilnahme an der Gesprächsrunde überraschte mich.
»Wie meinst du das?«, fragte ich nach.
»Du warst gestern wie lange weg, bis du dich wieder gefangen hattest? Zehn Stunden vielleicht? Nachdem du nur ein paar Minuten dem Blut-Duft ausgesetzt warst? Und jetzt denkst du, du kannst das eine Stunde lang ertragen und danach locker duschen gehen?«
Jasper und Emmett nickten ihr zustimmend zu. Edward blickte auf, als hätte er die Hoffnung, Rosalies Einwand würde mich zur Besinnung bringen.
»Du hast recht, Rosalie. Ich weiß nicht, ob ich das kann. Ich weiß nur, dass ich es will.«

Carlisle ergriff wieder das Wort.
»Bella, bei deinem ersten Mal wirst du dich sicherlich keine Stunde darin aufhalten. Ich sagte doch, wir werden das langsam steigern und wir werden dir beistehen.«
Seine Zuversicht war beruhigend, doch hatte ich auch ein bisschen Angst davor, zu versagen. Was hätte das dann für Folgen?
»Carlisle? Wenn ich es nicht schaffe. Wenn ich das Blut trinke…«
»Dann Bella, befürchte ich, dass es für dich in Zukunft noch schwerer wird, dem Blutduft zu widerstehen. Dann wirst du dich wohl wieder an eine rote Augenfarbe gewöhnen müssen.«
Jasper horchte bei diesen Worten auf und äußerte seinerseits eine Frage.
»Glaubst du, Bella hat nur deshalb so eine außergewöhnliche Selbstkontrolle, weil ihr Körper noch nicht weiß, wie Menschenblut wirkt?«
»Nicht nur, Jasper, aber ich vermute, das hat damit zu tun. Sieh dich an. Du hast einen starken Willen, aber du hast dich auch sehr viel länger und sehr viel intensiver als irgendein anderer der Familie von Menschen ernährt. Daher rühren wohl deine größeren Schwierigkeiten, davon abzulassen. Das Blut ist für uns Vampire wie eine Droge inklusive physischer und psychischer Abhängigkeit. Die Umstellung auf Tierblut ist wie ein Entzug. Du kennst die Droge und weißt wie sie riecht und schmeckt und wirkt. Du weißt, wo du sie bekommen kannst. Sie ist immer verfügbar. Ein Teil von dir will sie, nur dein Verstand wehrt sich dagegen. Bella hingegen wird von der Droge “verführt”. Auch sie weiß wie sie riecht und hat eine Ahnung von ihrem Geschmack. Ihr Verstand kennt dank ihrer Vorbereitung auf die Verwandlung die Gefahr, weiß aber nicht, wie die Droge wirkt. Sie hatte während ihrer Schwangerschaft Blut getrunken, aber das war vor ihrer Verwandlung. Danach hat sie das noch nicht getan. Ein Teil von ihr will wissen, wie das ist und wenn dieser Teil bekommt, was er will, wird er in Zukunft stärker sein.«

Plötzlich fand ich meine Idee gar nicht mehr so gut.
»Du meinst, ich werde dann abhängig?«
»Nein, das bist du schon. Das ist ein Teil von dir, seit du verwandelt wurdest. Du bist nur “clean” in dein Leben gestartet und hast der Sucht getrotzt. Das hast du dank deines starken Willens geschafft. Wenn du menschliches Blut trinken würdest, würde dich das in deiner Entwicklung zurückwerfen und du müsstest quasi einen Entzug machen.«
»No risk, no fun, Baby«, warf Emmett dazwischen.
“Er weiß gar nicht wie recht er hat”, dachte ich bei mir.

Ich brauchte einen Moment, atmete tief durch und sortierte meine Gedanken. Die Therapie ist gefährlich. Soviel stand fest. Ein Fehler, und das Ziel rückte noch weiter weg. Wie ein Drogensüchtiger mit Rückfall. Hätte ich aber Erfolg, würde ich die Sucht wohl nie wieder fürchten müssen. Das schien es mir wert zu sein.

»Also gut, Carlisle. Ich will es machen. Seid ihr alle damit einverstanden?«
Ich blickte bittend zu Edward und alle Augen ruhten auf ihm. Er würde der Entscheidung seinen Segen geben müssen. Es dauerte ein paar Augenblicke, bis er sich aufrichtete und der Reihe nach alle ansah.
»Keinem gefällt, was du dir antun willst, Bella. Mir am aller wenigsten, aber sie kennen dich und glauben an dich, so wie ich. Also … auf deine Weise.«
»Na dann«, fuhr Esme fort, »werde ich mich mal an die Planung machen.«


Die Versammlung löste sich auf und die meisten zogen sich zurück. Schweigend ging Edward mit mir in unser Haus. Wir zogen uns um und gingen zu Bett. Er wirkte so schrecklich besorgt und ich konnte nichts tun, um ihn auf andere Gedanken zu bringen. Im Grunde war ich ja selbst unsicher. Ich wollte es wirklich und war auch zuversichtlich, dass ich es schaffen würde, aber doch war da auch etwas Angst davor, zu versagen.

»Edward? Wirst du mich noch mögen, wenn ich es nicht schaffe und wieder rote Augen habe?«
Ohne ein Wort zu sagen, schloss er mich in seine Arme, als wollte er mich nie wieder los lassen und ich war ihm unendlich dankbar dafür.

Die nächsten Tage verliefen fast wieder in gewohnter Routine. Zehn Tage waren inzwischen vergangen, seit der Beschluss gefasst worden war. Esme war fast fertig und Carlisle schickte Edward und mich auf die Jagd. Ich sollte auf jeden Fall meinen Durst restlos gestillt haben, wenn ich mit dem Training beginnen würde. Ich wollte unbedingt auch Renesmee dabei haben, denn ich wusste ja nicht, wie viel Kraft mich das Training kosten würde. Es war mir daher sehr wichtig, davor noch so viel Zeit wie möglich mit meinen beiden Sonnen zu verbringen. Jake war wenig begeistert davon, ein paar Tage von seiner Nessie getrennt zu sein, aber ich versprach ihm, dass er danach einiges nachholen dürfte.

Wir fuhren in ein sehr abgelegenes Jagdgebiet in Kanada. Unsere Jagdausflüge führten uns häufig weiter weg von zu Hause, um die Wildbestände in unserer Umgebung nicht zu gefährden. Natürlich ist der nahe gelegene Olympic National Park riesig, aber dort jagten jetzt auch noch mehr als ein Dutzend Riesenwölfe und er war außerdem gut besucht. Daher suchten wir Alternativen, um ungestört jagen zu können und in diesem Fall verbanden wir damit auch gleich einen Kurzurlaub. Für Renesmee hatte dieser Jagdausflug allerdings noch einen anderen Reiz. Sie wollte unbedingt auch einmal einen Wolf jagen. Sie war im Grunde die Einzige von uns, die in der Umgebung von Forks noch jagen durfte. Natürlich waren dort Wölfe tabu. Zum einen, weil sie bei den Quileute verehrt wurden und wir ihnen das Zugeständnis gemacht hatten, keine Wölfe zu jagen, zum anderen aber auch, weil das Jacob sicherlich nicht gefallen würde und Renesmee respektierte das, zumindest so lange Jake in der Nähe war. Abgesehen davon waren wir allerdings auch noch nie Wölfen in der näheren Umgebung begegnet. Ich fragte mich ohnehin, ob es dort überhaupt normale Wölfe gab.

Es war zwar erst Oktober, aber hier in Kanada war bereits ein Vorbote des Winters angekommen. Wir zelteten tief im Wald, an einem malerischen kleinen See. Eine dünne Schneeschicht bedeckte den Boden und die Tannen und so bot sich uns ein geradezu weihnachtlicher Anblick. Es war eine schöne, windstille Nacht. Der Schnee glitzerte im Mondlicht und die Sterne leuchteten herab. Zwei Sterne, die sehr nah bei einander standen, zogen mich in ihren Bann. Ich sah in diesen Lichtpunkten die Gesichter meiner beiden Sonnen und fragte mich, ob da draußen auch eine “Bella” um sie kreiste.

Edward legte seinen Arm um mich und blickte mit mir zum Himmel.
»Kennst du die Sternbilder?«, fragte er mich.
»Einige, aber nicht alle.«

Auch Renesmee war sehr neugierig und schaute fragend nach oben. Edward fing an uns Sternbilder zu zeigen und zu benennen. Er wies uns den Polarstern, die Milchstraße, Kassiopeia und den Großen Wagen und noch zahlreiche andere. Beim Sternbild Perseus erzählt er Renesmee auch gleich die dazugehörende Geschichte aus der griechischen Mythologie.

Wir alle genossen diese wundervolle Nacht. Erst als mein kleiner Stern müde wurde und ein paar mal herzhaft gegähnt hatte, krabbelte sie ins Zelt, um sich schlafen zu legen. Zum Glück schien ihr die Kälte nichts auszumachen.

Ich blieb mit Edward noch draußen und genoss den Anblick der unberührten Natur, der sich uns bot. Es war einfach schön, wie sich der glitzernde Wald auf dem ruhigen Wasser des Sees spiegelte. Dabei fiel mir auf, dass ich als Vampir noch nie schwimmen war.

»Können wir eigentlich schwimmen?«, fragte ich Edward und er lächelte mich wissend an.
»Probiere es aus, Liebste.«

Neugierig wie ich war, folgte ich der Aufforderung gerne. Wir legten unsere Kleidung ab und stiegen ins Wasser. Bei dem Anblick der sich uns bot, hätte ich erwartet, dass das Wasser viel kälter wirken würde, doch ich fand es angenehm. Ich wollte mich gleich richtig in den See stürzen und atmete noch einmal tief durch. Dabei wusste ich doch, dass ich keine Luft brauchen würde und kam mir im nächsten Moment total albern vor. Edward schaute mir amüsiert zu. Ich wollte ihm eigentlich einen mürrischen Blick zuwerfen, schaffte es aber nicht, als ich ihn hüfttief im Wasser stehen sah. Wie die zentrale Statue eines Gottes in einem römischen Tempel, der halb im Meer versunken war, stand er vor mir. Mein schmachtender Blick schien ihn noch mehr zu amüsieren. Konnten römische Gottheiten so grinsen?

Ich sprang tiefer in den See, vielleicht 15 Meter weit und stellte fest, dass ich an der Oberfläche treiben konnte. Edward schwamm zu mir und grinste mich noch immer an.

»Und jetzt, ausatmen«, gab er das Kommando.

Ich tat, was er sagte und war gespannt, was passieren würde. Langsam sanken wir gemeinsam immer tiefer zum Grund des Sees. Das Wasser war sehr klar und das Mondlicht reichte aus, um die Unterwasserwelt für uns zu beleuchten. Eine Zeit lang beobachtete ich das stumme Schauspiel der Algen, die sich im Wasser leicht bewegten. Hier und da schwammen ein paar Fische an uns vorbei. Meine Haare schwebten im Wasser und ich fühlte mich schwerelos.

Plötzlich fing Edward an, das Wasser einzuatmen und irritiert schaute ich ihm dabei zu.

»Das solltest du auch einmal versuchen.«

Seine Stimme klang unter Wasser anders und war doch unverwechselbar. Ein merkwürdiges aber auch faszinierendes Gefühl. Das Wasser schien zu vibrieren und ich konnte seine Worte mehr spüren als hören. Ein unglaubliches Kribbeln breitete sich in meinem Körper aus. Es war so wundervoll intensiv, wie ich seine Stimme wahr nahm.

Ob ich das auch könnte? Vorsichtig presste ich den Rest Atemluft aus meiner Lunge und sog langsam Wasser ein. Ein irritierendes Gefühl durchzuckte meine Brust. Für einen kurzen Augenblick erinnerte ich mich an den Tag, als ich von der Klippe gesprungen und fast ertrunken war, doch das hier war anders. Ich schmeckte das Wasser und nahm meine Umwelt in dem See plötzlich auf eine neue Art wahr. Es war in gewisser Weise so, als könnte ich die Fische und die Pflanzen nun riechen.

Neugierig schaute ich mich um und schnappte mir einen unvorsichtigen Fisch. Ich hielt ihn mir unter die Nase und schnüffelte ganz bewusst an ihm.

Es war ganz anders, als ich es erwartet hatte. Ich konnte mich noch gut an den Geruch von Fischen erinnern, schließlich hatte Dad oft genug seinen Fang von einem seiner zahllosen Angelausflüge mit nach Hause gebracht. Doch das hier war anders. Es war intensiver, lebendiger, aromatischer. War das tatsächlich Durst, was ich da verspürte? Etwas zögerlich biss ich in den Fisch und kostete ihn.

Igitt! Fisch schmeckte überhaupt nicht. Edward hatte das wohl gewusst und grinste mich breit an und ein vibrierendes Lachen durchdrang meinen Körper.

»Lach’ mich nicht aus!«, sagte ich, doch hörte sich das unter Wasser extrem merkwürdig an und war kaum zu verstehen.

Es wollte mir nicht so recht gelingen, so deutlich zu sprechen, wie er es konnte. Verflixt, warum klappte das nicht? Ich versuchte es ein paar Mal, doch der Erfolg hielt sich stark in Grenzen.

Sanft lächelnd kam Edward ganz nahe an mich heran und streichelte mein Gesicht.
»Du musst Geduld haben, Liebste. Lass die Stimme fließen, wie das Wasser.«

Missmutig schaute ich ihn an und versuchte seinen Rat umzusetzen. Ganz langsam versetzte ich meine Stimmbänder in Schwingung und stellte erfreut fest, dass es sich tatsächlich viel besser anhörte. Dankbar nahm ich Edward in den Arm und küsste ihn.

Wow, auch in der Tiefe des Sees schmeckte er unglaublich gut. Zärtlich fing er an mich zu streicheln und ich tat es ihm gleich. Was für eine phantastische Erfahrung. Eine kaum merkliche Strömung umspielte mein Haar und Edwards Hände liebkosten meinen Körper. Trotz der eisigen Temperaturen spürte ich ein Feuer, das in meinem Körper aufflammte und sich allmählich in meinem Innern ausbreitete. Es war einfach immer wundervoll, mich ihm so nahe zu fühlen und dabei spielte es keine Rolle, ob wir auf einem Berg oder wie jetzt in der Tiefe eines Sees waren.

Unvermittelt löste sich Edward von mir und ich war einen kurzen Augenblick lang enttäuscht, dass er seine Zärtlichkeiten einstellte. Doch er schenkte mir so ein atemberaubend schönes, schiefes Lächeln, dass ich mich einfach nur glücklich fühlen konnte. Dann machte er ein paar Schwimmbewegungen und schoss wie ein Pfeil unter Wasser los. Ich beobachtete ihn einen kurze Weile und machte es ihm dann nach.

Es war faszinierend. Nie hätte ich erwartet, dass wir so schnell schwimmen konnten. Das Wasser hatte zwar deutlich mehr Widerstand als die Luft, aber hier hatten die Arme mehr zu greifen, um die Kraft in uns in Geschwindigkeit umzuwandeln.

Sein Schwimmstiel erinnerte mich jetzt an einen Delphin und er wurde noch schneller. Er machte das sicherlich nicht zum ersten Mal. Er kreiste um mich und ich versuchte ihn zu kopieren. Dann schwammen wir blitzschnell an die gegenüberliegende Seit des Sees und wieder zurück. Ich bremste kurz vor dem Ufer ab, doch Edward schoss aus dem Wasser. Verwundert tauchte ich auf, um nach ihm zu sehen. Da stand er, am Stand, und grinste mich schon wieder so unverschämt hinreißend an. Ich überlegte kurz, ob ich noch mal Anlauf nehmen und es ihm nachmachen sollte, entschied mich aber dagegen. Ich wollte ihn so schnell wie möglich in die Arme schließen und wählte den kürzesten Weg. Schnell war das Wasser aus meinen Lungen gepresst und schon im nächsten Augenblick sprang ich ihm in die Arme und wir plumpsten lachend auf die schneebedeckte Erde.

So viel Neues hatte er mir heute gezeigt und meine Sinne erfreut, doch war ich noch immer aufgewühlt, von der zärtlichen Erfahrung am Grunde des Sees und sehnte mich nach mehr. Liebevoll blickte ich ihm in die Augen und schob sachte eine feuchte Haarsträhne von seiner Stirn.

»Heute ist eine gute Nacht für neue Erfahrungen«, hauchte ich ihm ins Ohr. »Weißt du eigentlich, dass wir uns noch nie im Schnee geliebt haben?«

Das ließ er sich nicht zweimal sagen, zog mich ins seine Umarmung und küsste mich leidenschaftlich. Ja, heute war in der Tat eine perfekte Nacht für neue Erfahrungen.


Einige Stunden später wurde die fast wolkenlose Dunkelheit von einem bewölkten Morgen abgelöst. Wir zogen uns wieder an und warteten auf Renesmee, die etwas später aufwachte, aus ihrem Zelt kam und nun jagen gehen wollte. Also machten wir uns auf den Weg.

Edward bestand aber darauf, das Gebiet kurz zu überprüfen, nur um sicherzugehen, dass wir nicht auf einen verirrten Wanderer treffen würden. Dann ging es los. Wir überließen Renesmee die Führung. Sie war ganz besessen davon, uns zu zeigen, wie gut sie inzwischen jagen konnte. Sie reckte die Nase in die Luft und erspürte die Fährte eines Wolfsrudels und schoss los. Wir blieben in leichtem Abstand hinter ihr, um sie nicht zu irritieren. Sie hatte die Wölfe schnell eingeholt und sich einen geschnappt. Das Rudel stob auseinander, während sie über dem erbeuteten Wolf kniete, die Zähne in seine Kehle schlug und trank. Edward rannte los, packte gleich zwei Wölfe und warf mir dann einen zu. Ich blickte ihn skeptisch an.

»Komm schon Bella, du hast doch auch noch nie Wolf probiert und heute ist auch ein guter Tag für neue Erfahrungen.«

Er grinste mich an und biss in den Wolf. Ich seufzte kurz und biss dann ebenfalls zu, schließlich wollte ich kein Spielverderber sein und außerdem hatte ich Durst. Tatsächlich schmeckte der Wolf gar nicht übel. Besser als Rotwild, wenn auch nicht so gut wie eine Raubkatze. Eine nette Alternative.

Als Renesmee fertig war, erhob sie sich und grinste uns beide an.
»Ich hatte eigentlich gehofft, der würde mehr nach Jake schmecken, aber ich fand es trotzdem lecker.«
Wir mussten alle lachen bei dem Gedanken an Jacobs Gesicht, wenn er uns jetzt sehen könnte.
»Das bleibt aber unter uns«, sagte ich mahnend. »Wir wollen Jacob doch nicht wirklich damit ärgern.«
»Wollen wir nicht?«, fragte Edward und lächelte mich schief an.
»Nein, wollen wir nicht!«, sagte ich bestimmend, obwohl mir das bei seinem Lächeln nicht leicht fiel.
»Egal, ich will noch einen«, rief Renesmee und rannte wieder davon.
Wir fingen uns an diesem Tag noch einige Wölfe.


Am nächsten Morgen jagten wir noch einmal kurz, begnügten uns aber mit ein paar Elchen und machten uns dann auf den Heimweg. Wir waren zwar alle von dem Wolfs-Menü noch ziemlich satt, aber ich wollte auf Nummer Sicher gehen.

Auf dem Heimweg alberte ich dann ein wenig mit Renesmee herum. Wir fragten uns, ob Hunde wohl genauso gut wie Wölfe schmecken würden und stellten uns vor, in einer Zoohandlung eine bunte Mischung verschiedener Rassen zu bestellen. Nur zu Probe, natürlich. Wie die Verkäuferin wohl darauf reagieren würde? Renesmee kringelte sich von Lachen und auch Edward konnte sich kaum zurückhalten.


Zu Hause angekommen, fiel uns gleich der neue Anbau hinter der Garage auf. Von außen betrachtet hatte er wohl 50 m² Grundfläche, war 2,5m hoch und hatte nur eine Tür. Keine Fenster, sondern kleine Lichteinlässe in Form von durchsichtigen Glas-Steinen. Die Wände schienen sehr massiv zu sein. Eine spezielle Lüftungsanlage brummte leise vor sich hin. An der Tür war ein Schild mit der Aufschrift “Folterkammer - Zutritt nur für Masochisten” befestigt. Sicherlich wieder so ein Spaß von Emmett.

»Schau mal«, sagte ich zu Edward. »Dem Schild nach zu urteilen darfst du mit hinein.«

Mein Scherz bezog sich auf einen Spruch von ihm, wonach er sich selbst einmal als “kranker masochistischer Löwe” bezeichnet hatte. Eine schöne Erinnerung, war es doch der Tag, an dem er mir offenbart hatte, was er war. Der Tag, an dem er zum ersten Mal von seiner Liebe zu mir sprach. Er verstand zwar, was meine Anspielung bedeutete, das konnte ich ihm ansehen, war aber leider nicht wirklich amüsiert oder gerührt. Die Vorstellung von dem, was mir nun bevorstand, verhinderte es wohl und ich musste mich seufzend damit abfinden.

Auch Renesmee blickte mich skeptisch an, sagte aber nichts. Ihrem wachen Verstand war nicht entgangen, dass ich mir da etwas Unangenehmes vorgenommen hatte.

Ein Rascheln hinter uns erregte plötzlich unsere Aufmerksamkeit. Zwischen dem Gestrüpp trat Jacob in Menschengestalt aus dem Wald heraus, um uns zu begrüßen.

»Hallo zusammen.«
Renesmee stürmte auf ihn zu, um ihn zu umarmen und Jake strahlte über das ganze Gesicht.
»Hallo Nessie, ich habe dich ja so vermisst.«
»Ich dich auch, Jake.«
»Bella, Edward, gute Jagd gehabt?«
Ich verkniff mir ein Grinsen, was Edward wohl auch keine Schwierigkeiten machte. Seine momentan schlechte Stimmung blieb unverändert.
»Ja, danke der Nachfrage«, erwiderte ich. »Wir sind sehr satt.«
Jacob nickte uns kurz zu und schenkte dann gleich wieder dem fröhlichen Mädchen auf seinem Arm seine volle Aufmerksamkeit.
»Nessie, wollen wir etwas zusammen spielen?«, fragte Jacob erwartungsfroh.
»Später, Jake, ich habe heute noch Unterricht.«
Sie nahm ihren Lehrplan wirklich sehr ernst. Jacob seufzte, musste aber wohl einsehen, dass er sich noch ein klein wenig länger gedulden musste und setzte sie wieder auf dem Boden ab.
»o.k. dann warte ich eben, bis du fertig bist.«

Er streichelte ihr zärtlich über den Kopf und wandte sich dann wieder Edward und mir zu.
»Ach sagt mal. Was hat es denn mit eurem Anbau auf sich? Der “Folterkammer”?«
Edwards Leidensmiene wurde stärker.
»Das ist ein spezieller Trainingsraum für mich«, antwortete ich ihm. »Du weißt schon. Problembewältigung und so.«
Jacob schüttelte den Kopf und verdrehte die Augen.
»Vampire!«


Wir gingen ins Haus. Carlisle und Esme sahen sich die Nachrichten an, doch kaum hatte Esme uns gesehen, stand sie auch schon auf, um uns zu begrüßen.

»Hallo ihr drei. Schön dass ihr wieder zu Hause seid. Hattet ihr eine gute Jagd?«
Renesmee nickte.
»Ja, aber ich darf nichts verraten.«
Esme lächelte sie an und nahm sie in den Arm.
»Na du bist aber ein geheimnisvoller kleiner Vampir.«
Renesmee grinste über das ganze Gesicht.
»Heute steht Physik auf dem Lehrplan. Wollen wir?«
»Klar.«

Die beiden gingen zum Schreibtisch und Carlisle stand nun auf und kam zu uns. Auf Edwards Gesicht war die düstere Stimmung inzwischen wie eingemeißelt. Fast regungslos stand er an meiner Seite und das belastete mich sehr. Ich wünschte, ich könnte es für ihn einfacher machen, doch ich sah keinen anderen Weg und von meinem wollte ich definitiv nicht abweichen.

»Wollen wir, Bella?«
Entschlossen nickte ich Carlisle zu und er wies mit dem Arm zur Tür. Es war soweit. Jetzt würde es beginnen und ich spürte eine starke innere Anspannung.
»Sind die anderen noch auf der Jagd?«, fragte ich, um die Situation ein wenig aufzulockern.
»Ja, die vier sind zusammen aufgebrochen und werden wohl morgen zurückkommen.«


Wir gingen zu dem neuen Gebäudeteil. Carlisle bemerkte das Schild vor der Tür, schüttelte den Kopf, brummte ein »Emmett« und nahm es weg. Dann öffnete er die Tür und hielt sie mir auf.

Edward hielt mich kurz an der Hand zurück und schaute mir mit seinen wunderschönen goldbraunen Augen tief in meine. Er streichelte noch einmal mein Gesicht und neigte sich dann wortlos zu mir und gab mir einen leidvollen Kuss. Dann ließ er meine Hand los.

Ich war mir sicher, dass er innerlich flehte, dass ich das nicht machen sollte, doch ich wollte mein Vorhaben in die Tat umsetzen. Er wusste das und vermutlich versuchte er auch deshalb nicht wirklich, mich aufzuhalten.

Carlisle wartete noch immer geduldig im Eingangsbereich und ich ging nun mit einem schwachen Lächeln auf den Lippen zu ihm. Wir traten ein und befanden uns gleich in einem kleinen schmalen Vorraum, der durch eine Plexiglas-Schiebetür vom Hauptraum getrennt war. Carlisle zog die schwere Eingangstür zu und begann zu erklären.

»Dieser Raum dient dazu, dass du möglichst wenig von dem Blutduft mit nach draußen bringst. Wenn dein Training beendet ist, gehst du hier rein, drückst diesen Knopf«, er zeigte dabei auf eine Art Notschalter an der Wand »und dann wird die Luft über das Belüftungssystem abgesaugt und gereinigt.«

Ich nickte ihm zu und folgte ihm als nächstes durch die Schiebetür in den Hauptraum. Er wirkte sehr großzügig. In der Mitte stand ein einfacher Tisch und ein Stuhl aus Aluminium. An der Seite war ein Kühlschrank und ich konnte mir schon denken, was sich darin befand. Außerdem sah ich da noch ein paar einfache Küchenschränke und einen davon mit einer Spüle. In der Ecke stand noch ein Mülleimer.

Das Mobiliar passte so gar nicht zu Esmes Stiel. Es war in keinster Weise einladend, lediglich funktional und in dieser Aluminium-Optik gehalten.

»Also Bella. Wir beginnen mit einer recht einfachen Übung. Du setzt dich auf den Stuhl, ich stelle eine Schüssel auf den Tisch, hole eine Blutkonserve, öffne sie und kippe den Inhalt in die Schüssel.«
»Hört sich nicht sehr schwierig an«, erwiderte ich kleinlaut.

Ob er mir meine Unsicherheit anmerkte? Es hörte sich ja wirklich nicht so wild an, aber ich hatte trotzdem ein mulmiges Gefühl.

»Ich werde bei dir bleiben, Bella. Deine Aufgabe ist es nichts zu tun, deinen Durst zu kontrollieren, die Beherrschung zu wahren. Wenn du das geschafft hast, ist Phase 1 des Trainings absolviert.«
»Wie viele Phasen hat denn der Trainingsplan?«
»Es sind sechs Phasen geplant, Bella«, antwortete er und schaute mir dabei prüfend in die Augen.
»Hast du noch einen letzten Rat für mich?«
»Also ich hoffe doch sehr, dass das nicht mein letzter Rat sein wird, aber ja, ich habe da noch einen Rat für dich. Bedenke, warum du das machen willst. Du willst dem Duft widerstehen können. Das bedeutet, dass du dich ihm aussetzen musst. Es bringt also nichts, wenn du versuchst, die ganze Zeit die Luft anzuhalten. Wenn du fürchtest, die Kontrolle zu verlieren, kannst du das natürlich machen. Aber wenn du dich gefangen hast, solltest du weiteratmen.«

Ich schnaufte noch mal tief durch und machte mich mental bereit. “Atmen und ruhig bleiben”, hörte sich wirklich nicht so schwierig an. Warum nur war ich dann so nervös?
»Also gut, lass uns anfangen«, entschied ich.

Ich ging zu dem Stuhl, setzte mich hin und beobachtete Carlisle. Er holte eine durchsichtige Plastikschüssel aus dem Schrank und stelle sie auf den Tisch. Ich sah, dass in dem Schrank noch andere Schüsseln und Gegenstände waren, deren Verwendung ich aber noch nicht deuten konnte.

Als nächstes ging er zum Kühlschrank und nahm eine Blutkonserve heraus. Wie viele Konserven hat er denn besorgt? Der Kühlschrank schien voll damit zu sein. Oh je, wenn ich hier die Kontrolle verlieren sollte, dann würde ich bestimmt für Monate rote Augen bekommen.

Carlisle öffnete die Konserve und kippte den Inhalt in die Schüssel. Ich hielt instinktiv die Luft an, obwohl ich doch eigentlich ruhig bleiben und atmen wollte, doch irgendwie schaffte ich das im Moment noch nicht. Den leeren Behälter warf er in den Mülleimer. Danach ging er neben die Schiebetür am Ausgang und stelle sich dort in die Ecke.

»Bella, du solltest nun atmen.«

Ich war unsicher. Ich spürte einen sehr, sehr leichten Hauch des Blutduftes auf meiner Haut. Er war minimal, doch der schwache Geschmack, der sich auf meine Lippen legte, machte mir etwas Angst.

“Komm schon, Bella”, dachte ich bei mir. “Trau’ dich. Deshalb bist du hier”.

Langsam zog ich die Luft durch meine Nase und sofort nahm ich den Blutduft viel deutlicher war. Mmh, was für ein herrlicher Geruch. Ich konnte nicht widerstehen und sog noch mal tief Luft durch die Nase ein und bemerkte dann ein Zucken von Carlisle. Warum hatte er gezuckt? Ich schaute mich um und sah, wie hinter mir der Stuhl gegen die Wand rumpelte. Wer hatte den Stuhl weggestoßen? Im Grunde war es mir egal, denn vor mir war etwas sehr viel faszinierenderes, dem ich meine volle Aufmerksamkeit widmete. Ich stand am Tisch vor der Schüssel, hielt den Kopf direkt darüber und atmete den köstlichen Duft ein.

Das Brennen in meiner Kehle schwoll an. Mir lief das Wasser, oder besser gesagt, das Gift im Mund zusammen. Ich bemerkte, dass Carlisle ruhig stehen blieb und mich beobachtete. Warum tat er das? Ich schaute mich um, taxierte die Umgebung. Hier war nichts beunruhigendes. Der Raum trug nur den schwachen Geruch des Blutes. Er war wirklich nicht sehr stark, bei weitem nicht so kräftig wie der Duft des Jungen, aber doch leckerer als meine Beute von der letzten Jagd. Bedauerlich, dass das Blut kalt war. Es hatte kein Leben. Es pulsierte nicht. Es roch auch nach Plastik. Es ruhte einfach in dieser Schüssel. Nur mein Atem bewegte es leicht.

»Weiß du warum du hier bist?«, sprach mich Carlisle plötzlich an.

Ich schreckte zurück und fixierte ihn, ohne meine Blutschüssel aus den Augen zu lassen. Er stand still in der Ecke und hatte die Hände hinter dem Rücken. Er würde mir sicherlich nichts tun wollen, das war offensichtlich. Was hatte er mich gerade gefragt? Warum ich hier war? Warum wollte er das wissen? Spielte das eine Rolle? Ich hatte Durst, dort stand eine Schüssel mit Blut, è voilá, Problem gelöst! Wobei, so durstig war ich gar nicht. Es war mehr wie die Lust auf einen leckeren Nachtisch, obwohl man vom Essen schon satt war.

Carlisle blickte mich noch immer fragend an. Was wollte er wissen? Warum ich hier war? Es fiel mir schwer, diese Frage zu beantworten. Wo war ich eigentlich genau? Ich schaute mich ein wenig um und da fiel mir zum ersten mal ein kleines Schild über der Tür auf. Darauf stand “Ich will nur Tiere jagen.”

»Ist ja witzig«, murmelte ich.

Wo bitteschön waren denn hier Tiere? Hier war nichts zu riechen und zu schmecken außer dem Blut. Auch nicht besonderes zu hören und absolut nichts, das sich bewegte, das man im Auge behalten müsste. Es gab noch nicht mal Farben oder Muster. Der langweiligste Ort, den ich mir für meine Sinne hätte aussuchen können. War ich deshalb hier? War das die Antwort auf Carlisles Frage?

Ich blickte weiter um mich und entdeckte ein zweites Schild an der linken Wand. “Ich will nur das Blut von Tieren trinken.” Wer hatte das denn geschrieben? Wozu sollte das gut sein? Hier war kein Blut von Tieren. Hier war nur meine Schüssel mit kaltem menschlichen Blut. Nichts besonderes, aber vom Geruch her sehr verlockend.

An der rechten Seite entdeckte ich noch ein Schild. “Ich will die Menschen schützen.”

Na toll, gab es hier vielleicht einen Menschen der Schutz brauchte? Wer hatte sich nur diesen Blödsinn ausgedacht und was hatte das mit mir und der Schüssel zu tun?

o.k. in der Schüssel war Menschenblut. Braucht das ein Mensch zu seinem Schutz? Warum war das Blut dann bei mir in einer Schüssel?

Ich blickte weiter um mich, ob noch mehr ominöse Botschaften für mich hinterlassen wurden. An der Rückwand entdeckte ich dann noch eine vierte Tafel. “Ich will die Kontrolle über mich behalten.” Na, das war doch mal was. Selbstkontrolle hörte sich gut an und ich hatte hier doch alles unter Kontrolle. Keine Bedrohung. Keine Ablenkung. Fast langweilig.

»Bella, warum bist du hier?«

Schon wieder diese Frage von Carlisle. Es musste einen Grund dafür geben. Ich versuchte mich zu konzentrieren und zu erinnern, aber mein Verstand war fast vollständig auf meine Sinne ausgerichtet. Wozu denn? Wozu jetzt der Jagdmodus?

Der wird hier doch nicht benötigt. Nicht in diesem langweiligen Raum. Ich musste versuchen, mich von der Fixierung auf meine Sinne zu lösen, um klarer Denken zu können. Ich atmete ruhig weiter und mit jedem Atemzug brannte der Durst in meiner Kehle und es fiel mir noch schwerer, klar zu denken. Wie gerne würde ich das Blut in dieser Schüssel jetzt trinken, doch eine Stimme in mir warnte mich davor, wollte nicht, dass ich das tat und doch verlangte es mich so sehr danach. Der Geruch versprach mir einen himmlischen Genuss, doch meine innere Stimme warnte vor höllischen Qualen. Ich war hin und her gerissen und wusste nicht, was ich tun sollte. Das machte mich unruhig und zunehmend wütend.

»So ein Mist«, brummte ich vor mich hin.

Hey, hatte Carlisle da gerade gekichert? Ich sah ihn böse an und tatsächlich war da ein leichtes Schmunzeln auf seinem Gesicht. Machte er sich über mich lustig?

“Ich werfe dem gleich die Schüssel an den Kopf.”, dachte ich.

Ähm halt, nicht meine Blutschüssel. Vielleicht den Stuhl? Na ja, wenigsten blieb er in seiner Ecke und störte mich nicht weiter.

Ich versuchte erneut mich zu konzentrieren und die Ausrichtung auf meine Sinne zu lösen. Langsam kam ich mit dem Durst sogar besser klar. Ich kannte den Durst doch. Gut er war jetzt sehr stark, aber ich könnte ja danach auf die Jagd gehen.

“Woher kommt denn dieser Gedanke auf einmal?”, durchzuckte es mich.

Wieso danach? Ich konnte meinen Durst doch hier und jetzt stillen? Aber ich wollte das nicht. Warum wollte ich das denn nur nicht? Ich musste jetzt einfach einen klaren Kopf bekommen und nachdenken, sonst würde ich hier morgen noch stehen.


Minutenlang starrte ich die Blutschüssel an, wie ein verdurstender eine Fata Morgana. Ich spürte das Verlangen, doch ich wusste ganz genau, dass ich dem nicht nachgeben wollte. Verbissen überlegte ich, was der Grund war und Schritt für Schritt übernahm mein Verstand wieder die Oberhand. Plötzlich war mir klar, warum ich hier war. Ich wollte mich meinem Durst stellen und ihm widerstehen. Ein Hochgefühl breitete sich in meiner Brust aus. Ich fühlte, dass ich es geschafft hatte und das ganz ohne die Luft anzuhalten.

Carlisle blickte mich abwartend an. Hatte er meine Erkenntnis bemerkt? Ich ging langsam zu meinem Platz, stellte den Stuhl wieder zurück und setzte mich.

»Carlisle? Ich weiß warum ich hier bin. Ich will meinen Durst kontrollieren.«
»Sehr gut Bella. Das hast du großartig gemacht.«
»Und was jetzt?«
»Jetzt wirst du leider dabei zusehen müssen, wie ich das Blut aus dieser Schüssel in die Spüle wegkippe.«
»Nur zu.«

Carlisle kam aus seiner Ecke und ergriff die Schüssel. Jetzt wusste ich, warum er ein “leider” in seinen Satz eingebaut hatte. Meine Instinkte wollten wieder die Kontrolle übernehmen. Sie wollten nicht zulassen, dass dieses leckere Blut weggenommen und vergeudet wurde. Halb verzweifelt hielt ich mich an meinen Stuhl fest und sah Carlisle zu. Er ging mit der Schüssel zur Spüle und goss das Blut gemein langsam in den Abguss. Nein, er machte es nicht wirklich langsam, aber in meinen geschärften Sinnen war es sehr langsam mit anzusehen und mit anzuhören. Auch nahm ich den Geruch wieder stärker wahr und verkrampfte total beim Kampf gegen meine Instinkte. Angespannt klammerte ich mich noch fester an die Armlehnen meines Stuhls.

Dann endlich war die Schüssel ausgegossen und er stellte sie in die Spüle.
»Nun Bella, wollen wir wieder gehen?«, fragte Carlisle lächelnd.

Ich spürte, wie ich mich allmählich entspannte und stand auf, beziehungsweise wollte aufstehen. Mir war nicht aufgefallen, dass ich die Armlehnen des Stuhls beim Festklammern über meinen Beinen zusammengedrückt hatte. Der Stuhl hing an mir fest und aus Carlisles Lächeln wurde ein deutliches Schmunzeln.

Ich bog die Armlehnen wieder nach außen, brach sie dabei laut krachend ab und stand auf.
»Keine Sorge, Bella. Esme hat ein paar Stühle auf Reserve gekauft.«

Wir gingen zum Ausgang und noch einmal fiel mir der Schriftzug über der Tür ins Auge.
»Carlisle, wessen Idee waren denn diese Schilder?«
»Das war Alice’ Idee. Sie meinte, die könnten dir helfen.«

Das war typisch Alice. Ich musste lächeln als ich an sie dachte. Sicherlich hatte sie gesehen, dass mir die Schilder gerade heute helfen würden. Sie ist wirklich eine tolle Freundin.

Ich ging mit Carlisle an meiner Seite in den Vorraum, schloss die Schiebetür und drückte den Entlüftungsknopf. Das brummen der Anlage wurde kurz sehr laut und meine Haar wurden von dem Sog nach oben geweht. Es dauerte nur wenige Sekunden und dann war es auch schon vorbei. Ich öffnete die Tür und Edward stand mit ausgebreiteten Armen vor mir und lächelte mich an, als wäre eine schwere Last von seinen Schultern genommen worden.

»Bella du warst toll. Ich habe alles durch Carlisles Augen mit angesehen.«

Hätte ich mir ja denken können, dass Edward die ganze Zeit zusehen würde, aber ich war nicht böse auf ihn. Heute hatte ich einen Triumph zu feiern. Ich sprang ihm in die Arme, küsste ihn und wir drehten uns im Kreis. Carlisle lächelte mich irgendwie stolz an und obwohl mir das für gewöhnlich unangenehm war, gefiel es mir in diesem Moment. Ich löste mich aus Edwards Umarmung und wandte mich Carlisle zu.
»Phase 1 geschafft?«
»Phase 1 geschafft!«

Er hielt mir überraschender Weise die Hand zu einem “High Five” hin und ich schlug lachend ohne zu zögern ein.

»Edward? Rieche ich sehr stark nach Blut?«
»Etwas, aber das stört mich nicht.«
»Aber es könnte die anderen stören. Lass mich zuerst duschen gehen.«
»o.k. aber nur wenn ich dir den Rücken schrubben darf.«
»Ich bestehe darauf!«

Hand in Hand gingen wir in unser Haus. Die Dusche wurde nur selten benutzt, da wir schließlich nicht schwitzten. Nur ab und zu, wenn wir blutverklebt von der Jagd kamen oder sich Schmutz in den Haaren festgesetzt hatte, nahmen wir eine Dusche. Carlisle hatte uns dafür ein spezielles Duschgel zusammengemixt.

Edwards Rückenschrubben war mehr ein Rückenstreicheln und mein Rücken war nicht das Einzige, das er bei der Gelegenheit streichelte. Ich revanchierte mich natürlich und wir wuschen uns noch gegenseitig die Haare. Anschließend gingen wir wieder hinüber und übten das gemeinsame Klavierspiel.

Ich war sehr glücklich. Ich hatte den ersten Schritt erfolgreich absolviert. Ich wusste nun, dass ich mich trotz Blutgeruch von meinem Jagdmodus lösen konnte. Es war nicht einfach gewesen und es würde noch schwerer werden, aber diesen ersten Schritt empfand ich als großen Erfolg. Ich war wirklich stolz auf mich und es störte mich kein bisschen, dass Edward auch stolz auf mich war. Wir spielten bis zum späten Nachmittag am Klavier. Renesmee war in der Zwischenzeit draußen und tollte mit Jacob herum.


Am Abend spielten wir mit Renesmee, Carlisle und Esme noch ein paar Gesellschaftsspiele und lachten viel. Danach gingen wir in unser Haus, um Renesmee zu Bett zu bringen. Auf dem Weg blieb sie plötzlich stehen und schnüffelte. Ich bemerkte, dass noch ein minimaler Hauch von dem Blutgeruch in der Luft lag, den ich nach dem Training an mir hatte. Er war zu schwach, als dass er den Durst auslösen könnte, aber doch noch wahrnehmbar. Es war heute so windstill, dass er immer noch nicht verweht war. Renesmee blickte mich fragend an.

»Ich kenne den Geruch, Momma. Darf ich auch eine haben?«
»Ähm…«
Ich wusste nicht so recht was ich sagen sollte.
»Ich habe keine getrunken, Liebling. Ich habe nur daran gerochen und dann hat Carlisle sie weggeschüttet.«
Renesmee wirkte enttäuscht.
»Aber ich hätte sie doch trinken können. Warum denn gleich wegschütten?«
Damit hatte ich nicht gerechnet. Sie wirkte sogar etwas verärgert.
»Das war Teil meines Trainings, Schatz. Du weißt doch, was ich da mache, oder?«
»Nicht genau. Nur das es schwierig sein soll und etwas mit deinem Durst zu tun hat.«
»Stimmt. Ich setze mich dem Geruch und damit dem Durst aus, versuche aber zu widerstehen und nicht zu trinken.«
»Warum?«
»Weil ich Angst habe, dass ich einem Menschen, der verletzt ist, weh tun könnte, wenn ich mich nicht darin übe, dem Duft des Blutes zu widerstehen. Das wäre mir vor kurzem fast passiert und ich möchte das nicht noch einmal erleben.«
Sie zuckte mit den Schultern.
»Na gut, aber wegschütten ist trotzdem doof.«
Wir lachten zusammen und gingen dann weiter zu unserem Haus und schließlich zu Bett.

Kapitel 3 - Albtraum

Heute ging ich mit Carlisle und Esme auf eine kurze Jagd. Solange ich im Training war, wollte Carlisle unbedingt sicherstellen, dass ich keinen Durst hatte. Ich war eigentlich noch immer ziemlich satt von der letzten Jagd, aber ich wusste, dass der Durst im Training auf mich warten würde, also konnte ein bisschen Vorbeugung nicht schaden.

Edward blieb mit Renesmee zu Hause und unterrichtete sie in Musik. Ihr Klavierspiel konnte sich inzwischen wirklich hören lassen, aber das war nicht gerade ihr Lieblingsinstrument. Edward hatte mir kürzlich vor ihren Gedanken erzählt, dass sie lieber E-Gitarre spielen würde, aber sie traute sich nicht zu fragen. Allerdings wusste sie natürlich, dass Edward ihre Gedanken lesen konnte und hoffte wohl, er würde ihr von sich aus eine Gitarre kaufen. Damit konnte er sich aber nicht anfreunden. Zumindest noch nicht. Ich selbst war da auch ziemlich unentschlossen. Einerseits wollte ich meinem kleinen Engel jeden Wunsch erfüllen, andererseits konnte ich mit dieser Art von Musik aber wirklich nicht viel anfangen. Daher beschloss ich für mich, die Sache ihrem Musiklehrer zu überlassen.

Gegen Nachmittag waren wir von der Jagd zurück. Wir waren ausnahmsweise doch in den Olympic National Park gefahren und hatten in einem abgelegenen Winkel gejagt. Leider ohne besondere Leckerbissen, aber da ich ja ohnehin keinen Durst hatte, begnügte ich mich mit einem Reh.

Alice, Jasper, Rosalie und Emmett waren inzwischen auch wieder zu Hause. Emmett hatte sich noch mal eine ordentliche Portion Bär gegönnt. Er trauerte jetzt schon der bevorstehenden Winterschlaf-Phase entgegen.

Wir begrüßten einander und Carlisle berichtete von meinem erfolgreichen ersten Trainingstag. Bei der Gelegenheit ging ich gleich zu Alice und nahm sie dankbar in den Arm.

»Hey Alice. Die Sprüche auf den Tafeln haben mir wirklich sehr geholfen. Du bist einfach genial. Vielen, vielen Dank«, sagte ich und gab ihr einen dicken Kuss auf die Wange.
»Ach, nichts zu danken. Hab’ ich doch gerne gemacht«, antwortete sie mir und freute sich dabei wie ein Honigkuchenpferd.

Renesmee war wieder mit Jacob unterwegs und Edward unterhielt sich mit seinen Brüdern, die von der Jagd erzählten.


Ich verließ mit Carlisle die gesellige Runde und ging mit ihm zum Training. Auch Edward verabschiedete sich gleich darauf von seinen Brüdern und folgte uns. Er hätte sicherlich auch aus dem Wohnzimmer heraus durch Carlisles Gedanken zusehen können, aber er wollte wohl lieber in der unmittelbaren Nähe sein.

Als wir drinnen durch die Schiebetür traten, bemerkte ich sofort den leichten Blutduft vom Vortag. Er war sehr schwach und löste bei mir zum Glück keinen richtigen Durst aus, sondern nur ein ganz leichtes Kribbeln in der Kehle. Wäre der Duft stärker gewesen, hätte er mich völlig unvorbereitet getroffen.

“Ich muss besser auf so etwas gefasst sein. Immer und überall”, dachte ich mir und ärgerte mich selbst über meine Leichtsinnigkeit.

»Heute beginnt Phase 2, Bella. Das heißt, dass du heute die Blutkonserve selbst aus dem Kühlschrank holst, in die Schüssel kippst und nach dem Training die Schüssel ausleeren musst. Außerdem musst du dem Duft 15 Minuten lang widerstehen.«

Das wird sicherlich hart werden. Mein erstes Training hatte insgesamt nur 15 Minuten gedauert und ich konnte mich in der heiklen Phase des Wegkippens wenigstens am Stuhl festhalten, der das seinerseits ja nicht gerade gut überstanden hatte. Jetzt sollte ich also auch noch selbst aktiv werden. Es war eine harte Herausforderung, der ich mich das stellen musste, aber an meiner Entschlossenheit hatte sich nichts geändert.

Die Schüssel stand noch in der Spüle und an ihr haftete noch ein leichter Blutduft. Ich holte sie und stellte sie vorsichtig auf den Tisch. Carlisle legte mir eine Stoppuhr daneben.

»Wenn du soweit bist, drücke auf die Stoppuhr und versuche 15 Minuten lang ruhig zu atmen.«

Ich nickte ihm zu, nahm eine Blutkonserve aus dem Kühlschrank und ging zurück zum Tisch. Ganz langsam öffnete ich den Verschluss. Der kalte Blutduft war wie am Vortag sehr lecker, aber doch nichts wirklich besonderes. Zumindest sagte ich mir das selbst, doch meine Kehle schien das etwas anders zu sehen und fing wieder an zu brennen. Allerdings war ich darauf vorbereitet und behielt die Kontrolle, blickte noch mal zu dem Schild an der Rückseite “Ich will die Kontrolle über mich behalten” und schmunzelte beim Gedanken an Alice. Als nächstes kippte ich die Konserve in die Schüssel.

Schnell, viel zu schnell, wie ich feststellen musste. Das war sehr unvorsichtig von mir, denn das Blut spritzte in der Schüssel auf und der Duft schoss mir in die Nase. Winzige Blutpartikel legten sich auf mein Gesicht und ich erstarrte.

»Verdammt!«, brummte ich vor mich hin.
Ich merkte, wie meine Instinkte wieder die Oberhand erringen wollten und musste meine ganze Konzentration aufbringen, um das zu verhindern. Ganz langsam gewann ich wieder die volle Kontrolle zurück und drehte die leere Konserve in meiner Hand wieder um. Ein winziger Tropfen, den ich übersehen hatte, fiel auf meinen Daumen und ich erstarrte aufs Neue.

»Oh Mann! Muss das jetzt sein«, knurrte ich meinen Daumen an.
Carlisle, der schräg hinter mir stand, schien amüsiert und fasziniert zu gleich. Ich beobachtete ihn aus den Augenwinkeln, denn ich schaffte es nicht, ihn zu ignorieren. Meine Instinkte waren wieder stärker und brachten mich dazu, meine Umgebung zu taxieren. Ich hatte wieder alles im Blick und ärgerte mich darüber.

»Mist!«, rief ich leise aus.
Das wollte ich nicht. Ich hatte keinen andere Wahl, als die Luft anzuhalten, um mich wieder zu beruhigen, um dem Drang, das Blut an meinem Daumen abzulecken, zu widerstehen.

Nach ein paar Augenblicken schaffte ich es und konnte die Anspannung in meinem Körper wieder etwas lösen. Dann ging ich vorsichtig zum Mülleimer, um den leeren Behälter hineinzuwerfen. Als ich den Deckel anhob, kam mir der Duft der gestrigen Konserve entgegen. Schon wieder etwas, womit ich nicht gerechnet hatte.

»Das gibt es doch nicht!«, fauchte ich.
Wieder die Luft anhalten. Wieder um Selbstkontrolle ringen. Wieder ganz langsam weiterbewegen. Endlich konnte ich den Behälter in den Mülleimer legen. Ich ließ ihn nicht hinein fallen, da ich befürchtete, dass mir dadurch wieder ein Schwall des Blutduftes entgegen kommen würde. Außerdem hatte ich heute schon genug Fehler gemacht. Also bewegte ich mich ganz langsam und vorsichtig, legte den Behälter auf dem Boden des Mülleimers ab, machte anschließend den Deckel wieder zu und ging zur Spüle. Ich drehte das Wasser auf, um den Bluttropfen von meinem Daumen abzuwaschen, doch er lies sich nicht vollständig entfernen.

»Warum ist hier kein Handtuch!«, knurrte ich zu Carlisle.
»Würde das denn jetzt etwas bringen?«, fragte er zurück.
“Vermutlich nicht”, musste ich im Gedanken zugeben.
Dann wäre der Duft eben an dem Handtuch und nicht mehr an meinem Daumen. Im Grunde hätte das nichts geändert, aber diese leichte Blutkruste störte mich total.

Ich riss ein Stück Stoff aus meinem T-Shirt heraus und rieb den dämlichen Blutfleck ab. Es war nichts mehr zu sehen und nichts mehr zu spüren an meinem Daumen. Ich roch an ihm und stellte fest, dass der Geruch noch da war, wenn auch nur sehr leicht. Er war erträglich, doch ich spürte eine unterschwellige Wut in mir. Mit jeder Kleinigkeit, die schief ging, wuchs der Zorn. Verärgert riss ich den Mülleimer auf, um den Fetzen von meinem T-Shirt hinein zu werfen und schon wieder hatte ich mich von dem Schwall des Blutduftes überraschen lassen.

»Ja gibt es das denn?«, fragte ich mich selbst völlig genervt und musste wieder die Luft anhalten.

Die Sekunden vergingen, vielleicht eine Minute, bis ich mich wieder aus meiner Starre lösen konnte. Dann ging ich zu meinem Stuhl, um mich zu setzen. Es war ein neuer Stuhl. Warum hatte jemand den Stuhl ausgetauscht, aber nicht den Mülleimer geleert oder die Schüssel ausgewaschen? Das war total hinterlistig. Ich blickte wütend zu Carlisle und wäre ihm am liebsten an die Gurgel gesprungen.

»Alles Teil des Trainings, Bella.«
Er hatte offensichtlich meine Gedanken erraten.
»Du hättest mich warnen können«, fauchte ich und schnaubte verächtlich.
»Stimmt, aber du hättest auch 400 Jahre warten können«, erwiderte er und grinste mich dabei an.
Ich wusste, dass er recht hatte, aber ich wollte ihm jetzt nicht recht geben und schmollte. Nach einer Weile fiel mir die Stoppuhr wider ein.
“Wenigstens daran hätte er mich doch erinnern können”, dachte ich und wurde schon wieder wütend auf ihn.

Ich drückte energisch den Start-Knopf und dachte noch mal darüber nach, warum ich hier war. Die Schilder an den Wänden halfen mir erneut und ich begann ruhiger zu atmen. Der Blutduft war wie gestern nicht so stark. Meine Kehle brannte, aber es war auszuhalten. Das Schlimmste schien mir für den Moment überstanden zu sein und auch mein unsinniger Zorn auf Carlisle legte sich wieder. Ich atmete ruhig weiter und schaute auf die Stoppuhr. Immer wenn der Sekundenzeiger langsamer zu werden drohte, versuchte ich mich wieder zu beruhigen und zu konzentrieren. Das war immer ein untrüglicher Hinweis auf meine stärker werdenden Instinkte.


Die Minuten vergingen. Es dauerte eine halbe Ewigkeit, doch die 15 Minuten gingen vorüber. Ich schaltete die Stoppuhr aus und ging wieder zu der Schüssel. Ich nahm die Schüssel vorsichtig in beide Hände und hob sie hoch. Die Bewegung ließ den Blutduft wieder verstärkt aufsteigen. Ich hielt wieder ungewollt die Luft an, zwang mich aber nach einem kurzen Augenblick dazu, ruhig weiterzuatmen. Als ich mich wieder sicherer fühlte, ging ich zur Spüle. Ein leichtes nervöses Zittern machte sich in mir breit, was dazu führte, dass der Blutduft noch stärker aus der Schüssel strömte.

»Jetzt reiß dich zusammen, Bella!«, schnauzte ich mich selbst an.

Was sollte ich jetzt machen? Es schnell hinter mich bringen und die Schüssel ruckartig wegkippen? Was, wenn dadurch Blut hoch spritzte? Wäre es nicht besser, das Blut ganz langsam wegzuschütten, auch wenn die Quälerei dadurch länger dauerte?

Letzteres schien mir die bessere Alternative zu sein. Ich neigte ganz langsam die Schüssel zum Ausguss hin. Kurz bevor die Blut-Pfütze über den Rand schwappen konnte, zuckte ich instinktiv zurück. Ein Teil von mir wollte das nicht und wieder kämpfte ich um meine Selbstkontrolle und versuchte mich zu beherrschen.

»Komm schon, Bella«, spornte ich mich an.

Es klappte und ich neigte die Schüssel langsam weiter, bis sich das Blut in einem dünnen Strahl in den Abfluss ergoss. Der dabei aufgewirbelte Blutduft und die winzigen feinen Tröpfchen in der Luft legten sich auf meine Arme und mein Gesicht. Ich zitterte leicht, was den Effekt noch verstärkte, aber ich zwang mich dazu weiterzumachen. Nachdem die Schüssel endlich ausgekippt war, drehte ich das Wasser auf und spülte die Schüssel aus.

»Geschafft!«, triumphierte ich.

Ich war erschöpft aber zufrieden. Es war wohl das erste Mal in meinem Vampir-Dasein, dass ich das Bedürfnis hatte, mich zu setzen und ich tat es einfach.

»Alle Achtung, Bella«, lobte mich Carlisle. »Du hast dich mal wieder selbst übertroffen.«

Ich lächelte schwach. Ich war einfach nur erschöpft. Meine Kehle brannte immer noch, aber das war auszuhalten und würde sicherlich bald nachlassen, wenn ich erst einmal wieder draußen war.

»Seit 50 Minuten bist du nun hier drin. Du hast die Aufgabe komplett absolviert. Ich hatte eigentlich damit gerechnet, dass ich dir spätestens beim Wegschütten helfen müsste, aber du hast es wieder geschafft.«

Erneut fühlte ich den Stolz, den ich auch schon gestern verspürt hatte, wobei ich gestern bei weitem nicht so erschöpft war.

»Lass uns gehen Bella.«

Ich raffte mich wieder auf, ging mit Carlisle in den Vorraum und aktivierte die Entlüftungsanlage. Edward wartete wieder vor der Tür auf mich, mit einer Sorgenfalte weniger auf der Stirn.

»Ganz Offensichtlich habe ich dich unterschätzt. Liebste. Du machst das großartig.«
»Phase 2 geschafft?«, fragte ich zu Carlisle.
»Phase 2 geschafft!«, und wieder ein High Five.
»Allerdings Bella«, fuhr Carlisle fort, »musst du die Übung in den nächsten Tagen mehrmals wiederholen, bis sie dir keine Schwierigkeiten mehr bereitet. Dass es dir gleich beim ersten Versuch gelungen ist, war ein großer Erfolg. Jetzt musst du an der Zeit arbeiten. Dein Ziel muss es sein, die Vorbereitung und das Aufräumen in weniger als 5 Minuten zu schaffen. Heute waren es noch 35 Minuten. Daran sollst du nun arbeiten, bis wir zu Phase 3 wechseln.
»o.k., alles klar«, bestätigte ich.

Ich strahlte Edward an und nahm ihn in den Arm. Ich war so zufrieden mit mir selbst und einfach nur glücklich. Außerdem war es einfach nur schön, dass mein Liebster sich mit mir freute.

»Und du solltest beim nächsten Mal versuchen deine Kleidung ganz zu lassen«, sagte er mir schmunzelnd ins Ohr, »oder ganz zerreißen…«

Wir küssten uns innig und dann begleitete er mich nach Hause, wo er mir liebevoll beim Abduschen und Umziehen half. Es wäre sicherlich viel schneller gegangen und vermutlich auch gründlicher, wenn er mir nicht “geholfen” hätte, aber so war es bei weitem deutlich angenehmer.


Wir verbrachten dann den Abend mit der Familie, bis wir schließlich Renesmee zu Bett bringen wollten. Auf dem Wege nahm sie erneut den Blutduft war und blickte mich wieder mürrisch an.

»Renesmee! Das denkst du doch nicht wirklich!«, sprach Edward sie plötzlich an.
Sie drehte sich schmollend weg und verschränkte die Arme vor der Brust.
»Was ist los?«, fragte ich verwirrt.
»Sag nichts Daddy!«, fuhr sie ihn an und funkelte böse mit den Augen.
»Nur wenn du es ihr sagst.«
Sie drehte sich wieder weg und hob trotzig das Kinn.
»Nessie denkt, dass du heimlich Blutkonserven trinkst und sie nicht mit ihr teilen willst.«
Renesmee drehte sich blitzschnell um, stampfte mit dem Fuß auf und stemmte die Hände in die Seiten.
»Du sollst doch nichts sagen!«, knurrte sie ihn an.
»Renesmee!?«, sagte ich sanft und kniete mich vor sie hin. »Das denkst du doch nicht wirklich von mir, oder? Ich habe dir doch erklärt was ich da mache. Wenn ich das Blut trinken würde, hätte ich rote Augen.«
Sie schnaubte verächtlich.
»Ich rieche das Blut aber überall. Ich rieche es an dir. Vor allem an deiner Hand. Und außerdem bekomme ich auch keine rote Augen. Du lügst. Ich will auch von dem Blut.«

Wütend ließ sie mich stehen und ging an mir vorbei in unser Haus und direkt in ihr Zimmer und schlug die Tür hinter sich zu, so dass sie fast aus dem Rahmen geflogen wäre. Ich eilte ihr hinterher, ging aber nicht in ihr Zimmer. Ich setzte mich vor die Tür und sprach zu ihr, in der Hoffnung, dass sie von sich aus wieder heraus kommen würde.

»Liebling, bitte. Ich mache das doch nur, um dem Blutduft besser widerstehen zu können. Ich trinke nichts davon. Du musst mir glauben.«
Edward legte mir seine Hand auf die Schulter. Ich schaute ihn fragend an und er schüttelte mit dem Kopf.
»Gib ihr Zeit. Sie versteht es noch nicht.«


Es war eine unangenehme Nacht. Ich rollte mich auf dem Bett zusammen, kaute auf meiner Unterlippe und manchmal an einzelnen Fingernägeln und suchte verzweifelt nach einem Weg, ihr alles so zu erklären, dass sie es verstehen würde. Außerdem ärgerte ich mich, dass ich mich nicht gründlicher gewaschen hatte und sie so den minimalen Blutduft an meiner Hand noch bemerkt hatte. Edward lag hinter mir und wirkte auch sehr unruhig. Merkwürdig unruhig. Ich drehte mich zu ihm um und sah sein verzerrtes Gesicht.

»Edward, was ist los?«
»Nessie, … sie hat einen Albtraum. Die Bilder in ihrem Traum sind eigentlich harmlos aber die Gefühle… sind furchtbar.«
Er wirkte, als ob er versuchen würde, den Traum zu verstehen. Ich blickte fragend auf sein Gesicht, doch ich wurde daraus nicht schlau.
»Oh nein!«

Edward sprang auf und ging zu Renesmees Tür. Ich war sofort an seiner Seite. Von drinnen hörten wir einen spitzen Schrei. Ich riss die Tür auf und sah Renesmee auf dem Bett stehen. Ihre Augen waren vor Angst geweitet und sie zitterte am ganzen Körper. Ich nahm sie in den Arm, setzte mich auf ihr Bett und zog sie auf meinen Schoß.

»Schscht Kleines, ich bin ja da«, sagte ich mit sanfter Stimme um sie zu beruhigen.
Sie schlang die Arme um mich und drückte mich so fest sie nur konnte. Sie war völlig verkrampft. Ich blickte zu Edward, doch sein Gesicht hatte sich nicht verändert. Er litt immer noch mit ihr.
»Sie kann sich nicht von dem Traum lösen und spielt ihn immer wieder im Gedanken ab.«

Ich zog ihre rechte Hand von meinem Rücken und drückte sie mir auf die Wange. Renesmee zitterte unverändert am ganzen Körper.

»Liebling, zeig mir deinen Traum. Bitte.«
Ich wollte, dass sie ihr Leid mit mir teilte, in der Hoffnung, dass sie das erleichtern würde, doch sie entriss mir ihre Hand, vergrub sie unter ihrer Brust, fest an mich gedrückt. Sie zitterte immer noch und schüttelte zaghaft den Kopf.
»Schatz, bitte. Daddy sieht es doch auch. Ich will dir doch helfen. Bitte lass es mich sehen, damit ich es verstehe.«
Ganz langsam gab sie meinem Drängen nach, ließ mich die Hand wieder hervorziehen und an meine Wange legen.

Die Hand war heiß. Sie drückte sie fest an mich und sie vibrierte geradezu. Die Bilder strömten auf mich ein. Das war nicht wie gewöhnlich, wenn Sie mir Bilder zeigte. Das war ein Film, der da abgespielt wurde. Aber nicht nur das. Sie schickte mir auch alle Gefühle mit und zeigte mir den Traum genau so, wie sie ihn empfunden hatte.

Ich sah einen gedeckten Esstisch, der an Thanksgiving erinnerte. Es war in dem Haus von meinem Dad. Er saß am Kopfende eines festlich gedeckten Tisches mit einem Truthahn im der Mitte. Renesmee saß zu seiner Rechten, ich ihr gegenüber, neben mir Edward und neben ihr Jacob. Am anderen Tischende saß Sue. Eine fröhliche Runde, doch die Gefühle passten nicht dazu. Sie war wütend und neidisch. Sie wollte keinen Truthahn. Sie hätte ihn vielleicht gewollt, wenn er noch leben würde, aber nicht so. Edward und ich tranken ein Glas Rotwein. Nein, das war kein Rotwein, das war Blut. Der Geruch von Blutkonserven schwebte im Raum, doch neben ihrem Teller stand kein Glas. Alle um sie herum lachten und sie verspürte einen starken Hass auf uns. Sie wollte auch Blut und der Zorn wurde immer stärker.

Charlie stand auf und ging zur Küche. Er übersah eine geöffnete Schranktür und schlug sich den Kopf an. Er drehte sich leise fluchend um und ich erkannte, dass er nun eine Platzwunde am Kopf hatte. Etwas Blut quoll heraus. Renesmee blickte sich um. Keiner beachtete sie, denn alle schauten auf mich. Edward hielt meine Hand fest. Renesmee sah in mein erstarrtes Gesicht, doch ich erwiderte ihren Blick nicht. Sie wurde noch wütender, denn keiner schien um sie besorgt zu sein. Sie betrachtete ihren Opa, der nun das Blut auch an seinen Händen hatte. Ein dünner Streifen lief an seinem Gesicht herab.

Dann veränderte sich das Bild, als ob jemand einen Rotfilter darüber gelegt hätte. Charlies Gesicht wurde undeutlicher und verschwand förmlich. Da war nur noch die blutende Wunde und das Brennen in der Kehle. Das war Renesmees Durst. Sie sah nur noch einen Körper, einen pochenden Herzschlag und eine zuckende Halsschlagader. Sie sprang diese verführerische Halsschlagader an, biss zu und trank. Es schmeckte so gut und dauerte nur Sekunden. Sie löste sich von ihrer Beute und der Rotfilter verschwand. Sie blickte um sich und sah nun Charlie am Boden liegen. Er war bleich, hatte starre, geweitete Augen und lag leblos in einer kleinen Blut-Pfütze. Dann sah sie ihr Gesicht, das sich im Fenster spiegelte. Blut tropfte aus ihrem Mundwinkel und ihre Augen waren feuerrot. Ruckartig drehte sie den Kopf und sah in die entsetzen Gesichter am Tisch. Jacob vibrierte.

Als nächstes sprang sie durch das Fenster nach draußen. Sie wollte weglaufen, denn sie wusste nun, was sie getan hatte. Ihre Augen füllten sich mit Tränen und sie sah alles nur noch verschwommen. Sie hörte schwere Schritte hinter sich, blieb stehen und drehte sich um. Jacob rannte in Wolfsgestalt hinter ihr her, fletschte die Zähne und sprang mit weit aufgerissenem Maul direkt auf ihr Gesicht zu.

Dann war plötzlich alles schwarz. Der Traum war zu Ende. Sie löste die Hand noch immer zitternd von meiner Wange und verbarg sie wieder unter ihrem Körper.
»Oh Liebling, das war nur ein Traum, das wird nie passieren.«
Ich streichelte ihr Haar, wiegte sie sanft im Arm, küsste sie mehrmals auf den Kopf, doch sie blieb total verkrampft und zitterte unaufhörlich weiter.
»Sie kann sich nicht lösen Bella«, hörte ich Edward mit leidvoller Stimme sagen.

Was konnte ich nur tun? Ob Jasper ihr jetzt helfen könnte? Entschlossen drückte ich meine Kind an meine Brust und rannte hinüber. Unterwegs dachte kurz an meinen Schild, um zu sehen, wo sie waren. Natürlich waren Jasper und Alice in ihrem Zimmer und ihre Lichter waren eng beieinander. Ich hasste den Gedanken, sie stören zu müssen, sah aber keine Alternative. Ich rannte ins Haus und direkt zu ihrem Zimmer. Dann klopfte ich an die Tür.

»Jasper? Bitte entschuldige, ich brauche deine Hilfe.«
Nach wenigen Sekunden ging die Tür auf. Er stand vor mir, nur mit einer Hose bekleidet und schaute mich fragend an, doch schnell erfasste er ihre Gefühle und wirkte besorgt.
»Renesmee hatte einen Albtraum und kann sich nicht beruhigen. Kannst du bitte etwas für sie tun?«

Jasper konzentrierte sich und augenblicklich spürte ich, wie sich ein Gefühl der Gelassenheit ausbreitete. Auch Ruhe und Zuversicht konnte ich verspüren, doch mein kleines Mädchen zitterte noch immer in meinen Armen. Jasper bemerkte das und legte eine Hand auf ihren Rücken und die andere auf meinen Arm. Das Gefühl verstärkte sich. Inzwischen war die gesamte Familie um uns versammelt. Sie alle hatten meine Aufregung mitbekommen und bildeten einen Kreis um uns. Alle blickten voller Mitgefühl auf Renesmee und wir setzte uns auf den Boden.

Alice legte ebenfalls eine Hand auf Renesmees Rücken und meinen Arm. Alle kamen näher heran, knieten um uns herum und berührten Renesmee und mich mit den Händen. Allmählich beruhigte sie sich. Das Zittern hörte auf, ihr Atem wurde etwas ruhiger und auch ich entspannte mich. Wir waren geborgen im Kreise der Familie. Alle waren für uns da und wieder einmal war ich meiner neuen Familie so unendlich dankbar für alles, was sie für mich tat.


Nach einer Weile hatte Renesmee sich beruhigt und lag nun deutlich entspannter in meinem Arm. Zögerlich hob sie ihren Kopf und blickte mir in die Augen. Sie wirkte so ängstlich, unsicher und schuldbewusst, dass sie mir unheimlich leid tat. Was konnte ich nur noch für sie tun?

»Schscht Liebling. Alles wieder gut«, sagte ich sanft zu ihr.
»Momma? Ich muss dir noch etwas zeigen.«
Sie legte wieder die Hand auf meine Wange, die sofort anfing zu vibrieren.

Sie zeigte mir einen Film, in dem sie an meiner Hand mit mir in den Trainingsraum ging. Das Ganze wurde von einem Gefühl der Verstohlenheit und Nervosität begleitet. Da sie ja nicht wusste, wie der Raum von innen in Wirklichkeit aussah, waren wir plötzlich in unserer Küche. Ich ging zum Kühlschrank und nahm eine Blutkonserve heraus, drehte mich von ihr weg, öffnete den Verschluss und roch an dem Blut. Renesmee ging inzwischen hinter mir heimlich ebenfalls zum Kühlschrank, nahm auch eine Konserve heraus, öffnete sie und begann gierig zu trinken. Sie genoss den Geschmack und beobachtete mich. Sie sah, wie ich das Blut dann in die Spüle wegkippte und mich wieder zu ihr umdrehte. Schnell versteckte sie ihre Blutkonserve hinter ihrem Rücken. Ich warf meinen leeren Behälter in den Mülleimer, lächelte sie an, streichelte ihr Gesicht und ging hinaus. Ein Gefühl von großer Scham und ein sehr schlechtes Gewissen trat in den Vordergrund. Sie ließ die Blutkonserve fallen, das Blut lief auf den Fußboden und sie rannte hinaus und dann in den Wald.

Sie löste ihre Hand von meiner Wange und vergrub sie erneut unter ihrer Brust.
»Es tut mir so leid Momma.«
»Ach Liebling, schscht, Alles wird wieder gut.«
Ich wiegte sie wieder in meinem Arm und küsste ihr Haar.
»Wenn ich geahnt hätte, wie schwer es für dich wird«, fuhr ich fort, »dann hätte ich das Training nie begonnen. Ich werde sofort damit aufhören.«
Renesmee blickte mich erschrocken an.
»Ich will nicht dass du aufhörst, Momma. Ich glaube, ich verstehe jetzt, warum du es machst. … Darf ich vielleicht mitmachen?«

Es verschlug mir die Sprache. War das ihr Ernst? Konnte das ihr Ernst sein? Konnte ich so etwas überhaupt zulassen? Alle blickten ganz verdutzt auf Renesmee, doch keiner sagen etwas dazu.

»Liebling … ich weiß nicht … lass uns morgen darüber reden, ja?«

Renesmee nickte, drehte sich dann zu Jasper und streckt ihm einen Arm entgegen, um ihre Hand an seine Wange zu legen. Sie flüsterte noch ein “danke” und kuschelt sich wieder in meinen Arm und kam allmählich zur Ruhe. Jasper lächelte sie gütig an und streichelte ihr über den Kopf. Ganz langsam schlief sie wieder ein.

Für alle Fälle blieb ich vor Jaspers Tür sitzen und beobachtete meinen kleinen Stern im Schlaf. Ich konnte sie nicht wieder ins Bett bringen und sie auch nicht aus dem Arm geben. Edward blieb die ganze Nacht an meiner Seite.

Kapitel 4 - Training zu Zweit?

Es war schon gegen zehn Uhr, als Renesmee die Augen aufschlug. Sie schaute sich kurz verwirrt um und realisierte dann, wo sie war. Sie erinnerte sich wohl gerade an die vergangene Nacht und hatte einen skeptischen Blick. Dann reckte Sie sich kurz, kuschelte sich aber anschließend sofort wieder in meinen Arm und lächelte. Sie legte ihre Hand an meine Wange, die sofort wieder leicht zu vibrieren begann. Ich befürchtete kurz, dass sie mir schon wieder einen Albtraum zeigen wollte, war dann aber sehr überrascht, dass sie mir sich selbst zeigte, wie sie sich gerade in meinem Arm gekuschelt hatte. Der kurze Film wurde begleitet von dem Gefühl der Sicherheit und Geborgenheit. Ein Gefühl, das sich augenblicklich wärmend in meiner Brust ausbreitete. Ich hätte sie tagelang so in meinen Armen gehalten, wenn sie danach verlangt hätte. Sie genoss noch etwa eine halbe Stunde lang meine Umarmung, schüttelte dann aber doch die Müdigkeit aus ihren Gliedern, gab mir einen Kuss und stand auf.

Die anderen hatten sich in der Nacht und am Morgen alle sehr geräuschlos verhalten, um meinem kleinen Schatz den erholsamen Schlaf zu ermöglichen, den sie so dringend brauchte. Vor allem Rosalie war jeden Stunde bei mir, um nach ihr zu sehen. Sie hätte mich wohl gerne abgelöst, sagte aber kein Wort. Sie schien immer sehr besorgt, aber auch erleichtert, dass es Renesmee wieder gut ging. Edward ging bei Sonnenaufgang kurz nach draußen um Jake zu informieren, damit er nicht auf die Idee kam, ungeduldig herumzuheulen. Jake kam daher in Menschengestalt ins Haus und wartete auf dem Sofa. Er wollte wohl nicht riskieren, durch seine Nähe Renesmee zu wecken und blieb daher auf Abstand, blickte aber immer wieder mit sorgenvoller Miene zu mir auf.

Jetzt da sie wieder aktiv war, kam einer nach dem anderen bei ihr vorbei, um sich nach ihrem Befinden zu erkundigen. Sie versicherte jedem, dass es ihr wieder gut ging und bedankte sich bei allen für die liebevolle Unterstützung. Dann ging sie zu Jake ans Sofa und schaute ihn unsicher an. Sie unterhielten sich nur flüsternd, doch ich verstand dennoch jedes Wort.

»Nessie, wie geht es dir?«
»Wieder ganz gut, Jacob.«
»Bist du sicher? Du siehst nicht so aus. Du wirkst so traurig.«
»Ich hatte einen ziemlich gemeinen Traum.«
»Zeigst du ihn mir?«
Sie hatte wohl befürchtet, dass er das fragen würde und ich wusste, warum sie ihm den Traum nicht zeigen wollte. Nicht nur wegen der Auffrischung der Erinnerung daran, sondern vor allem wegen des Schlusses.
»Komm schon, Nessie, ich habe doch auch keine Geheimnisse vor dir.«

Sie seufzte schwer. Hin und her gerissen, ob sie nun seine Gefühle verletzten sollte indem sie ihm den Traum nicht zeigte oder eben gerade dadurch, dass sie ihm den Traum zeigte.

»Er wird dir aber nicht gefallen«, sagte sie bedrückt.
»Das haben Albträume so an sich, Nessie. Glaub mir, ich kenne mich damit aus. Was glaubst du, was ich für Träume hatte, als ich anfing mich in einen Wolf zu verwandeln.«
»Versprich mir, dass du nicht böse auf mich wirst.«
»Na, so schlimm kann kein Traum der Welt sein, dass ich auf dich böse werden könnte, hmm?«
»Da bin ich mir nicht so sicher.«
»Jetzt komm schon. Du bist doch ein mutiger kleiner Halbvampir. Vertrau’ mir bitte.«
Noch einmal ein tiefer schwerer Seufzer und dann legte sie die Hand auf Jacobs Wange. Sie zögerte noch etwas, doch dann erkannte ich, dass die Hand zu vibrieren begann.

Jacobs Augen weiteten sich, als Renesmee ihm ihren Traum schickte. Dann, als der Traum zu Ende war, füllten sich Jacobs Augen mit Tränen. Er starrte vor sich hin und wirkte fassungslos. Renesmee blieb unsicher vor ihm stehen, ebenfalls mit feuchten Augen. Als sich ihre Blicke dann trafen, schlang Jake sie in seine Arme und drückte sie an sich.

»Oh Nessie. Mein armer kleiner Schatz. Was träumst du nur. Wenn so etwas jemals passieren würde, könnte ich dich bestimmt zurückhalten. Aber selbst wenn nicht, ich könnte dir niemals so weh tun. Da würde ich mich lieber von der höchsten Klippe ins Meer stürzen.«
Renesmee schluchzte laut auf und auch Jacob konnte seine Tränen kaum zurückhalten.
»Das sollst du aber nicht machen. Wenn ich so etwas tun würde, dann hätte ich das auch verdient, was am Ende meines Traumes passiert.«
»Nessie, rede keinen Blödsinn«, fuhr Jacob sie leicht an. »Du würdest das doch niemals mit Absicht machen. Ich kenne doch meinen kleinen Lieblingsvampir.«
Renesmee beruhigte sich etwas.
»Ja Jake, ich weiß, aber ich will auch nicht, dass so etwas unabsichtlich passiert. Deshalb will ich mit Momma zusammen üben.«

“Oh je. Das war dann also tatsächlich ernst gemeint?”, dachte ich bei mir.
Ich hatte gehofft, dass sie das heute wieder vergessen hätte, aber offensichtlich war dem nicht so. Konnte es ihr wirklich so ernst damit sein?

Jacob schaute sie verwirrt an.
»Was willst du mit deiner Momma üben?«
»Na ja, dem Blutduft zu widerstehen. Das was sie da mit Opa in dem neuen Raum hinter der Garage macht.«

Jacobs Blick wanderte zu mir. Eine Mischung aus Unsicherheit, Frage und Missbilligung. Ich ging zu ihm, da er eine Antwort zu erwarten schien und setzte mich zu den beiden auf die Couch.

»Bella? Was genau trainierst du da eigentlich?«
Ich seufzte kurz und dann erzählte ich es.
»Carlisle hat mir Blutkonserven besorgt. Ich rieche an dem Blut und versuche meinen Durst zu kontrollieren, also dem Verlangen, das Blut zu trinken, zu widerstehen.«
»Und? Klappt es?«
»Bis jetzt ja. Wie du siehst, habe ich noch immer braune Augen.«

Jacob sah mir tief in die Augen und für einen Augenblick musste ich an die Zeit zurückdenken, als er noch um meine Liebe kämpfte. Doch sein Blick war nur prüfend, nicht verlangend.

»Na ja, fast braun, aber ich verstehe, was du meinst. Und du glaubst, das wäre auch gut für Nessie?«
Skepsis lag in seiner Stimme.
»Ich weiß es nicht, Jake. Ich will das mit der Familie noch besprechen, bevor wir etwas entscheiden. Aber was denkst du?«
Er dachte kurz nach. Wusste wohl nicht so recht, was er davon halten sollte.
»Wenn du es für das Richtige hältst und Nessie es will, dann werde ich damit schon klar kommen.«
»Danke Jake«, konnte ich noch kurz sagen, bevor Nessie ihm um den Hals fiel.


Die Stimmung hatte sich zum Glück nach einer Weile wieder gelockert. Renesmee ging mit Jacob nach draußen und vertrieb die düsteren Erinnerungen an den Albtraum durch unbesorgtes Herumtollen im Garten. Es war beruhigend zu sehen, dass sie sich so schnell auf andere Gedanken bringen konnte. Ihren Unterricht würden wir jedenfalls für heute ausfallen lassen. Außerdem hatte Jake es sich verdient, mal wieder einen ganzen Tag mit Renesmee alleine zu verbringen.

Mein Training ließ ich ebenfalls ausfallen. Solange wir nicht geklärt hatten, wie wir weiter vorgehen wollten, würde ich keinen Fuß in diesen Raum setzen.

Bis Carlisle von der Klinik zurück kam, versuchte auch ich mich etwas abzulenken und übte wieder das Klavierspiel mit Edward. So ähnlich schien es allen zu gehen. Rose bastelte wieder an meinem Audi herum, Alice beschäftigte sich mit ihrem Mode-Designer-Programm, Esme plante die Renovierung eines alten Bauernhauses und Emmett und Jasper spielten ihr merkwürdiges Schachspiel, das aus 6 Schachbrettern bestand.

Am Abend dann brachte ich Renesmee ins Bett. Trotz des späten Aufstehens war sie sehr müde, wirkte aber recht glücklich. Sie hatte einen schönen Tag mit Jacob und zeigte mir und Edward noch viele Bilder. Ihre Hand war dabei ganz ruhig an meiner Wange. Dann legte sie sich ins Bett und Edward und ich warteten noch in unserem Schlafzimmer, bis sie eingeschlafen war. Eine halbe Stunde später grinste Edward.
»Sie träumt davon, mit Jacob einen Dalmatiner zu jagen.«
Ich freute mich. Das hörte sich definitiv nicht nach Albtraum an.


Wir gingen wieder ins Haupthaus und riefen die Familie am Esstisch zusammen. Dann ergriff ich das Wort.
»Danke noch mal, euch allen, dass ihr gestern Nacht für Renesmee und mich da ward. Die Geborgenheit die ihr uns geschenkt habt, hat Renesmee und mir sehr geholfen.«
»Bella, mein Kind, wir sind eine Familie. Dafür musst du dich nicht bedanken«, meinte Esme und schenkte mir ihr gütiges Lächeln.
»Ich weiß Esme. Trotzdem Danke.«

Ich holte noch mal tief Luft, denn jetzt musste ich zum unangenehmen Teil kommen.
»Ihr wisst ja, was Renesmee gestern zu mir gesagt hat. Sie möchte mit mir trainieren. Es scheint ihr ernst damit zu sein. Sie hat auch Jake davon erzählt. Nun wüsste ich gerne, was ihr darüber denkt.«
»Denkst du nicht, dass sie schon genug gelitten hat?«, fuhr mich Rosalie an. »War der Albtraum denn noch nicht genug?«
»Rosalie«, fiel ihr Esme mit ihrer sanften Stimme ins Wort. »Das ist doch nicht Bellas Schuld. Wie hätte sie das wissen können?«
Einige Blicke richteten sich plötzlich auf Alice.
»Hey, seht nicht mich an. Ich kann nichts dafür. Ich kann Nessie nicht sehen, das wisst ihr doch. Ich habe nur Bellas Training gesehen, aber die Zukunft war zu verschwommen.«
»Trotzdem«, fuhr Rosalie zornig fort. »Ich finde, diese Schnapsidee mit dem Training sollte jetzt sofort ein Ende haben, bevor Nessie noch mehr leidet.«
»Du hast recht Rosalie. Als ich ihren Albtraum sah, wollte ich die Sache sofort fallen lassen, aber jetzt will Renesmee nicht nur, dass ich weitermache, sie will sogar mitmachen.«

»Was genau hat Nessie eigentlich geträumt?«, wollte Emmett wissen.
Stimmt ja, die anderen hatten den Traum ja nicht gesehen.
»Zuerst ging es darum«, erzählte ich, »dass sie dachte, ich würde Blutkonserven trinken und sie würde keine abbekommen. Darüber war sie sehr wütend. Sie wollte unbedingt auch das Menschenblut haben. Dann änderte sich ihr Traum. Charlie stieß sich den Kopf, Blut tropfte herunter und sie träumte, dass sie die Kontrolle über sich verloren und ihn getötet hätte. Danach war sie sehr betroffen und lief weg … und wurde am Ende im Traum selbst von Jacob getötet.«

Entsetzen war auf den Gesichtern in der Runde zu sehen.
»Und sie hat das Jacob gezeigt? «, frage Esme unsicher.
»Ja und er hat ihr natürlich gesagt, dass er das nie tun würde … aber jetzt will sie etwas unternehmen, dass so etwas nie passieren kann. Versteht ihr das? In ihrem Traum hat sich meine Furcht widergespiegelt. Vermutlich ist das alles meine Schuld und es tut mir furchtbar leid, aber ich kann das nicht mehr ändern.«
»Ich glaube nicht dass das deine Schuld ist«, erwidere Esme. »Sie hat einfach nur erkannt, dass sie das gleiche Verlangen nach menschlichem Blut hat wie du und will so wie du etwas dagegen unternehmen. Du bist schließlich ihre Mutter und ihr Vorbild.«

Rosalie schnaubte verächtlich und ich wandte mich an sie.
»Rosalie, ich wünschte Renesmee und ich hätten deine Selbstbeherrschung, aber die haben wir leider nicht.«
Rosalie sah mich überrascht an.
»Machst du dich jetzt über mich lustig?«, fragte sie mich mit funkelnden Augen.
»Nein, natürlich nicht. Ich meine das ernst. Du hast noch nie die Kontrolle über deinen Durst verloren, oder?«
Emmett grinste und fiel dazwischen.
»Das liegt aber daran, dass sie viel zu eitel ist, um sich mit dem Blut von unwürdigen Sterblichen zu bekleckern.«

Edward lachte mit ihm. Rosalie sprang wütend auf und ging demonstrativ mit erhobenem Kinn zur Tür.
»Bitte bleib«, rief ich ihr hinterher. »Es geht hier doch um Renesmee. Deine Meinung ist mir wichtig. Dir liegt doch auch so viel an ihr.«

Sie blieb neben der Couch stehen. Drehte sich aber nicht um. Emmett seufzte, ging zu ihr und setzte sich neben sie auf die Lehne der Couch.

»Rose, Herzblatt. Du weißt doch, dass ich einem guten Scherz einfach nicht widerstehen kann. Es tut mir leid.«
Er nahm ihre Hand und küsste sie. Es war kein förmlicher Handkuss, vielmehr küsste er jeden ihrer Finger. Dann sprach er weiter zu ihr.
»Du bist die schönste Vampirfrau auf der ganzen Welt und doch hast du mich gerettet und auserwählt, an deiner Seite weiterleben zu dürfen, obwohl ich nicht weiß, wie ich das verdient hatte, so wie ich damals aussah.«

Er kniete sich neben sie auf den Boden, noch immer ihre Hand haltend und blickte fragen in ihre Augen, als ob er ihr gleich einen Heiratsantrag machen wollte.

»Darf ich die Dame meines Herzens bitten, mir die Ehre zu erweisen und sich wieder zu uns an unseren Tisch zu setzen?«
Dabei legte er den Kopf schief und guckte wie ein treuer Hund und Rosalie verdrehte die Augen.
»Manchmal frage ich mich wirklich, warum ich dich gerettet habe«, sagte sie, zog ihn hoch, ging Hand in Hand mit ihm zurück an den Esstisch und setzte sich wieder neben mich.

Ich legte meine Hand auf ihre.
»Das ist es, was ich meine, Rose. Ich mache mich nicht über deine Wutausbrüche lustig. Ich bewundere, wie du einen blutüberströmten Fremden meilenweit zu Carlisle tragen konntest, um ihn zu retten.«
»Ja, o.k. ich hab es verstanden«, erwiderte sie knapp.

Ich nahm meine Hand wieder zurück und wandte mich an Alice.
»Was genau hast du in deiner Vision eigentlich gesehen?«
»Oh, das ist schwer zu beschreiben. Es veränderte sich anfangs ständig, aber nachdem Carlisle mit Esme gesprochen hatte, konnte ich immer das sehen, was du dann auch tatsächlich erlebt hast. Bis jetzt. Der Rest ist leider immer noch verschwommen. Ich sehe zwar, dass du trainierst, aber nicht genau wie und vor allem nicht, mit welchem Erfolg.«
»Ja, das ist mir klar«, sagte ich zu ihrer Überraschung.
»Warum ist dir das klar und mir nicht?«, fragte sie verwundert.
»Na ja, Renesmee will nicht, dass ich das Training abbreche, aber alles was ich jetzt entscheide, hängt von ihr ab und du kannst sie nicht sehen. Deshalb ist alles verschwommen für dich. Die Tatsache, dass du mich weitertrainieren siehst, sagt mir, dass es für mich und Renesmee einen Weg gibt.«
Alice war baff.
»Hey, das gibt es ja wohl nicht, dass du meine Visionen besser deuten kannst als ich.«
Emmett und Edward lachten. Alice streckte ihnen die Zunge heraus und verschränkte trotzig die Arme vor der Brust.

Ich wandte mich nun an Carlisle.
»Was denkst du? Was bedeutet das Training für Renesmee. Kann sie damit klarkommen?«
»Nun Bella, ich denke, dass es für Renesmee auf der einen Seite einfacher wird als für dich, weil ihr Durst als Halbvampir weniger stark ausgeprägt sein dürfte als deiner. Sie ging schließlich auch immer wieder jagen, obwohl Blutkonserven im Haus waren und war nie maßlos beim Trinken der Konserven. Andererseits kennt sie sehr wohl den Geschmack und die Wirkung des menschlichen Blutes und laut deiner Erzählung von ihrem Traum, war sie wütend, dass sie keine Blutkonserve bekommen hatte. Es wird ihr also auch nicht leicht fallen. Ich bin aber recht zuversichtlich, dass sie das schaffen kann. Schließlich sind ihre beiden Eltern sehr willensstark und das hat sie anscheinend von euch geerbt.«
»Du meinst also. Sie sollte mit mir trainieren?«
»Ich sehe Nichts, das dagegen spricht«, erwiderte Carlisle.
»Aber was, wenn sie … scheitert … und von dem Blut trinkt?«, wollte ich wissen.
»Dann Bella, wird sie höchstwahrscheinlich sehr enttäuscht und sauer auf sich selbst sein, aber eine solche Erfahrung wird ihr wohl nicht wirklich schaden.«

Ich war erleichtert. Wenn Carlisle dachte, dass Renesmee das Training nicht schaden würde, sondern sogar nützen könnte, dann würde ich mit ihr zusammen üben können. Ein bisschen freute ich mich sogar darauf.

»Dann bitte ich euch alle mir zu sagen, ob ihr dafür oder dagegen seid, dass Renesmee mit mir zusammen das Training aufnimmt.«

Der Reihe nach schaute ich in die Gesichter. Carlisle und Esme nickten sofort. Alice und Jasper zögerten kurz, nickten mir aber auch zu. Edward zog die Augenbrauen hoch und hatte einen halb leidenden Gesichtsausdruck aufgesetzt, nickte mir aber ebenfalls zu. Emmett gab ein “klar Baby” von sich. Rosalie zögerte noch und ich blicke sie weiter fragend an.

»Rosalie bitte, ich wünsche mir so sehr, dass du zustimmst und für Renesmee ist es sicherlich auch wichtig.«
Sie antwortete nicht sofort, doch dann stellte sie mir noch eine Frage.
»Weiß Jacob von deinem Plan?«
Wir alle waren überrascht. Seit wann interessierte es Rosalie, was Jacob dachte?
»Ja«, antwortete ich. »Nessie hat ihm erzählt, dass sie mit mir trainieren will und er hat mich gefragt, was ich mache. Ich habe ihm gesagt, dass ich mich dem Blutduft aussetze und mich darin übe, meinem Durst zu widerstehen. Er meinte, dass er damit klarkommt, wenn Nessie das auch will.«

Rosalie seufzte.
»Also gut, wenn selbst ein verliebter Köter damit klarkommt, kann ich wohl schlecht nein sagen.«
Allgemeines Gelächter brach in der Runde aus und Emmett gab ihr einen dicken Kuss auf die Wange.

»Carlisle?«, fragte ich noch abschließend. »Soll ich beim Training da weitermachen wo wir aufgehört haben und Renesmee einfach mit hinein nehmen und mir zusehen lassen?«
»Ja, ich denke das wäre ein guter Anfang. Wenn du bei deinem 5-Minuten-Ziel angekommen bist, kannst du es sie ja mal versuchen lassen.«
Ich nickte zustimmend. Damit wäre die weitere Vorgehensweise nun auch geklärt.

»Ach, da ist noch etwas, das ich euch erzählen muss«, fuhr ich fort. »Renesmee zeigte mir ihren Albtraum nicht in Bildern, so wie sie es sonst macht. Diesmal ließ sie einen Film ablaufen und transportierte dabei auch noch all ihre Gefühle. Das war wirklich außergewöhnlich. Ihre Hand vibrierte dabei an meiner Wange. Zunächst dachte ich, sie zittert einfach wegen des Traumes, aber heute Morgen hat sie das noch mal gemacht, mit positiven Gefühlen.«

Alle waren sehr überrascht über diese neue Erkenntnis.
»Carlisle, glaubst du, ihre Gabe hat sich verstärkt?«
»Nun Bella, es hört sich so an, nicht war. Wenn ich mich recht erinnere, hat sich deine Gabe auch verstärkt, als du großem Stress und Angst ausgesetzt warst. Womöglich ist das der Grund.«
»Dann sollten wir ihr mal richtig Angst machen«, meinte Emmett und lachte vor sich hin. »Dann sparen wir uns bald die Kinobesuche.«
»DU WAHNSINNIGER!«, brüllte Rosalie und warf ihn mit so großer Wucht vom Stuhl, dass er quer durch den Raum flog und - immer noch lachend - gegen die Wand krachte.
»Ach komm schon Rosy, der war gut.«
Doch er erntete nur von allen ein Kopfschütteln, wenn auch von manchen recht amüsiert.


Nach der Familienkonferenz gingen wir wieder auseinander und Edward mit mir in unser Häuschen. Ich würde tatsächlich mit meiner Tochter zusammen trainieren. Sollte ich mich darauf freuen, oder mich davor fürchten? Irgendwie war beides der Fall. Ich teilte in der Nacht meine Gedanken mit Edward und er bestätigte mir, dass es ihm ähnlich ging, wenn auch mit einer deutlich größeren Portion Besorgnis. Letztlich sahen wir es aber so wie Carlisle, dass es ihr wohl nicht wirklich schaden könnte, selbst wenn es nicht klappen würde.


Als wir am nächsten Morgen das Haus verließen, wurde es überdeutlich, dass der Herbst nun definitiv Einzug gehalten hatte. Nebelschwaden lagen in der Luft und das Laub hatte angefangen sich zu verfärben.

Nessie, Edward, Jacob und ich gingen gemeinsam auf die Jagd. So wie Carlisle bei mir, wollte auch ich bei Renesmee sichergehen, dass sie wirklich satt war, bevor wir das Training angingen. Wir rannten also in den nahe gelegenen Olympic National Park. Jacob hatte dafür gesorgt, dass uns niemand aus den beiden Rudeln bei unserem Ausflug stören würde. Edward hatte aber wie immer darauf bestanden, das Gebiet vorher nach Wanderern abzusuchen.

Als Beute hatten ich zwei Rotluchse und Nessie ein riesiges Wapiti, an dem sich dann auch Jake in Wolfsgestalt satt gefressen hatte. Es war schon merkwürdig mit anzusehen, wie ein äußerlich vielleicht 6 jähriges Mädchen von zierlicher Statur, mit wehenden bronzefarbenen Locken und schokoladenbraunen Augen, einem ausgewachsenen riesigen Hirsch an die Kehle sprang und ihn zu Boden warf.

Edward selbst hatte sich an der Jagd nicht beteiligt. Er beobachtete nur das witzige Schauspiel und betätigte sich als Aufpasser. Vielleicht wollte er aber auch nur jede Sekunde des fröhlichen Beisammenseins auskosten. Er war wie immer besorgt, viel zu besorgt, was das bevorstehende Training von Renesmee und mir anging. Eine Sorge, die auch Jake zu teilen schien, denn die beiden hatten einige vielsagende Blickwechsel.

Nach der Jagd rannten wir wieder nach Hause, Nessie auf dem Rücken von Jacob, der sich gerne als Reittier benutzen ließ.


Zu Hause angekommen verabschiedeten wir uns von Jacob. Renesmee ergriff meine Hand und drängte in Richtung Übungsraum. Sie lächelte mich breit an und schien sich wahrhaftig zu freuen. Konnte das wirklich sein, dass sie mit lauter Vorfreude in die “Folterkammer” gehen wollte? Unsicher schaute ich Edward an und da war tatsächlich ein Lächeln auf seinem Gesicht. Renesmees Gedanken hatten ihn zum Lächeln gebracht.

Vor der Tür wandte ich mich an Renesmee.
»Bist du bereit, Sternchen?«
»Sternchen?«, wiederholte sie verdutzt, aber noch immer lächelnd.
»Ähm, ja. Ich dachte, der Kosename passt super zu dir. Magst du ihn?«
»Ja, Momma. Der ist schön.«
Ich freute mich, dass er ihr gefiel, nahm sie auf den Arm und drückte und küsste sie.
»Also, wollen wir?«
Sie nickte.
»Gut. Wenn wir da jetzt hinein gehen, wirst du gleich mit einem leichten Blutgeruch konfrontiert werden. Versuche einfach ruhig zu bleiben. Ich zeige dir dann alles.«
»o.k. Momma.«
»Ich werde hier auf euch warten«, sagte Edward und gab mir einen Kuss auf die Wange und Renesmee auf den Kopf.
»Und ich werde euch ein bisschen zusehen«, ergänzte er mit einem schiefen Lächeln.

Renesmee grinste mich an und ich löste mich schweren Herzens von meinem schmachtenden Blick auf Edward. Dann öffnete die Tür und wir gingen hinein. Ich zeigte ihr den Knopf für die Entlüftungsanlage, die Schiebetür, die Einrichtung und vor allem die vier Schilder, die Alice für mich dort angebracht hatte. Es lag tatsächlich der gleiche kalte Blutduft wie beim letzten Mal in der Luft. Ich fand ihn aber gar nicht so schlimm und auch Renesmee kam erstaunlich gut damit klar. Carlisle hatte wohl recht. Ihr Durst war nicht ganz so stark wie meiner.

»Spürst du ein Brennen in Hals, Liebling?«
»Hmm, nur ganz leicht. Ist nicht weiter schlimm, Momma. Und bei dir?«
»Auch noch nicht. Ein etwas stärkeres Kribbeln vielleicht. Es wird aber stärker werden, wenn ich eine Konserve aufmache.«
Renesmee nickte mir zu.
»Setz’ dich doch dort auf den Stuhl«, sagte ich zu ihr.
Dann fiel mir auf, dass dort jetzt zwei Stühle standen. Offensichtlich hatte Esme einen Stuhl dazu gestellt, nachdem wir entschieden hatten, dass das Training zu Zweit fortgesetzt würde. Daher ergänzte ich noch schnell:
»Such’ dir einen aus.«

Sie setzte sich auf einen Stuhl und sah mir zu, wie ich zuerst die Schüssel aus der Spüle nahm und auf den Tisch stellte und wie ich dann zum Kühlschrank ging und ihn öffnete. Er war praktisch immer noch voll von Blutkonserven. Ich schaute zu Renesmee und bemerkte, dass ihre Augen größer wurden.

»Alles in Ordnung, Liebling?«, fragte ich besorgt.
»Ja Momma, ich hatte nur nicht gedacht, dass hier so viele Getränkebeutel sind.«
Sie grinste mich verschmitzt an und auch ich musste schmunzeln. Mein kleiner Schatz hatte mich doch tatsächlich reingelegt.

Ich ging zum Tisch und vergewisserte mich noch mal, dass Renesmee auf das Öffnen des Behälters vorbereitet war.
»Bereit Schatz?«
»Bereit Momma!«, antwortete sie voller Überzeugung.

Ganz langsam öffnete ich den Behälter und goss den Inhalt vorsichtig in die Schüssel. Wieder strömte der Blutduft mir entgegen. Ich war so auf meine Tochter konzentriert, dass ich kurz überrascht wurde und die Luft anhalten musste. Meine Kehle brannte stärker und meine Instinkte klopften wieder an und wollten das Kommando übernehmen, doch ich widerstand dem Drängen. Ich blickte auch zu Renesmee. Sie hatte die Nase nach oben gereckt und schnüffelte, blieb aber auf ihrem Stuhl sitzen. Sie machte das wirklich gut. Ich wusste noch, wie ich beim ersten Versuch mit meinen Instinkten zu kämpfen hatte und gleich vor der Schüssel stand. Diese Erinnerung half mir, meine Selbstkontrolle zu verstärken und wieder ruhig zu atmen.

»Alles klar Schatz?«
»Ja Momma. Das riecht wirklich lecker.«
»Und wie geht es jetzt deinem Hals?«
»Brennt etwas, ist aber nicht so schlimm. Und bei dir?«
»Meiner brennt schon ziemlich, aber es geht.«
Mit dem leeren Behälter ging ich zum Mülleimer.
»Aufgepasst Liebling. Wenn ich den Deckel anhebe, dann kommt da wieder ein Blutduft heraus.«

Sie nickte voller Erwartung, den Kopf mir zugewandt. Ich öffnete den Deckel des Mülleimers übertrieben vorsichtig und legte die leer Konserve hinein. Der Blutgeruch war allerdings diesmal alles andere als lecker.

»Puh, das stinkt«, sagte Renesmee.
Offensichtlich hatten die letzten Blutreste der ersten Konserve bereits angefangen zu verderben.
»Ja, ist echt eklig. Wir sollten vielleicht später den Müll mit hinaus nehmen.«
Sie nickte mir zustimmend zu.

Ich setzte mich neben sie und drückte den Knopf der Stoppuhr.
»Und jetzt Momma?«
»Jetzt bleiben wir 15 Minuten lang hier drin und versuchen einfach unseren Durst zu ignorieren.«
»Ist aber ein bisschen langweilig«, sagte sie und grinste mich an.
“Das wird ja immer besser”, dachte ich.
»Sag mal, machst du dich über mich lustig, Renesmee?«
»Nöö, gar nicht. Ich meine, das riecht hier wirklich lecker. Aber 15 Minuten einfach nur sitzen und nichts tun, ist schon ein bisschen langweilig. Findest du nicht?«
»Na ja, für mich war es die letzten beiden Male recht anstrengend, mich darauf zu konzentrieren, nichts zu tun. Dir macht das echt nichts aus?«
»Bis jetzt nicht so sehr. Ich würde das schon gerne trinken, ehrlich, aber wir wollen das ja nicht.«

Ich schaute ihr in ihre wunderschönen schokoladenbraunen Augen, die mich so sehr an meine früheren erinnerten und war mächtig stolz auf ihre Selbstkontrolle. Carlisle hatte offensichtlich nicht zu viel von ihr erwartet. Dann hatte ich eine Idee.

»Wollen wir Daddy mal kurz ärgern?«, frage ich und sie grinste mich erwartungsvoll an.
Dann konzentrierte ich mich auf meinen Schild und dehnte ihn auf Renesmee aus. Es dauerte nur Sekunden und Edward hämmerte an die Tür.
»Bella! Du machst mich wahnsinnig. Hör sofort auf damit!«

Wir mussten laut lachen, wobei die schnellere Atmung den Durst verstärke. Das merkten wir beide, also versuchten wir uns wieder zu beruhigen und zu konzentrieren. Ich ließ den Schild um sie wieder fallen und versuchte danach meinen eigenen Schild wegzudrücken und dachte “sei nicht so ein Spielverderber.”

»Sehr witzig!«, brüllte Edward von draußen.
Wieder mussten wir kurz lachen, besannen uns aber gleich wieder auf unser Vorhaben und versuchte uns wieder zu beruhigen. Ab und zu kicherten wir noch scheinbar grundlos. Das war absolut der witzigste Aufenthalt, den ich bis jetzt in der Folterkammer hatte. Ich hoffte sehr, dass diese gelöste Stimmung uns das Training in den kommenden Wochen angenehmer machen würde. Vielleicht wäre das sogar ein Rettungsanker, wenn es mal ernst werden könnte.


Die Zeit schien mir mit Renesmee sogar schneller zu vergehen. Es waren bereit 18 Minuten vergangen, bis ich das nächste mal auf die Stoppuhr sah.

»Oh, die Zeit ist ja abgelaufen. Jetzt sollten wir aber aufräumen«, sagte ich zu ihr. »Ich werde die Schüssel nehmen und in den Ausguss gießen. Pass auf, denn dabei wird der Blutduft wieder stärker.«

Renesmee nickte mir wieder zu. Ihr Blick war gespannt. Ich nahm die Schüssel und bewegte mich vorsichtig zur Spüle. Das leichte schwappen erhöhte wieder etwas den Blutduft, aber darauf war ich vorbereitet. Langsam neigte ich die Schüssel zum Abfluss hin und konzentrierte mich darauf, die Kontrolle zu behalten, denn mein Durst war etwas stärker geworden.

Plötzlich spürte ich Renesmees Hand an meinem Ellenbogen, die mich leicht zurückzog. Kurz erschrocken blickte ich zu ihr. Hinter ihr fiel der Stuhl um, auf dem sie gesessen hatte. Sie musste sehr schnell aufgesprungen sein.

»Ich würde das wirklich, wirklich gerne trinken Momma«, sagte sie zu mir und schaute mich bettelnd an.
Ihr Atem ging sehr schnell. Auch ihr Herzschlag schien sich beschleunigt zu haben. Was sollte ich jetzt tun? Zunächst blieb ich still stehen. Ich wollte sie nicht verunsichern. Ich dachte nach und stellte dabei überraschender Weise fest, dass mein Durst im Augenblick für mich völlig unbedeutend geworden war. Ich spürte das Brennen in der Kehle noch, nahm es aber nicht wirklich war. Ich dachte darüber nach, wie ich ihr helfen könnte. Was hatte Carlisle beim ersten Mal zu mir gesagt?

»Weißt du, warum du hier bist?«
Renesmee blickte mich fragend an, wobei das Betteln noch nicht aus ihren Augen verschwunden war. Sie sagte nichts.
»Liebling, warum bist du hier?«, wiederholte ich nach einigen Augenblicken die Frage.

Sie wirkte irritiert. Schaute schnell um sich. Ich merkte wie ihr Blick versuchte den ganzen Raum zu erfassen. Ging es ihr jetzt so wie mir bei meinem ersten Training?
Plötzlich sah sie mir wieder in die Augen.
»Ich bin hier um meine Lust auf das Blut zu kontrollieren?«
Das war zwar mehr eine Frage als eine Antwort, aber sie war auf dem richtigen Weg.
»Ja Schatz, genau deshalb.«
»Aber ich …«

Wieder schaute sie um sich und taxierte die Umgebung. Ihr Blick blieb am letzten Schild hängen, mit der Botschaft, die auch mir so sehr geholfen hatte “Ich will die Kontrolle über mich behalten.” Ich werde Alice dafür noch mal danken müssen. Dann bemerkte ich, wie sie ihre Augen schloss. Ihr Atem wurde langsamer, ihr Herzschlag normalisierte sich wieder.

»Es ist schwer Momma. Ich weiß, dass ich das nicht trinken soll, aber ich möchte es so sehr.«
Oh je, sie tat mir so leid in ihrer inneren Zerrissenheit.
»Du sagst, dass du es nicht trinken sollst. Das stimmt nicht ganz, Sternchen. Weißt und noch, warum du es nicht trinken willst?«

Wieder blickte sie mir fragend in die Augen. Sie brauchte eine Weile und schien angestrengt nachzudenken. Sie machte einen etwas verzweifelten Eindruck.
»Ich weiß, dass ich es eigentlich nicht will. Aber nicht so genau warum. Es ist doch so lecker.«
Wieder ging ihre Atmung und ihr Herzschlag etwas schneller.

Das war hart. So hart. Ich sah ihre Verzweiflung, kannte selbst die Lösung, doch sollte ich sie ihr sagen? Wäre es nicht besser, sie würde selbst darauf kommen? Sollte ich sie vielleicht an ihren Albtraum erinnern? Aber wenn ich ihre jetzt helfen würde, wäre das dann auch wirklich eine Hilfe? Nein, ich musste ihr Zeit geben, wie viel sie auch brauchte.

»Liebling, denke in Ruhe nach. Du kannst dir soviel Zeit nehmen wie du willst. Ich werde nichts tun, bis du bereit bist. Ich verspreche es dir.«

Ich rührte mich nicht und beobachtete sie. Immer und immer wieder huschte ihr Blick von der Schüssel zu mir, zu den vier Tafeln an den Wänden und wieder zur Schüssel. Es ging Minutenlang so weiter, doch dann schloss sie wieder die Augen und beruhigte ihre Atmung und ihren Herzschlag.

“Oh bitte, hoffentlich hat sie es jetzt geschafft”, flehte ich im Gedanken.
»Momma, ich glaube ich weiß jetzt, warum ich das nicht trinken wollen will.«
Ich blickte sie fragend und hoffend an.
»Weil ich glaube, dass das hilft, dass ich Opa Charlie nicht weh tun werde.«
Sie schien um die richtigen Worte ringen zu müssen, aber ich hatte den Eindruck, dass sie es jetzt wusste.
»Und, Schatz, wie geht es jetzt weiter?«

Wieder überlegte sie eine Weile bevor sie sprach.
»Ich setzte mich vielleicht besser wieder hin und du schüttest das Zeug weg.«
»Ja, genau so machen wir es.«
Ich war sehr erleichtert und lächelte sie an.
»Setz’ dich einfach auf den freien Stuhl. Und wenn es zu schwer für dich wird, dann sieh nicht hin, wie ich es wegschütte und halte kurz die Luft an.«

Langsam löste sich ihre Hand von meinem Ellenbogen. Sie ging fast behutsam zurück und setzte sich vorsichtig auf den Stuhl. Gebannt ruhten ihre Augen auf mir.
»Willst du wirklich zusehen?«, fragte ich sie.
Sie seufzte schwer.
»Ich glaube, das sollte ich, Momma.«
»Also gut Liebling. Es geht los.«

Vorsichtig neigte ich die Schüssel wieder zum Ausguss. Das Blut schwappte über den Rand und ergoss sich in einem schmalen Strahl in den Siphon. Blutduft schlug mir ins Gesicht doch meine Gedanken waren nur bei Renesmee. Er störte mich nicht im Geringsten in meiner Konzentration.

Renesmee schlug sich die Hände vor die Augen. Ihre Atem- und Herzfrequenz stieg wieder, doch sie blieb sitzen und beherrschte sich.

Zum Abschluss spülte ich die Schüssel wieder aus, nahm noch schnell aus dem Mülleimer die Tüte heraus, verknotete sie und suchte kurz im Schrank nach einer neuen, um sie in den Mülleimer zu legen. Nessie beobachtete mich dabei durch die kleinen Sehschlitze zwischen den Fingern vor ihren Augen.

»So, fertig Schatz«, sagte ich zu ihr und lächelte sie stolz an.
Sie hatte es geschafft. Sie hatte wie ich schwer zu kämpfen, aber hatte es auch geschafft. Ich fand sogar, dass sie es ein bisschen besser als ich gemacht hatte. In jedem Fall war der Stuhl noch heil.

Renesmee nahm langsam die Hände von den Augen und stand vorsichtig auf. Sie wirkte erleichtert, aber auch ein bisschen enttäuscht von sich. Unsicher schaute sie mich an. Ich ging zu ihr und nahm sie auf den Arm.

»Das hast du richtig toll gemacht, Sternchen«, lobte ich sie und gab ihr einen Kuss auf die Wange.
»Wirklich?«, fragte sie unsicher.
»Ja klar«, bestätigte ich ihr. »Als es am schwersten war, hast du es geschafft dich wieder zu konzentrieren und zu beruhigen und wir haben das gemacht, weshalb wir hergekommen sind.«

Sie lächelte etwas erleichtert, schien aber noch nicht restlos von mir überzeugt.
»Außerdem«, fuhr ich fort, »hast du den Stuhl ganz gelassen.«
Sie blickte mich fragend an.
»Weißt du, bei meinem ersten Training habe ich die Armlehnen von dem Stuhl abgebrochen.«
»Echt?«
Sie musste kichern. Sie schien jetzt wirklich erleichtert zu sein.
»Ja echt. Ich bin wirklich stolz auf dich. Komm, lass uns gehen.«

Sie nickte zustimmend. Ich nahm den Müllsack in die freie Hand und ging mit ihr zur Schleuse. Sie beugte sich auf meinem Arm nach vorne, um die Schiebetür zu öffnen und schloss sie wieder, nachdem wir durch waren. Dann blickte sie mich fragend an und zeigte zum Belüftungs-Schalter. Ich nickte und sie drückte darauf. Als die Anlage kurz lauter wurde und ihre langen bronzefarbenen Locken mit der Luft nach oben gezogen wurden, lachte sie wieder. Anschließend öffnete sie die Tür und wir gingen nach draußen.

Edward erwartete uns schon. Mit einem freudigen Lächeln schloss er uns in die Arme. Ich ließ den Müllbeutel fallen, um seine Umarmung erwidern zu können.
»Ich bin mächtig stolz auf euch«, sagte er.
»Vor allem auf dich Engelchen«, meinte er zu Renesmee und küsste sie auf den Kopf.
»Und du«, fuhr er zu mir fort, »hast das wirklich toll gemacht. Du warst wie Carlisle. Ich hätte zu gerne deine Gedanken gelesen. … Apropos Gedankenlesen. Mach das ja nicht noch mal mit dem Abschirmen, hörst du? Ich bin hier halb verzweifelt.«

Meine Kleine und ich kicherten, aber auch Edward hatte ein entspanntes lächeln auf dem Gesicht. Dann bemerkten wir Jake, der gerade aus dem Wald heraus trat.
»Na das hört sich ja so an, als wäre alles glatt gegangen.«
Renesmee sprang von meinem Arm herunter und rannte zu ihm, um auf seinen Arm zu hüpfen.
»Momma hat gesagt, dass ich richtig gut war«, und dann flüsterte sie noch: »Sie hat beim ersten mal sogar einen Stuhl kaputt gemacht, aber bei mir ist alles heil geblieben.«
Jake lachte laut und wir alle stimmten mit ein.


Ich brachte noch den Müll weg, rief Renesmee wieder zu mir und ging mir ihr duschen. Anschließend zogen wir uns frische Sachen an und rannten zum Haupthaus. Sie konnte kaum erwarten, jedem einzelnen einen Bericht ihres erstens Trainings zu liefern. Edward und ich standen Arm in Arm hinter ihr und waren mächtig stolz auf unsere tapfere kleine Heldin. Vor allem Rosalie war sehr erleichtert, dass der erste Trainingsbericht so positiv ausfiel. Jasper schien ernsthaft schwer beeindruckt zu sein. Er tat mir sehr leid, als ich kurz dachte, wie er sich dabei wohl fühlen musste. Zum Glück bemerkte er meine Stimmung nicht, da er sich voll auf die glückliche Renesmee konzentrierte. Ich nutzte die Chance, um mich schnell abzulenken.

Edward erzählte dann noch Carlisle und Esme wie toll ich mich verhalten hätte, was mir richtig peinlich war. Alice zwinkerte mir grinsend zu, als sie das mitbekam. Esme nahm mich mit den Worten »gut gemacht« in den Arm und Carlisle klopfte mir auf die Schulter.

»o.k. o.k. noch mehr Lob vertrage ich nicht«, wehrte ich mich und alle um mich herum lachten.
»Außerdem«, fuhr ich fort, »müsst ihr auch Alice loben. Die Schilder haben Nessie genauso viel geholfen wie mir.«
Alice freute sich sehr darüber, dass etwas, das für mich gedacht war, auch Renesmee geholfen hatte. Das konnte sie ja nicht wissen und gerade deshalb machte sie das besonders glücklich.


In der positiven Stimmung, in der sich alle befanden, ging auch der Tag zu Ende. Edward und ich brachten Renesmee zu Bett, sie schenkte mir noch mal die schönsten Bilder des vergangenen Tages und legte sich dann zufrieden und erschöpft schlafen. Auch ich ging mit Edward zu Bett.

Ich legte mich neben ihn und versuchte ihn verführerisch anzulächeln. Dann drückte ich wieder meinen Schild weg, sah ihm tief in seine goldbraunen Augen und dachte intensiv: “Eine kleine Entschädigung für meinen Streich von vorhin.” Dann streichelte ich mit der Hand seine nackte Brust, küsste ihn leidenschaftlich und versuchte meinen Schild so lange es ging weggedrückt zu halten.


Der nächste Morgen begann wieder mit einem Sonnenstrahl, der in unser Schlafzimmer fiel. Ich nutzte gerne die Gelegenheit, das Farbspiel meiner Hand und meines Ringes zu betrachten und dachte noch mal an die vergangene Nacht. Ich war sehr glücklich, dass ich es diesmal viel länger als sonst geschafft hatte, meinen Schild weggedrückt zu halten. Es war eine wundervolle Nacht. Ein Liebesspiel, bei dem er genau auf jede meiner Empfindungen reagiert und mich sprichwörtlich verwöhnt hatte. Edward schien es ähnlich zu gehen. Er lächelte mich verträumt mit seinem hinreißenden schiefen Lächeln an. Dann gab er mir einen Kuss und meinte

»Diese Nacht hat es definitiv verdient, in die Top 10 aufgenommen zu werden.«
Ein zufriedener Seufzer kam über meine Lippen. Mein Glück war wieder einmal vollkommen.


Der neue Tag, wie auch die folgenden liefen alle nach einem ähnlichen Schema ab. Jeden dritten Tag machte Renesmee, Jacob, Edward und ich einen kurzen Jagdausflug, um uns für das Training zu stärken. Die erste Woche verlief genauso wie der erste Trainingstag, mit dem Unterschied, dass Renesmee nicht noch mal die Beherrschung verlor. Wir übten dabei auch gelegentlich unsere Talente. Renesmee zeigte mir Bilder und ich schirmte sie dabei vor Edward ab. Ihm gefiel das ganz und gar nicht, aber er akzeptierte, dass wir dies zum Teil unseres Trainings gemacht hatten.

Das Training ließen wir immer Nachmittags stattfinden. An den jagdfreien Vormittagen befolgte Renesmee ihren Lehrplan, während ich mich mit Edward um ein besseres Klavierspiel bemühte oder auch mal mit Alice Online-Schoppen ging. Hin und wieder besuchte uns mein Dad oder ich telefonierte mit ihm. Außerdem schrieb ich regelmäßig E-Mails an meine Mom. Am Abend war dann an den Jagdtagen die Familie zusammen und an den anderen war Renesmee mit Jacob unterwegs.

Die zweite Woche war anfangs wieder spannender. Diesmal versuchte Renesmee die Vorbereitungen zu treffen. Ihr fiel es wie mir beim ersten Mal auch sehr schwer. Sie musste öfters innehalten, um sich wieder zu beruhigen und zu konzentrieren. Beim Wegschütten gab sie dann auf. Sie war enttäuscht von sich, dass sie es nicht geschafft hatte und dass ich das übernehmen musste. Dafür erntete sie sehr viel Trost von allen. Sie musste es an den nächsten Tagen noch zweimal abbrechen, bis sie es dann am vierten Tag endlich schaffte.


Bis zum Ende der vierten Woche schafften wir dann beide die Vorbereitung und das Wegräumen locker in 5 Minuten. Ich sprach daher mit Carlisle über den Wechsel in “Phase 3”.

Carlisle ging mit Renesmee, mir und Edward, der es sich nicht nehmen ließ dabei zu sein, in den Trainingsraum, um die weitere Vorgehensweise zu besprechen.

»In Phase 3«, begann er, »werden wir den Blutduft verstärken. Dazu werden wir die Raumtemperatur erhöhen und das Blut auf etwa 36/37 Grad Celsius, also menschliche Körpertemperatur, erwärmen. Außerdem kommt das Blut jetzt in einen breite und flache Glasschüssel. Dadurch wird die Oberfläche erhöht und der Plastikgeruch verringert. Ihr nehmt jetzt auch immer zwei Konserven. Das wird eine starke Umstellung für euch werden.«

Renesmee und ich blickten uns in die Augen, als wollten wir uns gegenseitig Mut machen.
»Wie genau funktioniert das mit dem Erwärmen, Carlisle?«, fragte ich.

Er holte die bereits erwähnte breite Glasschüssel aus dem Schrank und ein technisches Gerät, das einer rechteckigen Herdplatte ähnelte und genau darunter passte. Das Gerät schloss er an eine Steckdose an, die im Fußboden unter dem Tisch angebracht war.

»Das ist eine Wärmeplatte mit Thermostat«, erklärte er. »Hier stellt man die Temperatur ein«, er stellte sie auf 36,5 Grad, »und hier wird sie eingeschaltet. Der Schalter auf der Rückseite und ein kleines Lämpchen auf der Vorderseite leuchteten rot auf. Es wird etwa 20 Minuten dauern, bis das Blut aus zwei Konserven die gewünschte Temperatur hat. Wenn es soweit ist, geht dieses Licht aus. Dann aktiviert ihr einfach die Stoppuhr wie gewohnt. Insgesamt solltet ihr also ab sofort etwa 35 Minuten dabei bleiben, plus die als Ziel angestrebten 5 Minuten für den Auf- und Abbau.«
Abschließend schaltete er das Gerät wieder aus.

Renesmee und ich legten uns demonstrativ gegenseitig jeweils einen Arm um. Zusammen würden wir das schon schaffen.
»Habt ihr Fragen?«
»Ja ich hab’ eine«, sagte Edward mit finsterem Blick. »Findest du nicht, dass das ein ziemlich heftiger Sprung ist?«
Ich hatte das zwar auch kurz gedacht, aber wollte es nicht sagen, doch Edward war mal wieder viel zu besorgt.
»Ja, ist es Edward. Aber du hast doch Vertrauen in die beiden, oder?«
Eine fiese Gegenfrage. Wie sollte er da “nein” sagen können.

Edward schnaubte.
»Carlisle, das ist nicht fair. Ich vertraue den beiden, aber ich liebe sie auch und das kommt mir doch wahrlich sehr extrem vor.«
»Edward«, sprach Carlisle ihn mit einem gütigen Lächeln auf den Lippen an. »Denkst du etwa, ich würde sie nicht lieben? Das hier ist ein wichtiger Schritt auf ihr Ziel zu. Wenn sie das schaffen, haben sie die Hälfte hinter sich. Die andere Hälfte wird nicht einfacher, aber es ist ein wichtiger Meilenstein.«

Dann wandte er sich an uns.
»Und ihr beide denkt daran. Wenn es für eine von euch zu schlimm wird. Dann sagt es der anderen und verlasst einfach zusammen vorzeitig den Raum. Mit falschem Heldenmut ist niemandem gedient. Ihr könnt euch, wenn nötig, Monate dafür Zeitlassen, bis ihr diese Phase absolviert. Es besteht überhaupt kein Grund zur Eile.«

Das schien Edward dann etwas zu beruhigen und er schaute uns mahnend an, als hätten Carlisles Worte noch Unterstützung benötigt.
»Also gut Edward, dann lass uns nach draußen gehen. Die Damen haben einen Aufgabe zu erledigen.«
Er klopfte Edward auf die Schulter und schob ihn mit sanftem Druck zur Tür hinaus.


Hier standen wir nun und holten noch einmal tief Luft, um uns Mut zu machen. Dann sprach Renesmee mich an.
»Lass es uns versuchen Momma. Ich schalte das Ding da ein und du holst zwei Getränkepäckchen aus dem Kühlschrank.«
Sie fand den Scherz wohl immer noch komisch, aber ich war zu angespannt, um darüber lachen zu können.
»Machen wir es zusammen?«, fragte sie mich und hielt mir einen Hand entgegen, um mir eine Konserve abzunehmen.

Ich nickte stumm und gab ihr eine. Vorsichtig wie immer öffneten wir die Konserven und gossen den Inhalt langsam in die breite Glasschüssel. Der Geruch war wirklich sofort um einiges stärker. Carlisle hatte bezüglich der Wirkung der größeren Oberfläche nicht zu viel versprochen. Der Duft war auch wesentlich köstlicher. Mein Hals fing sofort an heftiger zu brennen. Ich weigerte mich aber, die Luft anzuhalten, weil Renesmee das schließlich auch nicht so einfach konnte, ohne dass sie hinterher noch stärker atmen müsste. Ihren Augen konnte ich deutlich ansehen, dass auch sie mit ihrem Verlangen nach dem Blut kämpfen musste. Mir war klar, dass dieses Training sehr hart werden würde und es hatte gerade erst begonnen.

Langsam gingen wir zum Mülleimer und legten die leeren Behälter hinein. Danach setzten wir uns und blickten gespannt auf die Schüssel und das rote Lämpchen.

Außer dem sehr köstlichen Blutduft lag auch spürbar die Anspannung in der Luft. Wir bewegten uns praktisch nicht. Wie hypnotisiert starrte ich minutenlang auf das Lämpchen. Unbeweglich, starr und fixiert. Dann plötzlich ging das Licht aus und ich zuckte unweigerlich kurz zusammen.

Der inzwischen auch noch warme Blutduft war noch um ein vielfaches köstlicher. Meine Kehle brannte stärker als jemals zuvor in unserem Training. Ich versuchte mich zu erinnern, wie es damals bei dem Jungen war.

“Nein” stellte ich gedanklich fest. “So stark wie damals war es bei weitem nicht.”

Ich schöpfte neuen Mut aus dieser Feststellung. Eigentlich sollte ich dem widerstehen können, dennoch war ich verwirrt. Eine Frage rauschte durch meinen Verstand. Was sollte ich noch mal machen, wenn das rote Licht ausging?

Vor draußen hörte ich Stimmen, die mich aus meinen Gedanken rissen. Es war Edward, der Carlisle anbrüllte.
»Carlisle, brich das ab. Das ist unverantwortlich!«
Und dann
»Edward, mein Sohn, versteht doch, die beiden müssen von sich aus entscheiden.«
»Ich kann das nicht zulassen. Meine Tochter leidet!«

“RENESMEE!”, durchzuckte es mich und ich blickte zu ihr. Sie saß noch immer neben mir, hatte sich nicht gerührt. Ihre Augen waren geweitet. Sie zitterte leicht.

»Liebling, geht es dir gut?«, fragte ich unsicher.
Eine blöde Frage. Ich sah ihr an, dass es ihr nicht gut ging. Sie rührte sich noch immer nicht. Ich ergriff vorsichtig ihre zitternde Hand. Augenblicklich rauschte ein blitzschnelles Kribbeln durch meine Hand, den Arm hinauf, durch die Schulter, über meinen Nacken in meinen Kopf und ich sah einen Film ablaufen. Es war der gleiche Raum, nur die Perspektive etwas verschoben. Das war ihre Perspektive. Sie zeigte mir, was sie gerade sah. Doch es war anders als aus meiner Sicht. Immer wieder schob sich ein Rotfilter über den Raum. War das eine Art Albtraum? Ich spürte ihren Willen, wie sie mit aller Kraft versuchte das Rot wegzudrücken, doch es kam immer wieder zurück. Panik machte sich in ihr breit. Dann fiel mir auf, dass der Rotfilter anders war, als in ihrem Albtraum. Wenn das Rot stärker wurde, veränderte sich der Raum. Die Konturen wurden stärker. Alles wurde deutlicher. Jedes Staubkorn wurde hervorgehoben.

“Das ist ihr Jagdmodus!”, erkannte ich plötzlich.

Dann überlagerte sich der aktuelle Film mit Bildern aus ihrer Erinnerung. Sie zeigten mich, wie ich Renesmee nach ihrem Albtraum zu Jasper getragen hatte. Da wurde mir schlagartig klar, dass sie meine Hilfe braucht.

Vergessen war das Brennen in der Kehle. Vergessen das Verlangen nach dem Blut. Ich kniete mich vor sie, sah ihr in die Augen, doch ihr starrer Blick schien durch mich hindurch zu gehen. Endlich bemerkte ich eine leichte Veränderung ihrer Pupillen. Sie erkannte mich.

»Liebling, soll ich dich hier raus bringen?«
Sie nickte kaum merklich.
Sofort zog ich sie auf meinen Arm und sie vergrub ihr Gesicht in meiner Achsel, als würde sie versuchen, mein T-Shirt als Mundschutz zu verwenden. Doch das war sinnlos. Der Blutduft hatte sich überall festgesetzt. Also rannte ich los, riss die Schiebetür auf, drückte den Entlüftungsknopf, schloss die Schiebetür noch bevor die Anlage gestartet war, wartete drei unendlich lange Sekunden und ging mit meinem noch leicht zitternden kleinen Mädchen nach draußen.

Edward redete immer noch auf Carlisle ein. Er schrie fast. Ich war wütend, dass er es wagte, so mit Carlisle, seinem Vater, zu sprechen. Carlisle hatte nichts falsch gemacht und Edward war ungerecht zu ihm. Die Wut in mir wurde von dem Brennen in der Kehle und dem ungestillten Durst, die ich beide jetzt wieder stärker wahrnahm, noch weiter gesteigert. Ich griff zu Edwards Kopf und riss sein Gesicht zu mir herum. In seine wütende Miene mischte sich Verwirrung.

»EDWARD!«, fauchte ich.
Das Wort wurde von einem Knurren aus meiner Kehle begleitet. Es fiel mir schwer zu sprechen.
»HÖR .. AUF! .. ICH .. WILL .. DAS .. NICHT!«

Die Worte kamen langsam, hart und wütend aus meinem Mund. Ich erwischte mich bei dem Gedanken, zwei schnelle Schritte zu Seite zu machen, die Hand immer noch an seinem Gesicht, um ihn dann mit einer kraftvollen Drehung aus der Hüfte wie einen Diskus in den Wald zu schleudern.

Nein, das wollte ich nicht wirklich. Ich musste mich beruhigen. Ich schloss meine Augen, versuchte ruhig zu atmen und das Brennen in der Kehle zu dämpfen. Ich schluckte mehrmals. Dann öffnete ich wieder die Augen. Sein Blick war jetzt weniger Wütend, eher betroffen, aber noch immer verwirrt.

»Edward. Carlisle tut genau das was ich will. Das, was wir wollen«, und nickte bei diesen Worten kurz zu Renesmee, obwohl ich mir nicht sicher war, ob sie jetzt meine Worte bestätigen würde.
»Du hast es versprochen«, fuhr ich fort. »Erinnere dich an unser Gespräch.«

Die Last meiner Worte und meiner Hand an seinem Nacken schienen ihm die Kraft zu rauben. Er knickte vor mir ein. Kniete jetzt vor mir. Oh je, hatten meine Worte ihn so schwer getroffen? Er tat mir so unendlich leid. Ich wollte nicht, dass er litt. Deshalb wollte ich ja nicht, dass er bei dem Training zusah. Es war einfach viel zu hart für ihn, uns leiden zu sehen.

»Edward«, flüsterte ich jetzt fast zärtlich und legte meine Stirn an seine. »Du kennst mein Ziel, unser Ziel. Ich muss das machen. Wir wollen das machen. Wenn du dabei nicht zusehen kannst, dann lass es uns alleine machen.«

Ich versuchte die Worte, die ihn beim letzten Mal so verletzt hatten, zu vermeiden. Aber ich wusste, dass ich seine Erinnerung daran wieder geweckt hatte.

Renesmee fasste an seine Wange. Er blickte zu ihr auf. Sie sahen sich tief in die Augen. Sein Gesicht wirkte vor Trauer zerrissen, doch er beruhigte sich allmählich. Dann stand er auf, den Blick immer noch auf ihre Augen geheftet und nickte ihr zu. Danach nahm er meine Hand von seinem Nacken, küsste sie, lächelte mich gequält an, drehte sich um und rannte in den Wald.

»Edward!«, rief ich ihm hinterher.
Ich wollte losrennen doch Renesmee zog mein Gesicht zu ihrem.
»Ich habe Daddy gesagt, dass es gut ist. Dass er sich nicht um mich sorgen muss. Dass du ja auf mich aufpasst und dass ich das wirklich machen will.«
»Aber warum ist er weggelaufen?«
»Er braucht Zeit für sich, Kind«, sprach mich Carlisle an und ich sah ihm fragend in die Augen.
»Bella, Edward muss das alles erst auf die Reihe bringen. Gib ihm etwas Zeit.«
»Oh Carlisle. Es tut mir leid, dass er so wegen mir und Nessie mit dir gesprochen hat. Das war furchtbar.«
»Bella, ich bitte dich. Nichts von alle dem war furchtbar.«

Ich verstand nicht, was er damit meinte. Er bemerkte meinen verwirrten Ausdruck und fuhr fort.
»Liebes, mein Sohn liebt euch beide so sehr, dass seine Sorge und sein Mitgefühl ihn fast zu zerreißen drohen, wenn er euch leiden sieht. Egal ob ihr das Leid selbst gewählt habt oder nicht.«
»Dann ist es unsere Schuld?«

»Nein mein Kind«, fuhr er mit seiner einfühlsamen Stimme fort. »Niemand hat Schuld daran. Ich habe versucht ihm zu erklären, dass jeder seine eigenen Entscheidungen treffen muss. Jetzt muss er begreifen, dass er seine Sorge um euch, eurer Entscheidungsfreiheit unterordnen muss. Darum leidet er so.«
»Also bin ich doch irgendwie Schuld daran, dass dein Sohn leidet. Hasst du mich denn nicht dafür?«
»Bella. Du und Renesmee, ihr seid das Beste was ihm jemals passieren konnte. Bis noch vor wenigen Jahren war Edward von Selbsthass geprägt. Er war davon überzeugt, dass er kein Glück verdient hätte, dass er keine Hoffnung verdient hätte, doch ihr hab ihm all das geschenkt. Sein Selbsthass hat der Liebe zu euch Platz gemacht. Sein Mitgefühl, das er schon immer in sich trug, das er aber nie wirklich an die Oberfläche kommen ließ, bestimmt inzwischen sein Denken und Handeln. Wie könnte ich dich jemals nicht dafür lieben, dass du meinem Sohn dieses wundervolle Geschenk gemacht hast?«
»Aber er leidet doch«, erwiderte ich kleinlaut.
»Ja, aber nur für den Moment. Glück und Leid sind zwei Seiten der gleichen Medaille. Ohne das Leid, würde er das Glück mit euch nicht so sehr zu schätzen wissen. Sei also unbesorgt. Alles ist gut, mein Kind.«

Er legte die Hand auf meine Schulter und schaute uns beiden kurz in die Augen. In dem Moment wusste ich, dass er völlig recht hatte. Dann drehte er sich weg, um ins Haus zu gehen.

»Carlisle?«, fragte ich leise. »Darf ich dich trotz allem noch um einen kleinen Gefallen bitten?«
Er drehte sich wieder mir zu und lächelte. Er schien von meiner Wortwahl leicht amüsiert.
»Natürlich Bella, was immer du brauchst.«
»Würdest du da drin bitte aufräumen? Ich kann da im Moment nicht noch mal hinein.«
»Selbstverständlich, Bella. Da hätte ich auch selbst darauf kommen können. Entschuldige bitte.«
Noch bevor ich etwas auf seine unsinnige Entschuldigung erwidern konnte, war er schon im Übungsraum verschwunden.


Nun stand ich hier, mit Renesmee auf meinem Arm, und hing meinen Gedanken hinterher. Ich spürte plötzlich Renesmees Blick und erwiderte ihn.
»Danke Momma, dass du mich da raus gebracht hast.«
»Schscht. Liebling. Das war doch selbstverständlich. Ich bin nur froh, dass ich es geschafft habe. Ich glaube, ich hätte es da auch nicht mehr lange ausgehalten.«

Die frischen Erinnerungen an die Ereignisse im Trainingsraum kamen mir wieder hoch. Dabei fiel mir etwas auf.
»Sag mal, Sternchen. Warum hast du mir mit deiner Gabe all die Bilder gezeigt? Du hättest doch einfach nur “Momma, bring mich raus” sagen brauchen? Warum hast du dich da so angestrengt, deine Gabe zu nutzen?«
Sie blickte betroffen zum Boden. Ich bemerkte wie ihre Augen feucht wurden.
»Es tut mir leid, Momma. Ich habe dich angeschwindelt. Es fällt mir viel leichter dir meine Gedanken direkt mitzuteilen, als darüber nachzudenken, wie ich sie in Worten richtig ausdrücke. Unsere Talentspiele in den letzten Wochen hat es für mich noch einfacher gemacht, nicht schwerer.«

Eine Träne kullerte ihre Wange herunter, als sie sich nun ihr Gewissen erleichterte. Ich küsste die salzige Träne weg.
»Ach du Dummerchen. Deshalb musst du doch nicht traurig sein. Wir hatten doch so viel Spaß dabei.«
»Aber ich hätte dir das doch sagen müssen?«, erwiderte sie unsicher.
»Vielleicht ja, aber dann hätte ich dir auch sagen müssen, dass es mir hilft, dich mit meinem Schild abzuschirmen. Dadurch war ich von meinem Durst abgelenkt, was es auch für mich einfacher gemacht hatte. Ich würde sagen, wir sind quitt.«
Glücklich lächelnd schlang sie die Arme um mich und drückte mich. Eine Umarmung, die ich nur allzu gerne erwiderte.

Ich lief mit ihr nach Hause, wir duschten uns und zogen uns frische Kleider an und gingen dann wieder in die Cullen-Villa.


Edward war noch nicht zurück. Ich war besorgt, wollte mit ihm sprechen, musste ihn suchen. Ich bat Rosalie, sich ein wenig um Renesmee zu kümmern. Eine Aufgabe, die sie gerne übernahm, auch wenn ihr Renesmees bedrücktes Gesicht nicht gefiel. Mir war klar, dass ich in den nächsten Tagen einige mürrische Blicke von ihr erhalten würde, wenn sie den Trainingsbericht erhalten hatte. Im Moment war das für mich aber unwichtig. Ich musste zu Edward und hoffte, er würde bei unserer Lichtung sein. Dort würde ich nach ihm suchen.

Auf dem Weg nach draußen sah ich noch kurz Alice aus ihrem Zimmer kommen. Sie lächelte mich an und zwinkerte mir zu. Edward war wohl tatsächlich auf der Lichtung.

Ich rannte los, so schnell ich nur konnte. Der Wind auf meinem Gesicht tat mir gut. Ich hatte das Gefühl, als würden meine Muskeln bei diesem Tempo das Brennen in meiner Kehle und den Durst schnell aufzehren. Es war sehr befreiend. Ich hätte noch stundenlang so weiter durch den herbstlichen Wald rennen können. Mein Kopf wurde klarer. Schnell, fast zu schnell war ich bei der Lichtung und drosselte mein Tempo. Ich versuchte unbemerkt zu bleiben, denn ich wusste nicht, ob ich ihn wirklich stören wollte.

Dann sah ich ihn. Er lag an unserem Lieblingsplatz in der Mitte der Wiese und schaute zum Himmel, zu der breiten Wolkendecke. Ich wollte zu ihm, aber würde er mich jetzt auch sehen wollen? Schließlich drückte ich meinen Schild weg und dachte ein zaghaftes “Edward, darf ich zu dir kommen?”

Er richtete sich schnell auf und unsere Blicke trafen sich. Wenn ich meinen Schild gesenkt hatte, wusste er wie bei jedem andern auch sofort wo ich war. In Bruchteilen einer Sekunde stand er vor mir und sah mir mit seinen wunderschönen goldbraunen Augen tief in die meinen.

“Edward, es tut mir leid”, dachte ich. “Ich liebe dich. Bitte lauf nicht weg vor mir.”
Seine Arme schlossen sich um mich. Wir brauchten keine Worte um einander zu verstehen. Er brauchte nicht meine Gedanken und ich nicht seine Stimme zu hören. Carlisle hatte wieder einmal völlig recht. Glück und Leid gingen Hand in Hand, so wie wir jetzt, zurück zum Zentrum der Wiese. Wir lagen uns in den Armen ohne weiter Worte oder Gedanken auszutauschen. Es war alles bereits gesagt. Wir mussten beide nur noch damit klarkommen. Schließlich, kurz bevor es dunkel wurde, sprach Edward mich dann doch an.

»Bella, Liebste. Ich verspreche dir, dass ich dich bei deinem Training nicht mehr stören werden, nur bitte, … bitte lass mich dabei zusehen. Außen vor zu sein, wäre für mich schlimmer, als mit anzusehen, wenn es für euch hart wird.«

Ich wusste was er meinte. So oder so würde er leiden müssen. Das war der Preis, den er zahlen musste, damit Renesmee und ich unser Ziel erreichen konnten. Ich konnte es ihm nicht abschlagen. Es war seine Wahl. Seine Entscheidung. Ich nickte ihm zu.


Wir gingen wieder nach Hause. Edward sprach sich mit Carlisle aus und ich nahm die gerechten mürrischen Blicke von Rosalie auf mich. Emmett versuchte wie immer die angespannte Stimmung zu lockern, aber es gelang ihm nicht. Fordernd blickte er zu Jasper, aber sein eigener Gemütszustand schien unseren widerzuspiegeln. Er war nicht in der Lage, unsere Gefühle jetzt zu beeinflussen. Wie immer, wenn es Jasper so ging, wich Alice nicht von seiner Seite. Esme huschte ständig von Renesmee, die noch immer bei Rosalie war, Jasper und Alice und mir hin und her, um uns Trost zu spenden. Eine, wie es schien, unlösbare Aufgabe, aber ihre Beharrlichkeit führte dann doch dazu, dass sich alle ein wenig besser fühlten.


Nach einem langen Gespräch im Arbeitszimmer, kam Edward dann am späten Abend mit Carlisle wieder heraus. Ich sah noch, wie Carlisle ihm die Hand auf die Schulter legte und zu Edward meinte:
»Mein Sohn, du darfst niemals daran zweifeln, wie Stolz ich auf deine Entwicklung bin. Die letzten Jahre, seit Bella an deiner Seite ist, gehören auch zu den schönsten meines Lebens.«

Edward nickte ihm zu, noch immer etwas bedrückt, und kam dann zu mir. Ich nahm Rosalie die inzwischen eingeschlafene Renesmee unter weiteren grimmigen Blicken ab und ging mit Edward zu unserem Häuschen. In dieser Nacht lagen wir eng umschlungen im Bett und hingen beide unseren Gedanken nach.

Kapitel 5 - Der Schlüssel

Heute gingen wir wieder auf die Jagd. Renesmee und Jacob teilten sich wie so oft ein Wapiti. Ich beneidete die beiden wirklich darum, dass sie sich einen Beute teilen konnten. Vor allem als Edward einen Puma aufgespürt hatte und mir mal wieder den Vorzug lies. Er wollte sich von mir auch einfach nicht umstimmen lassen. Von “Anerkennung für die Opfer die er brachte”, wollte er nichts hören. Er bestand darauf, dass es mein Puma sei, weil ich doch für mein Training bei vollen Kräften sein sollte. Da ließ er einfach nicht mit sich reden. Ich überlegte kurz, ganz auf den Puma zu verzichten, aber das hätte ihn womöglich noch mehr verletzt. Also fügte ich mich in mein leckeres Schicksal.

Glücklicher Weise konnte ich später auch noch einen Puma für Edward aufspüren. Den wollte er mir tatsächlich auch noch überlassen, aber ich erinnerte ihn an die Vereinbarung, dass jeder zweite ihm gehören würde und dass ich diesen Puma weder heute noch irgendwann sonst jagen würde. Damit gab er sich dann geschlagen.

Dass Renesmee lieber Rotwild als Raubkatzen oder Bären jagte, wunderte mich eigentlich. Für mich ging nichts über den Geschmack von Pumas oder anderen Fleischfressern. Für Pflanzenfresser wie Wapitis hatte ich nichts übrig. Vielleicht war es ihre Verbundenheit zu Jacob, dass sie seine Lieblingsbeute auch für sich auserkoren hatte, zumindest solange kein Wolf im Angebot war. Glücklich und satt machten wir uns wieder auf den Heimweg. Es war eine gute Jagd gewesen.


Zu Hause trennten wir uns wieder von Jacob. Er hatte sich inzwischen damit abgefunden, dass er an Jagd-Tagen seine Nessie den Rest des Tages nicht mehr sehen würde und ging wie üblich zu sich nach Hause oder kümmerte sich um sein Rudel. Edward gab mir einen zärtlichen Kuss und kniete sich dann auch vor Renesmee hin, um ihr einen Kuss zu geben, was sie mit einer Umarmung belohnte. Dann ging er schweigend zur Garagenwand, lehnte sich dagegen und machte sich auf eine harte Wartezeit gefasst. Renesmee nahm meine Hand und wir gingen wieder in den Übungsraum.

Diesmal lag kein Blutgeruch in der Luft. Carlisle musste da gestern schon ein bisschen mehr gemacht haben, als nur aufzuräumen. Insofern hatten wir zumindest einen guten Start. Die Raumtemperatur lag bei etwa 24 Grad. Das würde den Blutduft gleich ziemlich gut transportieren können. Besorgt blickte ich zu meinem kleinen Engel. Ich hoffte sehr, dass sie heute besser mit dem Training klarkommen würde.

»Liebling, willst du dich nicht vielleicht gleich hinsetzen und ich mache das mit den Vorbereitungen?«, fragte ich sie vorsichtig.

Wie ich erwartet hatte, schien ihr die Idee nicht so gut zu gefallen, mir die Arbeit zu überlassen. In der letzten Stufe hatte es so gut geklappt und sie wollte natürlich, dass es so weiter ging, aber die Erinnerungen an das gestrige Training waren uns beiden noch sehr präsent und so erklärte sie sich glücklicher Weise einverstanden. Sie setzte sich hin und ich schaltete die Wärmeplatte ein, holte zwei Blutkonserven und goss eine nach der anderen in die Glasschüssel.

Ich war dabei so um Renesmee besorgt, dass ich meinen eigenen Durst und das Brennen im Hals kaum wahr nahm. Ich spürte meine stärker werdenden Instinkte aber das war kein Jagdmodus. Alle meine Sinne waren auf meine Tochter ausgerichtet. Jede Regung von ihr, jeder Herzschlag, jeder Atemzug. Alles wurde von mir überwacht. Ich wollte sie keine Sekunde aus den Augen lassen und hatte in diesem Moment nicht das geringste Verlangen nach dem herrlich duftenden Blut. Ich spürte das Brennen, doch es spielte keine Rolle für mich. Völlig ruhig ging ich zum Mülleimer und warf die leeren Konserven hinein. Dann setzte ich mich neben Renesmee, die mich mit großen Augen ansah. Sofort machte ich mir noch mehr Sorgen um sie und ergriff ihre Hand, für den Fall, dass sie mir etwas zeigen wollte. Doch sie schüttelte nur den Kopf.

»Momma, macht dir das denn heute gar nichts aus?«, fragte sie mich zu meiner Überraschung.
»Ich weiß nicht Schatz, es ist irgendwie anders heute. Geht es dir denn gut?«
Sie schaute mich weiter fragend an, als würde sie versuchen mein Geheimnis zu lüften.
»Mein Durst und das Brennen im Hals ist fast wie gestern. Vielleicht noch nicht ganz so schlimm, weil ich bei den Vorbereitungen nicht mitgemacht habe oder vielleicht, weil wir gerade gejagt haben. Ich weiß es nicht genau Momma. Aber es ist sehr anstrengend, ruhig zu bleiben.«
»Ich halte deine Hand Schatz. Wenn etwas ist, dann zeigst du es mir sofort, ja?«
Wieder schaute sie mich fragend an.
»Momma, warum bist du heute so ruhig? Ich will auch so ruhig sein. Wie machst du das?«

Auf diese Frage hatte ich selbst keine Antwort. Es stimmte, ich war sehr ruhig. Nicht gerade entspannt, dafür machte ich mir viel zu viele Sorgen um sie, aber ich war ruhig und gefasst. Ich horchte in mich hinein. Der Durst war da, das Brennen in der Kehle war da, meine Instinkte waren sehr aktiv, doch nichts brach heute durch oder störte meine Selbstkontrolle. Ich nahm meine geschärften Sinne sogar als sehr positiv wahr, weil sie mir halfen, einen besseren Überblick über den Zustand von Renesmee zu behalten, aber sonst war im Augenblick nichts anders für mich von Bedeutung.

»Ich weiß nicht genau, warum es so ist, Schatz. Ich mache mir einfach nur Sorgen um dich und alles andere ist irgendwie unwichtig.«

Ungläubig schaute sie mich an. Dann schien sie angestrengt nachzudenken. Äußerlich wirkte sie aber auch recht ruhig und gefasst. Ich beobachtete sie genau und bemerkte jedes leichte zucken ihrer Mundwinkel, jede Veränderung ihre Atmung oder ihres Herzschlages, auch wenn sie noch so gering war.

Als das rote Licht ausging und die Luft im Raum spürbar mit dem warmen Blutduft angereichert war, beugte ich mich zum Tisch und drückte auf die Stoppuhr und wandte meine Aufmerksamkeit sofort wieder auf Renesmee. Wieder blickte sie mich ungläubig an. Die leichten Zuckungen in ihrem Körper zeigten mir, dass sie schwer zu kämpfen hatte.

»Sternchen, sag es mir, wenn du raus willst, hörst du? Wir können jederzeit gehen.«
Sie schüttelte den Kopf, schloss die Augen und versuchte sich erneut zu konzentrieren.

Ich ließ sie keine Sekunde aus den Augen und hielt ihre Hand sicher in meiner. Wenn sie mir etwas sagen oder zeigen wollte, wäre ich sofort bereit. Mein Verstand arbeitete auf Hochtouren. Ich zählte das Ticken der Stoppuhr. Ich spürte natürlich auch das Brennen in meiner Kehle und es verlangte mich nach dem leckeren Blut, aber was sollte das bringen? Klar, ein paar Schlucke und das brennen wäre weg, aber spätestens nach wenigen Stunden wäre es wieder da, wenn es überhaupt so lange dauern würde. Das war so sinnlos. Außerdem würde ich dafür Renesmee aus den Augen lassen müssen und das war absolut inakzeptabel. Ich verachtete meinen Durst und das Brennen in meiner Kehle. Niemals würde ich zulassen, dass dieser nutzlose Teil von mir zwischen mir und meiner Tochter stehen würde. Nur ihr Wohl lag mir jetzt am Herzen.

Ohne auf die Stoppuhr zu schauen wusste ich, dass inzwischen 9 Minuten, 47 Sekunden vergangen waren und ich sah meiner Kleinen an, dass sie immer noch um ihre Selbstbeherrschung kämpfen musste. Hin und wieder blickte sie ungläubig in meine Augen, doch sie sagte nichts, sondern konzentrierte sich darauf, sich gegen den Durst zu wehren. Dabei schien sie immer wieder angestrengt nachzudenken oder darum zu ringen, die Kontrolle zu behalten.

13 Minuten, 23 Sekunden.
»Es ist gleich geschafft Liebling. Du machst das toll heute.«
Erneut ein ungläubiger Blick. Sie schien etwas sagen zu wollen, tat es aber nicht, als ob sie befürchtete, dass das ihre Konzentration durchbrechen könnte.

Ich griff ohne hinzusehen zur Stoppuhr und schaltete sie aus. Ich wusste, dass die Zeiger jetzt genau bei 15 Minuten stehen würden. Ich hatte jede Sekunde gezählt.

»Liebling? Willst du hier bleiben während ich aufräume oder soll ich dich vorher raus bringen?

Ihr Blick wirkte jetzt geradezu fassungslos. Dann schloss sie wieder die Augen und schickte mir durch meinen kribbelnden Arm Bilder die zeigten, wie sie bei einem der ersten Trainingstage da saß und mir beim aufräumen zusah.

»Wirklich?«, fragte ich unsicher. »Aber wenn etwas ist, dann sagst du es mir sofort, o.k.?«

Langsam und sehr ungern ließ ich ihre Hand los. Ich ging rückwärts den Tisch entlang zur Schüssel und zur Wärmeplatte. Ich wollte sie keine Sekunde aus den Augen lassen. Ich wusste auch so, wo alles war.

Ohne hinzusehen schaltete ich die Wärmeplatte aus, ergriff die warme Glasschüssel und ging zur Spüle. Ich achtete auf ihren Körper, ob irgendwelche Anzeichen von Panik zu erkennen wären, doch sie rührte sich nicht. Ihre Atemfrequenz und ihr Herzrhythmus war immer noch erhöht, aber sie hatte sich noch unter Kontrolle und schaute immer noch verwirrt zu mir.

»Bereit Schatz? Ich kippe es jetzt weg.«
Ein minimales Nicken wurde von erhöhter Herz- und Atemfrequenz begleitet. Ein leichtes Zittern ging durch ihren Körper. Ich wartete, würde mich keinen Millimeter bewegen, bevor sie sich nicht wieder gefangen hatte. Es dauerte 138 ihrer Atemzüge bis sie wieder ruhiger war. Dann schüttete ich das Blut langsam weg, spülte sofort mit frischem Wasser nach und war gleich wieder an ihrer Seite, um ihre Hand zu halten.

»Kannst du aufstehen, oder soll ich dich tragen?«, fragte ich sie und wartete gespannt, welches Bild sie mir gleich senden würde.

Überraschender Weise schickte sie mir kein Bild. Sie saß einfach da, blickte mich merkwürdig an und sagte nichts. War mir etwas entgangen? Blutdruck, Herzschlag, Atemfrequenz, Körpertemperatur. Alles überprüfte ich mit meinen geschärften Sinnen innerhalb einer Sekunde. Sie war zweifellos angespannt, aber es müsste ihr eigentlich recht gut gehen.

»Sternchen, was ist denn? Zeig mir doch etwas.«

Sie zeigte mir nichts, aber ich bemerkte kleine Bewegungen ihrer Beine. Wollte sie aufstehen? Sofort stand ich neben ihr um sie zu stützen, sie aufzufangen, falls sie sich zu viel vorgenommen hätte.

Sie hielt inne und blickte mich wieder verdutzt an. Dann stand sie auf und ging an meiner Hand zur Schiebetür, ohne jedoch den verwirrten und prüfenden Blick von mir zu nehmen. Wir gingen in die Schleuse, ich betätigte die Absauganlage und drei Sekunden später waren wir draußen.

Edward stand vor der Tür und schaute mich genauso verwirrt und prüfend an wie Renesmee. Das machte mich total nervös.
»Sternchen, Liebling, sag doch etwas. Geht es dir gut?«
Sie atmete tief durch, doch Edward ergriff das Wort.
»Sie versteht nicht, wie du das da drin gemacht hast Bella und ehrlich gesagt, ich wüsste es auch zu gerne.«
“Was habe ich denn gemacht?”, fragte ich mich.
Ich hatte mich doch nur um Renesmee gekümmert. War das so merkwürdig für eine Mutter?
»Was meinst du Edward?«
»Ist dir denn gar nicht aufgefallen, dass du völlig ruhig und souverän den Trainingsabschnitt absolviert hast, als wäre es das einfachste auf der Welt? Als hätte es gestern nicht gegeben?«
Ach so, darum ging es.
»Ich weiß nicht, Edward. Ich war nur um unsere Tochter besorgt«, sagte ich und blickte sie dabei entsprechend fürsorglich an. »Alles andere war heute für mich unwichtig.«
»Wow«, sagte Edward. »Das wird Carlisle interessieren.«
»Das ist mir im Augenblick völlig egal, Edward. Renesmee, was ist mit dir. Sag doch bitte etwas oder zeig es mir.«

Ich kniete mich vor sie und hielt ihre Hand an meine Wange, nur für den Fall, dass sie zu schwach sein könnte, um mir ein Bild durch den ganzen Arm zu schicken. Fragend sah ich in ihre schokoladenbraunen Augen, streichelte sanft über ihr bronzefarbenes Haar.

Es dauerte eine Weile, doch dann sprach sie endlich.
»Du warst heute ganz anders Momma. Du hast das gemacht wie Opa es machen würde. Ich verstehe das nicht. Was war heute denn anders? Mir ging es fast wie gestern. Was war denn dein Trick?«

Trick? Was für ein Trick? Hatte ich einen Trick? Ich wusste es nicht. Ich hatte keine Ahnung. Renesmee seufzte, als sie mir in meine ratlosen Augen blickte.

»Du weißt es wirklich nicht?«, fragte sie, wobei es mehr nach einer Feststellung klang.
Ich zuckte mit den Schultern.
»Schatz, wenn es einen Trick gäbe, würde ich ihn dir verraten.«
Noch ein Seufzer von Renesmee.
»Das ist aber voll blöd, wenn ich jetzt alleine trainieren muss.«
Wie kam sie denn darauf? Das könnte ich nie zulassen. Ich brauchte das Training doch auch. Glaubte ich zumindest. Oder etwa nicht?
»Du wirst niemals alleine üben müssen, Liebling. Woher weiß ich denn, ob ich morgen auch wieder so problemlos damit klar kommen werde? Für dich werde ich immer da sein.«
Und noch ein Seufzer von ihr, aber wenigstens nahm sie mich in den Arm.


Nach einer Minutenlangen wundervollen Umarmung löste sie sich wieder von mir. Sie wirkte nun gefasster, hatte das Training hinter sich gelassen und war recht entspannt. Sie war wieder ganz meine Renesmee. Ich nahm ihre Hand und ging Richtung Haupthaus. Ich wollte mit Carlisle über das erlebte sprechen, doch mein kleiner Engel hielt mich zurück.

»Ähm, Momma? Hast du nicht etwas vergessen?«
Was sollte ich denn vergessen haben? Drinnen war alles aufgeräumt. Renesmee war an meiner Hand. Edward stand neben mir, wenn auch noch immer mit einem verwirrten Gesichtsausdruck. Ich hatte doch alles, was ich brauchte.

»Was meinst du denn Sternchen?«
»Wir stinken so stark nach Blut, dass die anderen uns für laufende Blutkonserven halten müssten. Sollten wir nicht vielleicht vorher duschen und uns umziehen, bevor ich mich noch selbst beiße, um mich auszutrinken?«
Edward schmunzelte. Das Bild in ihrem Kopf musste recht witzig gewesen sein.
»Kann es sein, dass du zu viel Zeit mit Emmett verbringst?«, fragte er sie.

Sie grinste ihn an. Oh ja, ich war sehr dankbar für dieses fröhliche Gesicht meines Kindes. Sie war das ganze Training über so angespannt gewesen.

Ich roch an meinem T-Shirt. Da war Blutgeruch, das stimmte, aber er störte mich kaum. Merkwürdig. Meine beiden Sonnen blickten mich wieder verständnislos an.

»o.k. du wandelnde Blutkonserve. Dann gehen wir mal duschen.«
Ich warf sie hoch über meine Schulter und rannte zum Haus. Meine kleine Blutkonserve quietschte dabei vergnügt.

Frisch geduscht und umgezogen gingen wir wieder zur Villa. Edward hatte die anderen bereits über unser “bemerkenswertes Training” informiert. Rosalie interessierte sich aber vor allem für Renesmee und schlang sie in ihre Arme, um sie für den erfolgreichen Trainingstag zu loben. Sie freute sich zwar über das Lob, konnte aber nicht wirklich verstehen, warum Rosalie mich nicht auch lobte. Schließlich hatte ich es ihrer Meinung nach ja noch viel besser gemacht.

Auch Emmett war bei Renesmee. Edward hatte ihm von dem witzigen Bild in ihren Gedanken bei dem “Blutkonserven-Scherz” erzählt und er bettelte unaufhörlich, bis sie endlich nachgab und es ihm zeigte. Danach lachte er so laut, dass die Wände vibrierten und alberte mit ihr herum. Das führte dazu, dass sich auch Renesmee vor Lachen kringelte. Es war wieder einmal ein lustiger Abend.


Nachdem wir Renesmee zu Bett gebracht hatten, gingen wir noch mal rüber, um erneut eine Familienkonferenz abzuhalten. Edward bestand darauf, dass meine ungewöhnliche Aktion besprochen wurde. Er erzählte noch mal alles, was er durch Renesmees Gedanken erlebt hatte. Er berichtete, wie ich völlig ruhig und scheinbar entspannt alles aufbaute, mich zu ihr setzte, auf jede ihre Regungen achtete, praktisch ohne hinzusehen die Stoppuhr betätigte und genauso sicher alles wegräumte, ohne mein Kind aus den Augen zu lassen. Da war dann selbst Rosalie etwas positiv erstaunt.

»Ich glaube«, fing Carlisle an, »du hast deinen Schlüssel gefunden, Bella.«
Hatte ich denn einen verloren?
»Was meinst du?«, fragte ich.
»Jeder von uns, der seinen Durst beherrscht, hat einen tieferen Grund dafür. Einen Schlüssel eben. Bei mir ist es der Wunsch, Menschen zu helfen. Ihnen das Blut auszusaugen wäre da kontraproduktiv, also beherrsche ich meinen Durst, um meine “Berufung” zu leben. Ich nehme meinen Durst zwar wahr, aber ich verachte ihn und versuche ihn deshalb zu ignorieren. Meistens gelingt mir das ganz gut.«

Er lächelte gütig, schien aber auch ein kleines bisschen stolz auf sich selbst zu sein.
»Ich glaube, so etwas habe ich heute auch erlebt. Ich hatte einen kurzen Moment, da war mein Durst und das Brennen im Hals stärker. Das hat mich ganz kurz von meiner Sorge um Renesmee abgelenkt und ich habe diese Empfindungen dafür gehasst. Diesen Teil von mir habe ich sozusagen in mir irgendwie weggeschlossen. Ich kann das nicht erklären. Danach konnte ich mich ganz auf meine Tochter konzentrieren.«

Esme hielt sich vor Stolz und Freude die Hände an die Wangen. Auch die anderen schienen sich mit mir zu freuen. Nun ja, Rosalie konnte es gut verbergen, aber sie musste wohl innerlich zugeben, dass das gut für Renesmee war. Nur Jasper schien sich sorgen zu machen. Er war sehr aufmerksam und hing mir bei jedem Wort an den Lippen. Manchmal hatte ich sogar das Gefühl, er würde meine Worte nachsprechen. Seine Lippen bewegten sich unmerklich. Das Thema scheint sehr wichtig für ihn zu sein. Ich fragte mich daher, ob ich etwas tun könnte, damit er mehr erfahren würde.

»Carlisle, haben alle in der Familie so einen Schlüssel?«, fragte ich ihn.
»Bei den meisten glaube ich das schon, aber so genau weiß ich das natürlich nicht.«
»Lass uns doch bitte an deinen Vermutungen teilhaben.«
Ich hoffte sehr, dass das Jasper helfen könnte. Er war außerordentlich konzentriert auf Carlisle ausgerichtet.
»Nun ja. Ich denke bei Esme ist es ihr Mitgefühl. Wer so am Leid anderer Anteil nimmt, kann unmöglich einem Menschen das Leben aussaugen.«

Esme strahlte ihn an und streichelte ihm dankbar für das Kompliment über den Arm.
»Und bei Alice, denke ich, ist es auch sehr deutlich.«
»Ach echt? Bei mir ist es deutlich?«, fragte sie verwundert.
»Ich bin mir ziemlich sicher, dass es bei dir schlichtweg eine Entscheidung war, Alice. Deine Gabe, dein ganzes Wesen, das alles dreht sich um Entscheidungen. Du entscheidest dich keine Menschen zu beißen und siehst in deinen Visionen, dass das auch nicht passiert. Das gibt dir die Gewissheit, die Kontrolle zu haben.«
»Ist ja cool«, erwiderte Alice grinsend.

»Und was ist mit Edward?«, fragte ich neugierig, was ihn unruhig werden ließ.
»Nun Edward war früher…«
»Warte«, fiel ihm Edward ins Wort. »Ich glaube, ich weiß worauf das hinaus läuft.«
»Sagst du es uns dann selbst?«, bat ich ihn.
Er atmete tief durch, fuhr dann aber fort.

»Früher und manchmal auch heute noch, war ich davon überzeugt, ein seelenloses Monster zu sein. Als solches hatte ich nichts verdient, was in irgendeiner Weise positiv gewesen wäre. Den Durst habe ich immer als gerechte Strafe für meine unnatürliche Existenz gesehen. Ihn zu stillen, hätte mir eine kurzzeitige Befriedigung verschafft, die ich mir nicht zugestehen wollte. Nur in einer frühen Dekade meines “Lebens”, in der ich Mörder und Vergewaltiger jagte, gestand ich mir diese kurze Erlösung von meinem Durst als Belohnung dafür zu, dass ich die Welt von einer anderen Art von Monster befreit hatte.«

Ich erschauderte bei dem Gedanken, wie sein Leben früher war. So hatte ich ihn nie gesehen. Für mich war er immer der fürsorgliche Beschützer, den ich über alles liebte.

»Und heute Edward?«, lockte ihn Carlisle.
Er atmete noch mal schwer durch.
»Und heute bestimmt meine Liebe zu dir, mein Leben«, sagte er zu mir. »Ich sehe in allen Menschen Edwards und Bellas die das gleiche, wenn nicht sogar noch ein größeres Recht auf eine Liebe wie die unsere haben. Niemals könnte ich das zerstören. Nicht nachdem ich einmal gefühlt hatte, wie es war, dich zu verlieren.«

Sein Leid von damals spiegelte sich in seinen Augen wider. Auch ich erinnert mich an jene schreckliche Zeit, da wir getrennt waren, aber auch an das Glück, als wir letztendlich doch wieder zueinander gefunden hatten.

»Und wo ist mein Schlüssel versteckt?«, fragte Emmett und grinste breit.
»In einem Bären«, antwortete Carlisle kurz und alle mussten lachen.
»In einem Bären?«, wiederholte Emmett ungläubig und lachend. »Meinst du, ich nehme die Biester deshalb so auseinander, um meinen Schlüssel zu finden?«
»Nicht ganz«, sagte Carlisle schmunzelnd. »Ich glaube nur, dass dir in deinem menschlichen Leben wenig Leid widerfahren ist. Mit Ausnahme des Bären, der dich fast getötet hatte. Du projizierst deinen Hass und damit deinen Durst deshalb auf die Bären. Die Menschen lässt du in Ruhe, nun ja, zumindest so lange sie dich in Ruhe lassen.«
Wieder gab es ein paar Lacher.

»Und was ist mit meiner Rosy. Warum hat die noch nie einen ausgesaugt?«

Rosalie funkelte ihn an. Es gefiel ihr ganz und gar nicht, worauf das hinauslaufen würde. Carlisle blickte sie fragend an, ob sie denn dazu etwas sagen oder hören wollte. Mit einer genervten Handbewegung signalisierte sie ihn, dass er ihretwegen ruhig seine Theorie sagen dürfte, wenn es unbedingt sein musste.

»Ich glaube - und ich bitte dich Emmett, dich zurückzuhalten - dass Rosalie die Menschen um ihr Leben beneidet. Sie hätte das auch gerne zurück und kennt den Wert des Lebens. Daher will sie es keinem rauben.«

Rosalie wirkte überrascht und gerührt. Sie hatte wohl nicht mit einer netten Theorie gerechnet, sondern eher mit einer Anspielung auf ihre Eitelkeit, was auch ich vermutet hatte. Ich schämte mich etwas dafür, dass mir das nicht auch in den Sinn gekommen war. Jedenfalls sah sie so aus, als hätte sie gerade gerne ein paar Freudentränen verdrückt und ich freute mich deshalb mit ihr.

Außer Jasper waren nun alle an der Reihe gewesen. Er blickte Carlisle fragend an und hoffte vielleicht auf eine passende Erkenntnis von Carlisle, was sein Schlüssel sein könnte. Carlisle bemerkte Jaspers fragenden Blick und dachte nach. Währenddessen schmiegte sich Alice an Jaspers Arm und schaute ihn liebevoll an.

»Jasper, ich weiß, was du jetzt von mir wissen willst, doch ich kenne die Antwort leider nicht. Es tut mir sehr leid. Ich weiß, dass du ein Kämpfer bist. Das ist deine Natur. Schon als Mensch hattest du eine militärische Karriere. Du bist mit Sicherheit einer der größten Vampirkrieger der Welt. Seit du bei uns bist, siehst du in deinem Durst einen Feind, den du vernichten willst, doch der Durst ist auch ein Teil von dir und du bekämpfst dich dadurch selbst. Das führt zu deinem Leid und ich hoffe von ganzem Herzen, dass du irgendwann einen Ausweg findest.«

Jasper ließ den Kopf hängen. So etwas hatte er wohl befürchtet, hatten wir alle befürchtet. Alice versuchte ihn zu trösten.

»Andererseits, Jasper«, fuhr Carlisle fort, »tust du alles für Alice. Für sie stellst du dich jeden Tag diesem unfairen Kampf, ohne jemals aufzugeben. Vielleicht ist sie dein Schlüssel.«

Alice strahlte bei diesen Worten über das ganze Gesicht und gab Jasper einen Kuss. Auch seine Miene klarte ein wenig auf.

»Carlisle, was ist mit meiner Renesmee?«, wollte ich wissen.
Er machte ein Gesicht, als hätte er diese Frage lieber nicht gehört.
»Sie ist noch sehr jung, Bella. Sie muss ihren Weg erst noch finden. Es gibt viele Möglichkeiten. Das ist unmöglich vorherzusehen.«
»Aber ich bin doch auch erst sein gut einem Jahr ein Vampir und haben meinen Schlüssel, wie du sagst, gefunden. Kannst du ihr nicht auch so helfen?«

Er seufzte kurz.
»Bella, das bei dir war Zufall. Ich dachte, deine Willenskraft wäre der Schlüssel und wollte sie auf die Probe stellen, damit du das erkennst. Schon in deinen ersten Tagen als Neugeborene hast du uns alle durch deine erstaunliche Selbstkontrolle überrascht. Da schien es mir nur logisch, dass darin dein Schlüssel liegen musste. Daneben konnte ich mir eigentlich nur noch vorstellen, dass es auch deine Verbundenheit zu deinen früheren menschlichen Freunden sein könnte, die dich an das Ziel bringt, doch dann war es etwas ganz Anderes. Es war Mutterliebe und darauf wäre ich nie gekommen. Es war reiner Zufall.«
»Sollten wir dann das Training mit ihr abbrechen?«, frage ich nach.
»Ich denke nicht«, sagte Carlisle, sehr zum Ärger von Rosalie, die kurz schnaubte und Arme und Beine demonstrativ überkreuzte.
Carlisle ignorierte sie.
»So lange Nessie trainieren will, sollte sie es tun dürfen und wenn sie dich dabei haben will, solltest du dabei sein. Auch sie ist sehr willensstark, was der Schlüssel sein könnte. Vielleicht sind es auch die Vorbilder in der Familie. Vor allem ihre Eltern. Vielleicht wird es Jacob sein. Vielleicht ihre halb menschliche Natur. Ich weiß es nicht. Sie muss es alleine herausfinden.«
»Aber wenn ich ihr helfen könnte…« versuchte ich zu erwidern, doch Carlisle fiel mir ins Wort.
»Bella, wenn ich deinen Schlüssel gekannt hätte und dann zur dir gesagt hätte. “Dein Schlüssel ist Mutterliebe.” Was wäre dann gewesen?«

Ich dachte darüber nach. Das klang irgendwie absurd.
»Ich hätte das bezweifelt, weil ich das Blut von dem Jungen so sehr wollte. Das hört sich nicht gerade nach Mutterliebe an.«
»Stimmt. Aber jetzt, was denkst du würde passieren, wenn du jetzt noch mal die diese Situation kommen würdest?«, fragte Carlisle weiter.
Ich überlegte kurz, aber die Antwort war einfach.
»Ich würde mir kurz vorstellen, dass das Renesmee ist, die da liegt.«

»Genau Bella. Jetzt da du es entdeckt hast. Kennst du den Weg. Doch um ihn zu entdecken, musste leider erst Renesmee ein Leid erfahren, das uns alle berührt hat. Nun stelle dir einmal vor, ich hätte genau gewusst, was du “erfahren” musst, um deinen Weg zu finden? Stell dir vor ich hätte gesagt: “Bella, wenn du deinen Durst besiegen willst, musst du zusehen, wie deine Tochter leidet.” Was hättest du dann getan?«

Die Antwort war noch einfacher.
»Ich hätte dich zum Teufel gejagt.«
Allgemeines Gelächter brach aus, an dem sich auch Rosalie beteiligte, die wieder eine entspannte Haltung einnahm.
»Na, zum Glück habe ich es nicht gewusst«, ergänzte Carlisle noch schmunzelnd.
»Dann meinst du also, ich soll Renesmee einfach ihren Weg gehen lassen, egal wohin er führt?«
Da ergriff plötzlich Esme das Wort.
»Im Grunde können Eltern sowieso nichts tun, Liebes. Wir beschützen unsere Kinder so gut es geht, aber jeder muss seine eigenen Entscheidungen treffen, um seinen Weg zu finden und sein Leben zu leben. Selbst wenn es uns das Herz bricht.«

Sie blickte dabei in Edwards Gesicht und erinnerte sich wohl an die Zeit, in der Edward Carlisle und Esme verlassen hatte, um seinen eigenen Weg zu gehen und das Blut von schlechten Menschen zu trinken, doch sie fasste sich schnell und lächelt wieder ihr unverkennbares gütiges Lächeln. Dann ergänzte sie noch:

»Doch selbst wenn Nessie dem Beispiel ihres Vaters folgen sollte, werdet ihr sie doch immer lieben und ihr Schutz gewähren, wann immer sie ihn benötigt.«

Ja, sie hatte recht. Das wusste ich. Niemals könnte ich Renesmee den Rücken zukehren, selbst wenn sie sich den Volturi anschließen würde, was aber hoffentlich niemals passieren würde.


Die Versammlung löste sich auf und ich ging mit Edward in unser Häuschen. In dieser Nacht fühlte ich mich ihm erstaunlicher Weise noch ein Stück näher. Wir hatten so vieles, das uns untrennbar miteinander verband. Ich wusste, dass meine neue Erkenntnis, was meinen Schlüssel betraf, ihm die Last der Besorgnis bei meinem und Renesmees Training erleichtern würde. Natürlich würde ich weiter trainieren. Einerseits wollte ich meinem kleinen Stern jede Erfahrung schenken, nach der sie verlangte, Andererseits war mein Ehrgeiz geweckt. Ich wollte alle sechs Phasen erleben und dann musste ich doch üben, meinen Schlüssel zu benutzen und herausfinden, wie sich das mit meiner Gabe kombinieren ließ. Eine Menge guter Gründe weiterzumachen.

Kapitel 6 - Es weihnachtet sehr

Es war der 15 Dezember. Jagdtag. Der Schnee ließ noch auf sich warten, was sehr ungewöhnlich war, da es schon seit einer ganzen Weile Temperaturen unter null Grad hatte. Renesmee sprang seit Tagen jeden Morgen erwartungsfroh aus dem Haus, um dann enttäuscht festzustellen, dass es doch noch nicht geschneit hatte. Jetzt da sie groß war, wie sie mir erklärte, wollte sie endlich richtig mit Jacob im Schnee herumtollen, doch Mutter Natur ließ sie noch ein wenig zappeln.

Die letzten Wochen verliefen in der gewohnten Routine, wobei für mich alles irgendwie anders war, seit ich die Kontrolle über meinen Durst gewonnen hatte. Das Training stellte für mich keine Herausforderung mehr dar. Die ersten Tage war ich noch besorgt, ob ich wirklich sicher sein konnte, doch jeder Trainingstag war für mich problemlos. Ich legte auch schon Sonderschichten ein, an denen ich alleine trainiert hatte, nur um zu testen, ob es eine Rolle spielte, mit oder ohne Renesmee im Raum zu sein. Es spielte keine Rolle. Ich musste mich noch nicht mal im Gedanken auf meine Tochter konzentrieren. Es war einfach so, als hätte ich an diesem einen entscheidenden Tag meinen Durst in mir eingeschlossen und einen dicken Riegel vor die innere Tür geschoben. Er konnte mich nicht mehr ärgern oder ablenken. Ich spürte ihn noch. Er war da, aber er kam nicht mehr an die Oberfläche und konnte mir die Kontrolle nicht mehr entreißen. Das Brennen im Hals fühlte sich jetzt eher so an, als ob ich eine leichte Erkältung hätte. Es störte, mehr aber auch nicht.

Die übrigen Phasen des Trainings waren mir inzwischen egal. Ich wusste, was auch immer Carlisle sich noch ausgedacht hatte, es könnte nichts mehr ändern. Also ging ich eines morgens zu Carlisle, um den ultimativen Test zu machen. Ich bat ihn, mich mit ins Krankenhaus zu nehmen. Ich war so überzeugt von meiner Selbstkontrolle, dass Carlisle sich tatsächlich überreden lies. In der Klinik stellte er mich als Medizinstudentin vor, die ein Praktikum machte. Zunächst war ich etwas besorgt, dass mich jemand vielleicht erkennen könnte, schließlich hatte ich früher hier mehr Aufenthalte, als mir lieb waren, doch niemand erkannte die alte Bella in meinem neuen Aussehen.

Carlisle nahm mich zunächst mit auf seiner Visite und merkte schnell, dass ich völlig entspannt war. Dort gab es nichts, was ich nicht kannte. Vielleicht winzige Blutspritzer von Spritzen oder Kanülen, sowie Blut auf Verbänden. Das alles war ein Witz im Vergleich zu dem Blutduft im Trainingsraum. Der Geruch der Menschen selbst war kaum interessant. Er war wie der Geruch eines Tieres, dem man nachspüren konnte, um es zu jagen, aber das eigentlich interessante und verlockende war das Blut. Doch nun macht mir das keine Sorgen mehr.

Bestärkt von meinem sicheren Auftreten ging Carlisle dann mit mir in den Teil der Klinik, in dem die Unfallpatienten behandelt wurden. Das war dann schon etwas Anderes. Offene Wunden, Stress, Hektik, Schweiß, Adrenalin, schnelle Atmung, erhöhter Herzschlag, Stöhnen und Schreien. Ich horchte in mich hinein und merkte, wie der Durst an seiner Gefängnistür rüttelte, doch er konnte nicht heraus. Im Geiste sah ich Renesmee, wie sie mich verwundet ansah. Ich konnte nicht anders, als vor mich hin zu grinsen.

Mehrmals blickte Carlisle zu mir, um zu sehen, ob ich mich noch immer unter Kontrolle hatte, ob irgendwelche Anzeichen einer Veränderung zu sehen waren, doch die gab es nicht. Natürlich spürte ich meine Vampir-Natur. Spürte die stärkeren Instinkte, doch sie schärften nur meine Sinne, so dass ich sie begrüßte. Sie ermöglichten es mir, Carlisles Arbeit genau zu beobachten. Ich fühlte mich tatsächlich, als ob ich ein Praktikum machen würde. Wenn Carlisle dann wieder einen Kontrollblick auf mich warf, zuckte ich jedes Mal nur mit den Schultern und lächelte verschmitzt. Carlisle konnte dann nur noch ungläubig den Kopf schütteln und musste auch grinsen, sehr zum Leidwesen des Patienten, dessen offenen Beinbruch er gerade behandelte und der nicht verstehen konnte, was bitteschön daran so witzig sein sollte. Jedenfalls war Carlisle mächtig beeindruckt und legte mir ein Medizin-Studium nahe.


Renesmee machte leider kaum Fortschritte beim Training. Die ersten beiden Tage nach meiner Erkenntnis war sie sehr irritiert, beobachtete mich und dachte viel nach, behielt aber die Kontrolle. Der dritte Tag war für sie deutlich schwerer. Sie hatte es akzeptiert, dass ich nun keine Schwierigkeiten mehr hatte und versuchte einfach nur noch ihren Durst zu kontrollieren. Das fiel ihr jetzt aber plötzlich deutlich schwerer. Sie tat mir dabei furchtbar leid. Ich hatte ihr mehrfach angeboten, das Training einfach zu beenden, doch sie wollte unbedingt weiter machen. Jeden Tag ergriff sie aufs Neue meine Hand und zog mich förmlich in den Trainingsraum.

Ich hatte auch mit Carlisle darüber gesprochen, ob ich den Trainingsabbruch vielleicht einfach bestimmen sollte, um ihr weiteres Leid zu ersparen, doch Carlisle meinte, dass ich da jetzt durch müsse, solange Renesmee nach diesen Erfahrungen verlangte. Ich seufzte schwer. Meine Tochter tat mir sehr leid. Rosalie, die unser Gespräch mit angehört hatte, war wenig begeistert, akzeptierte aber Carlisles Rat und zog nur eine genervte Schnute.

Dann, ein paar Tage später, unterhielt ich mich mit Renesmee über ihre Weihnachtswünsche,  während wir zum Training gingen. Sie führte die Unterhaltung von sich aus im Übungsraum fort und stellte hinterher fest, dass die Ablenkung es für sie leichter gemacht hatte. Von da an experimentierten wir mit verschiedenen Ablenkungsmethoden. Als sehr effektiv hatte es sich für sie herausgestellt, wenn wir uns gegenseitig Bücher vorlasen. Seither hatten wir immer ein Buch dort deponiert und praktisch den Literatur-Unterricht in den Trainingsraum verlegt. Danach hatten wir die Bücher allerdings mit dem Müll entsorgt. Bei dem Blutgeruch konnten wir niemandem zumuten, sie wieder ins Regal zu stellen. Wir besorgten uns daher für unseren Unterricht nur noch einfache Ausgaben der Bücher.

Natürlich versuchte sie dann auch die Auf- und Abbauarbeiten zu übernehmen, doch dabei konnte sie sich nicht ablenken und hatte große Probleme mit der Selbstkontrolle, was sie wieder frustrierte. Aber immer noch wollte sie nicht aufgeben. So ungern ich sie leiden sah, so stolz machte mich doch ihre Beharrlichkeit.


Da spätestens seit meinem Klinik-Experiment auch Edward restlos davon überzeugt war, dass ich den Durst definitiv unter Kontrolle hatte, ging er nun auch gerne mit mir aus. Vor allem Alice war restlos begeistert, dass es nun keinerlei Einwände mehr dagegen geben konnte, dass sie mit mir den einen oder anderen Einkaufsbummel durch Seattle machte. Obwohl ich mich eigentlich nicht so gerne als Anziehpuppe benutzen ließ, hatte diese neue Unbekümmertheit doch auch etwas von einem Stück mehr Freiheit. Ich war nun in meinem neuen Leben definitiv angekommen. Da war keine Angst mehr, vor einem unberechenbaren Teil meiner Natur. Ich würde nun unbesorgt mit Edward studieren können. Die Welt stand uns jetzt aus einem neuen Blickwinkel offen. Ich war einfach nur noch glücklich.

Besonders liebte ich es, jetzt in der Vorweihnachtszeit mit Edward durch die eine oder andere Innenstadt zu bummeln. Überall waren die Straßen geschmückt, standen Weihnachtsbäume und erklangen altbekannte Melodien. Auch das Haus der Cullens war weihnachtlich geschmückt. Bunte Girlanden und Kugeln hingen an den Fenstern.

Alice hätte am liebsten das ganze Haus von außen mit Lichtern und Figuren “verschönert”, so dass es vermutlich aus dem Weltraum zu sehen gewesen wäre, doch Carlisle redete es ihr mit Hinweis auf unsere Tarnung wieder aus und “halbe Sachen”, wollte sie nicht machen.

Eine Weihnachtskrippe mit offensichtlich sehr alten Holzfiguren stand in einer Ecke hinter dem Esstisch. Ich hatte Esme dabei beobachtet, wie sie jede einzelne Figur auspackte und sorgfältig an ihren Platz stellte. Dann, zum Schluss, als sie die letzte Figur, das Jesuskind, in den Händen hielt, schien sie völlig in ihren Gedanken versunken zu sein. Ich machte mir Sorgen um sie. Bestimmt erinnerte sie diese Figur jedes Jahr aufs neue an ihr Kind, das kurz nach der Geburt gestorben war. Ich ging zu ihr, legte den Arm um sie und streichelte ihr über die Schulter. Zusammen standen wir so minutenlang da und schauten die Krippe an. Dann seufzte sie kurz, legte die Figur an ihren Platz, schenkte mir ein Lächeln und machte sich an weitere Dekorationsarbeiten.


Besonders schön war zur Zeit aber der Wald. So wie jetzt, kurz vor der Jagd, wenn der Wald ganz ruhig war und alle Äste, Büsche und Sträucher mit unzähligen Eiskristallen von dem Frost der vergangenen Nacht übersät waren, dann hatte er eine ganz besondere Stimmung. Wenn dann noch ein Sonnenstrahl durch die Wolkendecke brach und das Licht von den Eiskristallen gespiegelt und gebrochen wurde, dann war die Schönheit der Natur überwältigend.

Auch bei der Jagd, machte sich meine neue Selbstkontrolle bemerkbar. Ich jagte jetzt sehr viel bewusster. Edward hatte mich anfangs gelehrt, meinen Instinkten für die Jagd die Kontrolle zu überlassen. So bekam ich natürlich alles mit, fühlte mich aber mehr als Zuschauer in mir selbst. Das war jetzt völlig anders. Meine Instinkte leiteten mich, doch ich traf die Entscheidungen bewusst. Ich erlegte meine Beute, ohne dass meine Kleidung zerrissen wurde. Ich trank, so wie Edward, ohne mich voll zu kleckern. Endlich hatte ich das Gefühl, einen lange gehegten Wunsch erfüllen zu können.

Jacob und Renesmee hatten bereits ihr Wapiti erlegt, doch ich wollte unbedingt einen Puma. Für gewöhnlich hatte ich mich in letzter Zeit auch gerne mit einem oder zwei Rotluchsen zufrieden gegeben oder auch einfach gar nichts gejagt und einfach nur Renesmee zugesehen, doch heute musste es ein Puma sein.

Wir waren schon drei Stunden im Wald unterwegs. Edward war sichtlich irritiert von meiner heutigen Fixierung, unbedingt einen Puma haben zu müssen, aber ich wollte ihm den Grund nicht verraten, bis es so weit war.

Endlich erschnupperte ich die Fährte eines Pumas und schoss los. Behände umkurvte ich die Bäume wie Slalomstangen, sprang einen Baumstamm an, um mich von ihm abzustoßen und flog praktisch geräuschlos in eine Baumkrone. Der Puma unter mir hatte mich nicht entdeckt, beobachtete jedoch die Eiskristalle, die von dem Baum herunterrieselten, von dem ich mich abgestoßen hatte. Ich ließ mich an ihm vorbei fallen, packte ihn dabei im Genick und riss ihn von seinem Ast zu Boden. Er hatte keine Chance zu entkommen, war starr in meinem Griff gefangen. Ich sah mich um und suchte nach Edward. Er stand etwas abseits, wie er es immer tat, wenn ich meine Beute hatte und schaute mir zu. Doch das war es nicht, was ich heute wollte. Ich lächelte ihn an, drückte meinen Schild weg und dachte “kommst du mal bitte zu mir, Liebster.”

Wieder blickte er sehr irritiert, kam aber gleich auf mich zu.

»Wie kannst du denn jetzt deinen Schild wegdrücken?«, fragte er verwirrt.

»Übung«, sagte ich, »doch das ist jetzt nicht wichtig. Edward ich wünsche mir schon so lange, dass wir uns einmal das Blut eines Beutetieres teilen, dass wir gleichzeitig zusammen trinken. Jetzt endlich weiß ich, dass ich das kann.«

Er kniete sich vorsichtig und abwartend auf die andere Seite des Pumas vor mich hin, sah mir tief in die Augen und lächelte so verführerisch, da er endlich verstand, warum es heute unbedingt diese Beute sein musste.

»Auf Drei!«, sagte ich. »Eins …. Zwei …. Drei!«
Beide bissen wir gleichzeitig in eine Flanke unserer Beute und tranken. Ich hörte seinen saugenden Rhythmus und spürte die Vibrationen in dem Körper, die er auslöste. Ich passte mich seinem Takt an und genoss das unbeschreiblich Gefühl. Der Geruch des Pumas, vermischt mit Edwards Duft und dazu der köstliche Geschmack in meinem Mund, war einfach überwältigend.

Plötzlich wollte ich etwas ganz Anderes. Ich ließ von dem Puma ab, sprang Edward an und drückte ihn mit dem Rücken auf den Boden. Geschmeidig glitt ich auf ihn, sah in seine überraschten Augen und küsste ihn mit all der Leidenschaft, dich ich für ihn empfand. Die Kombination seines betörenden Geruchs, des Geschmacks seiner Lippen und des Blutes unserer Beute war berauschend und ich ließ mich von meinen aufgewühlten Gefühlen für ihn leiten. Gott, ich liebte ihn so sehr und es war einfach wundervoll, ihm jetzt so nahe zu sein.

Es dauerte eine Minute, bis ich bemerkte, dass Jacob und Renesmee uns grinsend beobachteten. Jetzt hatte ich tatsächlich doch die Kontrolle verloren, wenn auch auf eine Art und Weise, die ich alles andere als bereute. Nun ja, ein bisschen peinlich war es allerdings schon.

»Manchmal muss es einfach Puma sein«, sagte Edward und grinste mich an.
»Stimmt«, erwiderte ich ebenfalls grinsend und war froh, dass ich nicht rot werden konnte.


Gestärkt und glücklich von der sehr, sehr guten Jagd, gingen wir wieder nach Hause. Renesmee zog mich wieder zum Training und grinste mich immer wieder an, ohne ein Wort zu sagen. Das Training selbst verlief wie meistens in den letzten Wochen. Renesmee lief gleich zu ihrem Stuhl, schlug das Buch auf und las dort weiter, wo wir am Vortag aufgehört hatten. Ich holte inzwischen die Blutkonserven aus dem Kühlschrank, schaltete die Wärmeplatte ein, kippte die Konserven in die Glasschüssel und ließ die leeren Behälter in den Mülleimer plumpsen.

Als das Lämpchen ausging, übernahm ich das Lesen und zählte dabei die Sekunden. Renesmee konzentrierte sich darauf, mir aufmerksam zuzuhören. Nachdem die 15 Minuten vorbei waren, zwinkerte ich ihr zu und las weiter vor. Das war unsere vereinbartes Zeichen. Sie ging zu der Schüssel, machte die Wärmeplatte aus, nahm die Schüssel und trug sie vorsichtig zur Spüle. Dann hielt sie inne und seufzte wieder. Sie schaffte diesen letzten Schritt einfach nicht und das tat mir so leid.

»Momma?«, sagte sie mit leicht zittriger Stimme. »Warum kann ich das einfach nicht. Bei dem kalten Blut habe ich das doch auch irgendwann geschafft, aber jetzt, wenn es warm ist und so köstlich duftet, dann hält mich irgendetwas in mir zurück, das Blut wegzuschütten. Das nervt total.«
»Sternchen, nimm es nicht so schwer. Du lernst doch jeden Tag etwas Neues, kannst jeden Tag ein bisschen mehr und irgendwann wirst du auch das schaffen.«

»Ich will das aber jetzt schaffen«, sagte sie ungewöhnlich zornig und kippte das Blut mit einer unkontrolliert heftigen Bewegung in die Spüle.

Blut spritzte auf, spritzte ihr auf die Hände, auf die Arme und in das Gesicht. Geschockt ließ die die Schüssel fallen, die laut scheppernd in die Spüle krachte. Noch mehr Blut spritzte hoch und klebte nun in ihren Haaren und auf ihrer Kleidung. Starr und entsetzt mit weit aufgerissenen Augen, blieb sie stehen.

Ich hatte das Buch bereits fallen lassen, mir ein großen Stück aus meinem T-Shirt gerissen und begonnen, ihr das Blut aus dem Gesicht zu wischen.

»Liebling, bleib ganz ruhig, Momma ist da.«

Edward riss die Tür auf und stürmte herein. Der Geruch des Blutes und Renesmees Anblick trafen ihn hart. Er brauchte eine Sekunde um sich zu besinnen und zu orientieren.

Renesmee zitterte, sagte kein Wort, blieb starr und unbewegt stehen. Ich griff nach ihrer Hand, doch sie zeigte mir nichts.

»Edward!«, rief ich und versuchte dabei eine ruhige Stimme zu behalten. »Bitte, was hörst du?«
Er konzentrierte sich auf ihre Gedanken. Sein Gesicht verzerrt.
»Sie ist wieder in ihrem Albtraum.«
»Oh nein, Renesmee, Sternchen, Liebling, hörst du mich?«
»Warte Bella, etwas ist anders.«
Edward blickte weiterhin konzentriert in ihr Gesicht.
»Sie ist an der Stelle, an der sie Charlie das letzte Mal getötet hatte, doch sie hält den Traum an, … es verändert sich.«
Gespannt kniete ich vor ihr. Knetete ihre Hände in meinen. Wartete, hoffte, bangte.
Plötzlich veränderte sich ihr Blick. Sie sah mich direkt an und wirkte dabei so gequält und schwach.
»Momma, hilf mir«, sagte sie zaghaft.

Darum musste sie mich nicht zweimal bitten. Ich hob sie auf meinen Arm und rannte direkt aus dem Trainingsraum heraus und nach Hause. Dort sprang ich sofort mit ihr unter die Dusche und zog ihr und mir die blutverschmierten Kleider unter dem laufenden Wasser aus. Ich hörte Edward, wie er eine Sekunde nach uns ins Haus kam und vor der Tür auf uns wartete.

Es dauerte ein paar Minuten, doch allmählich kehrte wieder Leben in meine Tochter zurück. Sie bewegte ihre Arme und Beine, wiegte ihren Kopf zur Seite und nach Vorne und Hinten. Ich kniete vor ihr und wusch die letzten Blutreste weg, die sie noch an sich kleben hatte. Dann sah sie mir in die Augen.

»Das war ziemlich dämlich was?«
Oh, ich musste sie einfach an mich drücken.
»Du hast mir jedenfalls einen gehörigen Schrecken eingejagt«, sagte ich.
»Tut mir leid, Momma.«
Ich sah sie wieder fragend an und ergriff ihre Hände.
»Kannst du mir jetzt vielleicht zeigen was los war?«

Sie überlegte kurz und dann nickte sie. Ihre Hände begannen zu vibrieren und augenblicklich schoss das Kribbeln wieder durch meine Arme in den Kopf. Sie zeigte mir ihre Erinnerung. Ich sah durch ihre Augen, wie sie mit der Glasschüssel in den Händen vor der Spüle stand. Ich spürte das Brennen im Hals, den Durst, der gestillt zu werden verlangte, spürte die Enttäuschung und das Gefühl, zu schwach zu sein. Hörte ihre Stimme, wie sie fragte, warum sie das nicht kann und dann meine wie ich versuchte ihr Mut zu machen.

Dann änderte sich alles. Aus der Enttäuschung wurde Wut. Der Raum wurde allmählich in rotes Licht getaucht. Ich hörte den Gedanken “ich habe keine Angst” und die zornigen Worte »ich will das aber jetzt schaffen« aus ihrem Mund. Ihr Zorn entlud sich in einer heftigen Bewegung. Blut spritzte auf und alles war auf einmal rot.

Sie war in sich alleine. Klammerte sich an den Willen, sich nicht zu bewegen, nichts zu tun, das sie nicht wollte. Der rote Raum veränderte sich. Die Wände, die Möbel alles war verschwommen und fügte sich neu zusammen. Sie war jetzt wieder in Charlies Wohnzimmer, blickte ihn an. Sah wieder das pulsierende Blut seines Körpers, doch der Zorn richtete sich nicht gegen Charlie, das konnte ich spüren. Er richtete sich gegen die rote Farbe. Nichts sonst war zu spüren. Keine Kontrolle über den Körper. Nur der Zorn auf das Rot.

Allmählich wurde das Rot schwächer. Sie blinzelte und war wieder im Übungsraum. Doch im gleichen Maße, wie das Rot schwächer wurde, spürte sie den Durst und das Brennen wieder aufsteigen. Sie war gefangen und musste zwischen der Qual des Durstes und dem Aufgeben der Selbstkontrolle entscheiden. Eine grausame Wahl.

Sie wollte um keinen Preis die Kontrolle verlieren, sie entschied sich für das Leid, das der Durst bedeutete. Das Brennen in ihrer Kehle war kaum auszuhalten. Sie brauchte ihre ganze Kraft dafür und konnte sich nicht bewegen. Ihr Blick suchte nach Hilfe und fand mein Gesicht vor sich. Mit letzter Kraft bat sie mich um Hilfe, spürte, wie ich sie hinaus trug, wie etwas frische Luft ihren Durst linderte. Wie Wasser über ihr Gesicht lief und der Blutduft langsam verschwand.

Die Übertragung endete, ich schloss sie wieder in meine Arme und drückte sie fest an mich.
»Sternchen, das tut mir so leid. Ich weiß genau wie du dich gefühlt hast.«
Fragend blickte sie mich an und ich begann zu erklären, was ich gemeint hatte.
»Weißt du, als ich vor etwa drei Monaten die Begegnung mit dem blutenden Jungen hatte, war ich genauso wie du in mir gefangen und konnte mich nicht mehr rühren. Zum Glück war damals dein Daddy für mich da, so wie wir jetzt für dich da waren.«

Nessie überlegte eine Weile und ließ weiterhin das angenehme Wasser aus der Dusche über ihren Kopf laufen. Dann plötzlich hörte ich von Edward ein leises Lachen und Renesmee rollte mit den Augen.

»Was?«, fragte ich in freudiger Erwartung. »Warum lacht Daddy?«
Sie zögerte kurz und sage dann:
»Daddy wird es dir ja sowieso erzählen. Also ich habe gerade gedacht, wenn es bei mir so war wie bei dir, dann muss ich wohl auch warten, bis ich eine Tochter habe, die ich ein bisschen quälen kann, um meinen Durst abzuschalten.«
Ich musste lachen und schlang sie wieder in meine Arme.
»Du bist echt unglaublich, Liebling.«

Es tat gut zu sehen, dass sie so kurz nach diesem schlimmen Erlebnis schon wieder fröhlichere Gedanken haben konnte. Ob das normal war? Aber was war schon normal. Sie wuchs so unglaublich schnell und ihr Verstand schien sich noch schneller zu entwickeln. Vielleicht verarbeitete sie deshalb auch traumatische Ereignisse so viel schneller.


Wir beendeten die Dusche und zogen uns frische Kleider an. Renesmee umarmte ihren Dad lange und eindringlich, bedankte sich auf diese Weise bei ihm für seine Hilfe. Die beiden brauchten nur selten Worte, um sich zu verstehen. Edward schien einfach nur erleichtert zu sein, dass es ihr wieder gut ging.

Dann machten wir uns wieder auf den Weg zum Haupthaus. In der Nähe der Garage war der Blutduft überdeutlich. In der Hektik hatten wir natürlich nicht die Entlüftungsanlage in der Schleuse benutzt. Das war mir in dem Moment egal gewesen, aber jetzt war ich mir wieder der Unordnung bewusst, die wir zurückgelassen hatten.

Ich schickte also Edward mit Renesmee schon mal ins Haus und ging erst einmal aufräumen. Auch wenn mir der heftige Blutduft nichts mehr anhaben konnte, so waren die Erinnerung an das kürzliche Drama noch viel zu frisch. Immer und immer wieder sah ich Renesmee im Geiste vor mir stehen. Geschockt, gefangen und hilflos. Es war hart. Ich beeilte mich mit den Aufräumarbeiten, aber die Beseitigung der ganzen Blutspritzer im Raum war ein echter Zeitkiller. Dann ließ ich die Entlüftungsanlage noch ein paar Mal bei geöffneter Schiebetür laufen, um den Raum angenehmer zu gestalten, falls Renesmee trotzdem weiter trainieren wollte. Aber nach dem heutigen Ereignis war ich mir da nicht mehr so sicher. Abschließend brachte ich dann noch den Müll raus.


Nachdem ich fertig war, zog ich mich vorsichtshalber noch mal um. Kleider hatte ich ja dank Alice mehr als genug. Danach ging ich wieder zu den anderen. Inzwischen hatte Renesmee allen von den dramatischen Minuten berichtet und erntete viel Anerkennung für ihre Tapferkeit und Willensstärke. Emmett zog sie natürlich gleich ein bisschen auf zu sagte zu ihr:

»Ja wo ist denn mein kleiner furchtloser Vampir? Ja wo ist er denn?«, und klopfte dabei mit der Hand auf den Oberschenkel, als würde er einen Hund anlocken wollen.

Renesmee ging darauf ein und jagte ihn knurrend und bellend durchs ganze Haus, bis er schließlich vor lauter lachen nicht mehr rennen konnte. Sie sprang auf ihn und er plumpste auf die Treppe, hielt sie aber sicher im Arm.

Ich setzte mich zu den anderen an den Tisch und sah meiner Tochter und Emmett zu. Rosalie saß neben mir und beobachtet auch amüsiert das Treiben. Renesmee wirkte inzwischen recht müde. Es war ein anstrengender Tag für sie gewesen. Immer wieder stupste Emmett sie mit seinen großen Fingern an die kleine zierliche Nase und sie versuchte seine Hand zu fangen. Nach mehrmaligen Versuchen bekam sie seinen Arm zu fassen und zog ihn an sich. Jetzt lag seine im Verhältnis riesige Hand auf ihrem Gesicht. Sie ließ ihn nicht los und er begann ihr sanft über den Kopf zu streicheln. Dann entspannte sich allmählich ihr Griff. Sie seufzte wohlig und schloss die Augen, bereit in Emmetts Umarmung einzuschlafen. Aus den Augenwinkel bemerkte ich, wie Rosalies Blick zum Boden wanderte und dort minutenlang verharrte. Dann stand sie auf und ging unbemerkt von den andern leise zur Tür und verließ das Haus.

Keinem war es aufgefallen. Emmett war mit Renesmee beschäftigt und konnte es wohl nicht fassen, dass dieses süße und so zerbrechlich aussehende Mädchen mit den langen bronzefarbenen Locken in seinem Arm einschlief und seine Streicheleinheiten genoss. Die Übrigen waren in einer Unterhaltung vertieft. Ich achtete nicht darauf, um was es ging. Ich suchte kurz nach Esmes Blick, doch sie schien gerade so glücklich an Carlisles Seite zu sein, dass ich sie jetzt nicht mit Rosalies ungewöhnlichem Verhalten stören wollte. Also ging auch ich unbemerkt von den anderen aus dem Haus.


Draußen angekommen sah ich mich um, konnte Rosalie aber nicht sehen. Ich konzentrierte mich kurz auf meinen Schild, doch konnte ich sie nicht erfassen. Wo war sie nur? Ich lief herum und versuchte ihre Fährte aufzunehmen. Nach einigen Sekunden entdeckte ich eine schwache Spur. Sie musste gerannt sein. Nicht mehr lange und die Spur wäre verweht. Ich rannte ihr nach, merkte allmählich, dass die Fährte stärker wurde und folgerte daraus, dass sie offensichtlich nicht mit höchstem Tempo rannte. Allmählich holte ich auf.

Einige Sekunden später sah ich sie dann und etwa 100 Meter hinter ihr rief ich sie.
»Rosalie?«
Sie blieb stehen und drehte sich überrascht um.
»Bella. Was machst du hier? Geh wieder nach Hause!«, sagte sie kurz angebunden und drehte sich wieder weg um weiterzulaufen.
»Rosalie! Bitte warte.«
»Was willst du Bella?«, sagte sie jetzt recht wütend. »Lass mich in Ruhe!«
Erneut drehte sie mir den Rücken zu.
»Rosalie, jetzt warte doch. Was ist denn los?«
Sie schnaubte ungehalten.
»Warum läufst du mir nach? Verdammt noch mal! Warum lässt du mich nicht in Ruhe?«
Wenigstens blieb sie jetzt stehen und mir zugewandt.
»Stimmt etwas nicht? Kann ich dir vielleicht helfen?«
Ungläubig und immer noch recht ungehalten blickte sie mich an.
»Warum zum Teufel willst du mir helfen?«

Mit dieser Frage hatte ich nicht gerechnet. War es denn so verwunderlich für sie, dass ich mich um sie sorgte? Sicher, wir waren nicht gerade beste Freundinnen, aber wir waren doch eine Familie.

»Rosalie, du bist doch wie eine Schwester für mich. Natürlich will ich dir helfen, wenn ich kann.«
Ich versuchte so überzeugend zu klingen, wie es mir nur möglich war und ergänzte dann noch:
»Wenn du mich lässt.«

Rosalie stand da und sah mich an, als würde sie nicht begreifen, wovon ich redete. Sie schüttelte mit dem Kopf und sprach jetzt in etwas ruhigerem, wenn auch immer noch feindseligem Ton.

»Bella, wann war ich jemals wie eine Schwester für dich? Wann war ich jemals nett zu dir? Wann war ich denn überhaupt jemals auch nur freundlich zu dir?«
»Aber das spielt doch jetzt keine Rolle. Bitte, lass mich dir helfen.«
»Warum? Warum willst ausgerechnet du mir helfen?«
Sie verstand es wirklich nicht.
»Aber Rosalie. Du hast mir damals während meiner Schwangerschaft so sehr geholfen, dass ich dir ewig dafür dankbar sein werde. Wieso darf ich mich denn nicht wenigstens ein kleines bisschen bei dir revanchieren?«

Rosalie lachte ein irgendwie grausam klingendes Lachen.
»Ha! Du denkst, ich hätte dir geholfen? Du hättest letztes Jahr bei der Geburt sterben können, es wäre mir egal gewesen.«
»Das weiß ich doch, Rosalie. Gerade deshalb bin ich dir doch so dankbar.«

Jetzt war sie verwirrt. Versuchte meine Worte zu verstehen. Versuchte zu erkennen, ob ich scherzte, doch meine Miene blieb ernst, denn das war mein Ernst.

»Du bist mir dafür dankbar?«, fragte sie ungläubig.
»Natürlich bin ich das. Ich wollte mein Kind retten, egal um welchen Preis. Edward hätte das niemals zugelassen. Carlisle hätte ihn auf jeden Fall unterstützt. Esme wäre zu sehr hin und her gerissen gewesen, zwischen der Rettung meines Lebens und der Erfüllung meiner Wünsche. Sie hätte sich alleine nicht durchsetzen können und Alice war voller Sorge, da sie mich während meiner Schwangerschaft nicht mehr in ihren Visionen sehen konnte. Du warst die Einzige, die mir wirklich helfen konnte und du hast es getan. Du hast die anderen davon abgehalten, mein Leben zu retten, in dem sie das Leben meines Kindes zerstören. Ohne dich hätte ich jetzt nicht das größte Glück, das ich mir jemals hätte vorstellen können.«

Wieder dachte Rosalie eine Zeit lang nach und schüttelte dabei mehrmals den Kopf.
»Ist dir denn nicht klar, dass ich dich von Anfang an gehasst habe?«
Doch, das war es mir, aber ich sagte nichts und so fuhr sie fort, als müsste sie es mir erklären.

»Ich habe dich dafür gehasst, dass Edward wegen deines Duftes fast ein Massaker an der Schule veranstaltet hätte. Ich habe dich dafür gehasst, dass er sich später in dich verliebt hatte. Ich dachte immer, Edward wäre unfähig zu lieben, da er nie an mir interessiert war, doch dann kamst du. Er hatte unser Geheimnis vor dir enthüllt. Ein Geheimnis, dass gewahrt werden musste. Ich wollte dir auflauern und dich dafür töten, doch Edward hätte dich mit allen Mitteln beschützt.«

Stumm ließ ich ihren Monolog über mich ergehen. Wenn ich ihr damit helfen konnte, ihr ein offenes Ohr zu schenken, dann war mir das auch recht.

»Und dann, Bella, dann wurde es sogar noch besser. Du wolltest alles für ihn aufgeben, alles, nur um genauso ein kalter Stein zu werden wie wir alle. Ich konnte es nicht begreifen. Du hattest doch alles, was ich mir wünschte. Du hattest ein Leben. Du hattest Verehrer. Du hättest ein glückliches Leben, Kinder, Enkelkinder haben können und wolltest alles für ihn aufgeben. Dafür habe ich dich noch mehr gehasst.«

Sie hielt kurz inne und fuhr dann fort.
»Und ich habe dich beneidet. Dafür, dass du so bedingungslos lieben konntest. Doch ich wollte dich nicht beneiden und habe dich nur noch mehr gehasst. Und als ob das alles nicht genug wäre, wirst du auch noch schwanger von ihm. Ein Kind. Ich hätte alles getan, um das selbst erleben zu dürfen. Ich war vor Neid zerfressen. Ich konnte es nicht fassen, dass du ausgerechnet mich dann um Hilfe gebeten hattest. Du wolltest ein Kind bekommen, das dabei war, dich von innen heraus zu töten? Ich verstand es nicht. Ich dachte deine Liebe galt Edward und jetzt warst du bereit dein Leben, ja deine Existenz zu opfern, für ein Kind, von dem du noch nicht einmal wusstest, ob es überhaupt überleben würde. Und wieder war ich neidisch auf dich, dass du auch dieses ungeborene Kind so bedingungslos lieben konntest, um dein Leben dafür hinzugeben.«

Wieder hielt sie kurz inne.
»Aus meinem Neid heraus, war ich bereit dich sterben zu lassen. Das ist nichts wofür du mir dankbar sein solltest. Das ist nichts, worauf ich stolz bin.«
Sie wirkte jetzt plötzlich betroffen. Als ob sie sich schuldig fühlte.

»Ich bin dir aber dankbar, ob dir das jetzt passt oder nicht. Ich wollte, dass mein Kind eine Chance bekommt, auch wenn ich mein Leben dafür geben müsste und nur du konntest mir dabei helfen, aus welchen Gründen auch immer. Das spielte keine Rolle für mich. Und dann, als sie auf der Welt war und ich mich verwandelt hatte, da hast du dich um sie gekümmert. Auch dafür bin ich dir dankbar. Egal aus welchem Grund du das gemacht hast. Auch das spielt hier keine Rolle. Und jetzt, Rosalie, ob es dir passt oder nicht, bist du Teil meiner Familie, oder ich bin Teil deiner Familie, wie auch immer du das sehen willst. Ich bin dir unendlich dankbar dafür, was du für mich getan hast. Es ist mir egal warum, ich bin einfach nur dankbar. Dankbar für meine Tochter, die ich ohne dich nicht hätte. Dankbar dafür, dass du immer bereit bist, dich um sie zu kümmern. Dankbar, dass du sie liebst.«

Betretenes schweigen trat ein. Sie konnte wohl nichts darauf erwidern.
»Rosalie, versteh doch. Ich habe dich immer bewundert. Du warst, nein du bis die schönste Frau, die ich jemals gesehen habe. Du bist so anmutig, so selbstbewusst, so stark. Du machst, was du für richtig hältst, egal was die anderen denken oder sagen. Du bist einfach … Rosalie.«

Immer noch keine Reaktion von ihr.
»Und was das Wichtigste ist, du bist die Lieblingstante meiner Tochter.«
Also da hatte ich jetzt eigentlich eine Reaktion erwartet, doch sie war immer noch im Gedanken und versuchte anscheinend das Gehörte zu verarbeiten.
»Rosalie, auch wenn du mir das nicht glaubst, aber ich möchte dich in meinem Leben nicht mehr missen. Du bist … meine Schwester. Bitte Rosalie, komm mit mir zurück.«

Ich drehte mich seitlich zu ihr und streckte ihr die Hand hin, in der Hoffnung, sie würde sie nehmen. Sie starrte mich verwundert an und dann, ein paar Augenblicke später, nahm sie tatsächlich meine Hand und lächelte verlegen.

Wir gingen gemeinsam zurück und schwiegen die meiste Zeit, doch ließ sie meine Hand nicht los. Ganz im Gegenteil. Mit der Zeit wurde ihr Händedruck sogar stärker.

Nach halber Strecke brach sie dann das Schweigen.
»Das war wirklich dein Ernst, oder? Dass du mich als Schwester siehst, obwohl ich immer so gemein zu dir war? Dass du nichts dagegen hast, wenn Nessie bei mir ist?«
»Mein voller Ernst!«

Sie seufzte kurz, schien immer noch damit zu ringen, ihre Gedanken neu zu ordnen.
»Weißt du, Bella, als ich Emmett gerade so mit Nessie gesehen hatte, wie ein richtiger Vater, da kam die Trauer in mir hoch und mit ihr der Neid auf dich, den ich nicht mehr spüren wollte. Ich hielt das nicht mehr aus. Ich musste einfach gehen. Ich dachte sogar darüber nach, nie mehr zurück zu kommen.«

»Rosalie, mach das ja nicht!«, sagte ich erschrocken. »Ich könnte es mir nie verzeihen, wenn du meinetwegen die Familie verlässt. Alle würden dich vermissen. Renesmee würde dich vermissen. Ich würde dich vermissen. Das darfst du niemals machen. Versprich mir das.«

Sie lächelte mich an. Ich kann mich nicht erinnern, dass sie mich jemals so ehrlich und aufrichtig angelächelt hätte.
»Ich verspreche es, Bella. … Unter einer Bedingung.«
»Welche?«, fragte ich gespannt.
»Nenne mich niemals wieder und vor allem nicht in der Gegenwart eines andern TANTE! Oder ich reiß dir den Kopf ab.«

Ich sprang ihr um den Hals und umarmte sie herzlich.
»Kopf, Arme, Beine, was immer du willst. Ich verspreche es.«
Sie lachte und erwiderte meine Umarmung. Nie zuvor hatte ich mich ihr so nahe gefühlt. Dann sah ich ihr ins Gesicht. Sie wirkte wirklich gelöst und glücklich und lächelte.

»Ganz ehrlich Rose, wenn du so lächelst, dann bist du sogar noch schöner. Solltest du echt öfters machen.«
Sie warf mir einen kecken und prüfenden Blick zu, nahm mir das aufrichtige Kompliment aber ab. Außerdem schien es sie nicht zu stören, dass ich sie zum ersten mal Rose genannt hatte.
»Könntest du mir noch einen gefallen tun, Bella?«
»Worum geht es?«
»Würdest du mich bitte abschirmen? Ich möchte nicht, dass Edward jetzt meine Gedanken lesen kann. Ich muss das erst verarbeiten.«
»Schon geschehen.«


Zusammen rannten wir den Rest des Weges wieder zurück. Vor der Tür blieb sie kurz stehen und zögerte noch, hinein zu gehen. Ich nahm sie wieder an die Hand und lächelte ihr aufmunternd zu und dann gingen wir hinein.

»Rosy, Bella, wo ward ihr denn?«, rief Emmett aufgeregt.
Er hatte sich wohl ernsthaft Sorgen um sie gemacht. Rosalie war betroffen, wusste nicht was sie sagen sollte. Daher übernahm ich das Reden.
»Wir waren spazieren. Ich brauchte ihren Rat. Weiberkram, weißt du.«

Rosalie lächelte mich für meine kleine Notlüge dankbar an und Emmett hatte keine Ahnung, was dieses Lächeln wirklich bedeutete. Er bemerkte nur, dass sich etwas zwischen Rosalie und mir verändert hatte und das lag nicht nur daran, dass wir uns immer noch an der Hand hielten.

»Weiberkram, hä? Was auch immer. Rosy, hast du gesehen, dass Nessie auf meinem Arm eingeschlafen ist? War das nicht … irgendwie cool?«
»Ja, war es mein großer Teddybär … und wo ist sie jetzt?«
»Ed hat sie ins Bett gebracht und ist gleich bei ihr geblieben.«
»Na dann werde ich dich jetzt wohl ins Bett bringen, Teddybär«, sagte Rosalie zu ihm mit einem verführerischen lächeln, ließ meine Hand los und ging zu ihm.

Sie streichelte sein Gesicht und gab ihm einen Kuss. Dann nahm sie ihn an die Hand und führte ihn zügig die Treppe hinauf zu ihrem Zimmer. Kurz bevor ich sie aus den Augen verlor, schenkte sie mir noch mal ein Lächeln.


Im Wohnzimmer waren jetzt nur noch Esme und Carlisle. Esme hatte uns beobachtet. Die Veränderung zwischen Rose und mir ist ihr natürlich aufgefallen. Sie hätte wohl zu gerne alles von mir erfahren, wagte es aber nicht mich zu fragen. Im Augenblick war sie wieder einmal einfach nur glücklich, dass die Familie noch ein Stückchen enger zusammengerückt war.

»Carlisle?«, fragte ich. »Es tut mir leid, aber ich bräuchte da schon wieder einmal deinen Rat.«
Er lächelte.
»Bella, das muss dir doch nicht leid tun. Ich bin immer gerne für dich da. Was hast du auf dem Herzen?«
Ich setzte mich an den Esstisch und Carlisle und Esme setzten sich dazu.
“Eine gute Gelegenheit um nebenbei etwas menschliches Verhalten zu üben”, dachte ich, doch dann konzentrierte ich mich auf meine eigentliche Frage.

»Carlisle, meine Nessie hat da vorhin nach dem Unglück im Training etwas gesagt. Sie hatte mir ihr Erlebnis gezeigt und es erinnerte mich an meines mit dem Jungen. Davon habe ich ihr dann erzählt und sie meinte im Scherz, dass sie dann wohl auch warten müsste, bis sie eine Tochter hätte, um ihren Durst so ausschalten zu können wie ich.«

Esme musste lächeln bei der Vorstellung und auch Carlisle war amüsiert.
»Und jetzt frage ich mich. Besteht überhaupt die Chance, dass sie jemals eine Tochter haben kann?«

Das Lächeln aus Esmes Gesicht war schlagartig verschwunden. Damit hatte sie nicht gerechnet. Carlisle blieb aber wie gewohnt souverän und dachte kurz nach.

»Bella, das weiß ich nicht. Vermutlich wissen wir in zwei bis drei Jahren mehr.«
»Warum in zwei bis drei Jahren?«, fragte ich nach.

Er holte tief Luft und begann seine Theorie zu erklären.
»Du weißt, dass Vampir-Frauen keine Kinder bekommen können, weil ihr Körper nicht fähig ist, sich zu verändern. Damit ist er auch nicht fähig, ein Kind zu empfangen. Renesmee ist nun aber ein Halbvampir. Wie stark die menschliche Hälfte nun wirklich ausgeprägt ist, das werden wir erst mit der Zeit erfahren. Ich weiß auch nicht, ob ihr Wachstum tatsächlich eine Veränderung ihres Körpers ist oder ob er einfach nur größer wird. In etwa zwei Jahren müsste sie die Entwicklungsstufe eines Kindes erreichen, das in die Pubertät kommt. Wenn sie dann eine Periode bekommt, glaube ich auch, dass sie ein Kind empfangen kann. Wenn nicht, dann nicht.«

»Das wäre wirklich schön, wenn ihr diese Möglichkeit offen stehen würde«, sagte ich und Esme lächelte und nickte mir zustimmend zu.

»Allerdings«, fuhr Carlisle fort, »wissen wir nicht, wie lange diese Möglichkeit dann offen steht, wenn es überhaupt dazu kommt. Wir haben nur einen Halbvampir getroffen und der hatte sich nach seinem siebten Lebensjahr nicht mehr verändert. Wenn das bei Nessie auch so ist, dann würde ihr ein Zeitfenster von höchstens drei Jahren bleiben, um Mutter zu werden. Vielleicht auch darüber hinaus, wenn der menschliche Teil stark genug ist, aber das wäre jetzt reine Spekulation.«

Wow, das waren ja mal ungewisse Aussichten. Ich bedankte mich bei Carlisle und Esme und ging zu unserem kleinen Haus. Darüber würde ich sicherlich die ganze Nacht nachdenken. Ich hoffte, dass Edward nicht zu enttäuscht sein würde. Na ja, ich könnte ihm ja den einen oder anderen schmachtenden Blick zuwerfen, den er so gerne hat. Aber mehr auch nicht. Oder doch? Ach ich werde es wohl einfach mal auf mich zu kommen lassen.


In der Nacht, es war kurz nach ein Uhr, fing es an zu schneien. Ich lag gerade in Edwards Arm und hing meinen Gedanken nach, als ich die ersten Schneeflocken am Fenster bemerkte. Ich löste mich aus seiner Umarmung, lächelte ihn an und trat vor die Haustür. Der Schnee rieselte langsam in immer größeren Flocken herab. Edward trat hinter mich und nahm mich in den Arm, als ob er mich wärmen wollte. Das war irgendwie witzig. Uns beiden machte die Kälte nichts aus, schließlich waren wir auch kalt. Vor allem, wenn wir draußen in der Kälte standen. Ich kam mir vor, wie ein Eiswürfel in einer Tiefkühltruhe, der sich an einen anderen Eiswürfel kuschelte. Bei dem Gedanken musste ich lachen. Ich senkte meinen Schild um Edward das lustige Bild in meinem Kopf zu zeigen. Dann lachten wir beide leise vor uns hin und er rubbelte meine Arme.

Im Laufe der Nacht wurde der Schneefall immer stärker. Kurz vor Sonnenaufgang waren es schon knapp 15 Zentimeter, als es dann allmählich nachließ. Ich ging wieder hinein und gleich in Renesmees Zimmer. Sie würde mir sicherlich verzeihen, wenn ich sie jetzt weckte. Spätestens jedenfalls, wenn sie den Grund dafür sehen würde. Ich setzte mich zu ihr an die Bettkante und streichelte sie mit meinen eiskalten Händen. Ihr Körper war wie immer sehr warm. Jetzt war ich ein schmelzender Eiswürfel im Backofen und kicherte wieder vor mich hin.

Renesmee schlug die Augen auf und blickte mich müde und etwas verwirrt an. Ich streckte ihr die Arme entgegen und sie raffte sich langsam auf, gähnte eindringlich und fiel mir dann geradezu in die Umarmung. Dann hob ich sie hoch und trug sie langsam zur Tür. Dabei summte ich “Let it snow” in ihr Ohr.

Als ich die Tür öffnete, fröstelte es sie kurz. Sie gewöhnte sich aber immer schnell an Temperaturschwankungen. Dann schaute sie sich um und augenblicklich strahlte sie über das ganze Gesicht. Wir kamen genau rechtzeitig heraus. Am Horizont ging gerade die Sonne auf und tauchte die verschneite Landschaft in ein oranges Licht.

Renesmee sprang von meinem Arm herunter und griff in den tiefen Schnee um einen Schneeball zu formen. Dann warf sie ihn tief in den Wald und grinste ihm hinterher. Dann hatte sie eine neue Idee. Sie ging ein paar Schritte in den Schnee, der auf unserem Weg lag, drehte sich zu mir um und ließ sich dann rückwärts mit ausgebreiteten Armen in den Schnee fallen. Dann ruderte sie etwas mit den Armen und Beinen und sank dabei - nicht zuletzt wegen ihrer Körpertemperatur - immer tiefer ein. Ich trat dazu und bückte mich zu ihr herunter, damit sie meinen Arm ergreifen konnte, nicht dass ihr Schneeengel durch Handabdrücke beschädigt würde. Dann saß sie wieder auf meinem Arm und bewunderte breit grinsend ihr Meisterwerk.

Ich hüpfte mir ihr in einem großen Satz darüber hinweg. Dann schob ich sie auf meinen Rücken, ihre Arme um meinen Hals gelegt und rannte los durch den Wald. Das Witzige dabei war, dass ich nur ganz leichte Abdrücke hinterließ, wenn ich so schnell über den Schnee rannte und durch die Schneeverwehungen, die meine Geschwindigkeit verursachten, waren die Spuren fast völlig verwischt. Nur wenn ich stehen blieb, sackte ich in den Schnee ein und Renesmee kicherte vor sich hin. Nach einer Weile rannte ich wieder zurück. Schließlich waren wir beide noch im Nachthemd und sollten uns allmählich anziehen.

Edward begrüßte uns.
»Da seid ihr ja wieder. Hat die Eisprinzessin mit der Schneekönigin einen schönen Spaziergang gemacht?«
Renesmee nickte freudestrahlend. Ich hatte das Gefühl, dass dieses Lachen heute nicht so schnell aus ihrem Gesicht verschwinden würde.


Nachdem wir uns umgezogen hatten, gingen wir wie jeden Morgen zur Cullen-Villa. Edward war ganz auf unsere Tochter konzentriert und lächelte vor sich hin. Ihre Begeisterung für den Schnee erfüllte wohl gerade ihre Gedanken. Ich konzentrierte mich auf meinen Schild und wartete darauf, dass wir nahe genug wären, damit ich Rosalie aufspüren könnte. Ich hatte ihr ja versprochen, sie vor Edward abzuschirmen. Ich wusste zwar nicht, ob sie das auch heute noch erwarten würde, wollte aber auf keinen Fall meine neu gewonnene Schwesternschaft riskieren. Schlimm genug, dass sie in der Nacht außerhalb meiner Reichweite war, aber da war sie ja mit Emmett beschäftigt und hatte wohl anderes im Sinn. Außerdem hatte Edward kein Wort darüber verloren und das schenkte mir Zuversicht. Seine Fähigkeit reichte ja leider sehr viel weiter als meine. Ich musste schon recht nahe sein, um jemanden zu schützen, aber Edward konnte vertraute Gedanken über weit aus größere Entfernungen hören. Meistens allerdings versuchte er sie auszublenden. Irgendwann würde ich das mit dem Umdrehen meines Schildes, so dass ich es über Edward stülpen könnte, um einfach alles vor ihm Abzuschirmen, richtig üben müssen.

Als ich Rosalie dann entdeckte, breitete ich sofort meinen Schild über ihr aus. Ich hoffte sehr, dass Edward noch immer nichts über das gestrige Ereignis in ihren Gedanken gelesen hatte. Er zeigte aber keine entsprechende Reaktion, was mich sehr beruhigte.

Als wir an der Garage vorbeikamen, bemerkte ich einen kurzen Blick von Renesmee zum Übungsraum und gleichzeitig ein etwas stärkeres Einatmen von ihr. Wollte sie vielleicht nicht mehr trainieren? Oder vielleicht nur nicht heute wegen des Schnees? Bestimmt würde sie trotzdem trainieren gehen, nur um zu beweisen, dass sie es ernst nahm, obwohl wir das alle auch so wussten. Da hatte ich eine Idee, wie ich ihr vielleicht aus der Patsche helfen könnte.

»Hey Sternchen, was meinst du? Ich finde du hast dir Schneeferien redlich verdient. Wie wäre es denn, wenn du die nächsten 2 Wochen so richtig Ferien machen würdest. Kein Unterricht, keine Üben, einfach nur im Schnee spielen so lange du willst, oder wozu du sonst Lust hast.«

Sofort strahlte wieder ihr Gesicht.
»Echt Momma? Ich darf Ferien haben? Zwei ganze Wochen?«
»Also wenn du dir keine Ferien verdient hast, wer denn dann?«, ergänzte Edward.
Er hatte wohl sofort durchschaut, was ich wollte und war voll und ganz dafür.
»Das ist ja super. Das muss ich sofort den anderen erzählen«, rief sie freudig aus und schon rannte sie ins Haus, Edward und ich dicht hinter ihr.

Wir trafen Carlisle und Esme im Wohnzimmer an. Er machte sich gerade auf den Weg zur Klinik und Esme verabschiedete sich von ihm.

»Esme, Carlisle, ich hab Schneeferien!«, jubelte Renesmee und rannte zu den beiden. Sie war so gut gelaunt, dass sie noch nicht mal “Opa” zu Carlisle sagte, wie sie es sonst so gerne tat, nur um sich einen kleinen Spaß mit ihm zu erlauben.

»Was? Schneeferien? Das ist ja toll!«, sagte Esme und hob sie voller Freude auf den Arm.
»Und was ist mit mir?«, tat Carlisle etwas beleidigt.
»Kannst du nicht nachfragen, ob du auch Schneeferien bekommst?«, wollte Renesmee wissen.
»Das wird leider nicht gehen«, sagte Carlisle mit gespielter Enttäuschung. »Gerade bei solchen Wetterumschwüngen haben wir besonders viel in der Klinik zu tun.«

Das konnte ich mir gut vorstellen. Früher genügte es bei mir, dass ich nur eine Schneeflocke sah, um auszurutschen und hinzufallen.

»Das tut mir aber leid«, sagte Renesmee mitleidig.
Sie hatte sein Spiel durchschaut. Dann stupste sie Carlisle mit dem Zeigefinger an die Nase und verabschiedete sich von uns.

Oben kam gerade Rosalie aus dem Zimmer und Emmett folgte ihr. Als sie Edward sah, zuckte sie kurz fast unmerklich zusammen, aber es war mir nicht entgangen. Ich konnte mir vorstellen, was ihr gerade in dem Moment durch den Kopf gegangen war, aber zum Glück hatte ich sie ja schon abgeschirmt und Edward sah sie irritiert an. Ich zwinkerte ihr zu und sie verstand sofort was los war und lächelte.

»Guten Morgen Edward, guten Morgen Schwesterchen«, sagte sie fröhlich.
»Rosalie!«, rief Renesmee, als sie ihre Stimme hörte, hüpfte von Esme herunter und rannte zu ihr. »Ich hab Schneeferien!«, verkündete sie fröhlich.
»Wow, das ist ja toll«, bestätigte Rosalie ihr. »Und was machst du jetzt, da du Ferien hast?«
»Na im Schnee spielen natürlich. Was für eine Frage«, erwiderte sie und schüttelte dabei entrüstet den Kopf und schon im nächsten Augenblick lachten die beiden herzlich miteinander.

Edward schaute mich fragend an. Ich wusste was er wissen wollte, gab ihm einen Kuss auf die Wange und flüsterte ihm »Geduld, Schatz« ins Ohr. Er mochte es nicht, wenn ich etwas vor ihm verheimlichte, das wusste ich, aber wie immer akzeptierte er es mit einem leicht frustrierten Seufzen. Allerdings, als er dann sah, wie Rosalie mit Renesmee auf dem Arm zu uns herunter kam, mich anlächelte und mir über die Schulter streichelte, da wich seine Enttäuschung und machte großer Verwunderung platz.

»Rosalie?«, fragte Renesmee. »Darf ich Jacob anrufen? Ich muss ihm doch von meinen Schneeferien erzählen. Ich darf doch jetzt, wenn ich will, den ganzen Tag mit ihm im Schnee spielen.«
»Na wenn das so ist…«, sagte Rosalie und holte ihr Handy aus der Tasche. »Hier bitte.«


Schließlich kamen auch Alice und Jasper aus ihrem Zimmer. Alice blieb an der Treppe stehen und sah verwundert ständig zwischen mir und Rose hin und her.

»Was ist hier los?«, fragte sie mit energischer Stimme.
Wir hatten zwar eine Ahnung, was sie meinte, blickten uns aber gespielt unschlüssig an.
»Bella, Rosalie, was hat das zu bedeuten?«
»Ähm, was denn, Alice?«, fragte ich.
»Na, könnt ihr mir mal verraten, warum ich ständig sehe, wie ich mit euch beiden zusammen einen Einkaufsbummel mache? Und egal wie, ihr beide habt immer Spaß dabei. Ich kapier gerade gar nichts mehr.«

Rose und ich mussten lachen. Alice setzte ein beleidigte Miene auf und kam herunter, doch spätestens, als sie bei uns ankam, war auch sie am grinsen.
»Mögt ihr euch jetzt etwa?«
»Was ist los Alice, traust du deinen Visionen nicht mehr?«, fragte Rosalie um sie etwas zu ärgern.
»Ich traue nicht mal meinen Augen, wenn ich euch ansehe.«, gab sie zur Antwort. »Bitte, bitte, bitte, was ist denn passiert? Quält mich doch nicht so«, bettelte Alice und schaute dabei abwechselnd wieder zu mir und zu Rosalie.

Ich blickte Rose fragend in die Augen. Sie wusste, dass ich wissen wollte, ob wir es ihr verraten sollten. Dann sprach sie zu Alice.
»Weißt du, Alice, ich hatte gestern ein längeres Gespräch mit Bella und dabei habe ich festgestellt, dass ich sie inzwischen doch ganz gut leiden kann. Wir machen einen Neuanfang, nicht war?«, sagte sie und schaute mir dabei lächelnd in die Augen.
»Machen wir Rose«, antwortete ich und ergriff ihre Hand.

Alice schaute uns verwundert an. Sie traute wirklich ihren Augen nicht. Ich hielt ihr meine andere Hand hin und Rose tat es mir gleich. Esme, die das Ganze aus der Küche heraus beobachtet hatte, platzte gleich vor Freude.

»Ehrlich Mädels, egal warum, ich freue mich drauf«, sagte Alice und ergriff unsere Hände.

Wie ausgelassene Girlies quietschten wir vergnügt und hüpften im Kreis. Das fand ich zwar total albern und eigentlich passte das so gar nicht zu mir, aber jetzt im Moment war ich so fröhlich, dass es mir nichts ausmachte.

Unsere drei Männer standen fassungslos neben uns und beobachteten das verrückte Schauspiel. Alle mussten grinsen. Besonders Jasper, der die ganze Intensität unserer Freude spürte, genoss den Augenblick.

»Mensch Mädels, was glaubt ihr denn, wie wir den Männern die Köpfe verdrehen werden, wenn wir zusammen shoppen gehen. Das wird ein Riesenspaß.«
Alice war ganz aus dem Häuschen.
»Oh ehrlich ihr beiden. Ein größeres Geschenk hättet ihr mir nicht machen können und dabei ist doch noch gar nicht Weihnachten.«

Shopping war zwar nicht meine Lieblingsbeschäftigung, aber jetzt, bei der guten Stimmung, da freute ich mich direkt darauf, auch wenn ich wusste, dass ich bald schon einige Lektionen in Sachen “Mode” zu hören bekommen würde.

Plötzlich lachte Edward laut auf.
»Das ist nicht dein Ernst, Jasper. Du willst nicht wirklich mit den Mädels shoppen gehen.«
Emmetts lautes Lachen brachte die Fenster zum vibrieren. Dann meinte er:
»Ich hab doch schon immer gewusst, dass unser Vampirkrieger eine feminine Seite hat.«

Jasper machte eine schnelle Bewegung, als würde er Emmett an die Kehle springen und der zuckte total überrascht zusammen, doch Jasper lachte nur. Er war im Augenblick einfach viel zu gut gelaunt, um sich über Emmetts Scherz ernsthaft ärgern zu können und außerdem entschädigte ihn Emmetts überraschter Gesichtsausdruck dafür.

Ich stand jedenfalls noch mit meinen Schwestern eine Weile zusammen und bekam - oh Wunder - meine erste Lektion bezüglich der aktuellen Modetrends. Renesmee war inzwischen draußen. Jacob hatte sich natürlich nicht lange bitten lassen und war so schnell wie möglich her gerannt, um mit seiner Nessie im Schnee spielen zu können. Er freute sich darauf mindestens genauso sehr wie sie.


Emmett setzte sich vor den Fernseher und zappte durch die Kanäle, während Jasper und Edward uns noch immer amüsiert und verwundert zusahen, wie wir im Kreis standen und gackerten. Am Rande bekam ich mit, wie Emmett die “Jungs” zum Fernseher rief. Er hatte wohl etwas Interessantes entdeckt. Ich hätte gerne nachgesehen was es war, aber ich musste mich ja jetzt dem Mode-Thema aufgeschlossen zeigen und durfte mich nicht ablenken lassen. Dennoch bemerkte ich nach einer Weile, dass unsere drei Männer plötzlich angespannter wirkten. Ich wies meine Schwestern mit einer Kopfbewegung darauf hin, dass vor dem Fernsehen etwas merkwürdig war und schlagartig änderte sich unsere Interessenlage.

Im Fernsehen kam das Nachrichtenprogramm eines regionalen Senders. Ich hatte schon öfters bemerkt, dass dieses Programm häufig angesehen wurde. Die Cullens waren alle sehr an dem öffentlichen Geschehen in ihrer Umgebung interessiert. Jetzt gerade lief ein Bericht über einen Autounfall.

»Hey Jungs, was läuft da?«, wollte Rosalie wissen.
»Ein Bericht über eine Unfallserie in Olympia«, erwiderte Emmett.

Ich wusste nicht viel über Olympia, nur dass es die Hauptstadt von unserem Bundesstaat Washington war und vielleicht 50.000 Einwohner hatte. Ich war schon mal mit Edward dort gewesen. Es sind vielleicht 100 Meilen bis dort hin, ein Katzensprung für Vampire.

»Was für eine Unfallserie?«, wollte ich wissen.
Auch Esme kam zu uns und wirkte etwas besorgt. Kurz darauf war der Fernsehbericht zu Ende und Emmett informierte uns über das, was er mitbekommen hatte.

»Sie haben davon berichtet, dass es in den letzten drei Monaten eine merkwürdige Serie von Unfällen mit Todesopfern gegeben hatte. Jede Woche gab es irgendwo im Stadtgebiet mindestens ein Autounfall oder einen Wohnungsbrand, einmal auch einen Chemieunfall und jedes Mal starben ein paar Menschen und wurden bis zur Unkenntlichkeit verstümmelt. Es sind inzwischen schon rund 100 Tote. Eine extrem große Zahl für eine Stadt wie Olympia.

»Und ich habe kürzlich etwas von einer gestiegenen Anzahl von Vermissten in Olympia gelesen«, ergänzte Rosalie. »Ein paar Dutzend vielleicht.«

“Oh nein”, dachte ich. “Da wird doch hoffentlich nicht schon wieder eine Vampirarmee gezüchtet.”
Was hatte das nur zu bedeuten?

Jasper bemerkte mein Entsetzen und wusste wohl, was ich dachte.
»Keine Panik, Bella. Das ist sicherlich keine Armee«, sagte er, um mich zu beruhigen.

Edward erschrak und war augenblicklich an meiner Seite, um den Arm um mich zu legen. Dann gab er mir einen zärtlichen Kuss auf die Schläfe.

»Was ist es dann, Jasper?«, wollte ich wissen.
»Ich glaube schon, dass es Neugeborene sind. Die leiden sehr stark unter ihrem Durst  - die meisten jedenfalls - und mehrere Opfer alle paar Tage, spricht dafür, dass es Neugeborene sind. Es sind aber nicht so viele Opfer, immer so vier oder fünf. Daher dürften es auch nicht mehr als eben fünf von unserer Art sein.«

“Unsere Art” sagte er. Nein, nein, nein, das war ganz und gar nicht meine Art, aber ich behielt meinen Gedanken für mich. Ich wollte ihn damit nicht verletzen.

»Aber Jasper, ich verstehe das nicht. Fünf Vampire in Olympia? Die können sich doch dort nicht niederlassen, wenn sie so viele Menschen ermorden. Das erweckt doch die Aufmerksamkeit der…«

Ich konnte nicht weiter sprechen. Ich wollte jetzt auf keinen Fall “Volturi” sagen. Nicht jetzt. Nicht schon wieder. Es war auch nicht nötig das offensichtliche auszusprechen. Jeder wusste welches Wort ich in meinem Satz weggelassen hatte. Das Gefühl bedroht zu sein war allgegenwärtig.

»Ich denke, wir sollten das heute Abend mit Carlisle besprechen«, meinte Esme. Natürlich hatte sie recht. Ohne Carlisles Meinung würde jetzt niemand etwas entscheiden. Aber dennoch waren sich alle sicher, in Olympia gab es eine Handvoll Vampire, die sich dort seit drei Monaten aufhielten.


Jeder von uns ging anders damit um. Esme schien zu versuchen, keinen Gedanken daran zu verschwenden. Jasper analysierte wohl schon die Hintergründe und versuchte das Rätsel zu lösen. Emmett bereitete sich gedanklich auf einen Kampf vor und grinste gelegentlich. Edward war angespannt und eher wütend, dass so etwas vor unserer Haustür passierte. Auch Rosalie schien deshalb verärgert zu sein. Sie mochte es ganz und gar nicht, wenn ihr jemand in die Quere kam. Alice ging in sich und versuchte eine Vision davon zu bekommen, was das für uns bedeutete. Ich jedoch wusste nicht, was ich davon halten sollte. Warum machte jemand so etwas in unserer Nachbarschaft? Hatten wir Feinde, von denen ich nichts wusste? Würde es zu einem Kampf kommen? Würde es tatsächlich wieder die Volturi zu uns führen? War meine Renesmee in Gefahr? Ich seufzte angesichts so vieler offener Fragen. Ja, wir würden auf Carlisle warten müssen.


Der Tag zog sich grausam in die Länge. Ich versuchte mich auf andere Gedanken zu bringen und ging nach draußen, um nach Renesmee zu sehen. Es funktionierte. Sie spielte so fröhlich im Schnee, dass ich für den Moment meine Sorgen vergaß. Mal spielte sie Rodeo mit Jacob in Wolfsgestalt und lachte ausgelassen, wenn er sie von seinem Rücken herunterschleuderte und sie im tiefen Schnee landete. Dann bauten sie eine Schneeburg und machten eine Schneeballschlacht. Natürlich sollten Edward und ich gleich mitmachen. Wir spielten Jungs gegen Mädchen und da ich Renesmee gleich mit abschirmte, konnte Edward sein “unfaires” Talent natürlich nicht nutzen. Später kamen dann auch Emmett und Rosalie dazu. Die Schneebälle flogen mit einer unglaublichen Geschwindigkeit kreuz und quer durch die Luft. Selbst mit Super-Reflexen war es schwierig so vielen Geschossen gleichzeitig auszuweichen und natürlich zur Entlastung wieder zurückzuwerfen. Früher oder später hatten wir alle einige Treffer abbekommen. Vor allem Edward. Ob das aber daran lag, dass er sich von unserer Tochter und mir absichtlich treffen ließ oder daran, dass ich ihm seinen Vorteil geraubt hatte, wusste ich nicht. Er wirkte jedenfalls nicht traurig darüber.

Nach der Schneeballschlacht gab Emmett noch den Yeti zum Besten und jagte die kreischende Renesmee um die Schneeburg herum. Das war seine Revanche für gestern. Schließlich ergab sie sich lachend und winselte um Gnade.


Am Abend dann, als Carlisle nach Haus kam, bat ich Jake, sich den Rest des Abends um Renesmee zu kümmern und sie dann direkt zu uns nach Hause ins Bett zu bringen, wenn sie müde würde. Er freute sich sehr darüber. Anschließend gingen wir wieder ins Haus, um unsere Besprechung abzuhalten.

Carlisle merkte sofort, dass etwas nicht in Ordnung war und Jasper informierte ihn über unseren Wissensstand. Zwischenzeitlich hatte er noch im Internet nach den jüngsten Informationen geforscht und hatte so einen recht guten Überblick über die Lage. Er ist eben ganz Soldat. Schließlich setzten wir uns alle an den Tisch und Jasper ergriff das Wort.

»Ich denke, wir alle wissen, dass in Olympia eine Handvoll Vampire ihr Unwesen treibt. Wir wissen, dass das früher oder später die Volturi auf den Plan rufen wird. Das Problem muss also schnellstmöglich beseitigt werden. Wir wissen auch, oder sagen wir mal, ich bin mir ziemlich sicher, dass ein erfahrener Vampir dahinter steckt, denn diese Morde werden sehr gut getarnt. Es ist nur die Rede von Unfällen und von Vermissten. Niemand unterstellt eine Mordserie wie in Seattle letztes Jahr. Was die Sache jedoch erschwert, ist nicht das, was wir wissen, sondern das, was wir nicht wissen. Wir müssen herausfinden, wer dahinter steckt und was derjenige bezweckt.«

Carlisle blickte zu Alice.
»Hast du denn irgendetwas herausgefunden?«
Sie schüttelte frustriert den Kopf.
»Ich verstehe das nicht, Carlisle. Ich kann nichts sehen, das uns direkt bedroht. Es ist so, als ob wir nicht Ziel dieser Gruppe wären und doch sind sie direkt in unserer Umgebung und bleiben dort. Ich sehe aber auch nichts anderes, was das erklären könnte. Es scheint einfach so, als würden sie grundlos dort sein. In jedem Fall haben sie keine Entscheidung getroffen, die uns betrifft. Das hätte ich bestimmt gesehen.«

Dann meldete sich Rosalie zu Wort.
»Für mich klingt das ähnlich wie damals in Seattle. Die Neugeborenen wussten auch nicht, wozu sie gezüchtet wurden und Victoria vermied die Entscheidung, damit du sie nicht sehen konntest, Alice. Wer auch immer das macht, vermeidet die Entscheidung und wenn er das macht, dann richtet sich das gegen uns. Dann geht es nur darum, dich blind zu halten. Ich meine daher, wir sollten schnellstmöglich dort hin gehen und die Bedrohung beseitigen.«

Emmett gefielen die kämpferischen Schlussworte seiner Rosy. Er sah es wohl ganz genauso. Auch Carlisle nickte dem zu. Ich war mir aber nicht sicher, ob das Zustimmung war, oder einfach nur ein Dankeschön für die geäußerte Meinung.

Esme gefiel das allerdings ganz und gar nicht.
»Aber was ist, wenn das ganze ein Zufall ist? Vielleicht ist es ein neuer Zirkel oder der Versuch, einen aufzubauen. Vielleicht sieht Alice nur nichts, weil sie wirklich nichts im Schilde führen. Wenn es nur eine Handvoll sind, dann wären die uns doch nicht wirklich gewachsen. Ich glaube einfach nicht, dass uns da jemand angreifen will. Wir sollten nicht unüberlegt gegen Unschuldige in den Kampf ziehen. Wir sollten versuchen, mit ihnen in Kontakt zu treten und sie dazu bewegen, von hier wegzugehen.«

Auch dem nickte Carlisle zu. Ich wurde nicht schlau aus ihm. So ein Dilemma. Rosalies und Esmes Meinungen waren beide plausibel und doch total gegensätzlich.

Dann wandte sich Carlisle an Jasper.
»Was schlägst du vor, Jasper?«
»Eine Aufklärungsmission.«
Natürlich, ganz Soldat, aber vermutlich war das unser größtes Glück, dass er wusste, wie wir vorzugehen hatten.
»Wie soll die aussehen?«, fragte Carlisle nach.
Jasper atmete kurz durch während er mir einen Blick zu warf.
»Von uns ist nur einer wirklich prädestiniert dafür«, gab er zur Antwort.
Alle blickten ihn fragend an und schließlich nannte er den Namen, den ich nicht hören wollte.
»Edward!«

Edward wusste es natürlich schon vorher. Er nickte zur Bestätigung. Es waren Augenblicke wie dieser, da verwünschte ich diese blöde Gabe von ihm. Immer wieder brachte sie ihn in Gefahr, machte ihn zum Ziel der Volturi. Natürlich war er der Richtige dafür. Er konnte als einziger die Gedanken in seiner Umgebung nach Anzeichen für Vampire durchforsten. Insbesondere bei Neugeborenen, die häufig den eigenen Durst und sonst nur wenig anderes im Sinn hatten, würde er und nur er schnell mehr erfahren können.

Ich ergriff seine Hand, denn ich hatte Angst um ihn. Die Welt hatte sich gerade verkehrt. Jetzt war ich diejenige, die besorgt war. Natürlich würde Edward sich nicht unnötig in Gefahr bringen, aber was, wenn ihm etwas zustieße?

»Jasper?«, sagte ich. »Du willst ihn aber nicht alleine schicken, oder? Du gehst doch bestimmt mit ihm.«
Er spürte natürlich meine Sorge und seufzte.
»Bella, militärisch gesehen, agieren Aufklärer alleine. So können sie sich am besten unbemerkt bewegen und bleiben getarnt. Je mehr es sind, desto größer die Gefahr, dass sie entdeckt werden.«

»Militärisch gesehen!?«, fauchte ich ihn an.
Am liebsten hätte ich ihn gepackt und geschüttelt bis er seinen Verstand wieder gewonnen hätte, aber leider hatte er ihn wohl nicht verloren. Im Grunde wusste ich, dass er recht hatte, ich wollte nur nicht, dass Edward sich dieser Gefahr ganz alleine aussetzte. Jasper fühlte natürlich meine Wut und Besorgnis und redete daher besonders sachlich und ruhig. Außerdem verspürte ich eine merkwürdige Gelassenheit, die so gar nicht zu meinen Gedanken passte und mir war sofort klar, was der Grund dafür war.

»Hör’ auf meine Gefühle zu beeinflussen!«, schnauzte ich ihn an und gleich im nächsten Augenblick verschwand diese künstliche Emotion.

»Entschuldige bitte, Bella. Ich wollte es für dich nur einfacher machen, denn ich weiß, dass das schwer zu verstehen ist, aber von uns allen ist Edward am besten geeignet. Nicht nur, weil er dank seiner Gabe schneller als irgendjemand sonst das Ganze aufklären kann, sondern auch, weil ihn seine Gabe sehr viel früher vor einem Hinterhalt warnen würde. Außerdem, ist er der Schnellste von uns, falls tatsächlich Gefahr droht.«

Warum musste er nur “Gefahr” sagen? Warum dieses Wort?

»Bella, Liebste. Ich weiß, was ich zu tun habe. Ich will niemanden sonst aus der Familie in Gefahr bringen. Ich will, dass du bei unserer Tochter bist. Ich kann mich alleine schützen, aber wenn noch jemand dabei wäre, wäre auch das Risiko größer.«

Ich war traurig und schrecklich besorgt. Meine Hand verkrampfte sich auf seiner. Was könnte ich denn dagegen sagen? “Nein Edward, wir gehen alle, ich will dass alle sich in Gefahr bringen.” Blödsinn. Oder “Edward, ich gehe mit dir.” Das würde er nicht zulassen. Oder “Edward, geh’ nicht, lass jemand anderes gehen.” Wie egoistisch. Oder “nein, ich will dass keiner geht. Warten wir was passiert.” Wie leichtsinnig. Am Ende wären die Volturi wieder da. Nein, ich hatte keine andere Lösung. Jasper wusste, was hier zu tun war, ich würde ihm vertrauen müssen und Edward würde hoffentlich gut auf sich aufpassen und wohlbehalten zu mir zurückkehren.

»Edward?«, sagte ich zaghaft. »Versprich mir bitte, dass du beim kleinsten Anzeichen von Gefahr sofort zu mir zurück rennst, so schnell du nur kannst.«
Er gab mir einen zärtlichen Kuss und lehnte seinen Stirn an meine.
»Natürlich verspreche ich dir das.«
Ich seufzte. Zumindest ein klitzekleines bisschen war ich jetzt erleichtert.

»Wann soll ich aufbrechen, Jasper?«
»Je eher, desto besser, Edward. Sobald wir wissen, was vor sich geht, können wir unsere weiteren Schritte planen.«
»Dann werde ich jetzt aufbrechen.«
Was? Er wollte mich sofort verlassen? Wieder verkrampfte sich meine Hand auf seiner. Das konnte er doch nicht machen.
»Edward?«, flüsterte ich erschrocken.
»Bella, je schneller ich aufbreche, desto schneller bin ich auch wieder zurück und desto früher können wir die Bedrohung für die Familie beseitigen.«

Kaum, dass er das gesagt hatte, stand er auf. Sofort sprang ich ihm um den Hals und drückte ihn an mich. Ich wollte ihn nie mehr loslassen, aber ich wusste, dass ich das musste. Er gab mir Zeit, mich zu beruhigen, streichelte meinen Rücken und küsste mein Haar.

»Bella, Liebste, ich werde bald zurück sein.«
Mit sanftem Druck schob er mich von sich weg und ich ließ es nach kurzem Zögern zu. Ich hätte mich stärker an ihn klammern können, aber ich wusste, dass er es für das Richtige hielt, jetzt zu gehen. Das Richtige, um die Familie zu schützen.

»Hey Eddy. Komm aber ja nicht auf die Idee, die Typen selbst aufzumischen. Das machen wir dann schon zusammen, klar.«
Emmett grinste. Er nahm so etwas immer auf die leichte Schulter. Vielleicht war es so tatsächlich besser zu ertragen. Ich wusste es nicht. Ich konnte es nicht.
»Geht klar Em«, sagte Edward kurz.

Er hätte sicherlich gerne mit Emmett weiter gescherzt, aber er wusste, dass ich das nicht ertragen könnte. Selbst jetzt nahm er Rücksicht auf mich.

Der Reihe nach verabschiedeten sich alle von Edward und wünschen ihm Glück. Dann kam er noch mal zu mir, gab mir einen zärtlichen Kuss und ging zur Tür hinaus.

Esme nahm mich in den Arm, um mir Mut zu machen und Alice kam dazu und meinte:

»Er kommt zurück, Bella. Sei unbesorgt.«

Ich konnte nicht unbesorgt sein. Alice’ Visionen änderten sich ständig. Vielleicht sah sie Edward jetzt zurückkommen, weil er jetzt entschlossen war, zurückzukommen. Aber was, wenn er dort war, wenn er das Geheimnis gelüftet hatte und dann etwas Anderes entschied? Nein, ich konnte nicht unbesorgt sein. Das Gegenteil war der Fall.


Ich blieb noch eine Weile und ließ die anderen versuchen, mir Trost zu spenden, doch eigentlich war das sinnlos und ich wollte im Grunde lieber alleine sein. Ich vermisste ihn jetzt schon schrecklich, aber ich wollte mich nicht der Angst um ihn ergeben. Ich wollte zuversichtlich sein, doch es gelang mir nicht. Das Loch in meiner Brust, diese grausame Leere, schwoll an. Ich musste versuchen mich zusammen zu halten, um nicht zu zerreißen. Schließlich ging ich nach Hause.

Jacob hatte Renesmee ins Bett gebracht und vor der Tür gewartet. Ich bedankte mich bei ihm. Natürlich merkte er, dass etwas nicht in Ordnung war, aber ich konnte jetzt nicht reden und er akzeptierte das. Ganz der alte Jacob. Also ging ich hinein, legte mich aufs Bett, zog die Knie an die Brust und versuchte nicht auseinander zu brechen. Es gelang ganz gut, doch ich konnte nicht aufhören zu schluchzen.

Kapitel 7 - Die Mission (aus Edwards Sicht)

Die Haustür fiel hinter mir zu. Ich musste gehen. Ich konnte nicht länger bleiben. Bella so zu sehen, so besorgt um mich, das war grauenhaft. Jetzt verstand ich etwas besser, warum sie mir immer gut zuredete, nicht so besorgt um sie zu sein, doch ich konnte jetzt nicht bleiben. Es war das Richtige, diese Mission zu übernehmen. Aber sie so zu sehen, wie sie sich an mich geklammert hatte, wie ich mich aus ihrer Umarmung befreien musste, das war schrecklich. Das wollte ich nicht, aber es musste doch sein. Sie wusste es. Sie hätte mich fester halten können, doch sie ließ zu, dass ich mich aus ihren Armen löste und dann, als wäre das alles nicht schon schlimm genug, dann beging ich auch noch die grausamste aller Zärtlichkeiten.

Ich gab ihr einen Abschiedskuss. In dem Moment, als ich das tat, erinnerte ich mich schlagartig an jenen verfluchten Tag, an dem ich sie verlassen hatte, um ihr ein menschliches Leben ohne mich zu ermöglichen. Ich tat es, ohne zu wissen, wie sehr sie leiden würde. Ich werde mir das niemals verzeihen und doch hatte ich ihr wieder einen Abschiedskuss gegeben. Nein, so durfte ich nicht denken. Ich musste mich konzentrieren. Ich würde wiederkommen, sie in meine Arme schließen und dann würde ich sie nie mehr los lassen.


Jasper hatte mir im Gedanken noch diverse Anweisungen gegeben. Als erstes musste ich nach Hause, um Winterkleidung anzuziehen. Also rannte ich los.

Jacob saß vor der Tür. Natürlich. Er hatte Nessie zu Bett gebracht und wartete darauf, dass Bella oder ich nach Hause kamen. Ich konnte es in seinen Gedanken hören.

»Hallo Edward«, sagte Jacob. »Nessie schläft schon.«
Ich nickte nur, ich wollte jetzt nicht reden. Ich ging an ihm vorbei ins Haus.
»o.k. … dann geh ich mal wieder«, sagte er und dachte dabei: “Was hat er denn?”

Ich stockte kurz. Das war nicht richtig von mir. Er war ein anständiger Kerl und hatte nicht verdient, abweisend behandelt zu werden. Klar, wir hatten in der Vergangenheit unsere Differenzen, aber die hatten wir im vergangenen Jahr hinter uns gelassen. Ich war zwar nicht gerade grenzenlos begeistert davon, dass er meine Tochter liebte, aber er hatte sich mehr als ein Mal als guter Freund und Verbündeter erwiesen.

»Warte Jacob, … entschuldige … ich wollte nicht unhöflich sein, aber ich muss gleich wieder weg. Würdest du bitte hier bei Nessie bleiben bis Bella kommt?«
»Klar, mach ich gerne, aber was ist los, stimmt etwas nicht?«
»Genau das will ich herausfinden, deshalb muss ich weg.«

“Was soll die Geheimnistuerei?”, dachte Jacob. “Sag was los ist. Besteht Gefahr?”
»Ich weiß es nicht. Es geht etwas in Olympia vor sich und ich muss dort hin. Wenn wir genaueres wissen, geben wir dir Bescheid.«
Jacob nickte und gab sich für den Moment damit zufrieden. Ich ging ins Haus, um mich umzuziehen.


Jasper wollte, dass ich eine dicke Winterjacke mit Kapuze anzog, Handschuhe, ein Stirnband und einen Schal übers Gesicht. Nicht wegen der Kälte, die machte mir ja nichts aus, sondern zum Zwecke der Tarnung. Wenn das, was dort vor sich ging, gegen uns gerichtet war, dann steckte jemand dahinter, der uns kannte. Deshalb sollte ich nicht so schnell zu erkennen sein. Jetzt nur noch eine Sonnenbrille für tagsüber. So vermummt kam ich mir vor, wie der Held aus “Der Unsichtbare”. Ich könnte im Sonnenlicht durch die Straßen gehen. Kein Lichtstrahl würde meine Haut treffen. Aber selbst wenn da irgendwo etwas durchglitzern sollte, bei dem Schnee überall und dem ganzen weihnachtlichen Glitzerkram würde das wohl keinem Menschen auffallen.

Im Gedanken gab Jasper mir noch die Anweisung, mit dem Auto zu fahren, doch das verstand ich nicht. Was sollte das bringen? Bei dem Wetter fahren die Menschen doch noch langsamer als sonst. Dann sind da auch noch die Räumfahrzeuge unterwegs und vermutlich die eine oder andere Polizeistreife. Da brauchte ich mindestens zwei Stunden, bis ich in Olympia war. Aber zu Fuß, querfeldein, wäre ich in 20 Minuten dort, vielleicht sogar noch früher und je früher ich dort war, desto früher könnte ich auch wieder bei Bella sein. Für mich war die Sache klar, ich wollte laufen.

Jacob wartete wie versprochen vor der Tür. Ich nickte ihm zum Abschied zu und er dachte noch “Viel Glück dabei, was auch immer du vorhast”, während er mir hinterher sah.

Ich rannte so schnell ich konnte in Richtung Olympia. Zum Glück war es Nacht und keine Menschen war auf meinem Weg. Die Schneewolke, die ich hinter mir aufwirbelte, wäre wohl aus größerer Entfernung zu sehen gewesen. Vielleicht hatte Jasper deshalb gemeint, ich sollte mit dem Auto fahren. Ich hätte auf ihn hören sollen, aber ich werde jetzt nicht mehr umkehren. Wenn ich Bella noch mal begegnen würde, könnte ich vielleicht nicht noch mal die Kraft aufbringen, um von ihr wegzugehen.


Jasper wusste was zu tun war. Hier konnte er seinen Wert für die Familie unter Beweis stellen und alle waren froh, dass er bei uns war. Wenn sie nur wüssten. In solchen Momenten, wenn sein militärisches Genie benötigt wurde, dann veränderte sich schlagartig sein Denken. Es war fast so, als ob dann ein anderer Jasper im Raum wäre. Es ist wie eine Gabe, oder ein Fluch, der im Laufe der Jahrzehnte Teil von ihm wurde. Keine Unsicherheit mehr. Keine Selbstzweifel. Keine Angst, dass sein Durst die Familie in Gefahr bringen könnte. Aber auch kein Mitgefühl. Nur militärischen Kalkül. Ich hatte seine Gedanken gehört und seine Erinnerungen gesehen.

Die Wut stieg in mir auf, wenn ich nur daran dachte, was ich in ihm gesehen hatte, als er anfing mit Bella das Kampftraining zu machen. Ich sah seine Erinnerungen, wie er früher Neugeborene ausgebildet hatte. Hart, grausam und gnadenlos. Er ließ die Neuen alleine, wenn sie sich verwandelten. Er nahm sie danach in Empfang. Er nutzte seine Gabe, um ihnen Angst zu machen. Er ließ sie glauben, dass er den Schmerz der Verwandlung jederzeit wieder zurückkommen lassen könnte, wenn sie nicht machten, was er sagte. Alle gehorchten ihm. Wer sich widersetzte, wurde hart bestraft oder gleich als Warnung für alle anderen getötet, denn für Widerspenstige hatte er keine Verwendung. Wer jedoch seinen Anweisungen folgte, der wurde belohnt und durfte seinen Durst stillen. Zuckerbrot und Peitsche. So schaffte er eine Disziplin, welche die vermutlich besten Neugeborenenarmeen ermöglichte. Wer aus der Reihe tanzte oder unkonzentriert war, dem riss er augenblicklich vor den Augen der anderen ein Bein oder einen Arm ab. Vielleicht nur ein Ohr, wenn er gnädig gestimmt war. Er ließ sie den Schmerz der Verletzungen erleiden. Das ganze untermauert von einer Aura der Angst und Verzweiflung. Erst wenn der Rekrut genug gelitten und um Gnade gewinselt hatte, gab er die Gliedmaße zurück, um sie wieder anwachsen zu lassen.

Genau diese Gedanken hatte er, als er begonnen hatte, mit Bella zu trainieren. Er war enttäuscht von ihrem mangelhaften Kampfwillen. Sie wollte kämpfen, das sah er, aber sie wollte es nicht um jeden Preis. Ihr Kampfgeist war zu schwach. Ihre Disziplin zu gering. Ich hatte mehr als einmal gesehen, wie er ihr im Gedanken einen Arm abriss, wenn sie schon wieder den gleichen Fehler gemacht hatte oder nicht voll bei der Sache war. Obwohl er wusste, dass ich zusah, unterdrückte er diese Gedanken nicht. Dieser Seite von Jasper war das egal. So funktionierte seine Ausbildung. Die Schwachen vor den Augen der Starken leiden lassen. Er sah in ihr dann immer eine schwache Kämpferin. Solche Schwachstellen hatte er in Gefechten immer zur Ablenkung eingesetzt. Sie wussten es nicht, aber er hatte sie geopfert, damit die übrigen leichtes Spiel mit ihren Gegnern hatten. Was waren schon zwei oder drei verlorene Schwächlinge, wenn zwei Dutzend Feinde vernichtet wurden. So einfach ist die Mathematik des Krieges.

Allerdings sah er in Bella nicht nur die schwache Kämpferin. Er sah in ihr vor allem eine strategische Spezialeinheit. Ihr Schild ist äußerst wertvoll in seinen Augen. Es war kein Zufall, dass Bella den Ausschlag gegeben hatte und sich die Volturi letztes Jahr zurückzogen. Doch so schwach, wie sie war, musste sie immer geschützt werden. Ein Feind würde sie zuerst ausschalten. Sie musste seiner Meinung einfach lernen, richtig zu Kämpfen. Er war überzeugt, dass sie den Willen und die Veranlagung hätte, wenn sie nur die nötige Motivation finden könnte.

Oh ja, Jasper wusste, was nötig gewesen wäre. Emmett hatte ihm erzählt, wie sie damals ihren Schild trainiert hatte, als Jasper mit Alice in Südamerika unterwegs waren. Er hatte seinen Erzählungen aufmerksam zugehört. Er fand vor allem sehr interessant, dass sie es nicht schaffte, mich richtig abzuschirmen, dass sie aber dann plötzlich enorme Fortschritte gemacht hatte, als sie Nessie beschützen musste. Ja, Jasper war sofort klar, dass ihre Tochter der Schlüssel war. An ihren Durst dachte er dabei nicht, denn das passte nicht in sein militärisches Denken. Aber es überraschte ihn nicht wirklich, als Carlisle diese Erklärung gefunden hatte. Er war nur hoch konzentriert und interessiert. Fragte sich, wie er das im Training mir ihr ausnutzen konnte. Stellte sich vor, wie er Bella dazu zwang, Renesmee im Nahkampf vor ihm zu schützen. Oder wie Bella versuchen müsste, die verängstigte Renesmee aus seinen Fängen zu retten.

Ein Knurren grollte aus meiner Kehle, bei all diesen Erinnerungen. Vor lauter Wut rannte ich noch schneller. Jasper wusste, dass die Familie es nicht zulassen würde, dass er diesen Weg ging, um Bella auszubilden. Aber er hatte Geduld. Vielleicht, wenn Nessie alt genug wäre und von sich aus selbst im Kampftraining unterwiesen werden wollte, dann könnte niemand etwas dagegen haben. Dann könnte er sie benutzen, um Bella auszubilden. Davon würden seiner Meinung nach beide enorm profitieren.

Ich hatte oft mit mir gerungen, ob ich den anderen davon erzählen sollte. Ob sie wissen sollten, wie er dachte, wenn er als Soldat benötigt wurde. Doch ich tat es nicht. Es hätte einen Keil in die Familie getrieben. Alice hätte sehr gelitten und außerdem gab es da ja auch den anderen Jasper. Hilfsbereit, rücksichtsvoll, unsicher und mitfühlend. Einen Jasper, der von positiven Gefühlen der anderen magisch angezogen wurde. Zwei Welten gefangen in einer Person. Nein, ich mochte diesen Teil von ihm und ich akzeptierte den Nutzen des anderen Teils. Doch ich würde ihm den Kopf abreißen, wenn der andere Teil meiner Familie ein Leid zufügen würde.


Eine viertel Stunde war ich inzwischen gerannt und konnte Olympia schon sehen. Jasper meinte, ich sollte mit den Außenbereichen anfangen. Industrieanlagen, alte verlassene Häuser, heruntergekommene Wohngegenden. Orte, an denen er Rekruten ausbilden würde, wo sie nicht ständig vom Geruch der Menschen abgelenkt würden und wo die Gefahr der Entdeckung am geringsten war. Also ging ich zuerst ins Hafenviertel und schon bald hatte ich die Gedanken von Menschen aufgeschnappt. Ich versuchte in normalem Tempo zu gehen und nicht zu auffällig zu sein. Ich tastete die Gegend nach Gedanken ab, die verdächtig sein könnten. Straße um Straße schritt ich ab. Es dauerte eine Ewigkeit und es waren immer nur die gleichen belanglosen Gedanken. Es ging fast nur um Geld, Sex und Alkohol, um die Probleme zu ertränken oder um einfach abschalten und feiern zu können. Meiner Erfahrung nach die typischen Gedanken von Menschen, die tief in der Nacht noch unterwegs waren.

Ich brauchte alleine vier Stunden, bis ich das gesamte Hafengebiet durchsucht hatte. Immer wenn ich unbeobachtet war, lief ich schneller, als es für Menschen üblich war. Doch das ging immer nur kurze Zeit. Es waren einfach immer irgendwo Leute unterwegs. Jetzt verstand ich auch, weshalb Jasper mir die Anweisung gegeben hatte, das Auto zu nehmen. Selbst wenn ich zwei Stunden gebraucht hätte, um hierher zu kommen, wäre ich jetzt mit dem Auto sehr viel schneller in den Straßen unterwegs gewesen. Keiner hätte sich über ein Auto gewundert, das zu schnell durch die Straßen fuhr, aber ein Mann, der schneller als ein Auto durch die Straßen rannte? Das durfte ich nicht machen. Ich ärgerte mich maßlos darüber, dass ich nicht Jaspers Instruktionen befolgt hatte. Ich kannte doch sein militärischen Genie, auch wenn es mir nicht gefiel, aber hier und jetzt, wusste er am besten, was zu tun war.


Weitere endlose Stunden verbrachte ich mit dem Absuchen der Flughafenumgebung und eben der Stadtviertel, die in Stadtführern nicht erwähnt wurden oder vor denen sogar gewarnt wurde. Doch nichts. Es war nichts zu hören, das auf einen Vampir schließen lies.

Inzwischen war die Sonne aufgegangen und ich zog den Schal enger um mein Gesicht, die Kapuze tiefer und setzte die Sonnenbrille auf. Das dämliche Teil beeinträchtigte meine Sehvermögen. All diese winzigen Kratzer und Staubpartikel, die sich daran festgesetzt hatten, zogen meine Aufmerksamkeit auf sich. Es dauerte eine Stunde, bis ich mich soweit daran gewöhnt hatte, dass ich es halbwegs ignorieren konnte.

Ich ging praktisch kreisförmig das Stadtgebiet ab. Wie eine Spirale, die sich immer enger zog. Im Zentrum wartete dann der am dichtesten besiedelte Teil der Stadt. Der Teil, in dem ihre Anwesenheit am unwahrscheinlichsten war. Das konnte doch nicht sein? Waren sie vielleicht gar nicht in der Stadt, oder nicht mehr? Warteten sie vielleicht außerhalb und kamen nur zum Jagen in die Stadt? Ich hätte mir mehr Zeit nehmen sollen, um die Strategie genauer mit Jasper zu besprechen. Jetzt war ich hier und vergeudete eben genau diese Zeit und Bella musste noch länger auf mich warten.

Verdammt. Ich wollte nicht, dass sie warten musste, aber ich wollte auch nicht mit leeren Händen zurückkommen. Alle verließen sich auf mich. Ich musste weitersuchen.


Die Sonne stand jetzt in einem ungünstigen Winkel und ich zog die Kapuze enger. Meine Tarnung musste perfekt sein, wenn ich in das Stadtzentrum gehen wollte. Ich durfte keinen Fehler machen.

Die Turmuhr zeigte halb elf an, als ich die Haupteinkaufsstraße erreicht hatte. Hier war erhebliches geschäftiges Treiben. Viele wollten nun endlich ihre Weihnachtseinkäufe erledigt haben. Ihre Gedanken waren erfüllt von dem Stress und der Hektik. Namen wurden immer und immer wieder im Gedanken abgehakt. Geschenke zugeordnet. Es war so ermüdend. Hunderte von Stimmen. Unmöglich alle genauer zu hören und zu überwachen. Zweifel stiegen in mir auf. Ich musste versuchen, nach bestimmten Begriffen zu suchen. Begriffe, die im Denken von Neugeborenen zu finden sein müssten. “Durst”, war so ein Begriff. Der Einzige, der meiner Meinung nach untrennbar mit Neugeborenen verbunden war. Der letzte Zwischenfall lag eineinhalb Tage zurück. Sie mussten inzwischen wieder Durst haben.

Ich öffnete meinen Geist so gut ich konnte und lauschte dem Stimmengewirr, während ich langsam die Straße entlang ging.

“Was für ein schönes Kleid? Wie bringe ich John nur dazu, es mir zu schenken?”

“Oh, wie gerne hätte ich diese Kette.”

“Ob Dad diese Krawatte gefällt?”

“Hey, in dem Fummel würde meine Zuckermaus bestimmt heiß aussehen.”

“Opa, Oma, Mom, Onkel Herbert, Jenny, Sue…”

“Wo ist meine Brieftasche?”

“Was schenke ich nur Billy?”

“Ich habe solchen Durst.”

Was war das? Wer hatte das Gedacht? Oh man, nur ein kleiner Junge an der Hand seiner Mutter. Also weiter.

“Wo habe ich denn meine Autoschlüssel?”

“So jetzt aber schnell nach Hause.”

“Warum nur hat sie uns verlassen? Ob sie wiederkommt?”

“Wieso hier? Wieso nur müssen wir hier bleiben?”

“Der Geruch macht mich wahnsinnig.”

Diese Gedanken waren anders. Sie klangen anders. Sie kamen aus dem gleichen Bereich. Die wollte ich mir mal genauer anhören.

“Ich will hier raus, ich will hier raus, dieser Geruch, das Brennen, Warum hat sie uns hier zurückgelassen?”

Die Gedanken wurden von einem Bild zweier roter Augen in der Dunkelheit begleitet. Das musste einer von ihnen sein. Die Augen in seinen Gedanken, hatte ich sie schon mal gesehen? Ich achtete nie wirklich auf die Augen der anderen unserer Art. Ich mochte das Rot nicht. Mochte nicht, wofür es stand.

“Verdammt, erinnere dich an mehr. Zeig mir wo du bist”, dachte ich, doch er zeigte mir nichts.

Seine Augen waren geschlossen. Vermutlich kauerte er auf dem Boden. Immer wieder die gleichen Gedanken. Eine endlose Schleife. Immer nur die roten Augen, die ich nicht zuordnen konnte.

»Reiß dich zusammen«, hörte ich plötzlich in den Gedanken meines Observationsobjektes. Das waren nicht seine Gedanken. Das hatte er gehört. Er blickte auf. Endlich würde ich etwas zu sehen bekommen.

Nein, nicht viel. Der Raum war dunkel. Die Fensterläden geschlossen. Nur schemenhaft erkannte ich die Umrisse eines anderen.

»Lass mich in Ruhe!«
»Du weißt, was Mutter gesagt hat. Sie musste gehen, weil wir zu viel Aufmerksamkeit erregt haben. Weil wir zu oft unseren Durst gestillt haben.«
»Und was sollen wir jetzt machen?«
»Genau das, was sie gesagt hat! Und jetzt reiß dich zusammen. Heute Nacht gehen wir.«

“Wohin? Wohin geht ihr? Wer hat das gesagt? Wer ist eure Mutter. Verdammt, denkt endlich daran.”

Sie taten es nicht. Immer nur die gleichen Gedanken “Durst, Brennen, Warten, Verlassen.” Das beschäftigte sie alle. Nur einer, der wohl der Anführer war, dachte ab und zu auch etwas Anderes. Dachte an ihre Augen, an Bäume und an Wanderschaft. Was hatte er vor? Welche Anweisungen hatte er erhalten?

Ich sah mich um. Schaute die Häuser an, aus deren Richtung die Gedanken kamen. Mir fiel ein Stockwerk auf, bei dem alle Fensterläden geschlossen waren. Das musste es sein. Ich konzentrierte mich auf diese Region und blendete alles andere aus. Ich versuchte, nur die Gedanken aus diesem Stockwerk aufzufangen.

Da waren noch andere Stimmen. Noch zwei andere Stimmen. Die Gedanken von vier Vampiren. Jasper hatte richtig vermutet. Es waren vier Neugeborene. Die Schöpferin, die sie erwähnt hatten, an die jeder hin und wieder dachte, war weg. Keiner hatte ein konkretes Bild. Immer nur die roten Augen oder ein vermummtes Äußeres. Eine Frau, da war ich mir sicher. Aber eine durchschnittliche Größe. Keine besondere Anhaltspunkte. Sie hatte sich bedeckt gehalten, das war offensichtlich und ließ nur einen Schluss zu. Sie kannte meine Gabe. Es ging also um uns. Aber was wussten die vier Neugeborenen? Was hatten sie heute Nacht vor? Ich würde sie beobachten müssen.

Ich ging die Straße auf und ab, achtete auf eine natürliche Körperhaltung und menschliche Bewegungen.


Stundenlang beschäftigte ich mich mit der Frage, wie ich am besten vorgehen sollte. Die Sonne würde in Kürze untergehen. Ich seufzte, als ich mir selbst eingestehen musste, dass ich Jaspers Rat brauchte. Ich verzog mich in eine ruhige Seitengasse, lehnte mich an die Schattenseite einer Häuserwand, holte mein Handy heraus und drückte die benötigte Kurzwahltaste. Nach einem Klingelton ging Jasper dran.

»Edward. Was gibt es Neues?«
»Ich habe etwas entdeckt, weiß aber noch nicht genau, was dahinter steckt.«
»Edward. Ich kann nicht Gedanken lesen. Und du kannst es vermutlich auch nicht durchs Telefon. Also gibt mir gefälligst Details mit denen ich etwas anfangen kann.«

“Oh, wie ich seinen Befehlston liebe.”
»Ich bin im Zentrum. Hier sind viele Menschen unterwegs und erledigen ihre Weihnachtseinkäufe. Ich habe die Gedanken von vier Vampiren in einer verdunkelten Wohnung aufgeschnappt. Vermutlich alles Neugeborene, da bin ich mir ziemlich sicher, aber dafür sind sie recht beherrscht. Sie versuchen ihren Durst zu unterdrücken. Ihre Schöpferin, sie nennen sie Mutter, ist wohl weg. Sie hat ihnen aber anscheinend Anweisungen gegeben und deshalb wollen sie heute Abend los gehen.«

»Im Zentrum sagst du? Wie ungewöhnlich. … Was weißt du über die Schöpferin?«
»Nicht viel. Offensichtlich wissen sie auch nur wenig. Ich sehe immer nur die roten Augen, die ich nicht zuordnen kann.«
»Und wo wollen sie hin?«, fragte Jasper nach.
»Auch das wissen sie wohl nicht genau. Ich sehe nur Wanderschaft und Bäume in den Gedanken des einen, den ich für ihren Anführer halte.«


Eine Zeit lang schwiegen wir uns durch das Telefon an. Jasper dachte nach und ich hasste es, dass ich durch das Telefon keine Gedanken lesen konnte. Andererseits wäre das aber auch problematisch. Man stelle sich vor, ich würde mit einem Menschen telefonieren und auf seinen Gedanken antworten. Was für eine Risiko.

Dann endlich sagte Jasper wieder etwas.
»Edward, wir müssen wissen, wohin sie gehen. In der Stadt, im Zentrum, dort können wir sie nicht angreifen. Das Risiko ist einfach zu groß. Wenn sie von uns weg ziehen, dann ist es nicht mehr unser Problem und wenn sie in unsere Richtung ziehen, dann werden wir sie irgendwo in der Wildnis stellen. Du musst dran bleiben.«
»In Ordnung«, bestätigte ich kurz.

»Wo bist du jetzt?«, wollte Jasper wissen.
»Na im Zentrum, wie schon gesagt. Ich behalte das Haus im Auge.«
»Bist du wahnsinnig? Du bist der einzige von uns der keinen Sichtkontakt braucht, um sie zu observieren und du bleibst in ihrer Nähe? Hast du den Verstand verloren? Habe ich dir nicht klare Instruktionen gegeben? Wenn sie dich entdecken - und du weißt, dass wir alle einen Blick für andere unserer Art haben - dann wird das übel.«
Ich schnaubte. Wie konnte er es wagen, so mit mir zu sprechen?
»Edward! Deine Tarnung funktioniert bei Menschen. Geh auf Abstand. Geh aus ihrer Sichtweite. Verfolge sie über ihre Gedanken, verdammt noch mal.«
»Ich habe es verstanden Jasper.«
»Dann halte dich daran. Such dir einen Platz auf einem Dach, von wo aus du dich schnell und unbemerkt in der Dunkelheit bewegen kannst.«

Ich sagte nichts, ich kämpfte mit meiner Wut über diese Standpauke.

»Edward. Hast du mich verstanden?«
»Ja!«, sagte ich zorniger, als ich sollte und wollte.
Jasper atmete ruhig durch. Vermutlich war es für ihn ungewohnt über das Telefon Anweisungen zu erteilen, wenn er die Gefühle des Empfängers weder spüren noch beeinflussen konnte.
»Ich will nicht, dass du dich unnötig in Gefahr bringst. Halte dich an den Plan!«
»Ich habe es kapiert.«
»Gut, dann such dir jetzt einen geeigneten Platz und melde dich, wenn du etwas Neues erfahren hast.«
»Bis dann«, sagte ich kurz.
»Bis dann, Edward … und keine Dummheiten mehr.«

Genug. Ich klappte das Handy zu und versuchte mich zu beruhigen. Ich wusste, dass er recht hatte und das machte mich nur noch wütender.

Nach einer Weile konzentrierte ich mich wieder auf meine Aufgabe und suchte mir ein passendes Versteck. Die Sonne war inzwischen untergegangen. An einer dunklen Hauswand in einer Seitengasse ohne Straßenlaternen stieg ich empor aufs Dach und versteckte mich hinter einem Mauervorsprung. Dann konzentrierte ich meine Gabe wieder auf die vier Neugeborenen.

Immer noch die gleichen Gedanken, aber jetzt ungeduldiger. Sie würden aufbrechen, sobald die Stadt zur Ruhe gekommen war.


Dann war es soweit. Ich hörte deutlich ihre Gedanken. Jetzt, da die Straßen fast leer waren und nicht mehr so viele Störgeräusche mich ablenken konnten, hörte ich sie sehr deutlich. Außerdem war ich nun schon seit Stunden auf ihre Gedankenstimmen fixiert. Ich würde sie jetzt auch aus größerer Entfernung hören können, da ich ihre Frequenzen erkannte.

»Wir gehen los. Macht euch bereit!«, hörte ich im Gedanken den Anführer sagen. Aufbruchstimmung breitete sich aus und sie öffneten ein Fenster. Ich sah durch ihre Augen, dass sie die Straße nach Beobachtern absuchten. Dann ging es sehr schnell. Einer nach dem anderen sprang aus dem Fenster und ging unverzüglich zur nächsten Häuserwand, wo das Licht der Laternen sehr schwach war und das Mondlicht einen Schatten warf und sie für menschliche Augen praktisch unsichtbar waren. Der Anführer gab die Richtung vor. Sie gingen nach Westen.

“Verdammt” schoss es mir durch den Kopf. “Nicht zu uns ihr verfluchten Schurken.”

Sie waren schnell. Es dauerte keine Minute und sie hatten das Zentrum verlassen. Ich folgte ihnen über die Dächer, sprang von Haus zu Haus so lange es ging. Dann musste ich auf die Straße wie sie, blieb aber immer auf Abstand. Gut eine Meile, also weit genug, um unentdeckt zu bleiben und nah genug, um sie nicht zu verlieren.

Sie rannten aus der Stadt heraus und wandten sich dann in nördliche Richtung.

“Das darf doch nicht war sein”, dachte ich. “Die Bäume in seinen Gedanken, das ist der Olympic National Park.”

Sie waren sehr vorsichtig beim Überqueren der Straßen und achteten sehr darauf, nicht entdeckt zu werden. Sie wurden offensichtlich gut ausgebildet. Nicht zu Soldaten, wie es schien, sondern darin, unauffällig zu bleiben.

Ihre Richtung war unregelmäßig. Sie gingen nicht geradewegs auf ein Ziel zu. Ich konnte auch kein konkretes Ziel in ihren Gedanken sehen. Nur das unbestimmte Ziel, sich zum Wald zu bewegen und in Bewegung zu bleiben.

Zehn Minuten später hatten sie den Waldrand erreicht und rannten hinein. Es zog sie tiefer in den Wald. Ihr Weg führte sie immer weiter in Richtung Forks. Immer näher an meine Familie heran, doch nicht direkt.

Sie waren noch immer sehr schnell unterwegs. Bei dem Tempo wären sie in gut fünf Minuten bei uns, aber war das ihr Ziel? Ich konnte es nicht sehen. Sie dachten es nicht.

“Geht weiter”, dachte ich. “Geht an Forks vorbei.”

Was sollte ich tun, wenn sie ihr Weg immer näher zu uns führte, immer näher zu Bella?

“Oh Bella”, dachte ich und sah ihr Gesicht bei unserem Abschied vor meinem Inneren Auge. “Ich hoffe du bist in Sicherheit. Ich liebe dich. Ich werde nicht zulassen, dass…”

Verdammt! Ich hatte mich ablenken lassen und nicht bemerkt, dass sie stehen geblieben waren. Ich Narr war einfach weitergelaufen und ihnen zu nah gekommen, viel zu nah. Vielleicht 300 Meter. Ich konnte sie sehen und rührte mich nicht, versuchte keine Aufmerksamkeit auf mich zu lenken. Ich beobachtete sie. Es waren alles Männer. Alle recht kräftig gebaut. Ihr Anführer überragte die anderen um einen Kopf. Er war sehr muskulös, und wirkte wie ein Bodybuilder.

»Riecht ihr das auch?«, sagte der Anführer zu den anderen.

Sie reckten die Nasen in die Luft. Auch ich ließ die Luft durch meine Nase strömen, doch da war nichts ungewöhnliches. Der Wind streifte mir von hinten durch die Haare.

“Oh nein. Ich stehe in ihrer Windrichtung. Sie riechen mich!”, schoss es mir durch die Gedanken.

Plötzlich drehten sich vier Köpfe in meine Richtung. Sie hatten mich entdeckt. Was sollte ich jetzt machen? Ich konnte es nicht mit ihnen aufnehmen. Sollte ich riskieren, sie zu uns nach Hause zu führen? Ich war garantiert schneller als sie und könnte sie abhängen. Außerdem hatte ich Bella versprochen, bei Gefahr sofort zurück zu rennen.

Es fühlte sich feige an, aber ich entschloss mich trotzdem dazu, mein Versprechen zu halten, entschloss mich zur Flucht, drehte mich um und rannte los. ´

Plötzlich spürte ich meine Beine nicht mehr, als ob sie mir während dem Laufen weggerissen worden wären. Ich schlug auf den Boden auf, schlitterte auf der Schneedecke entlang und knallte gegen einen Baum. Entsetzt versuchte ich mich aufzurichten, doch meine Beine versagten ihren Dienst. Ich spürte sie nicht mehr. “Was ist los mit mir?”

“He, he, he, schauen wir mal, wen ich da am Haken habe”, dachte ihr Anführer.

Das durfte einfach nicht wahr sein. Er hatte eine Gabe? Er konnte mir die Kontrolle über meine Beine nehmen?

»Mitkommen!«, sagte er zu den anderen und kam auf mich zu.
Ich hätte vielleicht versuchen können, auf den Händen davon zu robben, aber ich wäre nicht weit gekommen. Ich hatte keine Chance zu fliehen.

»Jetzt schaut euch das an! Ein Braunauge«, sagte er und dachte dabei noch “Mutter hatte uns vor allem vor denen gewarnt. Wir sollten uns in Acht nehmen und ihnen aus dem Weg gehen, es sei denn, wir erwischen einen oder zwei alleine.”
»Ein guter Fang, Brian«, lobte einer seiner Leute.
Dann wandte sich Brian an mich.

»Hast du dich verlaufen, Bürschchen?«
Was konnte ich nur tun? Flucht war keine Option mehr. Vielleicht könnte ich sie überlisten.
»Entschuldigt bitte«, sagte ich. »Ich will keinen Ärger machen.«

Schallendes Gelächter kam mir von allen entgegen.

»So wie ich das sehe, könntest du das auch nicht, wenn du es wolltest, Kleiner.«
Weiteres höhnisches Gelächter.
»Was machst du hier, Bürschchen?«, wollte Brian wissen.

Ich musste mir schnell eine Lügengeschichte einfallen lassen. Menschen schluckten Lügen besser, wenn man sie in einer Wahrheit verpackte. Vielleicht könnte mir das bei den Neugeborenen gelingen.

»Ich habe meinen Zirkel verlassen und bin auf der Suche nach einem neuen. Ihr seid mir aufgefallen. Ihr wirkt sehr mächtig und ich habe mich gefragt, ob ich mich euch anschließen könnte. Deshalb bin ich euch gefolgt.«

Wieder lachten einige, doch ich hörte in ihren Gedanken auch, dass es ihnen gefiel, “mächtig” zu sein. Nur Brian blieb skeptisch.

“Sie hat uns davor gewarnt, dass die Braunaugen sehr listig sind”, dachte er.

»Ich glaube dir nicht! Mutter sagte, dass man euch Braunaugen nicht trauen kann.«
»Wer ist eure Mutter?«, fragte ich. »Kenne ich sie vielleicht?«

Das war definitiv die falsche Frage. Seine Gedanken explodierten fast vor Zorn. Einerseits, weil er mir misstraute und keine Informationen preisgeben wollte, andererseits, weil er die Antwort selbst nicht kannte, was ihn zusätzlich ärgerte. Dann packte er mich an einem meiner gefühllosen Beine, drehte sich mit mir zweimal um die eigene Achse und schleuderte mich in den Wald hinein. Ich durchschlug einen kleineren Baumstamm und krachte dann mit dem Rücken in einen großen massiven Baum, rutschte die Rinde herab und blieb dort liegen. Ich spürte, wie der gewaltige Aufschlag kleine Risse an meinem Rücken verursacht hatte. Es brannte, doch es würde schnell verheilen.

Plötzlich fühlte ich meine Beine wieder und instinktiv sprang ich auf und rannte los. Es dauerte jedoch nur einen Sekundenbruchteil und es zog mir wieder die Füße weg und ich knallte wieder auf den Bauch.

»Du läufst nirgendwo hin, Bürschchen.«
Brian war schon bei mir, packte die Kapuze meiner Jacke und riss mich an ihr hoch, schleuderte mich dann über seinen Kopf und rammte mich auf der anderen Seite in den Boden. Die Wucht des Aufpralls war gigantisch. Mein ganzer Körper vibrierte und überall spürte ich kleine brennende Risse. Ich verlor die Orientierung.

Erneut zog er ruckartig an meiner Kapuze, doch diesmal riss sie ab. Sie lachten und Brian genoss es, von den anderen bei seinem Spiel beobachtet zu werden. Aus seiner Wut wurde ein grausames Vergnügen.

»Deine Jacke hält wohl genauso wenig aus wie du«, spottete er über mich und versetzte mir einen Tritt, dass ich seitlich über den schneebedeckten Waldboden schlitterte und mit dem Kopf gegen einen Felsen knallte.

Noch bevor ich wusste, wie mir geschah, packte er mich am Revers und drehte sich wieder mehrmals heftig um die eigene Achse. Es dauerte nur wenige Sekunden, dann riss meine Jacke auf und ich schleuderte trudelnd durch die Luft und schlug erneut heftig in einen großen Baum. Er erzitterte bei dem Aufprall und große Mengen Schnee fielen herab. Mir schwindelte. Selbst wenn meine Beine nicht gelähmt wären, könnte ich jetzt nicht mehr weglaufen. Ich war übersät mit keinen Rissen und es brannte überall. Mein Körper versuchte sie zu heilen, doch Brian gab dem kaum einen Chance.

Wieder stand er vor mir und grinste mich hämisch an.
»Wo sind die anderen, wie viele seid ihr?«, frage er mich.
Eine Testfrage, zum Teil. Er wusste dass wir neun waren.
»Ich … weiß nicht … wo die anderen sind«, log ich.
Die Worte kamen nur langsam aus mir heraus. Die Schmerzen machten es schwer, klar zu denken und zu reden.
»Ich … habe sie vor zwei Tagen verlassen.«

Wieder packte er mich am Bein, schleuderte mich über seinen Kopf und ließ mich hart mit der Vorderseite aufschlagen, das Bein immer noch fest im Griff.

»Wie viele!«, brüllte er.
»Es sind noch acht«, sagte ich.
Er wusste es ohnehin und ich hoffte, dass ihn das vielleicht besänftigen würde. Meine Hoffnung erfüllt sich jedoch nicht. Abermals schleuderte er mich über sich und ich schlug hart mit dem Rücken auf.

Sein Blick war gnadenlos und unbarmherzig. Seine Hand umschloss mein Bein knapp oberhalb des Knöchels. Er drückte fest zu. Ich sah, wie sich seine Finger immer Tiefer in das Gewebe drückten, hörte das metallische knirschen, das die Quetschung hervorrief. Ich spürte es nicht, aber ich wusste, dass das mein Bein war. Ich versuchte die Übelkeit, die in mir aufstieg, zu unterdrücken.

»Wo sind sie?«, brüllte er und schleuderte mich wieder durch die Luft gegen einen Felsen.

Ich sackte zusammen. Ich hatte keine Kraft mehr. Mein Körper versuchte die Verletzungen zu heilen, doch es war ein aussichtsloser Kampf, angesichts der immer neuen Attacken. Ich versuchte bei Bewusstsein zu bleiben und nicht den Verstand zu verlieren. Ich würde hier sterben, aber Bella wäre in Sicherheit. Ich würde ihm nichts sagen und er würde mich aus Zorn darüber zerreißen.

“Bella ich liebe dich”, dachte ich noch einmal und schloss die Augen, um mich auf mein Ende vorzubereiten. Das Brennen all der kleinen Wunden war ein passender Vorgeschmack auf das Fegefeuer, das ich zu erwarten hätte. Das Brennen zehrte meine Kraftreserven auf.

»Wo sind sie?«
Er sagte es in aggressivem aber leiserem Ton. Er musste direkt vor mir stehen.
»Sag es mir, Kleiner, dann ersparst du dir vielleicht noch weiteres Leid.«

Ich öffnete die Augen, sah, dass er mein halb zerquetschtes Bein wieder in der mächtigen Pranke hielt und war bereit, meine letzten Worte zu sprechen.

»Wir sehen uns in der Hölle«, presste ich durch die Zähne.
Dann schloss ich die Augen wieder und erwartete mein Ende.

...

»Edward!«, hörte ich plötzlich die Stimme eines Engels der wie Bella klang. Würde ich wirklich in den Himmel kommen? War das möglich?

»Edward!«

Die Engelsstimme wurde lauter, doch auch das Brennen meines Körpers wurde stärker. Jetzt spürte ich plötzlich meine schmerzenden Beine wieder, die wie der Rest meines Körpers in Flammen zu stehen schienen.

“Also doch die Hölle”, dachte ich bei mir.

»Edward!«

Noch mal die Engelsstimme, noch lauter. Wie konnte das sein? Wieso brannte ich in der Hölle und hörte doch die süßeste Stimme des Universums? Ich verstand es nicht und öffnete die Augen.

Ich lag immer noch am Boden und Brian hatte mein Bein fest im Griff. Doch er sah nicht zu mir. Ich folge seinem Blick. Ich konnte mehrere Gestalten entdecken, sah genauer hin, erkannte ein paar Wölfe, Jasper, Emmett, Alice und Bella.

“Nein, nicht Bella!”, dachte ich verzweifelt.
Er würde sie quälen wie mich. Das durfte nicht geschehen. Seine Gedanken waren laut. Er war mir so nah, dass ich sie hören konnte, obwohl ich kaum Kraft hatte, mich zu konzentrieren.

“Verdammt, warum können die weiterlaufen? Was ist hier los?”

“Bellas Schild!”, wurde mir plötzlich bewusst.
Deshalb spürte ich auch meine Beine wieder. Sie schirmte mich vor seiner Fähigkeit ab. Aber er war stark, er könnte sie trotzdem verletzten. Ich nahm alle Kraft zusammen, die ich noch in mir spürte, zog das Bein an, dass er fest umklammerte und trat mit dem anderen so hart in seine Seite, wie ich nur konnte.

Ich sah, wie er in hohem Bogen davon flog und im gleichen Moment durchzuckte mich ein unglaublicher reißender Schmerz. Unweigerlich umschlossen meine Hände meinen Oberschenkel. Ich krümmte mich zur Seite vor Schmerz. Meine Augen wanderten mein Bein entlang. Mein Fuß … er war … abgerissen … der Unterschenkel war an der obersten Druckstelle seines Griffes durchtrennt worden.

Gepeinigt von der Qual schrie ich auf. Dieser Schmerz war anders, als der, der vielen kleinen brennenden Wunden an meinem Körper. Es war ein furchtbar intensiver, kalter, ziehender und reißender Schmerz. Ich konnte mich kaum rühren. Ich hatte keine Kraft mehr und immer wieder wurde mir schwarz vor Augen, aber ich wollte dem nicht nach geben. Noch nicht. Ich wollte Bella noch einmal sehen.

»Edward!«, hörte ich ihre zittrige und schluchzende Stimme jetzt ganz nah bei mir.
Ich konnte ihren Duft wahrnehmen. Sie roch so süß. Der schönste Geruch der Welt. Ich dankte Gott dafür, dass er mir das noch einmal geschenkt hatte. Ich spürte ihre Hände, eine an meiner Schulter und eine, die mir über das Haar streichelte. Noch ein Dankeschön an den Allmächtigen.

»Edward, hörst du mich?«, sagte sie ganz leise und ängstlich.
Ich wollte nicht, dass sie Angst hatte. Ich hätte sie gerne tröstend in den Arm genommen, doch ich konnte meine Hände nicht von meinem Bein lösen. Der Schmerz erlaubte es mir nicht.

»Bella wir müssen ihnen nach«, hörte ich Jasper sagen.
»Ich gehe nicht von ihm weg!«, brüllte sie ihn an.

Jasper schrie vor Zorn. Er trat gegen einen Stein, der im hohen Bogen in einen Baum flog und einen der großen tragenden Äste durchschlug, so dass dieser mit lautem Getöse zu Boden krachte.

»Wir dürfen sie nicht entkommen lassen, Bella. Es würde noch viele Unschuldige treffen. Willst du das?«

Jaspers Worte waren hart und grausam, doch er hatte recht. Ich wusste das. Dieses Monster durfte nicht frei herum laufen. Das musste Bella doch erkennen. Sie sollte mit ihm gehen. Ich hatte noch mal ihre Nähe gespürt und sie gehört. Ich würde glücklich gehen können, doch sie bewegte sich nicht weg von mir.

Dann hörte ich Alice’ Stimme neben meinem Kopf.
»Bella, bitte«, flehte sie. »Jasper, Emmett und die Wölfe werden es ohne dich versuchen, wenn du nicht mitgehst. Sie werden schutzlos seiner Gabe ausgeliefert sein. Bitte, Bella, bitte. Beschütze meinen Jasper. Ich bleibe hier bei Edward und passe auf ihn auf. Ich verspreche es dir. Bitte Bella.«

»Bella, er wird überleben, das schwöre ich dir, doch du musst jetzt mit mir kommen, oder er hat umsonst gelitten.«

Jasper ist ein guter Lügner. Die Schmerzen betäubten meine Sinne, ich konnte nicht hören was er dachte, aber ich war mir sicher, dass er sie manipulierte. Bella musste mit ihm gehen, sonst war alles umsonst.

Noch mal. Noch ein letztes Mal nahm ich meine Kraft zusammen.
»Bella, geh!«, presste ich durch meine Zähne, gefolgt von einem schmerzverzerrten Stöhnen, das ich eigentlich unterdrücken wollte, doch es gelang mir nicht.

Ein markerschütternder Schrei schwoll neben mir an. Ein Schrei voller Angst, Verzweiflung und grenzenloser Wut. Es war Bellas Stimme, doch der Schrei klang nicht nach ihr. Ich zwang mich noch mal die Augen zu öffnen. Ich spürte, wie sich ihre Hände von mir lösten und sah verschwommen wie sie davonrannte. Als ob dies der Startschuss gewesen wäre, entfernten sich auch die anderen Gestalten.

Sie waren schon aus meinem Blickfeld verschwunden, als ich noch einmal diesen Schrei hörte, der von Bellas Stimme getragen wurde und der doch nicht von ihr zu sein schien.

»Du wirst es schaffen, Edward, gib nicht auf. Du kommst durch.«
Alice versuchte mir Mut zu machen. Wie sinnlos. Ich hörte sie sowieso kaum. Der reißende und ziehende Schmerz in meinem Bein übertönte alles und das Brennen meines Körpers gab mir den Rest. Ich ergab mich, doch der Schmerz wollte einfach nicht aufhören.

“Wann lässt das nach?”, fragte ich mich. “Wann lässt das endlich nach?”

»Edward, Bella kommt bald zu dir zurück, halte durch!«

Bella? Dieser Name hatte so eine hypnotisierende Kraft. Ich klammerte mich an ihn. Klammerte mich an ihr Gesicht in meinem Geist. Auch das Gesicht von Renesmee war an ihrer Seite. Gemeinsam spendeten sie mir etwas Trost.

“Warum nur lassen diese Schmerzen nicht nach?”

Minute um Minute verging und immer wieder redete Alice auf mich ein. Sie versuchte mich zum Durchhalten zu überreden. Versprach mir immer wieder, dass ich Bella bald wieder sehen würde. Sagte mir, dass sie wollte, dass ich durchhalte. Sie würde mir nicht verzeihen, wenn ich aufgab.
Sie klang sehr überzeugend.

»Jasper!«, rief Alice plötzlich. »Wo …. «
Ich mobilisierte noch mal die letzten Kraftreserven und öffnete die Augen. Ich sah nur Jasper und Emmett.

“Wo ist meine Bella? Ihr darf doch nichts passiert sein. Nein. Bitte nicht.”

Gequält von diesem Gedanken versuchte ich mich aufzurichten um mich umsehen zu können, doch ich schaffte es nicht. Nur eine Sekunde später musste ich erschöpft aufgeben. Von der Anstrengung wurde mir schwindlig und es flackerte schwarz vor meinen Augen.

»Ganz ruhig, Edward«, sprach Jasper mit seiner einfühlsamen Stimme und schaffte es tatsächlich, dass ich mich etwas ruhiger fühlte. Bestimmt setzte er seine Gabe ein.
»Bella geht es gut. Sie kommt gleich«, ergänzte er noch.
»Und die Wölfe?«, fragte Alice.
»Die kümmern sich um die Überreste, Alice. Es sind alle wohlauf.«
»Dann habt ihr sie alle vernichtet?«, wollte sie noch wissen.
»Ja, alle sind erledigt. Bella hat sich sogar recht gut geschlagen, für ihren ersten richtigen Kampf. Sie war sehr konzentriert, hätte sogar fast den Anführer erledigt.«

Ich war beruhigt. Bella ging es gut und Brian hatte seine verdiente Strafe erhalten. Jetzt konnte ich der Nacht endgültig erlauben, mich zu umfangen. Ich gab mich der Dunkelheit hin und meine Sinne schwanden. Ich hörte nur noch Gemurmel um mich. Ich gewöhnte mich an die Schmerzen und ließ sie gewinnen. Ließ die Luft in meinen Lunge durch den offenen Mund entweichen und hörte auf zu Atmen. Es war ohnehin zwecklos.

...

»Edward, trink das. Edward? Du musst trinken.«

Da war sie wieder, die Engelsstimme. Ganz nah über mir. War das meine Bella? Ich atmete leicht ein und hoffte ihren Duft aufzunehmen, doch es war nicht ihr Geruch, der mir in die Nase zog. Es war der Geruch eines Tieres. Ich spürte Bluttropfen an meinen geöffnete Lippen. Blut, dass mir in den Mund floss.

Ich schluckte. Es war der bekannte Geschmack eines Rotluchses. Blut lief mir die Wangen herunter und ich spürte den klebrigen Lebenssaft in meinem Nacken. Ich trank das Blut, das in meinen Mund floss. Es schenkte mir etwas Kraft, doch gleichzeitig wurde das Brennen der vielen kleinen Wunden meines Körpers wieder stärker. Ich öffnete meine Augen und dann sah ich sie. Meinen Engel. Bella. Sie hielt mir einen Rotluchs mit aufgerissener Kehle über den Kopf und ließ sein Blut in meinen Mund fließen.

»Edward, trink. Es wird dir helfen.«

Wie könnte ich nicht tun, was mein Engel von mir verlangte? Auch wenn der Schmerz dadurch nur wieder stärker wurde, ich würde ihr keine Bitte abschlagen.

»So ist es gut, Edward.«

Ihre Stimme klang so besorgt und doch so hoffnungsvoll. Sie warf den Luchs zur Seite und holte einen zweiten hervor, biss ihm vorsichtig die Kehle auf und hielt mir auch diesen über den Mund.

Ich trank und mit jedem Schluck fühlte ich mich etwas stärker, obgleich ich auch mit jedem Schluck spürte, wie der reißenden Schmerz in meinem Bein wieder zu voller gnadenloser Macht anschwoll.

»Gut so, Bella«, hörte ich Jasper sagen.

Mein Blick suchte ihn. Er saß vor meinem Bein und hielt etwas in der Hand. Ich versuchte zu erkennen, was es war. Die Sehschärfe kehrte langsam in meine Augen zurück und ich erkannte, dass es mein Fuß war. Jasper hielt ihn sich vor den Mund. Er zischte den Fuß an und ich sah, wie ein feiner Nebel seines Giftes die offene Stelle benetzte. Dann beugte er sich zu der Wunde an meinem Bein. Das gleiche zischende Geräusch ertönte und mit ihm gesellte sich ein scharfes Brennen zu dem reißenden Schmerz.

Er führte den Fuß zu meinem Bein und drehte und wendete ihn, als ob er ein kompliziertes Puzzleteil in eine Lücke einfügen wollte.

Ein grausamer, verzehrender Schmerz schoss mein Bein entlang und ich schrie auf. Solch einen Schmerz hatte ich seit meiner Verwandlung nicht mehr erlebt.

»Edward«, schluchzte mir mein Engel ins Ohr. »Alles wird gut, Liebster.«

Ich spürte ihre streichelnde Hand an meinem Gesicht und allmählich ließ das massive Brennen nach. Doch es blieb ein Ziehen und Reißen in meinem Bein, gepaart mit dem anderen brennenden Schmerz meiner Wunden, von denen mein Körper übersät war.

»Du kannst zuversichtlich sein, Bella. Es wächst wieder an. Er wird eine schmale Narbe davon tragen, aber es wird wie vorher sein.«
»Aber warum hat er dann noch solche Schmerzen, Jasper? Sieh in sein Gesicht. Er leidet so.«

Ihre mitfühlende und traurige Stimme erweichte mein Herz. Wie gerne würde ich ihr jetzt sagen, dass alles gut war, doch ich konnte meine Stimme nicht finden. Vielleicht war es auch besser so. Es war sehr unwahrscheinlich, dass ich unter diesen Schmerzen auch nur halbwegs überzeugend sein könnte.

»Sein Körper heilt die Verletzungen, Bella. Er hat viele davongetragen. Die meisten werden ohne Spuren verheilen, da kein Gift eingedrungen ist. Nur am Bein wird er die Narbe behalten, doch ich versichere dir, er wird wieder ganz der Alte. Er braucht nur Zeit. Vier oder fünf Stunden. Lasst ihn uns nach Hause bringen.«

»Komm Bruder. Ich trage dich nach Hause«, hörte ich Emmetts Stimme, doch Bella zischte ihn an.
»Lass deine Hände von ihm. Ich mach das.«

Dann spürte ich Bellas zarte Hände, wie sie sich ganz sanft unter meinen Körper schoben. Ich kannte ihre Arme. Ich war schon oft in ihnen gelegen, doch noch nie von ihnen getragen worden.

Sie hob mich langsam und vorsichtig an. Dann trug sie mich weg. Ich legte meinen Kopf an ihre Schulter und sog ihren Duft ein. Er spendete mir Ruhe und Trost.

Eigentlich hätte es mir peinlich sein müssen, so von Bella getragen zu werden und so schwach zu sein, doch es war mir nicht peinlich. Ich war froh, dass sie es war. Ich war glücklich, ihre Nähe zu spüren, zu fühlen wir ihr Haar sanft über mein Gesicht streichelte, wie sie immer wieder vorsichtig die Wange an meine Stirn legte und wie sie mir ab und zu einen zärtlichen Kuss aufhauchte. Wie könnte mir jemals etwas peinlich sein, das sich so richtig und gut anfühlte. Ich wurde von Liebe getragen.

Sie trug mich sehr vorsichtig und langsam, doch das war mir recht. Ich spürte, wie ihre Nähe meinem Körper zusätzliche Kraft für die Heilung gab. Ich versuchte die brennenden Schmerzen zu ignorieren. Es gab wichtigeres als das. Es gab die Geborgenheit ihrer Umarmung.


Nach einem langen wohltuenden Spaziergang, hörte ich dann eine andere Stimme.

»Wie geht es ihm?«
Ich kannte diese Stimme. Es war Seth, der sich nach meinem Zustand erkundigte. Anscheinend war mein kleiner Wolfs-Freund um mich besorgt.
»Er ist noch sehr schwach. Jasper ist sich aber sicher, dass er wieder ganz gesund wird. Ich bringe ihn jetzt nach Haus. Danke fürs Aufpassen, Seth.«
»Keine Ursache. Ich bin immer für euch da, wenn ihr mich braucht.«

Bella trug mich weiter. Ich blinzelte durch die Augen und erkannte unser Haus. Sie trug mich hinein und legte sich mit mir aufs Bett, ohne ihre Umarmung zu unterbrechen.

Sanft streckte sie meine Beine aus und streichelte mir dann das Gesicht. Sie rutschte seitlich langsam und vorsichtig an mir hoch und bettete meinen Kopf an ihre Schulter.

Immer wieder streichelte und küsste sie mich und ihr Duft umfing mich. Sie summte das Lied, das ich angefangen hatte, für uns zu komponieren. Vielleicht war ich ja doch gestorben. Der Himmel könnte nicht schöner sein.

Kapitel 8 - Die Mission (aus Bellas Sicht)

Edward war am Leben und wieder bei mir. Nur das zählte jetzt. Schon fast vier Stunden lag er hier in meinen Armen. Er rührte sich kaum, doch sein gleichmäßiger Atem schenkte mir die Gewissheit, dass er wieder gesund wurde. Er atmete meinen Duft ein. Hin und wieder gab er einen zufrieden klingenden Seufzer von sich und jedes mal machte mein stummes Herz einen Freudensprung.

“Atme meinen Duft ein so lange du willst”, dachte ich. “Wie könnte ich ihn dir jemals vorenthalten?”

Er sah so schrecklich aus, als wir ihn gefunden hatten. Übersät mit kleinen Rissen am ganzen Körper. Vor allem sein Gesicht. Sein wunderschönes Gesicht. All diese Verletzungen. Nur die Wunde an seinem Bein war noch schlimmer anzusehen.

Doch jetzt verheilten sie alle allmählich, genau wie Jasper es versprochen hatte. Er kam ab und zu vorbei, um nach Edward zu sehen und war zufrieden, wie seine Wunden heilten. Auch Carlisle war immer mit dabei, verließ sich aber zu meiner großen Überraschung ganz auf das Urteil von Jasper. Sicherlich hatte Jasper auf diesem Gebiet weit aus mehr Erfahrung.

Von den größeren und tieferen Rissen in Edwards Gesicht waren nur noch winzige Spuren zu erkennen und bald würden sie ganz verschwunden sein. Eine dünne silbrig-rote gezackte Linie markierte die Stelle, an der sein Bein durchtrennt worden war. Anfangs war sie noch fast glühend rot, doch jetzt zeichnete sich schon deutlich ab, dass nur eine schmale silbrige Linie, kaum dicker als Blattgold, übrig bleiben würde. Sie würde uns für alle Zeiten an diesen grausamen Tag erinnern und als ob ich eine Bestätigung gebraucht hätte, fielen die ersten Sonnenstrahlen dieses neuen Morgen in unser Zimmer und ließen die Narbe noch deutlicher erkennen.


Gestern noch, als der Tag erwachte, bot sich der Sonne ein anderes Bild. Ich war alleine und lag zusammengerollt auf meinem Bett. Als Renesmee aus ihrem Zimmer kam, merkte sie natürlich sofort, dass hier etwas ganz und gar nicht stimmte. Edward war nicht hier und ich hatte mich meiner Trauer, meinen Sorgen und meinen Ängsten ergeben. Als sie zu mir ans Bett trat, hätte ich ihr gerne gesagt, dass alles in Ordnung wäre und dass sie sich keine Sorgen zu machen brauchte, doch ich war dazu weder in der Lage, noch hätte ich überzeugend klingen können.

Sie streichelte mir übers Haar und über mein Gesicht. Sie schickte mir aber keine Bilder. Sie wusste wohl selbst nicht, was sie mir jetzt hätte zeigen sollen. Stattdessen löste sie meine Arme von meinen Knien, die sie die ganze Nacht fest umklammert hatten, schob meine Beine etwas nach unten und schlüpfte in meine Umarmung.

Plötzlich war da ein warmer Herzschlag, der die Leere in meiner Brust bekämpfte und sie allmählich ausfüllte. Mein Universum hatte im Augenblick nur eine kleine Sonne, aber sie hielt alles zusammen.


Zwei Stunden lang lag sie so da, an mich gekuschelt und gab mir Halt und Trost. Ab und zu streckte sie sich, tätschelte meinen Arm oder gab ihm kleine Küsschen. Ich hätte wohl Tage und Wochen lang so regungslos liegen können, aber nicht sie. Sie brauchte die Bewegung und unterdrückte das Verlangen nur mir zuliebe. Das war nicht richtig. Sie sollte nicht hier mit mir leiden. Sie sollte draußen sein und im Schnee spielen.

»Geh’ doch zu Jacob, Sternchen. Ich komme schon klar«, wollte ich mit sicherer und fester Stimme voller Überzeugung sagen, doch es kam nur zittrig, fast wimmernd aus meinem Mund und hatte natürlich nicht den gewünschten Erfolg.
Sie schüttelte den Kopf.
»Nein Momma, ich bleibe lieber bei dir.«

Ich seufzte. Ich wollte mich doch nur in Selbstmitleid suhlen und nicht meine Tochter mit in das Loch reißen, in welches ich gefallen war. Sie sollte nicht leiden. Auch nicht mit mir. Also beschloss ich, mich zusammenzureißen und mit ihr aufzustehen.

»Also gut, Sternchen. Du hast gewonnen. Ich stehe mit dir auf.«

Wir zogen uns an und gingen aus dem Haus. Sofort ergriff sie meine Hand, als ob sie Angst hätte, ich würde wieder in das Loch fallen, wenn sie mich nicht fest hielt und vermutlich stimmte das sogar.

Gemeinsam gingen wir zu den anderen. Alle versuchten mir Trost zu spenden. Nur Jasper wirkte verändert und angespannt. Sein Blick war so streng und konzentriert, so, wie er auch meistens bei unserem Kampftraining war. Er hatte dann immer etwas Beängstigendes an sich. Er ging auf und ab und murmelte etwas vor sich hin. “Auto” konnte ich einmal verstehen, aber nicht, was er damit meinte.

Alice war häufig gedankenverloren und blickte in die Zukunft. Doch auch das schenkte mir Trost. So lange sie nichts sah, müsste Edward in Sicherheit sein. Ab und zu flüsterte sie etwas Jasper ins Ohr, was mich dann immer sehr beunruhigte, doch Jasper brachte nichts aus der Konzentration.

Der Tag zog sich hin wie ein Kaugummi. Irgendwann setzte ich mich vor den Fernseher und zappte durch 400 Kanäle. Es gab nichts, das ich sehen wollte. Nichts, das ich suchte. Es war einfach nur eine Beschäftigung für meine Augen und meinen Daumen.

Später dann hatte sich Renesmee doch endlich davon überzeugen lassen, nach draußen zu gehen. Ich war ja auch nicht mehr alleine und musste ihr versprechen, bei der Familie zu bleiben. Irgendwie fand ich es rührend, wie sie sich um mich sorgte.

Gegen Abend war die Ungeduld dann allgegenwärtig. Wir saßen wie auf glühenden Kohlen. Das Klingeln von Jaspers Handy zog schlagartig alle Aufmerksamkeit auf sich.

Ich hörte Edwards Stimme, es ging ihm gut, doch er war angespannt. Ich verfolgte jedes Wort, hörte, wie Jasper Edward für sein leichtsinniges Verhalten maßregelte, hörte Edwards Wut darüber und wie Jasper dann ruhig und bestimmend klare Anweisungen gab. Ich hätte mir so gewünscht, dass er ihm sagen würde, er solle sofort nach Hause kommen, doch ich wusste, dass das nicht passieren würde.

Nach Sonnenuntergang kam dann auch Jacob mit Renesmee ins Haus. Jacob blieb bei uns. Emmett brachte ihn auf den neusten Stand, während Rosalie sich mit Nessie beschäftigte, die dann im Laufe des Abends auf ihrem Arm einschlief.


Dann überschlugen sich plötzlich die Ereignisse. Alice hatte eine Vision und riss die Augen auf.
»Sie haben ihn entdeckt. Oh nein, sie wollen ihn foltern und verhören … und töten … Er kann nicht weglaufen … Einer hat eine Gabe.«
»Wo Alice? Wo?«, brüllte Jasper.
»Im Wald … vielleicht fünf Minuten von hier … Wir können es schaffen … Bella muss mitkommen.«
Alle Augen richteten sich auf Jasper, erwarteten seinen Ratschluss.
»Rosalie, Esme, Carlisle. Ihr bleibt hier bei Nessie! Emmett, Bella, Alice, ihr kommt mit mir! Jacob, ruf dein Rudel unterwegs zusammen. Wir brauchen euch!«
»Ich kann doch Nessie nicht zurück lassen«, erwiderte Jacob.

Jasper baute sich vor ihm auf und ließ die ganze Macht seiner Respekt einflößenden Aura auf ihn wirken. Obwohl Jasper deutlich kleiner war, wirkte Jacob beeindruckt.

»Wenn du sie beschützen willst, dann musst du mit uns kommen. Lass einen deiner Wölfe da, der mit dir in Kontakt bleibt und aufpasst, aber du musst mitkommen. Du bist der Leitwolf. Los jetzt, jede Sekunde zählt.«

Jacob fügte sich den Anweisungen. Seit er selbst ein Leitwolf war, war er es zwar nicht mehr gewohnt, Befehle zu befolgen, aber er verstand den Sinn und war einverstanden.

Wir rannten hinaus, doch nicht mit vollem Tempo. Warum nur machte Jasper nicht schneller? Es ging doch um jede Sekunde, hatte er gesagt. Mein Edward brauchte Hilfe. Jasper wies Alice an uns zu führen, beschwor mich, meinen Schild um jeden Preis über allen ausgebreitet zu lassen. Ich konzentrierte mich auf meinen Schild und schloss alle ein.

Nach etwa zwei Minuten waren drei weitere Wölfe an unserer Seite. Ich kannte sie gut. Es waren Leah, Embry und Quil.

»Schneller jetzt!«, trieb uns Jasper an.
“Endlich”, dachte ich.

Weitere zwei Minuten rannten wir mit Höchstgeschwindigkeit. Wir müssten gleich da sein.

»Edward!«, drang ein lauter Ruf aus meiner Kehle.
“Wo ist er nur?”, fragte ich mich.
»Edward!« “Ob er mich hören kann?”

Dann entdeckten wir die Neugeborenen. Ich überprüfte meinen Schild, um sicherzugehen, dass alle geschützt waren. Außerdem fieberte ich dem Moment entgegen, da ich Edwards Präsenz erspüren und ihn unter meinen Schild nehmen könnte. Plötzlich fühlte ich, wie ein Angriff an meinem Schild abprallte. Emmett war das Ziel gewesen. Ich schaute kurz nach ihm, doch er rannte unbeirrt weiter. Mein Schild schützte sie also. Ein weiterer Angriff gegen Jasper und dann gleich gegen Jacob. Jedes Mal spürte ich ein leichtes Kribbeln an meiner Wirbelsäule, doch ich ignorierte es. Ich suchte wieder nach Edwards “Licht”, entdeckte es schließlich und breitete sofort meinen Schild darüber aus.

Ich wusste jetzt, wo er war und sah in die Richtung. Ein riesiger Kerl hielt Edward am Bein fest. Seinem konzentrierten und wütenden Gesichtsausdruck nach zu urteilen, war er der Angreifer, doch seine Miene veränderte sich und nun stand ihm Verwirrung ins Gesicht geschrieben. Wut stieg in mir auf.

“Lass meinen Edward los du Monster!”, dachte ich.
»Edward!«, brüllte ich noch einmal.
Dann sah ich, wie der Kerl durch die Luft flog und hörte gleichzeitig Edward schmerzverzerrten Schrei.
»Bleib auf deinen Schild konzentriert!«, ermahnte mich Jasper.
Natürlich war ich das. Niemals hätte ich riskiert, dass ich den Schild, der endlich Edward entdeckt hatte, verlieren könnte.

Ich sah wie drei der Neugeborenen sofort wegliefen und der Vierte sich aufrappelte, etwas zur Seite warf und dann den anderen nacheilte, aber das war mir nicht wichtig. Ich wollte zu Edward, rannte direkt zu ihm. Fand ihn am Boden liegend, zur Seite gekrümmt.

»Edward.«

Meine Stimme versagte bei seinem Anblick. Ich konnte das schluchzen nicht unterdrücken. Sein Körper war übersät mit Rissen und Kerben. Er sah so furchtbar schwer verletzt aus und ich hatte große Angst, dass er sterben könnte.

Ich kniete mich neben ihn, berührte ihn sanft an der Schulter, streichelte ihm übers Haar.

»Edward, hörst du mich?«

Ich bemerkte, wie seine Hände sein Bein umklammerten. Sein Fuß war abgerissen. Ich hatte solche Angst um ihn. Sein Gesicht war schmerzverzerrt. Er konnte mich noch nicht mal ansehen und ich wusste nicht, wie ich ihm helfen könnte.

Dann hörte ich Jasper sagen, dass wir ihnen nach müssten und ich wurde wütend auf ihn. Wie konnte er nur so herzlos sein? Sah er denn nicht wie Edward litt? Ich konnte nicht weg von ihm und brüllte es Jasper ins Gesicht.

Jasper schrie vor Zorn und trat gegen einen Stein der im hohen Bogen in einen Baum flog und einen der großen tragenden Äste durchschlug, so dass dieser mit lautem Getöse zu Boden krachte.

Er redete auf mich ein. »Wir können sie nicht entkommen lassen« und »es würde noch viele Unschuldige treffen« und »ob ich das will.« Jaspers Worte waren so gemein. Ich wollte das alles natürlich nicht, aber ich wollte doch auch bei Edward bleiben.

Dann redete auch noch Alice auf mich ein. Flehte mich an, die anderen zu beschützen. Versprach mir, auf Edward aufzupassen. Natürlich wolle ich nicht, dass den anderen etwas passierte, aber mein Edward brauchte mich doch.

Jasper schwor mir, dass Edward überleben würde. Ich glaubte, dass er mich belügen würde, dass er das nur sagte, damit ich mit ihm kämpfte.  Er warf mir vor, dass Edward umsonst gelitten hätte, wenn ich nicht mitkäme. Ich verfluchte ihn im Gedanken dafür.

Plötzlich hörte ich Edwards Stimme. Leise und voller Schmerzen sagte er:
»Bella, geh!«

Es zerriss mir das stille Herz. Jetzt noch wollte er unbedingt, dass ich das tue, was getan werden musste. Ich hatte doch so große Angst, ihn nie mehr lebend wieder zu sehen, war verzweifelt und verspürte gleichzeitig einen grenzenlosen Hass auf das Monster, dass ihm das angetan hatte. Ich schrie mit aller Kraft. Ja, ich wollte Rache. Ich wollte den Kerl eigenhändig in Stücke reißen. Ich löste mich von Edward und rannte mit den anderen. Ich roch ihre Fährte und schrie abermals voller Zorn.

Wir holten sie bald ein und sie stellten sich dem Kampf. Ihr Anführer, dieses Monster, war von gewaltiger Größe, doch ich verspürte vor ihm keine Angst, nur grenzenloser Hass. Ich wollte Rache. Jasper griff ihn an. Emmett attackierte einen der anderen drei und die Wölfe jeweils paarweise die übrigen zwei.

Jasper musste auf der Hut sein. Die Stärke seines Gegners war sicherlich gewaltig. Jasper täuschte immer wieder Angriffe an, änderte schnell die Richtung, traf ihn von der anderen Seite. Ich hatte das schon öfters selbst im Training gesehen, erinnerte mich an die Lektionen und bemerkte, dass der Riese seitlich zu mir stand und mich nicht im Blick hatte. Er hielt mich kleines Mädchen wohl nicht für eine Bedrohung. Er wusste auch nicht, dass ich es war, die seine Fähigkeit abwehrte. Ich spürte deutlich, wie er immer wieder versuchte, seine Gabe bei Jasper einzusetzen und ich konnte seinem Gesicht entnehmen, dass er ratlos und wütend war.

Nun, da er mir unvorsichtig seine Seite anbot, rannte ich entschlossen los, um die sich bietende Chance zu nutzen, schoss hinter seinem Rücken vorbei und schlug dabei mit aller Kraft seitlich gegen seinen Hals. Ich wollte ihm den Kopf abreißen und hatte es so gemacht, wie Jasper es mir beigebracht hatte. Mein Treffer war hart, aber leider nicht hart genug. Er schrie auf und wandte sich mir zu. Ich sah tiefe Risse an seinem Hals und verspürte Genugtuung. Dann sprang Jasper ihn von hinten an, umklammerte blitzschnell seinen Kopf, stellte die Füße auf seine Schultern und riss ihm mit einem gewaltigen Ruck und einer Drehung seines Oberkörpers den Kopf ab.

Taumelnd brach der kopflose Koloss zusammen.


Auch die anderen hatten schnell ihre Gegner bezwungen. So schnell wie mein Zorn gekommen war, verflog er auch wieder. Jetzt hatte ich nur noch eine Priorität und wollte schnellstmöglich wieder zu Edward. Ich hoffte so sehr, dass er noch am Leben war. Ich hatte mich gerade umgedreht, um zurück zu rennen, da hielt mich Jasper auf.

»Bella, er braucht jetzt dringend frisches Blut. Jage ihm etwas. Ich gehe zu ihm und kümmere mich um ihn. Komm so schnell es geht«, sagte er zu mir und bat dann Jacob, sich um die Überreste zu kümmern.

Ich tat, was er sagte. Es gefiel mir nicht, auch nur noch eine Minute länger von Edward getrennt zu sein, aber ich musste Jasper jetzt einfach vertrauen. Ich hatte keine andere Wahl.

Schnell spürte ich einen Rotluchs auf, schlug ihn bewusstlos und nahm ihn mit. Dann rannte ich wieder in Edwards Richtung. Ich hoffte, dass ein Luchs ihm reichen würde. Nein, das war leichtsinnig. Ich versuchte noch einen aufzuspüren und hatte Glück. Zwei waren definitiv besser als einer.


Als ich zurück kam, lag Edward regungslos am Boden.

“Nein, bitte nicht, er darf nicht tot sein”, schoss es mir durch den Kopf.

Ich war verzweifelt, doch Jasper blickte zuversichtlich und untersuchte konzentriert seine Wunden.

“Er ist am Leben!”, stellte ich hoffnungsvoll fest.

Jasper sah mich an und nickte zu Edwards Kopf. Ich wusste was zu tun war. Ich riss schnell dem einen Luchs die Kehle auf und hielt sie über seinen Mund.

»Edward, trink das. Edward? Du musst trinken«, flehte ich ihn an.
Er schluckte. Zu viel Blut floss aus dem Luchs auf einmal heraus. Es lief ihm über das Gesicht. Ich hätte vorsichtiger sein müssen. Das darf mir nicht noch mal passieren.

Er öffnete langsam die Augen. Sie waren fast leblos, dunkel und ausgezehrt.
»Edward, trink. Es wird dir helfen«, sagte ich besorgt und bemerkte mit großer Erleichterung, dass er schluckte.
»So ist es gut, Edward.«

Mit jedem Schluck von ihm, wuchs meine Hoffnung. Ich holte den zweiten Luchs hervor und riss diesmal ein kleineres Loch in seine Kehle. Es funktionierte besser.

»Gut so, Bella«, hörte ich Jasper sagen.

Er war dabei Edwards Bein wieder anzufügen. Er besprühte die Wunden mit seinem Gift. Das war definitiv nicht das erste Mal, dass er so etwas machte. Schnell erkannte er, wie der den Fuß wieder anfügen musste.

Edward schrie auf vor Schmerzen. Oh, ich litt mit ihm. Ich schluchzte und versuchte ihm gut zuzureden.

»Edward … Alles wird gut, Liebster.«

Dann streichelte ich vorsichtig sein von Rissen übersätes Gesicht und hoffte, dass ihm das Linderung schenken könnte.

Jasper meinte, dass er wieder ganz gesund würde und dass es anwachsen würde. Ich war unsicher, fragte ihn, warum Edward solche Schmerzen hatte und er sagte mir, dass das die Folge der Heilung sei, dass er nur am Bein eine Narbe zurückbehalten würde und dass es vier oder fünf Stunden dauern würde.

Emmett trat an Edward heran und wollte ihn nach Hause tragen. Wie konnte er es wagen mich jetzt von ihm trennen zu wollen, wenn auch nur um wenige Zentimeter. Ich fauchte ihn an, die Hände von ihm zu lassen. Ich würde das selbst machen. Keiner würde so behutsam mit ihm umgehen wie ich. Auf keinen Fall durfte jetzt jemand zwischen uns sein. Ich nahm ihn vorsichtig auf meine Arme und drückte ihn sanft an mich. Ich spürte seinen Atem an meiner Brust. Es fühlte sich so gut an. Langsam ging ich mit ihm nach Hause.


Zuhause traf ich auf Seth, der sich nach ihm erkundigte. Er war hier geblieben, um den Kontakt aufrecht zu halten. Offensichtlich war hier alles in Ordnung. Ich hätte gerne nach Renesmee gesehen, aber ich war mir sicher, dass Rose gut auf sie aufpasste. Also trug ich Edward nach Hause und legte mich mit ihm auf Bett. Ich würde ihn keine Sekunde aus den Augen lassen, bis er wieder gesund wäre.


Nun, vier Stunden später, bemerkte ich, wie Edward langsam den Kopf zu mir hob und mich anblickte. Seine Augen waren sehr dunkel und nur ein schmaler brauner Rand war zu sehen. Er war bestimmt sehr durstig.

»Hallo Liebste«, krächzte er aus seinem Hals.
»Schscht, Liebster. Nicht reden.«

Ich streichelte ihm das Gesicht und küsste ihn auf die Stirn. Ich war so glücklich seine Stimme zu hören, doch er sollte sich unbedingt schonen.

Er räusperte sich.
»Ich möchte aber reden«, sagte er.
Seine Stimme klang jetzt etwas fester, aber immer noch rau.
»Wir haben Zeit Edward. Ich werde nicht von deiner Seite weichen. Ruh’ dich aus. Du musst wieder zu Kräften kommen.«
»Danke Liebste. Ich hoffe, du kannst mir den Kummer verzeihen, den ich dir bereitet habe.«
»Oh Edward!«, schluchzte ich. »Alles ist verziehen, wenn du nur wieder gesund wirst.«
Er kuschelte sich wieder an mich, atmete ruhig und gleichmäßig.


Etwa eine Stunde später, seine Wunden im Gesicht waren vollständig verheilt und die Narbe an seinem Bein hatte nur noch einen silbrigen Schimmer, hörte ich die anderen, wie sie sich draußen vor dem Haus versammelten. Die Tür ging auf und Alice kam als Erste herein. Sie lächelte erleichtert.

»Also, wenn mich meine Gabe nicht im Stich gelassen hat, dann sollte es ihm jetzt besser gehen.«
»Ich vermute mal«, sagte Edward jetzt mit sehr viel kräftigerer Stimme, »dass es mir nur dank deiner Gabe überhaupt besser geht. Die unerwartete Rettung habe ich wohl dir zu verdanken.«
»Sei nicht albern«, erwiderte Alice strahlend und zwinkerte ihm zu. »Ich hab doch nur zugesehen.«

Hinter ihr kamen jetzt alle herein, da sie Edwards Stimme gehört hatten. Jeder war erleichtert und glücklich. Edward setzte sich auf und streckte die Arme Renesmee entgegen, die das Angebot freudig annahm. Etwas zu ungestüm für mein Empfinden, sprang sie auf das Bett, hüpfte in seine Arme und setzt sich auf seinen Schoß.

»Vorsichtig Schatz«, ermahnte ich sie.
»Ich bin nicht aus Zuckerwatte«, erwiderte Edward und lächelte mich an.

Renesmees kurz erschrockenes Gesicht wurde augenblicklich wieder von einem glücklichen Lächeln abgelöst. Sehr sanft schmiegte sie sich jetzt an seine Brust und ich streichelte ihr über den Kopf.

»Nun, dein Bein sieht gut aus, Edward. Kannst du den Fuß wieder normal bewegen?«, wollte Jasper wissen.
Edward wackelte mit den Zehen.
»Es fühlt sich zumindest wieder ganz an. Danke Jasper, für alles. Ich hoffe beim nächsten Mal werde ich nicht wieder so einen Mist bauen.«

Bein nächsten Mal? Er war dem Tod gerade so von der Schippe gesprungen und dachte schon an ein nächstes Mal? Er hatte Glück, dass ich im Moment noch viel zu besorgt war, um ihm jetzt eine Standpauke zu halten. Die würde ich mir für später aufsparen.

Jasper nickte und lächelte ihm zu.
»Na, hoffen wir mal, dass es so bald kein nächstes Mal gibt.«

Ich war überrascht. Eine so vernünftige Antwort hatte ich nicht von ihm erwartet, auch wenn es mir missfiel, dass er ein nächstes Mal nicht kategorisch ausschloss.

»Hey Eddy, sieht so aus, als hätten wir jetzt noch etwas gemeinsam. Jetzt wurden wir beide von unseren Frauen gerettet und nach Hause getragen.«

Edward lächelte und hielt ihm die Faust hin. Emmett schlug ein.

Rosalie schmiegte sich an Emmetts Arm. Es gefiel ihr offensichtlich, dass Emmett das gesagt hatte und meinte nur zu Edward:

»Gut, dass du wieder an einem Stück bist.«

»Du hast uns so einen Schrecken eingejagt, Junge«, meinte Esme und lächelte ihr sanftes Lächeln.
»Wie geht es dir jetzt, Sohn«, wollte Carlisle wissen.
»Nun ja, ich stehe nicht gerne im Mittelpunkt des Mitgefühls, aber sonst ganz gut. Zumindest sind die Schmerzen weg. Ich fühle mich aber ziemlich ausgezehrt.«

Carlisle blickte in seine Augen.
»Ich denke, du solltest viel trinken, damit du wieder zu Kräften kommst.«
Jasper nickte zustimmend.
»Denkst du, du kannst jagen?«, frage Esme besorgt.
»Das werde ich dann wohl herausfinden müssen«, gab er zur Antwort.

Es gefiel mir nicht, dass er schon aufstehen sollte. Ich war mir nicht sicher, ob er wirklich gesund und stark genug war. Noch vor einer Stunde lag er fast regungslos in meinem Arm. Aber wenn Carlisle und Jasper das für richtig hielten, konnte es wohl nicht so falsch sein.

»Dann gehe ich mit dir jagen, Schatz. Auf keinen Fall lasse ich dich jetzt alleine.«

Renesmee kletterte wieder zu Rosalie auf den Arm. Edward rutschte zur Bettkante und belastete langsam sein Bein, stand auf und wippte vorsichtig vor und zurück.

»Fühlt sich gut an!«, sagte er und lächelte mir zu. »Wollen wir?«
“Und Gedankenlesen funktioniert auch wieder?”, fragte ich im Gedanken und drückte dabei kurz den Schild weg.
»Ja Bella, das geht auch wieder.«

Die Anderen wussten zwar nicht, was ich gefragt hatte, aber da ich es eine heimlich gedachte Frage gewesen war, hatte Emmett mal wieder die völlig falschen Schlüsse gezogen und lachte verschmitzt.

»Das freut mich aber, Ed. Lieber ein Bein ab, als dass das nicht mehr geht.«

Ich rollte mit den Augen, war ihm aber nicht wirklich böse. Dafür war ich im Augenblick viel zu erleichtert.

»Danke für euren Besuch«, sagte ich zu der versammelten Familie, »aber jetzt muss sich mein Schatz erst mal etwas Frisches anziehen. So geht der mir auf jeden Fall nicht aus dem Haus.«

Sie verstanden meinen Wink mit dem Zaunpfahl und gingen alle wieder hinaus. Edward lächelte mich an. Auch er war froh, wieder mit mir alleine zu sein. Er hatte immer noch die zerfetzten Reste seiner Kleidung am Körper. Ich zog sie ihm Stück für Stück aus, überprüfte jeden Quadratzentimeter der freigelegten Haut nach Verletzungen. Ich ging äußerst gründlich vor, was ihm sichtlich gefiel.

»Meine Kleidung ist auch ziemlich mitgenommen«, stellte ich fest.
»Was?«, sagte er mit gespielter erschrockener Stimme.
»Dann lass mich mal sehen, ob du vielleicht auch irgendwo eine Verletzung davon getragen hast.

Er war nicht weniger gründlich als ich.

Zu mehr wollte ich es jetzt aber nicht kommen lassen. Ich war noch immer ein wenig besorgt um ihn und wollte sicher gehen, dass er jetzt erst mal genug trinken würde, um wieder voll zu Kräften zu kommen.

»Komm Schatz, mir wäre es lieber, wenn wir uns jetzt anziehen und erst mal jagen gehen würden.«

Er seufzte, fügte sich aber meinem Wunsch. Ich glaubte, dass er auch lieber erst mal etwas trinken wollte, auch wenn er das niemals zugeben würde.


Draußen trafen wir noch auf Jacob und Seth.
»Hey Edward«, begrüßte ihn Seth, »alles wieder senkrecht?«
»Ja danke, Seth. Danke euch beiden für eure Hilfe und dafür, dass ihr meine Familie beschützt habt. Ich stehe tief in eurer Schuld.«
»Ach was, dafür sind Wachwölfe doch da«, erwiderte Seth lachend und Jacob schüttelte den Kopf.
»Dann sollte der vorlaute Wachwolf mal schleunigst auf Patrouille gehen«, bestimmte Jacob.
»Och man, das war doch nur Spaß.«
»Ab geht’s, oder ich jage deine Schwester hinter dir her.«
»Bin ja schon weg.«

Seth verabschiedete sich von uns und verzog sich hinter die Bäume um sich zu verwandeln. Auch Jacob verabschiedete sich. Er wollte einen weiteren Schneeferientag mit seiner Nessie verbringen. Ich bat ihn noch darum, den anderen und auch Sam zu sagen, dass ich mit Edward in der Nähe jagen wollte, damit es keine unangenehmen Überraschungen gäbe. Er versprach mir, das sofort zu erledigen. Danach ging ich mit Edward in den Wald.


Wir liefen los. Erst langsam, dann immer schneller. Er schien anfangs ein wenig unsicher zu sein, ob sein Fuß wirklich schon voll belastbar war, stellte aber keinerlei Probleme fest. Im Jagdgebiet angekommen, lief uns zunächst ein Wapiti über den Weg. Er wollte es eigentlich ignorieren, aber ich bat ihn inständig, sich doch bitte zu stärken, was er dann auch widerwillig machte. Ich war ihm dankbar dafür und seine Augen sahen auch gleich viel besser aus.

Als nächstes spürte ich bei der Jagd wieder einen Rotluchs auf.

»Darf ich dich diesmal füttern?«, frage Edward und setzte dabei sein schiefes Lächeln auf, dem ich einfach nicht widerstehen konnte.
»Aber du sollst doch viel trinken«, antwortete ich kleinlaut.
»Ach komm schon Bella. Gönne mir den Spaß. Ich habe doch auch deinen Wapiti getrunken.«
»Also gut«, seufzte ich, obwohl ich mich insgeheim schon darauf freute.

Seine Bewegungen war schon wieder sehr geschmeidig. Manchmal hatte ich den Eindruck, dass er noch nicht ganz der Alte war, aber sicherlich schon zu 95%. Ich war immer noch erstaunt deswegen. Sah im Gedanken immer seinen Zustand, als wir ihn gerettet hatten.

Dann fing er den Luchs und kam grinsend zu mir.
»Dürfte ich My Lady wohl bitten, sich auf den schneebedeckten Boden zu legen und ihre Lippen leicht zu öffnen, so dass ich ihr eine auserlesene Köstlichkeit in den Mund tröpfeln lassen könnte?«

Ich musste lächeln. So ging es mir immer, wenn er sprach, als ob er aus einer anderen Zeit wäre. Vermutlich wusste er das auch und macht es deshalb immer wieder gerne.

Seiner Bitte folgend, legte ich mich hin, warf dabei die Haare nach hinten - für alle Fälle - öffnete den Mund, schloss die Augen und wartete was passierte.

Ich hörte das reißende Geräusch seines Bisses und schon eine Sekunde später floss ein Strahl warmen Blutes in meinen Mund. Es war köstlich und doch irgendwie merkwürdig, das Blut zu schmecken, ohne die eigenen Lippen an das Fell des Tieres zu pressen. Doch dann presste sich etwas Anderes an meine Lippen. Es waren seine Lippen. Unsere Münder verschmolzen zu einem leidenschaftlichen und innigen Kuss. Danach löste er sich wieder von mir und lächelte mich an.

»Lecker!«, sagte ich zu ihm und lächelte zurück.
Sein Grinsen wurde noch breiter.
»Los, Edward«, sprach ich, während ich aufstand. »Du musst noch mehr trinken. Ich will vollkommen goldbraune Augen sehen, wenn wir wieder nach Hause gehen.«
»Ja Ma’am«, sagte er seufzend und stand ebenfalls auf.

Dann machten wir uns wieder auf die Jagd, erlegten noch ein paar Tiere, wobei er darauf bestand, dass ich mich auch richtig satt trinken müsste. Der krönende Abschluss war natürlich, wie könnte es anders sein, ein Puma.

»Wollen wir noch mal Susi und Strolch spielen?«

Er verstand meine Anspielung auf den Walt-Disney-Film, bei dem sich die beiden Hunde einen Teller Spaghetti teilten und sich am Schluss zufällig küssten. Bei uns war der Kuss jedoch nicht zufällig.

Wenn wir gleichzeitig das Blut unserer Beute tranken, den saugenden Rhythmus aufeinander abstimmten, dann hatte das etwas Erotisches, das mich ganz wuschig machte und wie beim ersten Mal, konnte ich mich nach einer Weile nicht mehr beherrschen und stürzte mich auf ihn, um ihn zu küssen. Diesmal waren wir jedoch unbeobachtet und es gab keinen Grund, das Spiel nicht weiterzuspielen.


Am Abend dann machten wir uns wieder auf den Heimweg, ziemlich blutverschmiert, mit verstrubbelten Haaren und lädierter Kleidung. Also gingen wir uns zunächst duschen und umziehen, bevor wir uns dann zum Haupthaus begaben.

Bis auf Renesmee, die wohl mit Jacob unterwegs war, waren alle versammelt. Emmett war offensichtlich aufgefallen, dass wir frisch geduscht waren und grinste frech.

»Und Bella, geht es bei ihm noch?«, fragte er süffisant.
Ich seufzte.
»Ja Emmett, er kann immer noch rennen und springen und jagen … und alles andere auch, das er vorher konnte.«
Jetzt hatten alle ein wissendes Grinsen im Gesicht, aber das war mir egal. Ich war viel zu gut gelaunt.

»Ich störe ja nur ungern die ungetrübte Stimmung«, sagte Carlisle, »aber ich würde trotzdem gerne die Ereignisse besprechen, zusammenfassen und sehen, ob wir etwas herausbekommen können. Vielleicht gelingt uns ein Blick hinter die Kulissen.«

Ja, die Stimmung wurde gestört, aber die Wichtigkeit dieser Besprechung war allen klar. Wir setzten und also auf unsere gewohnten Plätze am Esstisch.

»Edward«, begann Carlisle, »zunächst einmal, ich bin so froh und erleichtert, dass es dir wieder gut geht, mein Sohn, aber dennoch, erzähle uns bitte aus erster Hand, welche Informationen du hast.«

»Leider, Carlisle, weiß ich nicht wirklich viel, aber was ich weiß, ist beunruhigend. Die Erschaffung dieser vier Vampire richtete sich eindeutig gegen uns. Wer das gemacht hat, kennt uns. Es war eine Frau. Sie hat sich den Neugeborenen gegenüber als Mutter bezeichnet. Sie war sehr darauf bedacht, dass sie nicht genau gesehen wurde, was darauf schließen lässt, dass sie meine Gabe kennt. Sie hat ihnen Anweisungen gegeben, die Alice kaum auffangen konnte. Anweisungen wie in den Wald gehen, in Bewegung bleiben, sich zu verstecken und nur anzugreifen, wenn ihnen zufällig einer von uns über den Weg läuft.«

»Und du bist sicher, dass es sich gegen uns gerichtet hat?«
»Ja Carlisle, ihr Anführer, Brian, hat mich als einen der Braunaugen bezeichnet. Ich hatte in seinen Gedanken gelesen, dass er von uns wusste. Aber nichts genaues, nur dass wir neun sind. Sie wollte ihn wohl ganz bewusst im unklaren lassen, damit er einerseits keinen Angriff plante, den Alice hätte sehen können, oder andererseits nicht die Flucht ergriff, wenn ihm unsere Macht bekannt gewesen wäre. Er glaubte, im Wald relativ sicher zu sein, wenn er sich an ihre Anweisungen halten würde.«

Jasper nickte zustimmend. Das alles erschien ihm wohl logisch.

»Aber was kann sie damit bezweckt haben?«, dachte Carlisle laut nach.

Wir alle dachten über diese Frage nach. Schließlich meldete ich mich zu Wort.

»Sie hat keine Neugeborenenarmee erschaffen, um uns direkt anzugreifen. Also war es wohl etwas Indirektes, wie zum Beispiel, dass der Wald für uns nicht mehr sicher wäre. Aber ich frage mich, was wir dann ihrer Meinung nach gemacht hätten?«

»Die Typen gejagt, natürlich«, sagte Emmett.
»Was vermutlich schwierig gewesen wäre, wenn sie ohne konkretes Ziel im Wald herumlaufen«, ergänzte Alice.
»Es hätte länger gedauert«, sagte Carlisle, »und sie hätten in unserer Heimat Menschen gejagt.«

»Na und?«, sagte Rosalie in ihrer altbewährten teilnahmslosen Stimme. »Das hätte uns wohl kaum geschadet. Außerdem sind wir schon so lange hier, dass ein Umzug für uns sowieso nur eine Frage der Zeit ist. Ziehen wir halt um und überlassen den Hunden den Rest. Die zwei Rudel wären sicherlich mit diesem kleinen Grüppchen fertig geworden. Wisst ihr noch, was die mit der Neugeborenenarmee von Victoria gemacht haben.«

»Sehr pragmatisch, Rosalie«, sagte Jasper und klang dabei keineswegs feindselig, »aber der ganze Aufwand, nur damit wir etwas früher umziehen?«

»Vielleicht«, äußerte Edward, »stecken die Volturi dahinter. Vielleicht wollen sie die Wölfe und uns auseinander bringen, damit wir zahlenmäßig schwächer werden. Die Wölfe haben sie beim letzten Aufeinandertreffen ziemlich überrascht.«

»Das ist gut möglich«, meinte Jasper. »Wenn sie uns angreifen wollten, würde es absolut Sinn machen, uns zu trennen und einzeln anzugreifen. Aber ob sie das wirklich planen würden? In dem Fall würden wir uns doch sofort wieder vereinen, wenn Alice Anzeichen dafür sehen würde und wie Rosalie richtig bemerkt hat, wir werden früher oder später ohnehin über einen Umzug nachdenken müssen. Was sind schon ein paar Jahre für die Volturi.«

»Wäre es möglich, dass sie es aus irgendeinem Grund eilig haben und nur auf einen Vorwand warten, wie bei dem Angriff letztes Jahr?«, wollte ich wissen. »Da sagte Alice doch, ihr Entschluss wäre schon fest gestanden.«
»Das glaube ich nicht«, meinte Jasper. »Sie hätten schon längst kommen können, überließen es aber uns selbst, die Sache zu regeln.«
»Hast du irgendetwas bei den Volturi gesehen, das damit in Verbindung stehen könnte?«, wollte Carlisle von Alice wissen, doch sie schüttelte den Kopf und seufzte.

»Es tut mir leid Carlisle. Ich überwache die Entscheidungen von Aro, Caius, Markus, Jane, Alec und Demetri, aber die entscheiden seit Wochen über nichts anderes, als ihr Mittagessen. Es kommt mir schon so vor, als machen die das absichtlich um mich zu quälen. Es ist abstoßend, ihnen beim Essen zuzusehen.«

»Das bedaure ich, Alice. Ihre Gewohnheiten werden sich wohl kaum geändert haben, seit ich damals bei ihnen lebte. Ich weiß, was du meinst. Es tut mir leid, aber ich bin dir sehr verbunden, dass du sie trotzdem im Auge behältst.«

Nach einer kurzen Redepause meinte er dann noch:
»Ich sehe schon, wir können das Geheimnis heute nicht lüften. Ich bitte daher euch alle, wachsam zu sein. Wer auch immer uns angegriffen hat, wird sich wegen des Fehlschlages wohl etwas Neues überlegen. Vielleicht können wir es dann etwas früher ergründen.

Ich bemerkte plötzlich, wie Alice starr vor sich hin sah. Alle schauten sie an.
»Na das ist ja eine Überraschung«, sagte Edward. »Wir bekommen Besuch.«
»Doch die Volturi?«, fragte ich etwas ängstlich.
»Nein«, erwiderte Alice. »Es sind die Denalis.«
»Die Denalis?«, fragte Carlisle überrascht.
»Ja genau, sie wollen zu uns. Alle fünf. Es ist nicht ganz klar, was sie wollen, ich sehe eher Neugierde und Gespräche«, antwortete Alice.
»Dann werden wir sie willkommen heißen«, beschloss Esme. »Wann kommen Sie an?«
»Schon morgen Nachmittag, wenn nichts unvorhergesehenes passiert.«

Nun, das dürfte interessant werden. Die Cullens und die Denalis kennen sich schon lange und dennoch treibt sie Neugierde zu uns. Ich erinnerte mich an die fünf. Sie standen auf unserer Seite, als wir Renesmee vor den Volturi beschützten. Ich mochte sie und hoffte, das es ein netter Besuch würde. Vielleicht blieben Sie ja ein paar Tage und wir könnten auch das Weihnachtsfest zusammen verbringen. Ein schöner Gedanke.

Kapitel 9 - Gerüchte

Heute war wieder ein sehr bewölkter Tag mit leichtem Schneefall. Ich stand am Fenster, schaute Renesmee beim Spielen mit Jacob zu und hing meinen Gedanken nach.

“Die Denalis sollten keine Probleme auf ihrer Reise haben”, dachte ich mir bei einem Blick in den Himmel.

Eigentlich völliger Unsinn, dass ich mir über deren Reise Gedanken machte. Schließlich würde sie Alice im Blick behalten und uns sofort alarmieren, bevor etwas passieren würde. Jacob war auch informiert über den bevorstehenden Besuch. Er hatte sich gleich mit Sam abgestimmt, damit es keinen unerfreulichen Zusammenstoß mit einer seiner Patrouillen geben würde.

Ich seufzte und hoffte sehr, dass der Abend uns neue Erkenntnisse bringen würde. Der Besuch der Denalis konnte einfach kein Zufall sein.

“Bitte, lass nicht die Volturi der Grund sein”, bettelte ich im Gedanken zum Himmel.

Es war dabei nicht direkt Furcht, vor den Volturi, sondern mehr Angst um meine Familie und die Quileute. Wenn Aro noch mal seine Leute zu uns führen würde, dann sicherlich mit einer besseren Vorbereitung und einer Strategie. Aber warum sollte er das wollen? Wir machten doch nichts, das gegen ihre Gesetze verstößt. Ganz im Gegenteil. Sollten sie nicht froh sein, dass wir so friedlich waren? Wir schadeten den Menschen nicht und bewahrten das Geheimnis. Sein Wunsch, einige von uns in seine “Sammlung” aufzunehmen, konnte doch unmöglich so groß sein, dass er gleich einen Krieg auslösen würde.

Ein weiterer tiefer Seufzer kam aus meinem Mund.
»Was beschäftigt dich so, Liebste?«
Edward war zu mir ans Fenster getreten und schaute hinaus, meinem Blick folgend, ob dort etwas zu sehen wäre, das mich bedrücken könnte, doch da war nur Renesmee, die versuchte, aus Jacob einen Schnee-Wolf zu machen.
»Ach, es ist nichts. Ich denke nur darüber nach, was die Denalis wohl zu uns führt und was das alles zu bedeuten hat.«

Ich schaute in seine tiefen strahlenden goldbraunen Augen, die wie so oft etwas besorgt wirkten. Warum nur machte er sich ständig Sorgen um mich? Ja, ich wusste, er machte es aus Liebe, aber er übertrieb es eindeutig. Automatisch zog ich einen Schmollmund bei dem Gedanken und er sah mich verwirrt an. Oh ja, wie gerne würde er jetzt einen Schlüssel zu meinem verschlossenen Gehirn haben und endlich mal alles durchforsten, was ich ihm an Gedanken vorenthielt. Ich musste grinsen und er sah mich dafür noch verwirrter an.

»Du musst dir nicht immer so viele grundlose Sorgen um mich machen, Edward. Nur weil du nicht in meinen Kopf schauen kannst, heißt das nicht, dass du immer gleich vom Schlimmsten ausgehen musst. Ich liebe mein Leben mit dir, Renesmee und der ganzen  Familie. Das musst du doch wissen. Wenn ich dann ab und zu ein paar trübe Gedanken wälze, dann ist das doch nichts, weshalb du besorgt sein müsstest. Könntest du nicht wenigstens versuchen, im Zweifelsfalle davon auszugehen, dass alles harmlos ist?«

Sein Blick war jetzt eher betroffen und etwas traurig. Das tat mir leid. Eigentlich hatte ich nicht vor ihm irgendwelche Vorwürfe zu machen. Sanft streifte ich mit der Hand eine Haarsträhne aus seinem zum Glück vollkommen verheilten und wieder makellosen Gesicht, streichelte seine Wange, fuhr mit meiner Hand zu seinem Nacken und zog ihn mit leichtem Druck zu mir herunter, um ihm einen zärtlichen Kuss zu geben. Dann presste ich meine Stirn gegen seine und sah im eindringlich in die wunderschönen Augen.

»Verstehst du was ich meine?«
Er atmete tief durch und dachte einen Moment nach.
»Ja, Bella. Im Grunde verstehe ich das. Aber ich kann doch nichts dafür. Du bist mir viel zu wichtig, als dass ich so tun könnte, als wären mir deinen Sorgen egal.«
»Das sollst du doch gar nicht, Edward. Du sollst nur versuchen, davon auszugehen, dass es keine schwerwiegenden Sorgen sind und dass die schon von alleine verschwinden werden.«
»Jede kleine Sorge, die du dir machst, ist für mich schwerwiegend. Ich will nicht, dass du dir überhaupt um irgendetwas Sorgen machst.«

Ich stöhnte leicht auf. Er machte es mir mal wieder nicht leicht.
»Edward, wenn du um mich grundlos besorgt bist, dann mache ich mir gleich wieder Gedanken darüber, was du vielleicht jetzt wegen mir denkst und das sind dann auch gleich wieder trübe Gedanken und du bist dann noch mehr besorgt, weil du gleich wieder vom Schlimmsten ausgehst und das Ganze steigert sich bis es fast nicht mehr auszuhalten ist.«

Wieder blickte er mich traurig und betroffen an.
»Bella, ich will doch nur, dass du glücklich bist.«
»Da ist deine Besorgnis aber ein bisschen kontraproduktiv.«
Ich lächelte ihn an und gab ihm noch einen Kuss.
»Außerdem«, fuhr ich fort, »bin ich wirklich glücklich. Ich könnte gar nicht glücklicher sein, als in diesem Leben mit dir. Du musst einfach nur da sein. Am besten unbesorgt.«
Er lächelte schief zurück.
»Ich werde mein Bestes geben, My Lady.«

Wir küssten uns noch mal innig und dann zog ich ihn zum Klavier hin. Wir hatten schon eine Weile nicht mehr geübt und es würde wohl noch Jahre dauern, bis der eklatante Klassenunterschied zwischen uns auf ein annehmbares Niveau geschrumpft wäre.


Nach zwei Stunden üben setzte ich mich an den PC und checkte meine E-Mails. Mom hatte mir geschrieben und sich für den Brief bedankt und sich gleich mehrmals dafür entschuldigt, dass sie erst jetzt geantwortet hätte, aber sie wäre in letzter Zeit viel mit Phil unterwegs gewesen und hätte es dann glatt vergessen. Das tat ihr wirklich leid, wo ich mir doch solche Mühe gemacht und auf eine so schöne Handschrift geachtet hätte.

Ups, da war ich wohl doch nicht vorsichtig genug, mit dem Brief. Na ja, jedenfalls hatte sie es als meine Handschrift erkannt. Das war ja schon mal etwas.

Ich schrieb ihr zurück, dass sie sich deshalb keine Sorgen machen musste und dass es mir gut ging und so weiter. Ich hätte ihr wohl kaum schreiben können, dass mein Ehemann gerade so einen Kampf mit neugeborenen Vampiren überlebt hatte. Sie würde mir auch wohl kaum glauben können, dass ich ihn dann 15 Meilen weit durch den Wald nach Hause getragen hatte und er schon nach nur einem halben Tag wieder vollständig genesen war.

Ein Seufzer kam über meine Lippen und ich hoffte inständig, dass es Edward nicht aufgefallen war. Wenn er mich jetzt nach dem Grund fragen würde, müsste ich ihn belügen, was ich wirklich nicht gerne machte, oder ihm sagen, dass es eine Sache gab, die mir in meinem neuen Leben wirklich nicht gefiel. Nämlich, dass ich kein offenes und unbekümmertes Verhältnis zu meiner Mom haben konnte. Zum Glück war es ihm aber nicht aufgefallen, oder er übte sich schon mal darin, meinen Seufzer als harmlos einzustufen.

Ich verschickte meine E-Mail und setzt mich zu Edward, der inzwischen vor dem Fernseher saß und durch diverse Nachrichtenkanäle zappte. Es war aber nichts dabei, das nach Vampiraktivitäten aussah oder sonst unsere Aufmerksamkeit erregt hätte.


Emmett und Rosalie waren auf der Jagd. Sie waren schon gestern Abend weggefahren, um möglichst rechtzeitig vor dem Eintreffen der Denalis wieder hier zu sein. Ich bedauerte das ein wenig, denn Emmetts Scherze hätten mir jetzt gut getan. Alternativ hätte ich mich auch lieber mit Rose über Mode unterhalten, als jetzt ohne besondere Beschäftigung immer wieder über die jüngsten Ereignisse nachzudenken. Die letzten Wochen und Monate, in denen immer mein Training im Mittelpunkt stand, waren insofern fast einfacher gewesen. Ich hatte immer eine Beschäftigung für meinen Verstand und kam erst gar nicht darauf, mir über irgendetwas Sorgen zu machen, worüber ich doch nichts genaues wusste.

Ich musste bei diesen Gedanken innerlich kichern. Wenn ich vielleicht eine Beschäftigung für Edward finden könnte, würde er sich vielleicht auch weniger Sorgen über das machen, was er nicht von mir wusste.

»o.k. Bella, ich bin jetzt unbesorgt, aber ich würde trotzdem sehr gerne wissen, was du gerade denkst. Warum grinst du plötzlich so?«
Ich lachte leise über mich selbst. Mein innerliches Kichern hatte sich wohl heimlich auf meine Lippen gestohlen.
»Nichts besonderes, mir ist nur langweilig.«
Ungläubig schaute er mich an.
»Und das amüsiert dich?«
»Ja«, lachte ich, »obwohl das gerade total bescheuert klingen muss.«
»Was immer dich glücklich macht, Liebste«, sagte er und gab mir einen Kuss.

“Oh man, die Langeweile macht mir echt zu schaffen”, dachte ich.
Alice wollte ich nicht stören. Sie war mit Jasper zusammen. Außerdem konzentrierte sie sich in letzter Zeit häufig auf die Volturi und das würde meiner Stimmung sicherlich keinen Auftrieb geben. Abgesehen davon wollte ich im Augenblick auch keinen Kontakt zu Jasper. Sein Verhalten bei der Neugeborenen-Aktion hatte mich doch ziemlich verwirrt. Einerseits war ich ihm natürlich unendlich dankbar, denn ich war mir sicher, dass Edward nur noch wegen Jaspers entschlossenen Handelns lebte, andererseits aber, hatte er ihn ja auch erst in die Gefahr gebracht, was aber nötig war, weshalb ich mich dafür schämte, dass ich deshalb auf ihn sauer war. Ein echtes Gefühlschaos, das immer aus mir heraus brach, wenn ich ihn sah oder an ihn dachte und das wollte ich ihm zur Zeit weder zumuten, noch offenbaren.

Renesmee wiederum spielte glücklich mit Jacob, Carlisle war in der Klinik und Esme wusste ohnehin immer sich selbst zu beschäftigen. Sie war wie ein Heinzelmännchen. Unbemerkt hielt sie alles in Schuss und war sofort zur Stelle, wenn sie benötigt wurde.

»Also Edward«, riss ich seine Aufmerksamkeit an mich. »Mir ist echt langweilig. Wenn du dir also um etwas Sorgen machen willst, wie wäre es dann darüber, wie du meine Langeweile vertreiben könntest?«
Edward dachte kurz nach und grinste mich dann breit an.
»Na, da wüsste ich doch gleich etwas.«
»Mach es dir aber nicht zu einfach Edward. Ich habe hohe Ansprüche«, gab ich keck zurück.
Daraufhin dachte er schon angestrengter nach.
»Nun, da wir nur ein paar Stunden Zeit haben, wie wäre es denn mit Schlittschuhlaufen auf unsrem zugefrorenen See?«

Ich war perplex. Damit hatte ich beim besten Willen nicht gerechnet. “Schlittschuhlaufen?” In meinem menschlichen Dasein, hatte ich um jeden Eisfläche einen großen Bogen gemacht. Schon im Interesse meiner Mitmenschen, hätte ich mir niemals freiwillig zwei Waffen unter die Sohlen gepackt, um Gleichgewichtsübungen zu absolvieren. Der Gedanke war einfach zu absurd. Andererseits, wen sollte ich denn hier schon mit Stahlkufen verletzten können? Außer meiner Selbstachtung, versteht sich.

Plötzlich ging die Tür von Alice Zimmer auf und sie sprang mit einem breiten Grinsen im Gesicht heraus.
»Ha! Das will ich sehen. Ich müsste ein Paar haben, das dir passt, Bella.«
He, hatte ich etwa schon zugesagt? Ach was soll’s.

Wir gingen zum See hinter unserem kleinen Häuschen. Er war mit einer dicken Eisschicht überzogen. Alice verpasste mir die Schlittschuhe - sie passten wirklich - und dann wagte ich mich vorsichtig aufs Eis.

Ich war überrascht. Zwar wusste ich schon längst, dass meine Vampir-Reflexe deutlich schneller waren als die alten und dass ich nun einen viel besseren Gleichgewichtssinn hatte, aber dass diese neue Fähigkeiten auch dafür sorgten, dass ich mich problemlos mit Schlittschuhen auf dem Eis bewegen konnte, damit hatte ich nicht gerechnet. Ich lächelte vergnügt, als ich meine ersten Schritte machte und mich sanft über das Eis gleiten ließ. Alice und Edward waren kurz nach mir ebenfalls auf das Eis gekommen und Edward fuhr dicht hinter mir her.

»Versuch das mal«, sagte Alice, drehte sich vor mir um und lief rückwärts.
Ich schaute ihr genau zu, wie sie die Beine bewegte, die Hüfte, die Arme. Es sah eigentlich alles nicht so schwer aus, doch sie wirkte dabei wahnsinnig anmutig und ich konnte mir kaum vorstellen, dass ich das auch konnte. Dennoch wollte ich es versuchen und drehte mich einfach um und ahmte ihre Bewegungen nach.

»Es klappt!«, freute ich mich.
Besonders toll war dabei auch, dass ich jetzt so genau in Edwards Augen sehen konnte. Er kam näher zu mir heran, legte seine Hände auf meine Hüfte und ich die meinen auf seine Schultern. Es war einfach himmlisch, wie wir so schwerelos auf dem Eis dahinschwebten.

Edward achtete darauf, wohin wir fuhren und dirigierte mich leicht. Ich fühlte mich vollkommen sicher und genoss einfach den schönen Augenblick.

»Hey, Bella, schau mal!«, rief Alice.
Dann nahm sie Schwung und sprang rückwärts ab, drehte sich mehrmals in der Luft und kam grazil wieder zur Landung.
»Wow«, konnte ich dazu nur sagen.
Dann drehte sie noch eine Pirouette und glitt dann wieder engelsgleich weiter. Ich war mir sicher, dass so manche Profi-Eiskunstläuferin jetzt neidisch auf sie gewesen wäre.

Plötzlich hob Edward mich hoch über seinen Kopf.
»He!«, protestierte ich. »Was soll das.«
»Strecke die Arme aus«, sagte er und lächelte so vergnügt, dass ich nicht widersprechen konnte.

Ich streckte also die Arme zur Seite und er machte eine halbe Drehung, damit ich sozusagen vorwärts flog.
»Cool!«, sagte ich nur und strahlte über das ganze Gesicht.
Dann ließ er mich, die Hände immer an meiner Hüfte, sanft an seiner Brust herunter gleiten, bis ich wieder die Füße sicher auf dem Eis hatte. Jetzt fuhr er rückwärts und schaute mich mit diesen strahlenden und lachenden goldbraunen Augen an. Ich konnte einfach nicht widerstehen und küsste ihn so leidenschaftlich, das wir die Orientierung verloren und am Ufer in den Schnee stürzten.

Alice’ glockenklares Lachen erklang und wir stimmten mit ein, während wir uns glücklich im Schnee wälzten.
»Danke Edward«, sagte ich begeistert. »Das war wirklich wunderschön.«
»Es ist mir immer eine ausgesprochene Freude, die hohen Ansprüche meiner Angebeteten zufrieden zu stellen.«

Wieder verschmolzen unsere Lippen zu einem innigen Kuss und ich dachte dabei kurz an den tollen Jagdausflug zu diesem verschneiten See in Kanada. Wie gerne wäre ich jetzt mit ihm alleine an einem solchen Ort, um meine Gedankenspiele wahr werden zu lassen. Dann schaute er mir auf einmal so eindringlich und verführerisch in die Augen, dass ich absolut davon überzeugt war, dass er meine Gedanken erraten hatte, oder einfach von sich aus das gleiche dachte. Wir sagten nichts, sondern küssten uns einfach noch leidenschaftlicher.

Alice lief weiter auf dem zugefrorenen See und zeigte Kunststückchen, während sie uns mehrmals verschmitzt anlächelte. Schließlich standen wir wieder auf und liefen noch eine ganze Weile auf dem Eis, wobei wir uns zahlreiche verliebte Küsse gaben.

Alice brachte mir dann ein paar einfache Sprünge bei, aber auch die hatten es in sich. So wie beim Klavierspielen, war auch hier vor allem das richtige Timing gefragt. Ein bisschen zu stark abgesprungen oder mit zu viel Schwung in die Drehung und schon flog ich vom Eis. Nicht, das mir dabei irgendetwas weh getan hätte, aber schon wieder wurde mir bewusst, dass all die Fähigkeiten, welche meine Familie auszeichneten, hart erarbeitet waren, beziehungsweise sehr viel Übung erforderten. Unsere Vampir-Eigenschaften machen es uns vielleicht einfacher, Neues zu erlernen, aber ohne Fleiß kein Preis. Das galt auch für uns. Für den Moment war ich aber voll und ganz zufrieden, dass ich mich nicht völlig blamiert hatte, sondern vielmehr noch einen wunderschönen Mittag verbrachte.


Fröhlich lachend gingen wir wieder zurück ins Haus. Rosalie und Emmett waren inzwischen zurück und auch Carlisle würde gleich hier sein. Die von Alice angegebene Ankunftszeit der Denalis war fast erreicht. Ich ging nach draußen, um Renesmee herein zu holen. Jacob wusste ja, dass wir Besuch erhalten würden. Er war zwar nicht gerade begeistert, dass sein Tag mit Nessie schon enden sollte, tröstete sich aber mit der Aussicht, morgen wieder mit ihr zusammen sein zu dürfen.

Allmählich versammelte sich die Familie im Wohnzimmer. Alle warteten gespannt und hatten sich paarweise zusammengefunden. Renesmee saß mit Edward und mir auf der Couch. Dann hörten wir draußen Schritte im Schnee. Es klang fast so, als würden sie absichtlich langsam zur Tür kommen, damit wir sie vorher hören konnten.

»Sie sind da!«, verkündete Alice das inzwischen offensichtliche.
Noch bevor sie angeklopft hatten, öffnete ihnen Carlisle die Tür und begrüßte sie.
»Kommt herein, liebe Freunde.«

Einer nach dem anderen kamen sie herein. Zuerst Tanya, dann Kate mit Garrett an der Hand und schließlich Carmen mit Eleazar. Sie alle hatten ein freundliches Lächeln aufgesetzt, wirkten aber auch alle ein kleines bisschen beunruhigt.

Esme ging gleich auf sie zu.
»Es ist so schön euch mal wieder hier bei uns begrüßen zu dürfen. Bitte, fühlt euch ganz wie zu Hause.«

Esmes herzliche Art schien die Beunruhigung unserer Besucher ein wenig zu zerstreuen. Nacheinander begrüßten sich alle gegenseitig mit kleinen Umarmungen oder Händeschütteln.

»Man ist die Kleine gewachsen«, meinte Tanya zu Renesmee gerichtet. »Was bekommt sie denn von euch zu essen?«, ergänzte sie noch scherzhaft.
Renesmee verstand den Witz und lächelte sie an.
»Also am liebsten esse ich Wapitis zusammen mit meinem Jacob«, und dann flüsterte sie noch dazu, »aber Wolf ist auch super lecker.«
Ihre Antwort entlockte allen ein Lachen. Vor allem Emmett und Rosalie konnten sich kaum einkriegen.

Bei Garrett bemerkte ich eine deutliche Veränderung seiner Augenfarbe. Sie hatten vor einem Jahr, als ich ihn das letzte Mal sah, so ein lebhaftes Rot, aber jetzt waren sie eher Kastanienbraun.

»Sehr schöne Augenfarbe«, dachte ich, als ich ihn begrüßte und bemerkte dann schlagartig, dass ich meine Gedanken laut ausgesprochen hatte, was mir natürlich extrem peinlich war.
Zum Glück konnten Vampire aber nicht rot werden. Er sah mich zunächst überrascht an, lächelte dann aber und meinte:
»Ähm, danke, … ich nehme es sehr ernst mit meiner neuen “Diät”, obwohl es nicht wirklich einfach ist.«

Kate kuschelte sich an seinen Arm. Die beiden waren inzwischen definitiv ein Paar.
»Ja das tut er«, stimmte sie zu, »ob allerdings ganz aus Überzeugung oder weil er Angst hat, dass er kräftigt von mir eine gewischt bekommt, wenn er “sündigt”, das muss ich noch herausfinden.«
Dabei lächelte sie ihn verschmitzt an.
»Ach Katie«, antwortete er. »Du musst mir keine Stromschläge verpassen. Ich bin auch so elektrisiert von dir«, und dann gab er ihr einen Kuss.
Esme seufzte glücklich. Für sie gab es wahrlich nichts Schöneres, als zwei Liebende.

Eleazar betrachtete Renesmee und meinte dann:
»Ihre Gabe hat sich verstärkt, nicht war?«
»Stimmt«, antwortete ich. »Seit kurzem kann sie nicht nur Bilder, sondern auch Filme und ihre Gefühle übertragen.«
»Sehr interessant. Was hat das ausgelöst?«
Die Frage war mir nicht sehr angenehm, aber ich wollte die gute Stimmung und die offenen Gespräche nicht gefährden.
»Im Grunde war es ein Alptraum, den sie mir zeigte. Sie hatte große Angst.«

Renesmee nickte dazu und wirkte etwas ernster, als sie daran erinnert wurde. Eleazar nahm es interessiert zur Kenntnis.
»Ja, das überrascht mich nicht. Oft sind es starke Emotionen, die eine Weiterentwicklung voranbringen. Bei dir war es ja ähnlich, nicht war?«
Ich nickte und hoffte dabei, dass das Gespräch in eine andere, angenehmere Richtung wechseln würde.
»Würdest du mir vielleicht eine kleine Demonstration deiner verbesserten Fähigkeit geben?«, fragte er Renesmee sehr freundlich mit einem sanften Lächeln.

Sie überlegte einen Moment und meinte dann:
»Könnte ich schon, aber ich weiß nicht was ich dir zeigen soll.«
»Vielleicht einfach etwas Nettes oder Lustiges, das du in den letzten Tagen erlebt hast?«
»Hmm … o.k.«, sagte sie und streckte die Hand aus, um seine zu nehmen.

Sofort sah ich die leichte Vibration ihrer Hand, die sich auf seinen Arm übertrug. Ihr Gesicht wirkte dabei sehr konzentriert.

»Sie zeigt ihm, wie sie auf Jacobs Rücken durch den verschneiten Wald geritten ist. Das hat ihr großen Spaß gemacht«, informierte mich Edward.

Dann ließ Renesmee wieder die Hand von Eleazar los und lächelte ihn an. Auch er schien ganz entzückt von dem Erlebnis.
»Vielen Dank, das war wirklich sehr schön. Du hast da eine ganz tolle Gabe, Kleines.«
Renesmee grinste und freute sich über die anerkennenden Worte.

»Deine Augenfarbe ist auch sehr schön geworden, Bella«, sprach mich plötzlich Carmen an. »Sie haben inzwischen auch so ein schönes Karamellbraun. Hast du es tatsächlich geschafft, dich vollständig vegetarisch zu ernähren? Du bist doch erst ein gutes Jahr alt?«
»Das hat sie tatsächlich«, sagte Edward stolz. »Ihre Willensstärke ist enorm.«
Dabei legte er mir den Arm um und streichelte über meine Schulter.
»Wahrlich bemerkenswert«, sagte Eleazar mit einem bewundernden Ton in der Stimme.

»Welchem Umstand verdanken wir denn euren erfreulichen Besuch«, frage Carlisle, um damit schneller zum Kern der Sache vorzudringen.
Er hatte wohl den Eindruck gewonnen, dass die momentan entspannte Stimmung bestens dazu geeignet wäre, dieses Thema jetzt anzusprechen.

Kurz trat betretenes Schweigen in den Raum. Mir fiel auf, dass einige der Denalis zu Edward blickten. Ich ahnte, dass es ihnen im Moment sehr unangenehm war, dass er ihre Gedanken lesen konnte und konzentrierte mich sofort auf meinen Schild, um sie alle vor Edward abzuschirmen. Ihm gefiel das natürlich gar nicht, und er warf mir einen mürrischen Blick zu und ließ den Arm sinken, den er mir umgelegt hatte. Das wieder fiel den Denalis auf und sie schauten zu mir.

»Bitte«, erklärte ich, »es ist mir sehr wichtig, dass ihr euch bei uns wohl fühlt. Ich verdanke euch so viel. Das Wenigste, das ich für euch tun kann, ist eure Privatsphäre etwas zu schützen. Ich werde euch alle vor Edward abschirmen, so lange ihr hier seid.«
Sie schauten mich überrascht an und Edward seufzte enttäuscht.
»Jetzt sei nicht so«, tadelte ich ihn. »Du hast schließlich auch zwei wundervolle Ohren und kannst mit ihnen zuhören wie wir auch.«

Sie schmunzelten über meine Worte und wirkten sehr viel entspannter.
»Wie lange kannst du denn deine Gabe bei so vielen auf einmal einsetzten?«, fragte mich Eleazar.
Eine interessante Frage. Darüber hatte ich noch nie nachgedacht. Allerdings war das bislang auch noch nie ein Problem gewesen.
»Nun ja, so lange ihr in meiner Reichweite bleibt, wüsste ich nicht, dass ich da ein Zeitlimit hätte. Ich habe das inzwischen so oft gemacht, dass es praktisch von alleine läuft. Jasper und Emmett wollen häufig, dass ich sie von Edward abschirme, wenn sie etwas zusammen spielen. Ich brauche es nur bewusst zu aktivieren. Der Rest läuft automatisch, so als ob man sich entschließt loszurennen und die Füße einen einfach weiter tragen.«

»Erstaunlich«, sagte Eleazar mit einem bewundernden Gesichtsausdruck. »Und du kannst uns alle hier im Raum vor Edward abschirmen?«
»Ja, aber im Augenblick schirme ich nur euch fünf ab. Wenn ich alle abschirme, dann dreht mein Edward glaube ich durch.«

Edward warf mir einen vorwurfsvollen Blick zu, als ob er sich beschweren wollte, für diese Bloßstellung. Die anderen nahmen das aber alle sehr amüsiert zur Kenntnis und darauf kam es mir schließlich an. Sie sollten sich entspannen und wohl fühlen. Das war sicherlich sehr hilfreich.

»Und wenn ich mich jetzt bewege?«, fragte Eleazar und ging ein paar Schritte zu Seite und blickte prüfend zu Edward, der jedoch nur mit dem Kopf schüttelte.
»Das spielt keine Rolle«, sagte ich. »Solange du in meiner Reichweite bis, passt sich der Schild praktisch wie von selbst den Bewegungen meiner Schützlinge an.«
»Dann sollte ich wohl lieber in deiner Nähe bleiben«, meinte er scherzhaft.
»Ja, mit meiner Reichweite bin ich noch nicht wirklich zufrieden. Ich schaffe höchstens eine Ausdehnung von vielleicht 100 Metern, aber ich arbeite daran.«
»100 Meter?«, wiederholte er überrascht. »Und du bist mit deiner Reichweite unzufrieden?«
»Nun ja, Edwards Fähigkeit reicht viel weiter als meine. Das ist manchmal … ärgerlich.«

Eleazar schüttelte den Kopf als würde er gar nichts mehr verstehen.
»Mein liebes Kind«, sagte er dann. »Ich kenne außer dir nur ein Schutzschild und das ist Renata, Aros persönliche Leibwache, und das wäre sie nicht, wenn sie nicht so außerordentlich talentiert wäre. Sie hat einen physischen Schild, aber um andere zu schützen, braucht sie Körperkontakt. Deine Gabe ist in vielerlei Hinsicht noch außergewöhnlicher.«
»Das mag ja sein«, sagte ich, »aber das ist auch das Einzige, das ich tun kann, um meine Familie zu schützen. Dann will ich das auch können, so gut es nur geht.«

Jetzt war Edwards Verärgerung wieder verflogen und dem Stolz über mich gewichen. Er lächelte wieder und legte erneut den Arm um mich. Eleazar wirke noch immer etwas fassungslos und war im Gedanken versunken.


Alle waren gespannt, wer jetzt das Wort ergreifen würde. Zu meiner Überraschung war es Garrett, der während der ganzen Unterhaltung über mein Schild zu Boden blickte und wohl versuchte, seine Gedanken zu ordnen.

»Um auf deine Frage, nach dem Grund unseres Besuchs zurückzukommen, Carlisle, daran bin ich wohl schuld.«
»Schuld?«, fragte Carlisle. »Ist das nicht ein etwas sehr negatives Wort für so ein freudiges Ereignis?«
Er war mal wieder sehr diplomatisch und machte es Garrett einfacher, darüber zu sprechen.
»Es ist mir etwas unangenehm, Carlisle, aber wir sind hier, weil mir ein Gerücht über euch zu Ohren gekommen ist.«
»Was ist das für ein Gerücht?«, fragte Carlisle nach und klang dabei sehr gelassen.
»Das Gerücht besagt, … dass ihr ein unsterbliches Kind geschaffen hättet.«

Ich konnte nicht glauben, was ich da gehört hatte und spürte, wie der Zorn in mir wuchs. Sie wussten doch ganz genau, dass Renesmee kein unsterbliches Kind ist. Zumindest nicht in dem Sinne, was damit gemeint war. Hatten sie nicht meine Tochter noch vor einem Jahr gegen die Volturi verteidigt? Warum glaubten sie dann jetzt so etwas? Die Wut vermischte sich mit Enttäuschung und ich musste das jetzt einfach heraus lassen.

»Meine Renesmee ist das nicht. Das wisst ihr doch«, sagte ich in einer Tonlage, die klar erkennen ließ, dass mich dieser Vorwurf verletzt hatte.
»Nein Bella, entschuldige, es geht nicht um deine süße Kleine. Es geht in dem Gerücht um … etwas Anderes … einen etwa zehnjährigen Jungen.«

Wir alle waren wie erstarrt. Natürlich erinnerten wir uns an den Jungen, den wir nach dem Angriff eines Nomaden gefunden hatten und den Carlisle nicht retten konnte und deshalb aus Mitleid getötet hatte. Aber wie konnte das jetzt in einem Gerücht die Runde machen und dann auch noch so falsch?

»Das ist … beunruhigend«, sagte Carlisle und wirkte dabei äußerlich sehr gefasst.
Ich war mir aber sicher, dass die Erinnerung daran nicht leicht für ihn war und auch Esme war sofort an seiner Seite und streichelte ihm den Arm.
»Garrett«, fuhr Carlisle fort. »Ich kenne dich als integeren Freund, aber ich weiß nicht, wie nahe du demjenigen stehst, der dir das erzählt hat. Daher muss ich dich fragen, ob du uns vielleicht sagen könntest, von wem du dieses Gerücht gehört hast.«

Die Frage war nun für Garrett äußerst unangenehm. Er wollte sie aber offensichtlich beantworten, wenn auch nach Möglichkeit ohne einen Namen zu nennen. Mir war auch so, als hätte er mir einen kurzen dankbaren Blick zugeworfen, weil ich ihn vor Edward abschirmte.
»Es war ein alter Bekannter. Er lebt als Nomade.«
»Vertraust du ihm?«, wollte Carlisle wissen.
Garrett atmete schwer.
»Nun ja, er ist ein Schlitzohr, aber wir hatten uns bisher immer gut verstanden.«

Ich bemerkte, wie Alice scheinbar gedankenverloren zum Schreibtisch ging, ein Blatt Papier und einen Stift hervor holte und anfing etwas zu zeichnen.

»Nun, liebe Freunde«, fuhr Carlisle fort. »Ich weiß nicht, wie dieses Gerücht entstehen konnte. Vor etwa einem viertel Jahr, griff ein Nomade, den wir nicht kennen, in unserer Umgebung einen Familie mit einem Jungen an. Er tötete die Eltern und vergiftete den schwer verletzten Jungen, so dass er sich wohl verwandelt hätte. Dann allerdings verschwand er.«

Wieder trat kurzes betretenes Schweigen ein. Es war nur aus Alice’ Richtung das Geräusch eines Bleistifts auf Papier zu hören.

»Was ist mit dem Jungen geschehen?«, fragte Tanya besorgt.
Wir alle kannten die tragische Geschichte ihrer Mutter Sascha, die wegen eines unsterblichen Kindes von den Volturi hingerichtet wurde. Ihre Besorgnis wirkte daher besonders intensiv.
»Ich habe ihn von seinem Leid erlöst und dann haben wir die Leichen verbrannt. Für die Polizei war es ein unglücklicher Unfall … doch wie daraus solch ein Gerücht entstehen konnte, ist mir unbegreiflich. Außer uns und dem Täter, konnte eigentlich niemand davon wissen.«

Garrett wirkte nun sehr unsicher. Offensichtlich war er damit beschäftigt zu entscheiden, wem er mehr trauen konnte.
»Ich weiß nicht, wie er das erfahren hat«, suchte er nach einem Ausweg, »aber es ist für mich schwer vorstellbar dass er … obwohl ich auch an deinen Worten nicht zweifle, Carlisle.«

»Vielleicht kann ich helfen«, sagte Alice und kam mit einer Zeichnung in der Hand zurück. »Ich bin die Einzige die ihn gesehen hat. Also in meiner Vision. Ich hatte mir seine Gesichtszüge damals eingeprägt. So hat er ausgesehen.«
Mit diesen Worten gab sie Garrett die Zeichnung. Er war entsetzt, das war deutlich zu sehen. Er kannte die Person, deren Gesicht auf dem Blatt abgebildet war.
»Das kann ich nicht glauben. Warum sollte Dylan so etwas machen?«

Carlisle gab ihm Zeit, darüber nachzudenken. Wir alle schwiegen, um die bedächtige Ruhe nicht zu stören. Alice’ Zeichnung wurde herumgereicht. Ich musste zugeben, dass sie ebenso gut zeichnen, wie Schlittschuh laufen konnte.


Nach einer Weile schüttelte Garrett den Kopf und sprach wieder.
»Er war schon immer mehr ein Glücksritter, wobei ihn wohl viele eher als einen Halunken bezeichnen würden, aber ich hatte nie wirklich Grund an ihm zu zweifeln. Er war immer auf der Suche nach dem schnellen Geld. Beteiligte sich gerne an illegalen Pokerrunden. Ich hatte ihn mal gefragt, warum er das Risiko einging, sein ganzes Geld beim Glücksspiel zu verlieren, doch er meinte nur, “was für ein Risiko? Wenn ich verliere, schnappe ich mir hinterher den Gewinner und dann gönne ich mir einen schönen Urlaub in einem Nobelhotel.” Menschen gegenüber war er nicht sehr ehrenhaft, aber bei Seinesgleichen? So etwas hätte ich ihm nie zugetraut.«

»Du kennst ihn wohl am Besten, Garrett«, fuhr Carlisle fort, »aber wäre es denkbar, wenn du sagst, dass er das schnelle Geld erstrebt, dass er dann vielleicht für diese Tat bezahlt wurde?«
Garrett blickte Carlisle nachdenklich in die Augen. Nach einer Weile nickte er.
»Nun, dann wäre dieses Geheimnis zumindest halbwegs gelüftet«, stellte Carlisle fest. »Allerdings wissen wir noch nicht, wer wirklich dahinter steckt.«

Garrett blickt unschlüssig zum Boden. Er wirkte sehr bedrückt. Jeder Einzelne der Denalis wirkten sehr bedrückt und sie schienen sich zu schämen, dass sie an den Cullens gezweifelt hatten und gekommen waren, um die Wahrheit zu erfahren.

»Nun«, ergänzte Carlisle, »ich bin euch allen jedenfalls sehr dankbar, dass ihr gekommen seid, um diese Informationen mit uns zu teilen. Ihr habt etwas Licht in ein Rätsel gebracht, das wir zu lüften versuchen.«

Seine nette Ansprache nahm unseren Gästen etwas den Druck von den Schultern. Sie wirkten erleichtert, dass Carlisle das trotzdem so positiv aufnahm. Nur Garrett blickte weiter betroffen zu Boden. Ohne aufzusehen sprach er noch mal zu Carlisle.

»Er hat mir noch ein Gerücht erzählt. Er behauptete, ihr würdet eine Neugeborenenarmee aufbauen, um eure neue Machtstellung gegenüber den Volturi zu festigen und ihr würdet das heimlich in Olympia tun.«

Das war eine ungeheuerliche Unterstellung. Erneut stieg Zorn in mir auf. Wie konnte jemand nur solche Lügen über uns verbreiten.
»Das gibt es ja wohl nicht!«, platzte es aus mir heraus. »Mein Edward wäre von diesen Monstern beinahe getötet worden, als er versucht hatte herauszufinden, was in Olympia vor sich geht und jetzt erzählt da jemand, wir wären das?«
Ich konnte mich kaum beherrschen. Edward versuchte mich zu beruhigen und drücke mich an sich und küsste mir das Haar.

»Bella, das ist nicht der richtige Zeitpunkt für Vorwürfe«, maßregelte mich Carlisle und augenblicklich schämte ich mich dafür, dass ich ihn enttäuscht hatte.
»Entschuldigung«, sagte ich kleinlaut und versuchte meine Verärgerung herunter zu schlucken.
»Du musst ich dafür nicht entschuldigen, meine Liebe«, sagte er lächelnd. »Wir alle wissen, wie schlimm es für dich war. Es war für uns alle schlimm, aber für dich sicherlich am härtesten.«

»Was ist aus der Neugeborenenarmee geworden?«, wollte Eleazar wissen, doch bevor Carlisle antworten konnte, ergriff Jasper das Wort.
»Das war keine Armee. Es waren vier Neugeborene, die darauf ausgerichtet wurden, verdeckt zu arbeiten. Sie waren noch sehr jung und hatte sich trotzdem erstaunlich gut unter Kontrolle. Sie tarnten alle ihre Raubzüge als Unfälle. Sie wurden sehr gut ausgebildet. Von einer Frau, soviel wir wissen. Sie hatte die Bande dann in unseren Wald geschickt, wo sie heimlich agieren sollten. Zum Glück konnten wir Edward, der sie verfolgte und dabei entdeckt wurde, retten und die vier ausschalten.«
»Von einer Frau sagst du?«, fragte Eleazar.
»Ja, aber wir wissen nichts von ihr«, antwortete jetzt Edward. »Ich konnte in den Gedanken der vier kein Bild von ihr finden. Sie war sehr vorsichtig. Sie kannte unsere Fähigkeiten. Die ganze Aktion richtete sich gegen uns, doch wir wissen nicht, was sie bezweckt hat.«

Eleazar dachte kurz nach und verkündete dann:
»Eine Intrige! Ganz offensichtlich. Da will euch jemand denunzieren, aber warum? So etwas kenne ich nur von den inneren Machtkämpfen bei den Volturi, aber warum nun gegen euch gerichtet? Wenn Aro euch angreifen wollte, bräuchte er nicht so umständlich vorgehen. Sehr merkwürdig.«

Wieder waren alle im Gedanken versunken, bis Carlisle erneut das Wort ergriff.
»Nun, jedenfalls müssen wir davon ausgehen, dass dieser Dylan entweder für seine Dienste bezahlt wurde oder vielleicht direkt eingeweiht ist. Garrett, kannst du uns sagen, wo wir ihn finden können? Ich würde ihm gerne ein paar Fragen stellen.«

Eine sehr diplomatische Aussage, dachte ich. Ich würde dem Kerl gerne die Antworten aus dem Leib prügeln, wenn er etwas damit zu tun hatte, was meinem Edward widerfahren war.

»Ich weiß es nicht, aber ich werde ihn suchen«, sagte Garrett.
»Das kann ich unmöglich von dir erwarten«, sagte Carlisle. »Es gibt keinen Grund, warum du dich wegen uns so in Gefahr begeben solltest. Bitte, gib uns einfach die Informationen die du hast und wir suchen ihn selbst.«
»Nein Carlisle«, antwortete Garrett. »Er hatte mir das schon vor einem Monat erzählt und ich kann es kaum fassen, dass ich ihm Glauben geschenkt habe. Wer weiß, wie vielen er diese Lüge schon aufgetischt hat, seit er weiter gezogen ist. Das ist meine Schuld und ich muss das ausbügeln. Ich werde ihn suchen und finden.«

»Das wirst du aber nicht alleine tun«, meinte Kate, »und bevor du dir überlegst, wie du mich davon abbringen kannst, sag ich dir gleich, das kannst du vergessen. Auf keinen Fall gehst du ohne mich.«
»Ich kann euch weder darum ersuchen, noch euch davon abhalten«, sprach Carlisle die beiden an, »aber wenn ihr ihn findet, wäre es schön, wenn ihr ihn vielleicht zu uns bringen könntet oder uns zumindest informiert. Edwards Fähigkeit wäre sehr hilfreich dabei, die Wahrheit ans Licht zu bringen.«

Ich war sehr froh, dass er nicht vorschlug, dass Edward sie begleiten sollte, das hätte ich jetzt nicht ertragen. Nicht so kurz nach dem er fast gestorben wäre.

»Vielleicht«, meldete sich plötzlich Jasper zu Wort, »sollten wir euch begleiten.« Während er das sagte, zog er leicht Alice mit der Hand, die er um ihre Taille gelegt hatte, näher an seine Seite. Sie rollte mit den Augen, lächelte aber.
»Mit unseren Talenten«, fuhr Jasper fort, »dürfte es wesentlich schneller gehen, den Denunzianten aufzuspüren und ihn dazu zu bringen, uns etwas über seine Auftraggeberin zu erzählen. Und falls etwas passieren sollte, wärt ihr mit uns zusammen wesentlich sicherer.«

»Weißt du«, sprach plötzlich Tanya zu Jasper, »als Garrett uns von dem Gerücht über die Neugeborenenarmee erzählte, musste ich sofort an deine Vergangenheit denken und es kam mir für den Moment sogar plausibel vor. Dafür muss ich mich einfach bei dir entschuldigen. Du beschämst uns mit deiner spontanen Bereitschaft, Garrett und Kate zu begleiten und zu schützen. Es tut mir leid, dass ich da schlecht von dir gedacht habe. Ich hoffe, du kannst mir verzeihen.«
Jasper lächelte sie an.
»Das ist schon in Ordnung, Tanya. Eigentlich sogar logisch, dass du mir das zutraust. Ich würde es mir auch zutrauen. Allerdings, wäre es für uns völlig unsinnig, eine Neugeborenenarmee zu schaffen. Das wäre taktischer Schwachsinn.«

Alle blickten ihn an und verstanden nicht, warum das Schwachsinn sein sollte. Auch ich verstand es nicht. Neugeborene sind doch so stark und er ist ein Experte in der Ausbildung. Jasper blieb es natürlich nicht verborgen, dass ihn alle verständnislos anblickten. Also begann er zu erklären.

»Also Erstens, haben die Volturi sehr viel Erfahrung darin, Neugeborene zu vernichten. Selbst wenn Bella sie vor den Fähigkeiten von Jane und Alec schützen würde, hätten die kampferprobten Wachen leichtes Spiel mit ihnen. Es braucht nur Übung und kein Neugeborener wäre eine ernsthafte Gefahr für einen guten Kämpfer.

Hinzu kommt Zweitens, dass wir bereits Verbündete haben. Die Wölfe der Quileute sind den Neugeborenen immens überlegen. Das haben sie bei Victorias Angriff deutlich unter Beweis gestellt. Außerdem haben die Wachen keine Erfahrung gegen diese Wölfe.
Drittens, würden wir mit einer Neugeborenenarmee unser Bündnis mit den Quileute gefährden, wenn nicht sogar brechen. Etwas Dümmeres könnte uns nicht einfallen und Viertens, selbst wenn die Quileute das akzeptieren würden, wären die Neugeborenen kaum in der Lage, die Wölfe nicht als Feinde zu betrachten. Wir würden uns also selbst schwächen.
Und wenn euch das alles noch nicht genug ist, dann Fünftens: Ich habe dieses Leben hinter mir gelassen und werde niemals wieder eine Neugeborenenarmee aufbauen.«

Bei seinen Schlussworten strahlte ihn Alice an und gab ihm einen dicken Kuss auf die Wange. Alle anderen waren wie ich dermaßen beeindruckt von seiner Erklärung, dass sie sich ziemlich dämlich vorkamen, dass sie die Möglichkeit, dass das Gerücht stimmen könnte, tatsächlich in Betracht gezogen hatten.

Schließlich ergriff Garrett noch mal das Wort.
»Ich denke, dass nun auch der letzte Rest eines Zweifels endgültig beseitigt ist. Dylan muss schnellstmöglich aufgespürt und aufgehalten werden. Wir sollten uns sofort auf den Weg machen, jede Verzögerung kann uns nur schaden. Seid ihr bereit gleich aufzubrechen?«, fragte er in Richtung Jasper und Alice.
»Natürlich«, antwortete Alice, »und ich habe so das Gefühl, dass wir nach Calgary reisen sollten. Da gibt es ein paar nette Hotels.«
Dabei setzte sie ihr unverkennbares, wissendes Grinsen auf.

»Dann bleibt mir nur noch übrig, euch eine gute, sichere und erfolgreiche Reise zu wünschen«, sagte Carlisle und reichte Garrett zum Abschiedsgruß die Hand. »Und bitte, haltet mich auf dem Laufenden.«

Das war auch gleich die Eröffnung für zahlreiches Umarmen und Händeschütteln. Einige wünschten den Vieren Glück und andere baten einfach nur darum, vorsichtig zu sein. Nur Emmett wünschte “viel Spaß”.

Die vier verabschiedeten sich, Alice meinte noch zu Eleazar und Carmen, die verwirrt dreinblickten, dass sie sich keine Gedanken darüber machen müssten und wirklich gerne ihr Zimmer haben könnten, so lange sie weg wären und dann waren sie auch schon nach draußen in die Dunkelheit entschwunden.


Die Stimmung war nun etwas merkwürdig. Einerseits war sie gelöster, weil alles gesagt und das alte Vertrauensverhältnis wiederhergestellt, wenn nicht sogar noch stärker gefestigt war. Andererseits aber, war sie bedrückter, weil vier von uns auf eine Mission gingen und so etwas war immer ein Wagnis, auch wenn alle versuchten, sehr zuversichtlich zu wirken.

Carlisle bot den übrigen drei Denalis an, bei uns zu bleiben, bis unsere Freunde und Familienmitglieder wieder zurück wären. Das Angebot wurde nach kurzem Zögern dann gerne angenommen. Jetzt musste Carlisle grinsen, als er erkannte, was Alice mit ihrem Abschiedsgruß an Eleazar und Carmen gemeint hatte und bot den beiden natürlich Alice’ und Jaspers Zimmer an, wenn sie sich gerne zurückziehen wollten. Auch die beiden verstanden jetzt den Sinn von Alice Worten und grinsten kopfschüttelnd. Tanya wurde unterdessen in Edwards altem Zimmer einquartiert, das ohnehin nur leer stand und ein passendes Gästequartier abgab.


Nach mehrmaligem intensiven Gähnen von Renesmee, das von unseren Gästen als sehr belustigend aufgenommen wurde, da sie solche Verhaltensweisen nicht kannten, bat ich Edward, sie zu Bett zu bringen und musste dabei leicht seufzen. Carmen fiel das auf und stellte mir daher prompt die entsprechende Frage.

»Hat das einen bestimmten Grund, dass du das nicht selbst machst, Bella? Ich könnte mir kaum etwas Schöneres vorstellen, als meine Tochter zu Bett zu bringen.«
»Ja das stimmt«, gab ich zu. »Es ist immer sehr schön für mich, sie schlafen zu legen und zuzusehen, wie sie friedlich einschlummert, aber ich habe euch doch erzählt, dass ich mit der Reichweite meiner Gabe noch nicht so ganz zufrieden bin. Wenn ich jetzt gehe, kann ich den Schild um euch nicht mehr aufrecht erhalten und ich habe versprochen, dass ich das mache, so lange ihr hier seid.«

Da lachte Carmen plötzlich herzhaft und umarmte mich.
»Oh Bella, du bist wirklich etwas ganz Besonderes, aber jetzt vergiss den Blödsinn mit dem Schild und bring deine Tochter ins Bett. Es ist alles gesagt und es gibt keinen Grund mehr, dass du dir deswegen Umstände machst.«
»Aber ich…«
»Kein Aber! Jetzt geh’ schon. Wir sehen uns morgen früh wieder, wenn deine Kleine ausgeschlafen ist.«
Ich lächelte sie dankbar an und verabschiedete ich mich mit Edward von den anderen und ging mit ihm und Renesmee auf seinem Arm in unser kleines Haus, um sie zu Bett zu bringen.


In dieser Nacht hatte ich viel nachzudenken. Ich lag mit Edward auf dem Bett und grübelte über das kürzlich Geschehene nach. Ich war besorgt um Alice, Jasper, Kate und Garrett. Natürlich wusste ich, dass dieser Dylan keine Gefahr für die vier sein konnte, aber was, wenn er sich mit seiner vermeintlichen Auftraggeberin träfe? Was, wenn sie zu den Volturi gehörte und Wachen bei sich hätte oder andere gefährliche Vampire?

»Dann würde Alice das frühzeitig sehen und sie warnen.«
»Edward! Hör’ auf damit, auf meine gedachten Fragen zu antworten. Natürlich hoffe ich das auch, aber du weißt das genauso wenig wie ich.«
»Entschuldige bitte, das ist die Macht der Gewohnheit. Ich halte mich zurück.«

Für den Augenblick hatte ich ganz vergessen, dass ich meinen Schild von mir weg geschoben hatte, um Edward “zuhören” zu lassen. Er hatte mich so eindringlich darum gebeten, dass ich ihm diesen Wunsch erfüllen wollte, obwohl das irgendwie merkwürdig war. Normalerweise machte ich das, um mich ihm noch näher zu fühlen und ihm zu zeigen, wie sehr ich ihn liebte. Jetzt lag ich hier auf dem Bett und dachte nach und Edward war so eng an mich gekuschelt, dass denken gar nicht so einfach war. Seine Füße berühren meine, seine Knie schmiegen sich in meine Kniekehlen, seine Hüfte lag dich an meiner, seine Brust an meinem Rücken und sein Gesicht hatte er in meinen Haaren vergraben. Ich spüre seinen Atem, wie er mir über den Nacken strich und mir einen wohligen Schauer durch den Körper rauschen ließ. Seine Hand streichelt von meiner Taille seitlich über den Bauch und dann über die Hüfte wieder zurück zum Ausgangspunkt. Seine Berührungen waren so sanft und zärtlich und hinterließen doch eine prickelnde Spur auf meinem Körper.

»Edward hör auf damit. Wie soll ich mich denn auf meine Gedanken konzentrieren, wenn du mich so wuschig machst.«
»Aber das gefällt dir doch, oder?«
»Du weißt ganz genau, dass es mir gefällt, aber ich habe dir erlaubt zuzuhören und nicht es auszunutzen.«
»Das würde ich doch niemals tun«, sagte er schmollend.
Ich seufzte und versuchte meinen vorherigen Gedankengang wieder aufzunehmen.

Dass die Denalis zu uns gekommen waren, war wirklich ein großes Glück. Über diesen Dylan würden wir sicherlich etwas Licht in das Dunkel dieses Geheimnisses bringen können. Ich hoffte wirklich sehr, dass unsere Gäste sich bei uns wohl fühlten und dass nun alle Zweifel ausgeräumt waren und nichts mehr zwischen uns stand.

»Also das kann ich dir jetzt aber mit Gewissheit sagen. Nun, da du sie nicht mehr vor mir abschirmst und ich ihre Gedanken hören kann, weiß ich, dass sie alle sehr erleichtert sind, dass sie sich mit uns ausgesprochen haben und dass unsere Freundschaft ungetrübt ist. Carmen und Tanya denken zur Zeit wie du vor allem an die vier Reisenden. Eleazar ist mit anderen Gedanken beschäftigt.«

“Womit ist Eleazar beschäftigt?”, dachte ich.
»Das willst du nicht wissen.«
“Edward?”
»Nein ehrlich, Bella, das würde dir nicht gefallen.«
“Edward.”
»Glaube mir Liebste, du willst nicht wirklich…«
“Edward!!!”
Er seufzte.

»Also gut. … Eleazar denkt darüber nach, wie wertvoll deine Gabe im Kampf wäre. Ein Truppenverband der Volturi-Wachen mit dir im Zentrum, wäre für ihn eine äußerst mächtige Kampfeinheit. Er stellt sich verschiedene Manöver vor, wie man optimal agieren könnte, ohne dich zu gefährden.«

Oh nein. Warum nur mussten Leute wie Jasper und Eleazar nur immer den kriegerischen Nutzen meiner Gabe in den Vordergrund stellen?
»Weil sie so lange Soldaten waren und…«
»Edward! Letzt Warnung, wenn du noch mal auf meine Gedanken antwortest, dann ziehe ich den Vorhang zu!«
»Entschuldigung, ich dachte wirklich, du wolltest eine Antwort von mir hören.«
Er klang dabei so enttäuscht, dass er mir augenblicklich wieder leid tat.

Natürlich wusste ich, dass Eleazar lange Zeit zu den Wachen der Volturi gehört hatte. Aber das lag doch lange hinter ihm. Mir war klar, dass er und Jasper so lange Soldaten waren und dass sie das nur überlebt haben konnten, weil sie wirklich gut darin waren. In ihnen existierte ein sehr gewalttätiger Teil. Als Jasper gestern von dem Schwachsinn einer Neugeborenenarmee sprach, war ich zunächst so überrascht von seiner Brillanz, dass ich einfach nur staunen konnte. Aber inzwischen vermute ich, dass er darüber nicht erst gestern nachgedacht hatte. Solche Gedanken und Planungen gehören vermutlich zu seiner Natur und er hatte das bestimmt schon vorher einmal durchkalkuliert, wenn nicht sogar öfters.

»Du hast ja gar keine Ahnung, wie recht du da hast.«
»Edward!«
»Halt nein, verzeih’ mir, bitte. Nicht den Vorhang zuziehen. Ich bin schon still.«
Ich seufzte und nahm den letzten Gedanken wieder auf.

Letzten Endes hatten aber beide irgendwann erkannt, dass sie dieses Leben nicht glücklich machen würde. Sie hatten es hinter sich gelassen. Eleazar hatte seine Carmen und Jasper seine Alice. Beide wollten ein friedliches Leben, doch beide trugen den Kämpfer in sich.

“Natürlich!”, dachte ich bei mir.
Dies war Teil ihrer Persönlichkeit. Sie hatten sich lediglich dazu entschlossen, diesen Teil nur noch zu nutzen, um diejenigen, die sie liebten, zu beschützen. Im Grunde sind sie edle Wesen, die den gewalttätigen Teil ihrer Persönlichkeit nur für das Gute einsetzten wollten.

Edward kuschelte sich näher an mich und begann wieder mich so liebevoll zu streicheln.
»Edward«, sagte ich fast flehend. »So kann ich nicht klar denken.«
»Tut mir leid, Liebste, aber ich konnte gerade nicht anders. Du bist so eine gute Seele. Du siehst in allen immer nur das Gute, das Beste. Das hast du schon immer getan. Du hast in mir etwas gesehen, das ich selbst nicht sehen konnte und mich dann so glücklich gemacht. Seit du bei mir bist, hat sich so vieles verändert. Indem du an das Gute in den anderen glaubst, erweckst du es auch dort. Du hast Jasper mehr verändert, als dir bewusst ist. Du hast sogar Rosalie verändert. Ich habe bei ihr in Jahrzehnten nicht so viele positive Gedanken gehört, wie in letzter Zeit und glaube mir, in vielen davon kommst du jetzt vor.«

Ich zog seine Hand, die mich streichelte hoch zu meinem Gesicht und drücke sie fest an mich.

»Weißt du, Bella. Damals als du noch ein so zerbrechlicher Mensch warst, da dachte ich, dass du das Unglück magisch anziehen würdest, als ob sich das Schicksal gegen dich verschworen hätte. Ich wollte dich beschützen und dachte dabei, dass das Schicksal dir einen üblen Streich spielen wollte und dir mich, einen düsteren Vampir, als Schutzengel geschickt hatte, um dich endgültig ins Verderben zu stürzen. Doch jetzt glaube ich, dass das Schicksal dich mir als mein Schutzengel geschickt hat.«

Ich drehte mich zu ihm um, damit ich in seine Augen sehen konnte. Sein Blick unterstrich die Ernsthaftigkeit und Aufrichtigkeit seiner Worte. Ich streichelte sein Gesicht, gab ihm einen Kuss und kuschelte mich an die weiche, wohlduftende Haut seiner Brust und atmete sein unvergleichliches natürliches Parfüm ein.

Er fuhr mir mit den Fingern durchs Haar, streichelte dann mit den Fingerspitzen meinen Rücken hinab, ließ die Hand auf meinem Po liegen und zog mich näher an sich heran. Ein angenehmes Kribbeln lief durch meinen Körper.

“Er macht es schon wieder”, dachte ich mir und musste grinsen.
Da zog er plötzlich ruckartig die Hand weg.
»Entschuldige Bella, ich dachte wirklich, dass du das gerade wolltest.«
Er klang fast entsetzt. Ich sah in seine erschrockenen Augen, lächelte ihn an, küsste ihn leidenschaftlich und dachte: “Komm her du Blödmann.”


Nachdem die viel zu kurze Nacht vorbei und Renesmee aufgewacht war, gingen wir gut gelaunt wieder nach drüben. Jacob wartete schon sehnsüchtig am Waldrand auf seine Nessie. Sie wollte aber zuerst noch mit hinein kommen und unseren Gästen einen Guten Morgen wünschen. Ihre fröhliche Art hatte ihre Wirkung nicht verfehlt. Sie zauberte jedem ein Lächeln auf das Gesicht und im ganzen Haus herrschte spürbar gute Stimmung.

Emmett und Rosalie waren überraschend in der Nacht abgereist. Esme meinte nur, die beiden wollten noch irgendetwas vor Weihnachten erledigen und würden rechtzeitig zurückkommen. Jedenfalls sollten wir sie informieren, wenn es etwas Neues von Alice und den anderen gäbe. Ich blickte Edward fragend an, ob er davon etwas mitbekommen hätte. Er meinte aber nur, dass er da wohl mit den Gedanken wo anders war und lächelte mich so umwerfend schief an, dass ich ihn gleich wieder küssen musste.

Carlisle, der sich wegen unseres Besuchs ein paar Tage Urlaub genommen hatte, kam aus seinem Arbeitszimmer und winkte mich zu sich.
»Bella, würdest du bitte einen Augenblick zu mir kommen?«
Ich ging zu ihm ins Arbeitszimmer.
»Was kann ich für dich tun, Carlisle?«, fragte ich neugierig.

Es war wohl das erste Mal, dass er mich zu sich ins Arbeitszimmer gebeten hatte, ohne dass ich eine Ahnung hatte, worum es ging.
»Ich habe etwas für dich, aber zuerst möchte ich dir danken.«
»Wofür denn?«
Ich war verwirrt. Hatte ich da etwas verpasst?
»Für dein Verhalten gestern Abend.«
Ich verstand noch immer nichts und blickte ihn verwirrt an. Carlisle lächelte.
»Du hast überhaupt keine Ahnung was ich meine, oder?«

Ich schüttelte mit dem Kopf. Ich hatte definitiv keine Ahnung, wofür er mir danken wollte. Gestern hatte ich doch vor allem zweimal die Beherrschung verloren. Erst, weil ich dachte, sie würden Renesmee als unsterbliches Kind bezeichnen und dann, weil ich wegen des zweiten Gerüchts so sauer war.

»Als du bemerkt hattest, dass sich unsere Freunde wegen Edwards Gabe unwohl fühlten, hast du sofort reagiert und sie abgeschirmt. Das war äußerst geschickt und diplomatisch von dir. Du hast sie damit beruhigt, positiv gestimmt und erreicht, dass der Abend so gut verlaufen ist. Nur dank dir konnten alle Vorwürfe geklärt und aus der Welt geschafft werden und unsere Freundschaft zu den Denalis ist unverändert stark. Dafür danke ich dir.«
»Ähm, ich weiß nicht was ich sagen soll, Carlisle. Ich habe nur gemacht, was ich für richtig hielt. Danke, dass du das so positiv siehst.«

Carlisle grinste jetzt breiter und schüttelte leicht den Kopf.
»Ach Liebes, du bist wirklich die Einzige, die sich dafür bedankt, dass man ihr dankbar ist.«

Ich war verlegen. Es war doch nicht nötig, dass sich Carlisle bei mir dafür bedankte. Schließlich würde ich alles für ihn tun, nach allem was er für mich getan hatte.
»Ich sagte doch, dass ich nicht weiß, was ich dazu sagen soll. Du musst mir doch nicht dafür danken. Ich habe mir auch gar nichts groß dabei gedacht. Ich wollte nur, dass sie sich wohl fühlen.«
»Genau dafür danke ich dir, Bella. Dass du so denkst und so handelst. Es ist mir einfach eine Freude, dich um mich zu haben.«
»Ähm, danke Carlisle.«
Er lachte. Ich hatte es schon wieder getan.

»Nun Bella, ich habe hier etwas für dich.«
Mit diesen Worten überreichte er mir ein Notizbuch, einen Metallring mit mehreren kleinen Schlüsseln und ein kleine Mappe.
»Was ist das?«, frage ich.
»Sieh es dir an.«

Ich öffnete das Notizbuch. Zuerst dachte ich, es sei leer, doch bei genauerer Betrachtung fiel mir die unglaublich zarte und dünne Schrift auf. Ein menschliches Auge hätte sie nicht sehen können. Da waren diverse Anschriften von Immobilien, Bankdaten mit Namen der Kontoinhaber, Depot- und Kontonummern, Unterschriften und Passwörter. Bei einigen standen auch Schließfachnummern. Ich ahnte schon, dass die Schlüssel für die Schließfächer bestimmt waren.

»Soll ich für dich ein paar Besorgungen erledigen?«, fragte ich verwirrt.
Ich konnte mir keinen Reim darauf machen, was ich damit sollte.
»Nein, sollst du nicht«, sagte er lächelnd.

Unsicher öffnete ich die kleine Mappe. Zum Vorschein kamen mehrere gold- und platinfarbene Plastikkärtchen, die ich schnell als Kreditkarten identifizierte. Ich sah sie mir genauer an und stellte fest, dass auf ihnen mein Name stand.

»Ich verstehe nicht, Carlisle…«
»Nun, ich finde, du solltest über unsere finanzielle Situation Bescheid wissen. Da du deinen Durst jetzt so gut im Griff hast, willst du vielleicht auch mal alleine einkaufen gehen und nicht darauf angewiesen sein, dass Edward bezahlt. Dafür sind die Kreditkarten gedacht. Das sind deine.«

Ich war einen Moment lang sprachlos. Was sollte ich dazu bloß sagen?
»Carlisle, … das geht nicht, … ich kann das nicht annehmen. Bitte nimm das zurück.«
Ich hielt ihm die Sachen wieder hin, doch er lächelte nur und machte keine Anstalten, sie zurück zu nehmen.
»Bella, du bist schon längst Teil dieser Familie. Das hier war überfällig. Jeder von uns hat diese Daten und kann frei über das Familienvermögen verfügen. Das gehört jetzt alles auch dir.«
»Aber ich habe doch gar nichts getan, um das zu verdienen«, gab ich unsicher zurück.
»Mein liebes Kind, du hast keine Ahnung, was du alles für uns getan hast. Unsere Familie war nie glücklicher. Du hast so unglaublich viel Freude in unser Heim gebracht und das ist viel mehr wert, als alles Vermögen. Du gehörst zu uns und alles was uns gehört, gehört auch jedem anderen der Familie. So halten wir es schon immer. Bitte, nimm es einfach und nutze es.«
»Aber…«

Ich wusste nicht, was ich dazu sagen sollte. Mir war schon immer klar, das die Cullens sehr reich waren. Nicht nur wegen des Hauses, der Autos und des Bargeldes, das überall herum lag. Edward sagte ein mal, dass man mit Alice’ Gabe bei Geldanlagen nicht viel falsch machen konnte, aber ich hatte das doch nie für mich gewollt. Ich brauchte das doch nicht, um glücklich zu sein.

»Bitte Bella, nimm es einfach. Esme und ich möchten zwischen dir und unseren anderen Kindern keinen Unterschied machen. Das kannst du uns nicht antun, das abzulehnen.«
Gemein! Wie sollte ich denn jetzt noch darauf bestehen, dass er es zurück nahm? Langsam ließ ich meinen ausgestreckten Arm mit dem Päckchen in der Hand sinken.
»Das ist wirklich nicht nötig, Carlisle, aber wenn du darauf bestehst…«
»Ich bestehe darauf!«, sagte er lächelnd, aber bestimmt.

Ich seufzte und hatte keine Ahnung, was ich jetzt damit anfangen sollte. Verwirrt ging ich aus seinem Arbeitszimmer. Als ich noch mal zurück blickte, bemerkte ich noch, wie er noch immer grinsend den Kopf schüttelte, während er sich an seinen Schreibtisch setzte.

»Das wurde aber auch höchste Zeit«, sagte Edward. »Er hat das schon viel zu lange vor sich her geschoben und auf einen günstigen Augenblick gewartet.«
»Du wusstest davon?«, fragte ich überrascht.
»Natürlich. Wir alle wussten davon. Carlisle hatte die schwierige Aufgabe, dich dazu zu bringen, es anzunehmen. Nicht einfach, wo du doch so ungern Geschenke annimmst.«
»Du hättest mich vorwarnen können«, sagte ich leicht verärgert.
»Und dafür dein perplexes Gesicht verpassen? Vergib mir, aber das war einfach zu köstlich.«
»Ich werde es jedenfalls nicht benutzen, so.«
Hoffentlich wirkte ich so trotzig, wie ich wollte.
»Dann, Bella, musst du damit rechnen, dass dich alle mit Geschenken überhäufen werden, um deine Zurückhaltung auszugleichen.«
Er grinste noch immer.
»Das wagt ihr nicht!«
»Wetten? Du kennst doch Alice, oder? Und Emmett wird sich einen Spaß daraus machen, bei dem Rosalie gerne mitspielen wird. Esme wird es als gut gemeinte erzieherische Maßnahme betrachten und ich warte ohnehin schon lange darauf, dich so richtig beschenken zu dürfen. Jetzt, wo es alles auch dein Geld ist, darf ich das ja selbstverständlich.«

Ich seufzte schwer und musste mich für den Augenblick geschlagen geben. Das war so unfair. Wie sollte ich das denn alles einfach so auf die Reihe bringen? Im Moment war mir das jedenfalls zu viel und ich wollte nicht weiter darüber nachdenken. Schnell ging ich zu unserem Häuschen, räumte die Sachen in eine Schublade und kam dann rasch zurück. Irgendwann würde ich sie da wieder heraus holen, aber das hatte Zeit.


Der Tag verlief ansonsten sehr harmonisch. Wir hatten einige angenehme Gespräche mit Carmen, Tanya und Eleazar. Zwischendurch übte ich wieder das Klavierspiel mit Edward, was Carmen ausgesprochen gut gefiel. Auch ich hatte den Eindruck, dass ich langsam Fortschritte machte, wobei jedoch zweifelsfrei fest stand, dass ich noch lange nicht Edwards Niveau erreichten konnte. Zumindest machte es mir immer mehr Spaß und das gefiel auch meinem Liebsten.

Renesmee war wieder den ganzen Tag mit Jacob unterwegs. Gegen Abend dann kam sie mit ihm ins Haus. Die Denalis begrüßten ihn ausgesprochen freundlich. Auch sie wussten, dass wir den Quileute-Wölfen viel zu verdanken hatten und dass gerade Jacob so wichtig bei der ganzen Sache gewesen war. Er blieb jedoch nicht lange und meinte, dass er sich noch um ein paar Dinge kümmern müsste und verabschiedete sich bald darauf.

Aus irgendeinem Grund war Renesmee von Eleazar fasziniert. Sie verbrachte einige Zeit mit ihm und nutze immer wieder ihre Gabe, was ihm ausgesprochen gut gefiel. Carmen gesellte ich auch dazu und ihr war ebenfalls die Freude deutlich anzusehen. Tanya wirkte hingegen gelegentlich sehr gedankenverloren. Ich fragte mich, ob es vielleicht daran lag, dass sie die Einzige der beiden Familien war, die keinen Gefährten hatte und wollte mir gar nicht vorstellen, wie schwer das für sie zu ertragen sein musste. Ich gesellte mich daher zu ihr, um sie mit einer Unterhaltung auf andere Gedanken zu bringen.

Später meldete sich Alice bei Carlisle und richtete ihm aus, dass sie einer heißen Spur folgen würden. Dann wies sie Carlisle noch an mir zu sagen, dass ich ja nicht auf die blöde Idee kommen sollte, meine Kreditkarten in der Kommode vergammeln zu lassen. Das würde sie auf keinen Fall zulassen. Ich konnte es nicht fassen, dass sie sich jetzt auf ihrer gefährlichen Mission mit so etwas beschäftigen konnte. Sie war einfach viel zu leichtsinnig.

Am späten Abend, als Renesmee in Carmens Arm eingeschlafen war, weshalb sie über das ganze Gesicht strahlte, verabschiedeten wir uns und brachten unser kleines Mädchen zu Bett.


Am nächsten Morgen dann, Renesmee ging nach einem kurzen Guten-Morgen-Gruß gleich wieder zu Jacob, erhielt Carlisle einen weiteren Anruf von Alice. Er kam sofort ins Wohnzimmer und wir versammelten uns um ihn.

»Wir haben ihn gefunden«, verkündete Alice frohlockend am Telefon, »und er war äußerst redselig«, fügte sie kichernd an.
»Habt ihr Neuigkeiten über die Hintergründe?«
Carlisle kam schnell auf den Punkt.
»Leider nicht das, was wir uns erhofft hatten, Carlisle. Wir wissen jedenfalls, dass er für seine Tat bezahlt wurde. Er hat alles gestanden. Leider konnte er über die Frau nicht viel mehr sagen, als Edward schon wusste. Nur so viel, dass ihre Aussprache und ihre Kleidung darauf schließen ließen, dass sie nicht aus Amerika ist. Er meinte, sie hätte etwas Orientalisches an sich, hatte sich aber immer sehr bedenkt gehalten und ihr Gesicht nicht gezeigt. Er wusste auch nicht, wo sie war und hatte nicht die Absicht sie noch mal zu treffen.«
»Hmm … was ist nun mit ihm. Habt ihr ihn … laufen lassen?«, frage Carlisle vorsichtig nach.
»Ja, aber das wird dir gefallen. Er hat versprochen, dass er jeden Einzelnen, dem er die Gerüchte aufgetischt hatte, aufsuchen wird, um das Ganze richtig zu stellen. Er hatte noch nicht viele getroffen und ich habe gesehen, dass er es tun wird. Das Gerücht wird verschwinden.«
»Das ist hervorragend, Alice. Ein glückliche Wendung zum Guten. Ich bin sehr froh darüber.«
»Ich sagte doch, dass es dir gefallen wird«, fügte sie kichernd noch an. »Wir nehmen den nächsten Flug nach Seattle. Bis heute Abend sind wir zurück.«
»Sehr gut, Alice, dann bis heute Abend und grüße die anderen von mir.«
»Sie haben zugehört, Carlisle, so wie alle bei dir. Bis dann.«

Alice hatte aufgelegt. Wir alle waren so erleichtert, dass sie Erfolg hatten und dass es unseren Freunden, Brüdern und Schwestern gut ging. Wir freuten uns schon auf ihre Rückkehr und auf einen ausführlichen Bericht.

Carlisle rief noch Rosalie an, um ihr die Neuigkeit mitzuteilen. Sie freute sich auch sehr darüber, bedauerte aber, dass sie und Emmett heute Abend noch nicht zurück sein konnten. Sie würden noch bis kurz vor Weihnachten brauchen.

Der Tag verging wie im Fluge. Allen war leichter ums Herz und die Stimmung dementsprechend gelöst. Edward und ich luden unsere Gäste schon kurz nach dem Anruf zu einem kleinen Jagdausflug ein. So verbrachten wir einen unterhaltsamen Tag und kehrten rechtzeitig wieder zurück.


Am Abend dann wurde der schöne Tag durch die Wiedersehensfreude abgerundet. Nach ausgiebigen Begrüßungen und Umarmungen fingen sie an zu erzählen und wir lauschten gespannt ihrem Bericht.

»Also mit Alice an der Seite jemanden zu suchen, ist das ungewöhnlichste, das ich jemals gemacht habe«, fing Garrett an. »Kaum hatte ich eine Idee, wo wir einen Hinweis auf seinen Aufenthaltsort bekommen könnten, sagte Alice auch prompt, ob wir das vergessen könnten oder ob es sich lohnen würde. So waren wir rasend schnell auf seiner Fährte. Ich hätte mir nie träumen lassen, dass wir ihn so rasch aufspüren würden.«
»Wo habt ihr ihn denn gefunden?«, wollte Tanya wissen.
»Im Nobelhotel Sheraton in Calgary«, antwortete Kate. »Er saß gerade im Whirlpool als wir ihn überraschten. Ich konnte nicht widerstehen, mein Gabe einzusetzen. Erstaunlich, was so ein bisschen Elektrizität im Wasser für eine Wirkung hat. Jedenfalls hat Jasper zusätzlich dafür gesorgt, dass er sich schnell ziemlich unwohl fühlte.«

Das konnte ich mir gut vorstellen. Ich musste kurz an J, den armen verängstigten Anwalt denken, der letztes Jahr die Ausweise für Jacob und Renesmee erstellt hatte.

»Genau«, fuhr Alice fort. »Ich habe ihm dann gesagt, dass ich in seine Zukunft gesehen hätte, dass die aber sehr undeutlich wäre. Es gäbe viele Versionen, in denen sie hier und jetzt enden würde, aber auch einige wenige, bei denen er noch lange leben könnte. Er solle sich gut überlegen, wie er jetzt entscheidet.«
»Ja«, setzte Garrett fort, »und dann habe ich ihm ins Gewissen geredet. Wie er mir das antun konnte, mir über meine Freunde solche Lügen zu erzählen, obwohl wir uns doch schon so lange kennen würden. Das war irgendwie das “guter Bulle, böser Bulle” Spiel. Alice und ich waren die Guten und Kate und Jasper haben die Bösen gemimt.«

»Stimmt«, übernahm Jasper das Wort, »und dann habe ich ihm gesagt, dass wir genau wussten, dass er derjenige war, der den Jungen in ein unsterbliches Kind verwandeln wollte, um es uns anzuhängen und dass er sich keinen Illusionen hingeben bräuchte, was wohl passieren würde, wenn die Volturi das erfahren würden.«

»Das hatte ihm dann den Rest gegeben«, meinte Alice, »und er redete schneller als die Blasen aus dem Whirlpool herausblubbern konnten. Er hatte alles gestanden, jammerte, dass er nicht wusste, um was es ging. Er dachte, die Frau wollte das Kind für sich und wäre nicht in der Lage, eines selbst zu erschaffen. Sie hatte ihn dafür großzügig bezahlt und erst nach der Tat, setzte sie ihn unter Druck. Sie drohte damit, den Volturi zu erzählen, dass er ein unsterbliches Kind erschaffen hätte, es sei denn, er würde die beiden Gerüchte verbreiten. In dem Falle, würde sie ihm sogar noch eine zusätzliche Aufwandsentschädigung zahlen. Es läge ganz an ihm, ob er mit einem Bündel Geld weiterleben oder nach der Folter durch Jane sterben würde.«

»Ich hatte sogar ein bisschen Mitleid mit dem Kerl«, ergänzte Kate. »Er war wahrhaftig total verzweifelt.«
Jasper nickte zur Bestätigung. Er hatte wohl Dylans Emotionen auch so gedeutet.

»Nun«, sagte Alice, »dann habe ich ihm angeboten, es wieder gut zu machen. Wenn er allen, die er getroffen hatte, die Wahrheit erzählte, würden wir ihn verschonen. Natürlich nahm er das Angebot an und ich konnte sehen, dass er es tatsächlich machen wollte. Ich sagte ihm dann noch, dass das eine gute Entscheidung war und dass er sie auf keinen Fall ändern dürfte, wenn er seine Zukunft nicht gefährden wollte. Danach sind wir dann einfach gegangen.«
»Sehr gut, Alice«, sagte Carlisle. »Danke euch allen für euren Einsatz. Ihr habt aus der Situation das Beste gemacht. Daran besteht kein Zweifel.«

Die Freude war bei uns allen spürbar. Alles war gut gegangen. Es war so ein Moment, in dem ich ernsthaft glaubte, dass alles gut werden würde, was ansonsten immer schnell dahin gesagt wird ohne dass man tatsächlich davon ausging. Doch in diesem Augenblick fühlte es sich wirklich so an.


An diesem Abend wurden noch einige Gespräche in einer jetzt ausgesprochen gelösten Atmosphäre geführt. Jacob brachte Renesmee wieder zurück, worüber sich unsere Gäste sehr freuten, denn alle mochten sie. Meine kleine Sonne verstand es einfach hervorragend, andere um sich herum fröhlich zu machen und irgendwie war ich deswegen mächtig stolz auf sie.

Dann hörte ich, wie sich Carlisle mit Eleazar darüber unterhielt, was wir jetzt eigentlich genau wussten. Nur eines schien sicher. Eine Frau steckte dahinter, die es beherrschte, unentdeckt zu bleiben. Eine Frau, die uns offensichtlich kannte und aus irgendeinem Grund versucht, uns zu schaden. Aber warum? Stand sie tatsächlich in Diensten der Volturi oder hatte sie Dylan einfach nur damit gedroht, um ihm Angst einzujagen. Aber wenn sie den Volturi diente, warum hatte Alice dann nichts über sie gesehen? Warum diese umständliche Vorgehensweise? Wann würde sie sich uns wohl offenbaren? Bei diesem Punkt wandte sich Carlisle dann noch mal an Alice.

»Hast du eigentlich gesehen, ob diese Frau jemals wieder in Kontakt mit Dylan tritt oder ob wir ihr begegnen werden?«
Alice schüttelte den Kopf.
»Tut mir leid, Carlisle. Ich habe wirklich alles überwacht, das mir eingefallen ist. Sie begegnet weder Dylan, noch einem von uns oder den Denalis, noch Aro, Caius, Markus, Jane, Alec oder Demetri. Sie ist wie ein Phantom. So langsam frage ich mich, ob sie ein Halbvampir ist wie Renesmee und dass ich sie deshalb nicht sehen kann.«

»Verdammt noch mal, Alice! Halt deine blöde Klappe!«

Wir alle waren wie erstarrt. Jasper hatte Alice angeschrien. Ich konnte mich nicht erinnern, dass Jasper jemals zuvor auch nur ansatzweise aggressiv mit Alice gesprochen hätte, doch im Augenblick konnte ich auch nicht klar denken, denn ich hatte Angst. Sehr große Angst. Jasper war mit einem Mal geradezu gewaltig. Seine Augen schienen zu brennen und seine Narben zu leuchten, wodurch sich sein furchterregendes Auftreten noch verstärkte. Ich verstand die Angst nicht, die ich vor ihm verspürte. Renesmee klammerte sich an mein Bein. Ich schob mich vor sie, bereit, sie bis zum Tode zu verteidigen.

Dann plötzlich, als Jasper die geschockten Gesichter im Raum bemerkte, ging er zwei Schritte zurück und wirkte auf einmal selbst entsetzt. Die Furcht ließ nach.

»Das … wollte ich nicht«, sagte er und war in Sekundenbruchteilen an der Tür und rannte hinaus.
»Jasper nein…«, rief Alice ängstlich. »Ich lasse nicht zu, dass du vor mir wegläufst.«
Kaum hatte sie die Worte ausgesprochen, da rannte sie ihm auch schon hinterher.

Ich nahm Renesmee auf den Arm um sie zu beruhigen. Die irrationale Angst, die ich verspürt hatte und die die nun wieder weg war, schien auch bei ihr vorbei zu sein. War das die “dunkle Seite” von Jaspers Gabe? Aber warum hatte er das gemacht? Warum hatte er Alice so angeschrien und war dann weggelaufen?

»Edward?«, frage ich vorsichtig. »Weißt du, was gerade mit Jasper los war?«
Edward atmete schwer durch.
»Ich habe es nicht ganz verstanden. Als Alice die Vermutung äußerte, dass die Unbekannte wie Renesmee ein Halbvampir sein könnte und sie diese deshalb nicht sehen konnte, da bekam er einen Wutanfall. Er dachte, dass das keiner wissen durfte und fürchtete sich davor, dass die Volturi dies jemals erfahren könnten. Doch schon im nächsten Moment konnte ich nur das Bedauern über seinen Wutausbruch hören und den Wunsch, vor Scham wegzulaufen.«

Das verstand ich nicht. Warum hatte Jasper Angst davor, dass die Volturi erfahren könnten, dass Alice meine Renesmee nicht sehen konnte?

»Glaubst du vielleicht, dass das Renesmee in Gefahr bringt?«, sagte ich unsicher zu Edward und drückte meine Tochter instinktiv fester an meine Brust.
Er zögerte kurz und sagte dann nur:
»Ich verstehe es nicht, Bella.«

Alle sahen sich gegenseitig verwirrt und unschlüssig an oder waren in Gedanken vertieft und versuchten den Sinn des gerade erlebten zu begreifen.

»Aber natürlich!«, rief Eleazar plötzlich aus und lächelte, noch immer im Gedanken, leicht vor sich hin, als ob er sich freute, das Rätsel gelöst zu haben. »Dieser Jasper ist echt ein schlauer Fuchs«, ergänzte er noch mit einem leichten Kopfschütteln, den Blick zum Boden gerichtet.
»Würdest du uns bitte an deiner Erleuchtung teilhaben lassen?«, bat Carlisle.

Eleazar sah auf und bemerkte unsere Ratlosigkeit. Dann begann er zu sprechen.
»Entschuldigt bitte, aber ich war gerade so fasziniert von seinem Scharfsinn. Er hat vollkommen recht. Die Volturi dürfen das niemals erfahren. Deshalb war er so wütend, weil wir jetzt auch von diesem Geheimnis wissen. Das erhöht die Gefahr, dass die Volturi davon erfahren könnten.«
»Aber wir würden denen doch niemals etwas verraten«, meinte Tanya leicht entrüstet.
»Das weiß Jasper natürlich auch, aber wer von euch könnte sich denn einer direkten Befragung von Aro entziehen? Keiner außer Bella könnte sich seiner Gabe widersetzen und dann wüsste er es.«

Nun war Tanya deutlich anzusehen, dass sie es sehr bedauerte, dass sie an Jaspers Vertrauen gezweifelt hatte. Für sie war es jetzt schon das zweite Mal innerhalb kurzer Zeit, dass sie schlecht von Jasper gedachte hatte und das machte ihr jetzt offensichtlich zu schaffen.

Was mich jedoch sehr beunruhigte, war, dass es da etwas gab, vor dem Jasper sich fürchtete und je mehr ich darüber nachdachte, desto mehr verspürte ich wieder Angst. Nicht die Angst von eben, die Jasper ausgelöst hatte, sondern Angst davor, dass aus welchem Grund auch immer, Renesmee in Gefahr sein könnte.

»Eleazar, bitte sag mir, was will denn Aro von meiner Tochter? Ihr Talent ist doch so friedlich. Er kann sie doch nicht wirklich haben wollen.«
Meine Stimme zitterte und Renesmee klammerte sich noch fester an mich.
»Nein Bella, es geht nicht um sie. Es geht um ihre Art.«
Dann wandte er sich an alle.
»Versteht ihr? Wenn die Volturi jemals wieder einen Angriff auf uns ausüben wollten, dann wäre Bella unser bester Trumpf. Sie schützt uns davor, dass Jane einem von uns Schmerzen zufügen könnte. Sie schützt uns davor, dass Alec uns die Sinne rauben könnte und natürlich schützt sie uns vor Chelsea, die unseren Zusammenhalt aufbrechen könnte. Das sind Aros wichtigste Wachen. Alle werden von Bella neutralisiert. Wenn er also gegen uns kämpfen wollte, dann müsste er vor allem Bella ausschalten. Aber wie soll ihm das gelingen, wenn Alice jede Gefahr wittern kann? Versteht ihr jetzt? Wenn Aro wüsste, dass Alice die Halbvampire nicht sehen kann, was würde er dann wohl tun?«
»Du meinst, er würde eine neue Armee … züchten?«, fragte Carlisle.
»Genau das«, antwortete Eleazar. »Er würde seine Wachen anweisen, Menschenfrauen einzufangen, um eine neue Generation von Wachen heranzuziehen. Er würde eine Armee aufbauen, die Alice nicht sehen kann und dann hätte er das Überraschungsmoment auf seiner Seite. Was sind schon 7 Jahre für Aro? Das ist es, was Jasper vorhergesehen hat. Deshalb will er nicht, dass irgendjemand etwas von Alice’ Schwachstelle weiß. Ein verdammt schlauer Bursche, dieser Jasper.«

“Oh Jasper” dachte ich. Seine Kriegerseele hatte mal wieder eine Gefahr gewittert und war ausgebrochen. Natürlich ging es ihm nur um den Schutz der Familie. Aber warum nur lief er denn weg?

»Und was machen wir jetzt wegen Jasper?«, fragte ich. »Sollten wir ihm nicht nachlaufen und ihn zurück holen? Es ist doch völliger Blödsinn, dass er wegen seines Wutausbruchs vor uns weg läuft.«
»Nein Liebes«, sagte plötzlich Esme. »Er muss von selbst zurückkommen. Natürlich werden wir ihm nicht böse sein. Das weiß er vermutlich auch. Er schämt sich nur, dass er die Beherrschung verloren hat. Darüber muss er selbst hinweg kommen. Nun ja, Alice wird ihm schon dabei helfen. Ich wüsste nicht, wie er Alice entkommen sollte.«
Dabei lächelte sie liebevoll und voller Hoffnung.


Die gute Stimmung des Abends war aber dennoch unwiederbringlich dahin. Die Freude über die Rückkehr unserer Brüder und Schwestern ist der Trauer über das Weglaufen von Jasper gewichen. Noch dazu gesellte sich jetzt das Wissen um einen neue Gefahr. Was bedeutete es wohl für unsere Freundschaft zu den Denalis, wenn sie jetzt unser Geheimnis mittragen mussten? Wie sehr würde sie es belasten? Wie sehr hatten wir sie dadurch in Gefahr gebracht? Doch im Grunde war ich mir sicher, dass das überhaupt nichts ändern würde. Wir würden weiter zusammenhalten. Sie würden uns beistehen und wir ihnen. Daran bestand kein Zweifel. Wir waren mehr als Freunde.

Renesmee hatte sich schon bald beruhigt und schlief auf meinem Arm ein. Allerdings hatte sie einen sehr unruhigen Schlaf. Ich war besorgt um sie und blickte Edward fragend an. Er konzentrierte sich schon eine Weile auf unsere Tochter.

»Sie träumt schlecht«, erklärte er. »Es ist nicht direkt ein Albtraum, es ist wohl mehr Ausdruck ihrer Sorge um Jasper. Sie läuft ihm nach und hat Angst, ihn nicht mehr wieder zu sehen. Ab und zu sieht sie ihn dann mal mit bösem und mal mit sanftem Gesicht, doch er läuft immer wieder weg. Sie versucht das ganze wohl irgendwie zu verarbeiten.«
»Schscht, Sternchen. Alles wird gut«, flüsterte ich ihr zu, küsste sie aufs Haar und wiegte sie sanft im Arm.


Zu später Stunde entschlossen sich die Denalis dann, uns wieder zu verlassen. Es war sehr traurig, dass unser kurzes Wiedersehen so eine Achterbahn der Gefühle werden musste und leider am Ende ziemlich weit unten endete. Natürlich sagte uns jeder Einzelne noch mal zu, dass sie das Geheimnis niemals verraten würden und dass sie niemals wieder darüber sprechen wollten. Alle hofften, dass Alice und Jasper bald wieder zurückkommen würden und baten uns um einen kurzen Anruf, wenn dies geschehen sei, nur damit sie sich keine Sorgen mehr machen müssten. Natürlich versprach ihnen Carlisle das.

Dann gingen sie und das Haus fühlte sich schlagartig sehr leer an. Alice und Jasper waren weg und wir wussten nicht, wann sie zurückkommen würden. Rose und Emmett waren verreist und würden wohl erst in ein paar Tagen zurück sein. Esme wirkte bedrückt und zog sich zurück. Carlisle verabschiedete sich schon kurz danach bei uns und ging zu ihr. Edward und ich gingen dann auch in unser Häuschen. Wir legten Renesmee ins Bett und redeten noch lange über die Ereignisse des Tages.

Kapitel 10 - Merry Christmas and a Happy New Year

Es war gegen halb fünf, als Edward mir sagte, dass Alice und Jasper wieder hier wären. Ich wollte gleich zu ihnen gehen, aber er hielt mich zurück und wies mich darauf hin, dass Jasper hoffte, uns nicht gleich zu begegnen und dass er noch etwas Zeit bräuchte. Zeit, die ich ihm natürlich geben wollte.

Später hörten wir dann, wie Renesmee in ihrem Zimmer erwachte, wie sie aufstand und sich anzog und dann heraus kam.
»Ist Jasper wieder Zuhause?«, fragte sie vorsichtig.
»Ja, Sternchen, aber …«

Sie gab mir keine Gelegenheit ihr zu sagen, dass Jasper noch etwas Ruhe brauchte. Kaum hatte ich “Ja” gesagt, war sie auch schon zur Tür und dann hinaus gerannt. Edward und ich eilten ihr natürlich sofort nach, doch auf die kurze Distanz hatten wir keine Chance, sie noch rechtzeitig abzufangen.

Als wir im Haus ankamen, stand sie schon vor seiner Tür und klopfte an.
»Jasper, bis du da?«, fragte sie mit unsicherer Stimme.
Eine Sekunde später öffnete sich die Tür und Jasper stand vor ihr und blickte sie unsicher mit traurigem Gesicht an.
»Oh Jasper!«, rief sie erleichtert aus und umarmte seine Beine.

Er war offensichtlich verwirrt von dieser Begrüßung und wusste nicht, was er nun tun sollte. Dann schaute sie zu ihm auf und streckte ihm die Arme entgegen. Er zögerte kurz, doch dann hob er sie hoch und sie drückte sich gleich fest an ihn.

Dann seufzte sie erlöst und sagte:
»Ich hatte solche Angst, dich nicht mehr wieder zu sehen, aber zum Glück bist du wieder da.«

Ihre Stimme war so kindlich und piepsig, dass ich am liebsten eine Freudenträne verdrückt hätte, doch leider gestatteten mir meine Vampiraugen das nicht.

»Es tut mir leid, dass ich dir Angst gemacht habe, Nessie. Das wollte ich nicht. Es tut mir wirklich sehr leid.«
»Aber jetzt bist du ja wieder da«, sagte sie, lächelte ihn dabei zufrieden an und streichelte sein Gesicht.

Auch er lächelte sie an, küsste ihre Stirn und streichelte ihren Rücken. Er schien sehr froh und erleichtert über die liebevolle Begrüßung zu sein.

Edward und ich gingen zu ihm. Edward nickte ihm einfach nur zu und ich wartete, bis er Renesmee wieder auf den Boden gesetzt hatte, um ihn dann selbst in den Arm nehmen zu können.

»Du hast uns allen einen ziemlichen Schrecken eingejagt, Jasper«, sagte ich, »und damit meine ich nicht deinen Wutausbruch, sondern dass du weggelaufen bist. Das war viel schlimmer.«
»Es tut mir alles schrecklich leid, Bella. Ich hatte die Beherrschung verloren und euch Angst gemacht. Ich habe es in allen Augen gesehen. Ich habe gesehen, wie sich Nessie verängstigt an dich geklammert hatte und wie du mich als Bedrohung empfunden hast. Da habe ich mich plötzlich selbst gehasst und wollte nur noch weg.«
»Ach Jasper, hör auf dich selbst zu hassen. Wir lieben dich. Wie kannst du etwas hassen, das wir lieben?«

»Siehst du«, sagte Alice, die nun zu ihm hin getreten war. »Ich hab dir doch gesagt, dass dir jeder den kleinen Wutausbruch verzeiht. Außerdem war ich mit meiner großen Klappe ja schuld daran.«
»Alice, bitte, ich werde mir niemals verzeihen, dass ich dich …«
Noch bevor er den Satz zu Ende sprechen konnte, gab sie ihm einen liebevollen Kuss und lächelte ihn an.
»Davon will ich nichts mehr hören, Jazz. Verstanden? Es war nur eine kleine Unbeherrschtheit und sie hatte einen guten Grund. Das wissen inzwischen alle.«

Jasper blickte sie verwirrt an.
»Nun ja«, sagte ich. »Eleazar hatte verstanden, was dich so aufgebracht hat und es uns erklärt. Wir alle wissen, dass du nur aus großer Sorge um uns so reagiert hast und deshalb sind wir alle so froh, dass du zurück bist. Auch die Denalis waren besorgt, weil du weggelaufen bist und haben uns gebeten sie anzurufen, wenn du zurück bist.«

»Das habe ich schon erledigt«, sagte Esme, die gerade mit Carlisle aus ihrem Zimmer kam. Sie nahm Jasper ebenfalls liebevoll in den Arm und sagte noch:
»Schön, dass du wieder da bist, Junge.«

Danach klopfte Carlisle ihm auf die Schulter.
»Sei dir deiner noblen Motivation bewusst, die dich so reagieren lies, mein Sohn. Du hast dir nichts vorzuwerfen.«
Dabei blickte ihn Carlisle sanft und doch eindringlich in die Augen. Schließlich nickte Jasper und schien erleichtert.

Renesmee ging fröhlich gelaunt wieder nach draußen zu Jacob. Auch wir lösten und wieder voneinander und gingen unseren Beschäftigungen nach. Ich übte wieder das Klavierspiel mit Edward und sah mir anschließend mit ihm die Nachrichten an. Es gab nichts besonderes und irgendwie hatte ich nicht das Gefühl, dass wir über unsere geheimnisvolle Intrigantin noch mal etwas über die Nachrichten erfahren könnten.

Schließlich beschlossen Edward und ich einen Einkaufsbummel zu machen. Zunächst schickte er mich noch mal in unser Haus, damit ich meine Kreditkarten holte - was ich widerstrebend dann auch tat - und dann fuhren wir mit meinem Auto nach Tacoma.

Natürlich fiel mir sofort auf, dass sich mein Audi nun irgendwie anders anhörte und auch etwas anders fuhr, seit ich ihn das letzte Mal gefahren war.

»Rosalie hat ein paar … Verbesserung vorgenommen«, sagte Edward schmunzelnd und ich konnte da nur seufzen.
»Was immer sie glücklich macht«, sagte ich resignierend, aber mit einem leichten Lächeln, denn so lange sie an meinem Auto herumbasteln durfte, würde wenigsten keiner auf die Idee kommen, mir gleich wieder ein neues zu kaufen.

Unser Weg führte direkt zur Tacoma-Mall, einem großen Einkaufszentrum. Dort stöberten wir nach der einen oder anderen Geschenkidee, denn schließlich war heute schon der 22. Dezember, also nur noch wenige Tage bis Weihnachten.

Was ich für Renesmee kaufen wollte, wusste ich schon länger. Zielstrebig suchte ich ein Elektronik-Fachgeschäft auf und erstand ein iPod. Seit ich sie einmal vor dem Fernseher bei einer Musiksendung gesehen hatte, wie sie dazu im Takt mit den Beinen und dem Kopf wippte, wusste ich, dass ich ihr eine “Portion aktuelle Pop-Musik” schenken wollte und ein iPod würde ihr hoffentlich auch besser gefallen, als der alte mp3-Player, den sie nicht mehr so oft benutzte.

Etwas später dann, entdeckte ich in einem Sportgeschäft eine moderne Angelausrüstung, die ich für Dad kaufte. Vielleicht nicht gerade sehr innovativ, aber eine innere Stimme sagte mir, dass er sich darüber freuen würde.

In einer Boutique stieß ich auf ein hübsches Kleid, das so verspielt und fröhlich wirkte, dass es mich sofort an meine Mom erinnerte. Ich kaufte es und ließ es gleich einpacken und mit einer Grußkarte versehen an sie schicken.

»Du hättest ruhig etwas mehr ausgeben können für deine Mom«, tadelte mich Edward.
»Nein, ich glaube nicht, das es ihr gefallen würde, wenn ich viel ausgebe. Es würde auch nicht wirklich zu mir passen und es soll doch von mir sein, verstehst du?«

Er nickte, lächelte mich so herrlich schief an und küsste mir dann das Haar. Für einen Augenblick vergaß ich, wo wir waren und was wir hier eigentlich machen wollte. Ich hatte nur noch Augen für ihn und alles um mich herum wurde unwichtig. Ich spürte so ein starkes Verlangen, ihn richtig zu küssen, dass ich mich einfach nicht beherrschen konnte. Einige endlose Sekunden später führte er mich wieder aus dem Geschäft heraus und der Trubel um uns herum holte mich in die Realität zurück.

Der einfache Teil meiner Einkaufs-Mission war nun schon erledigt. Geschenke für meine neue Familie zu finden war allerdings sehr viel schwerer. Was schenkt man jemandem, der sich alles leisten konnte? Es sollte schon etwas Besonderes, etwas persönliches sein, aber was?

Ich seufzte. Bei all der Aufregung der letzten Wochen hatte ich nicht wirklich viel darüber nachgedacht. Ich hatte es ständig vor mir her geschoben und jetzt lief mir die Zeit davon.

»Ist etwas nicht in Ordnung?«, fragte Edward, der mein Seufzen bemerkt hatte.
Ich seufzte noch mal.
»Oh Edward, ich habe überhaupt keine Ahnung, was ich den anderen schenken soll. Wie macht ihr das überhaupt? Ihr beschenkt euch schon seit Jahrzehnten. Gehen euch nicht langsam die Ideen aus?«
Edward lachte.
»Da hast du recht. Die Ideen gehen uns eher aus als das Geld und ich muss zugeben, dass unsere Geschenke häufig etwas oberflächlich sind. Eine Zeit lang haben wir uns auch gar nichts gegenseitig geschenkt, aber Esme und Alice hat das nicht gefallen.«
»Klar, den beiden fällt es wohl auch am Leichtesten«, meinte ich leicht deprimiert.
»Plage dich nicht so, Liebste. Das ist keine Wissenschaft. Kauf einfach das, was dir ins Auge fällt. Wenn dich ein Gegenstand an einen von aus der Familie erinnert, ist er meist auch eine gute Wahl.«

Hmm … der Tipp war nicht schlecht. Ich fühlte mich jetzt ein wenig zuversichtlicher und ging durch die verschiedenen Geschäfte, um mir mehr Eindrücke zu verschaffen. In einem Laden entdeckte ich ein Windspiel, dessen Klang mich an Alice’ Stimme  erinnerte. Nummer eins wäre geschafft. Für Esme dann eine edle Deko-Schale, die sich gut auf dem Esszimmertisch machen würde. Für Emmett eine Hantel, an die ich einen Zettel hängen würde “Zum Training, falls du mal wieder Armdrücken mit einem Neugeborenen machen willst.” Ich freute mich schon auf sein Gesicht, wenn er es lesen würde.

Dann entdeckte ich Freundschaftsbänder, bei deren Anblick ich an meine neu gewonnene Freundschaft mit Rose denken musste. Das wird sicherlich das billigste Geschenk sein, dass sie jemals bekommen hatte, doch ich hoffte sehr, dass sie die Bedeutung mochte.

Einige Zeit später entdeckte ich dann eine Kristall-Figur, die ich mir gut auf Carlisles Schreibtisch vorstellen konnte. In einer Campingabteilung stieß ich auf ein elastisches High-Tech-Band mit Klettverschluss, das sicherlich für Jacob nützlich war. Ich nahm gleich drei davon, um auch Seth und Leah eines zu schenken, obwohl ich mir wirklich nicht sicher war, ob Leah etwas von mir annehmen würde. Aber da wir vor hatten uns an Weihnachten alle bei Charlie zu treffen, wollte ich auf keinen Fall mit leeren Händen dastehen.

Was das Geschenk für Sue betraf, da hatte ich die Idee, ihr ein Wellness-Wochenende zu schenken. So etwas hatte sie vermutlich noch nie gemacht.

Ein Geschenk für Jasper zu finden, war hingegen sehr schwierig. Vieles erinnerte mich an seine kriegerische Seite, aber ich befürchtete, dass ihn das eher verletzten als freuen könnte. Doch in einem Antiquitätengeschäft entdeckte ich ein nicht allzu großes Landschafts-Gemälde von 1843. Seinem Geburtsjahr. Es wirkte so einladend und friedlich, dass es mir einfach perfekt für ihn zu sein schien. Kurz war ich besorgt, ob meine Kreditkarten überhaupt für solche Summen ausgelegt waren, doch der Verkäufer lächelte nur glücklich und packte mir das gute Stück sorgfältig ein.

Dann trennte ich mich von Edward, denn schließlich sollte er auch ein Geschenk von mir bekommen. Ich wusste auch genau, was ich ihm schenken wollte, obwohl es mir etwas albern, peinlich und nicht ganz selbstlos erschien. Ich wollte mir noch mal die gleichen Dessous kaufen, die unsere Flitterwochen nicht überlebt hatten und fragte mich, ob es den neuen Stücken wohl besser ergehen würde. Wieder einmal war ich sehr glücklich darüber, dass Vampire nicht rot werden konnten. Noch glücklicher war ich, als ich tatsächlich etwas gefunden hatte, das fast genauso aussah, vielleicht sogar noch ein bisschen raffinierter war.

Voll bepackt mit Tüten machte ich mich auf den Weg zum vereinbarten Treffpunkt. Einige Passanten sahen mich überrascht an, was mich zunächst etwas irritierte. Dann wurde mir aber schlagartig klar, dass sie sich natürlich darüber wundern mussten, wie ein so zierliches Mädchen wie ich, so viele große Gepäckstücke schleppen konnte. Ich ärgerte mich selbst maßlos über meine Nachlässigkeit und bemühte mich daher sofort, etwas gestresst und angestrengt auszusehen, schwankte ein bisschen und atmete schwerer.

Am Treffpunkt angekommen, stellte ich fest, dass Edward noch nicht da war. War er noch nicht fertig oder bummelte er nur noch herum, weil ich zu früh war? Ich stellte meine Taschen ab und entschloss mich, meinen Schild wegzudrücken und an ihn zu denken.

“Hallo Edward. Wenn du mich hörst, ich bin fertig und warte am Treffpunkt auf dich. Du musst dich aber nicht beeilen. Lass dir ruhig Zeit. Ich liebe dich.”

Dann ließ ich meinen Schild zurückschnellen und wartete. Ich war mir zwar nicht sicher, ob er mich bei den vielen Gedankenstimmen hier im Einkaufzentrum überhaupt hören konnte, aber irgendwie fühlte ich, dass es so war.

In der Zwischenzeit beobachtete ich all die Menschen um mich herum. Bis jetzt war ich so mit den Einkäufen beschäftigt, dass ich sie nicht wirklich wahr genommen hatte. Jetzt wurden sie mir bewusster. Überall dieser Duft von Menschen. Ihr Herzschlag, die Atmung, der Schweiß. Ich räusperte mich. Mein Hals kratzte. Ich wusste, dass das keine Erkältung sein konnte, denn das war schlicht weg nicht möglich. Es war mein Durst, der mich etwas ärgerte. Auch meine Sinne waren geschärfter. Die ganze Szenerie schien irgendwie in Zeitlupe abzulaufen.

Ich hatte nicht wirklich das Verlangen zu trinken. Das hatte ich definitiv unter Kontrolle. Es war einfach … interessant. Wenn ich die Menschen so betrachtete, dann war es, als ob ihre Adern etwas hervortreten würden. Ich konnte sehen und hören, wie das Blut durch ihre Körper gepumpt wurde.

Dann nahm ich plötzlich einen besonders schnellen Herzschlag war, der näher kam. Auch der Geruch von Adrenalin zog mir von dort aus in die Nase. Ich blicke mich um, ohne dabei richtig den Kopf zu drehen. Sah nur aus den Augenwinkeln dort hin und versuchte unauffällig zu bleiben.

Es war ein junger Mann, der in meine Richtung gerannt kam, wobei “rennen” für mich inzwischen eine andere Bedeutung hatte. Warum er es wohl so eilig hatte? Zwei Sekunden später wusste ich es. Als er bei mir war, griff er im Vorbeirennen nach meiner Handtasche.

“Ein Taschendieb. Gibt es denn so etwas?”, dachte ich.

Konnte man sich als Taschendieb denn überhaupt etwas Blöderes ausdenken, als ausgerechnete einen Vampir bestehlen zu wollen? Meine Gedanken, Reflexe und Bewegungen waren so viel schneller als seine. Ich packte ihn blitzschnell kurz am Handgelenk und trat ihm auf den Fuß, wodurch er sich überschlug, einige Meter über den Boden schlitterte und schließlich hart gegen einen großen Blumenkübel stieß.

“Ups”, dachte ich. Hoffentlich war niemandem aufgefallen, was ich gemacht hatte. Ich schaute mich um, doch alle sahen nur auf den am Boden liegenden Mann, der verwirrt um sich blickte und versuchte, die Orientierung wieder zu finden.

»Verzeihung, ich hatte sie nicht kommen sehen. Haben sie sich verletzt?«, fragte ich und versuchte dabei überrascht und mitfühlend zu klingen, obwohl ich der Meinung war, dass der Kerl das absolut verdient hatte.

Vollkommen von der Rolle schaute er mich an, rappelte sich dann hoch und meinte nur, dass nichts passiert wäre und ging dann leicht schwankend weiter. Ich unterdrückte ein Grinsen und ging zurück zu meinen Taschen.

»Was war das denn?«, fragte mich Edward, der gerade dazugekommen war.
»Ach nichts, der hatte mich nur verwechselt«, sagte ich nun doch grinsend.
»Aha … Verwechselt? … Wer? … Was?«
Edwards Gesichtsausdruck war zu köstlich und ich musste kichern.
»Hast du denn nichts in seinen Gedanken gehört?«
»Die sind ziemlich verwirrt. Er versucht zu begreifen, was da gerade passiert ist. Er hat sich ziemlich den Kopf angeschlagen.«
»Na, das geschieht im recht.«
Wieder blickte mich mein Liebster fragend an.
»Nun ja, er hatte mich verwechselt … mit einem leichten Opfer … für einen Taschendiebstahl.«
»Oh! … Jetzt verstehe ich«, sagte er und ein schiefes Lächeln zog auf seinen Mund. Dann meinte er noch:
»Du warst doch hoffentlich nicht … unartig?«
»Ich glaube nicht, dass jemandem etwas aufgefallen ist. Das ging alles sehr schnell.«
Edward blickte sich ein paar Sekunden um.
»Stimmt. Keiner hat wirklich etwas gesehen.«
»Sieht du. Alles in Butter.«
Danach gingen wir schmunzelnd zum Auto und fuhren nach Hause.

Es war schon später Nachmittag, als wir zu Hause ankamen. Zuerst gingen wir zu uns, um die Geschenke zu verstauen. Auch Edward hatte in der kurzen Zeit, in der wir uns im Einkaufszentrum getrennt hatten, eine Menge Tüten voll gepackt und ich hoffte inständig, dass das Meiste nicht für mich war.

Dann holte ich noch den iPod heraus, denn ich wollte ihn gleich drüben am PC anschließen und mit aktueller Musik bestücken. Wir gingen also wieder ins Haupthaus und kaum, dass ich die Tür geöffnet hatte, fiel mir auch schon Alice um den Hals. Jasper war dicht hinter ihr.

»Oh Bella. Deine Geschenke sind echt der Hammer!«, frohlockte sie.
»Alice!«, sagte ich entrüstet. »Dir ist wohl gar nichts heilig!«
»Es tut mir leid. Ich wollte eigentlich gar nicht schummeln. Ich wollte nur nachsehen, ob meine Geschenkideen gut ankommen würden, aber dann habe ich versehentlich deine Geschenke gesehen und konnte einfach nicht widerstehen.«
»Ach Alice, du verdirbst mir ja die ganze Freude«, sagte ich traurig.
»Nein Bella, von mir erfährt keiner etwas, ich schwöre es dir. Außerdem weiß Edward ja schon, was du den anderen schenkst und ihm schenkst du ja nichts.«
»Wie kommst du denn darauf? Natürlich schenke ich Edward etwas.«
»Echt? Das habe ich nicht gesehen. Also ich habe nach der Bescherung aufgehört zuzugucken, aber wenn du ….«
»Unterstehe dich davon eine Vision zu bekommen, oder ich …«
Alice lachte und grinste breit.
»Schon gut Bella. Dieses Geheimnis werde ich nicht zu lüften versuchen. Außerdem gehe ich jetzt mit Jasper los. Wir haben auch noch nicht alles und bei dir müssen wir uns mächtig ins Zeug legen.«
»Alice bitte«, sagte ich halb verzweifelt, doch sie grinste nur und tänzelte mit Jasper an der Hand nach draußen.

Ich seufzte schwer und ging zum PC, schloss den iPod an und machte mich an die Downloads der Musikstücke. Ich wusste zwar nicht wirklich, was sie gerne hören wollte, aber wenn ich einfach alle Top-10-Hits der letzten 12 Monate aufspielen würde, könnte ich sicherlich nicht viel falsch machen. Abgesehen davon konnte sie ja hinterher die Musik verändern wie sie möchte.

Nach zwei Stunden hatte ich es geschafft und verstaute den iPod in meiner Tasche. Keine Sekunde zu früh, denn schon hörte ich Renesmee nach Hause kommen.

»Hallo Momma, hallo Daddy, ich bin wieder da. … Schnell Momma, schirme mich und Jake ab!«
Natürlich machte ich das sofort und hatte etwas Panik.
»Was ist denn passiert? Ist etwas nicht in Ordnung? Fehlt dir etwas, Schatz?«

Fragend blickte ich von ihr zu Jacob hin und her, doch sie wirkten unbekümmert. Renesmee lächelte und schnaufte erst mal durch.

»Nein, alles in Ordnung. Es ist nur … eine Überraschung … und Daddy soll sie nicht vorher sehen.«
Ein gewaltiger Stein fiel mir vom stillen Herzen. Es war alles in Ordnung.
»Puh. Da hast du mir ja einen schönen Schrecken eingejagt, Sternchen. Dann hattest du also einen schönen Tag?«

Sie strahlte und nickte. Jacob der hinter ihr noch an der Türschwelle stand, lächelte ihr hinterher.

»Willst du nicht herein kommen, Jacob?«, fragte Edward höflich.
»Ach, nein danke, meine Jungs … äh plus Leah … warten schon auf mich.«
»Wie du meinst. Dann bis morgen.«
»Ja bis morgen. Tschüss Nessie!«
»Tschüss Jake!«, rief Renesmee ihm zurück und winkte ihm zum Abschied. »Und denke sofort an etwas Anderes, ja?«
»Natürlich Nessie.«

Dann ging er. Edward schüttelte leicht lächelnd den Kopf als Jacob aus meiner Schildreichweite heraustrat und Nessie sah ihn entsetzt an.

»Hast du doch etwas gehört?«, sagte sie fast traurig und enttäuscht.
»Nein Liebling. Jacob dachte so etwas wie “Brabeldie Brumdibum Schlabber labber lud.” So ein verrückter Kerl.«

Da musste sogar Edward breiter grinsen und das glückliche Strahlen kehrte auch augenblicklich auf Renesmees Gesicht zurück.

Ich war natürlich den ganzen Abend sehr bedacht darauf, meine Tochter abzuschirmen. Wir saßen dann noch eine Weile vor dem Fernseher und beim Herumzappen wollte sie unbedingt bei MTV anhalten. Sie lag auf der Couch, mit dem Kopf auf meinem Schoß und wippte mit den Füßen zur Musik. Ich war mir so sicher, das richtige Geschenk für sie zu haben und freute mich schon darauf, wenn sie es auspacken würde. Dann fing sie an zu gähnen und schlief auch wenig später schon ein. Also brachten wir sie zu Bett.

Am nächsten Morgen dann schaute mich Edward noch immer etwas mürrisch an. Ich wollte in der vergangenen Nacht auf keinen Fall den Schild um Renesmee fallen lassen. Vielleicht träumte sie ja von ihrer Überraschung und das wollte ich nicht riskieren. Meinen eigenen Schild konnte ich auch nicht wegdrücken, weil ich sonst vielleicht durch einen unachtsamen Gedanken ihm mein Geschenk verraten hätte und das wollte ich auch unbedingt vermeiden. So herrschte für ihn die Ganze Nacht ziemliche Sendepause und ich hatte ihn eindringlich gebeten, mich nicht “abzulenken”. Das hatte ihm natürlich nicht gefallen, was mir sehr leid tat, aber es waren ja auch nur noch zwei Tage bis Weihnachten. Das würde er schon überstehen und ich hoffentlich auch. Außerdem wäre mein Geschenk dann vielleicht sogar noch schöner. Bei dem Gedanken musste ich lächeln, was mir sofort noch einen extra mürrischen Blick einbrachte.

»Jetzt sei doch nicht so, Edward. Nur zwei Tage. Für unsere Tochter.«

Er seufzte und kämpfte gegen seine Unzufriedenheit an.

Als Renesmee aus ihrem Zimmer kam, blickte sie unsicher von mir zu Edward und wieder zurück. Ich wusste genau, worum es ging.

»Keine Sorge mein Liebling. Ich habe dich die ganze Nacht abgeschirmt und mache es noch immer.«
Augenblicklich strahlte sie wieder.
»Dann gehe ich gleich zu Jake. Ich muss mich beeilen, damit alles fertig wird.«
»Aber…«
Sie ließ mir keine Chance und war schon an der Tür.
»Achte auf deine Gedanken Schatz«, rief ich ihr noch hinterher.

»Oh man!«, sagte Edward. »Wie kann man nur ständig “Wapiti, Wapiti, Wapiti” denken?«
»Dann versuch doch sie auszublenden. Es ist ihr doch offensichtlich so wichtig, dich zu überraschen. Findest du das nicht … rührend?«
Er sah mich überrascht an. Dieser Gedanke war ihm wohl nicht gekommen.
»Du hast recht, Bella«, sagte er und seine Stimme ließ mich vermuten, dass er im Augenblick sehr von sich selbst enttäuscht war. »Sie versucht mir eine Freude zu machen und ich habe nichts besseres zu tun als mich so … rücksichtslos … zu benehmen.«
»Na, jetzt übertreibst du aber. So schlimm bist du nun auch wieder nicht. Komm, lass uns ein bisschen durch die Wälder rennen. Das bring dich auf andere Gedanken.«

Wir liefen einfach drauf los, spürten die kalte Luft im Gesicht und den Schnee unter unseren Füßen. Wir liefen zu unserer Lichtung, die jetzt im Winter wieder ein anderes Gesicht hatte. Auch in den übrigen Jahreszeiten, wenn verschiedene Blumen blühten, hatte dieses Fleckchen Erde immer so eine friedliche Ausstrahlung. Jetzt, wo alles schneebedeckt war, die Bäume schwer an der Schneelast zu tragen hatten und nur vereinzelte Spuren von Hasen, Füchsen und anderen kleinen Tieren auf der Schneedecke zu sehen waren, wirkte sie noch friedlicher. Wir rannten blitzschnell in das Zentrum der Lichtung und waren sehr darauf bedacht, keine deutlichen Fußabdrücke zu hinterlassen. Dann blieben wir abrupt stehen und sanken leicht ein.

Um uns herum fiel leise raschelnd der Schnee und ich breitete meine Arme aus und blickte zum Himmel, den Schneeflocken entgegen. Edward tat es mir gleich. Der Schnee rieselte auf uns, doch unsere Körper hatten sich inzwischen so stark der Außentemperatur angepasst, dass er keine Anstalten machen, zu schmelzen. Er blieb einfach auf uns liegen. Nur die Flocken, die sich in meine Augen verirrt hatten, wurden von dem Gift blitzartig aufgelöst. Es war ein skurriler Anblick, wenn die Kristallformation immer näher kam und immer deutlicher wurde, bis man ihre innere Struktur ganz genau erkennen konnte. Besonders faszinierend fand ich es, wenn sie dann, kurz bevor sie das ganze Blickfeld einzunehmen schien, bei dem Kontakt mit dem Auge plötzlich mit einem praktisch unhörbaren Zischen verging.

Wir standen da wie zwei eingeschneite Eisskulpturen. So friedlich, frei und unbesorgt, was die Zukunft bringen mochte. Ein einfach magischer Moment.

Immer mehr Schnee fiel auf uns und blieb liegen. Es mussten inzwischen ein paar Zentimeter geworden sein. Ich nahm die Zeit nicht war, die wir dort standen.

»Bella?«, flüsterte Edward leise durch die Schneedecke auf seinem Gesicht.
»Ja?«
»Wenn wir jetzt ganz schnell zum Waldrand rennen und uns dann umdrehen, sollte sich uns ein interessanter Anblick bieten.«
Das weckte meine Neugierde und ich wollte das auch sofort ausprobieren.
»Na da bin ich aber gespannt.«
»Also gut, auf Drei rennen wir gerade aus so schnell es geht bis zum Rand der Lichtung. Bereit?«
»Kann los gehen«, sagte ich voller Vorfreude.
»Eins … Zwei … Drei!«

Schneller als ein gerade abgeschossener Pfeil schossen wir davon und drehten uns dann am Waldrand blitzschnell um.

Der Schnee auf unserer Vorderseite flog bei dem Bremsmanöver einfach weiter und hatte keine Chance beim Umdrehen noch an uns haften zu bleiben.

Der Schnee an unserer Rückseite hingegen, hatte keine Chance uns überhaupt zu folgen. Noch für eine Sekunde sah es so aus, als würden unsere Umrisse tatsächlich im Zentrum der Lichtung von Schnee bedeckt stehen bleiben. Dann fiel die Formation in sich zusammen.

»Das war echt cool, Edward.«

Er lächelte glücklich und zufrieden und schloss mich in seine Arme, um mich zu küssen. Wieder einmal verlor ich an seine Brust gekuschelt die Zeit aus dem Sinn.

Irgendwann bemerkten wir dann, dass es bereits dunkel war. Wir hatten tatsächlich den ganzen Tag draußen im Schnee verbracht und einfach die Zweisamkeit genossen. Die Dunkelheit ließ die Landschaft auf neue Art erstrahlen. Wie aus einem Märchen, lag der Wald nun vor uns. Hand in Hand machten wir uns auf den Heimweg.

Ein paar Meilen vor unserem Zuhause, kurz bevor er die vertrauten Gedanken hören konnte, bat ich Edward, mir einen Vorsprung zu geben, damit ich Renesmee wieder abschirmen konnte, bevor sie etwas unabsichtlich verraten würde. Er stimmte lächelnd zu und ich rannte sofort nach Hause.

Renesmee saß auf Alice’ Schoß und alberte mit ihr herum. Es war ein seltener Anblick, der mich kurz innehalten ließ. Da Alice häufig Kopfweh bekam, wenn sie sich längere Zeit in Renesmees Nähe aufhielt, machte sie das nicht so oft. Dennoch war ihr deutlich anzusehen, wie gerne sie mein Sternchen hatte und eben auch bereit war, ein paar Schmerzen dafür in Kauf zu nehmen.

Es erfüllte meine Brust mit einem großen kribbelnden Glücksgefühl, die beiden so zu sehen und gleich nahm ich meine Tochter unter meinen Schild.

»Wo ist Daddy?«, fragte sie besorgt, als sich unsere Blicke trafen.
»Er hat mir einen Vorsprung gegeben, damit ich dich rechtzeitig abschirmen kann.«
Das gefiel ihr, wie das Lächeln auf ihrem Gesicht untrüglich verriet.

»Könntest du mich vielleicht auch gleich abschirmen?«, fragte Alice. »Dann muss ich nicht so angestrengt an etwas Anderes denken.«
Ich tat es natürlich sofort, blickte sie aber gespielt tadelnd an.
»Wenn du nicht immer so neugierig gewesen wärst, dann bräuchte ich das jetzt nicht machen.«
»Das war aber gar keine Absicht«, wehrte sie sich. »Ich habe mich nur gefragt, wann Rose und Emmett wieder kommen und dann habe ich versehentlich auch gesehen, was sie eigentlich treiben. Aber wenn ich etwas verrate, reißt mir Rosalie jedes Einzelne meiner Strubbelhaare aus. Zumindest hat sie mir damit gedroht, noch bevor sie abgereist sind.«
»Also gut, dann ist das wohl ein Notfall«, sagte ich schmunzelnd und sie lächelte mich dankbar an.

Kurz darauf war auch Edward angekommen und bemerkte natürlich, dass ich jetzt auch Alice abschirmte. Sie grinste ihn frech an, aber Renesmee schenkte ihm das gleiche freudige und dankbare Lächeln, das auch ich bekommen hatte. Das versöhnte ihn gleich.

»Bis du mit deiner Überraschung fertig geworden?«, fragte ich Renesmee, doch sie schüttelte den Kopf.
»Noch nicht ganz, aber morgen schaffen wir es.«

Gemütlich ging der Tag zu Ende und der nächste, der 24. Dezember, begann wie der letzte. Renesmee stürmte gleich hinaus zu Jacob und ich unternahm wieder einen Schnee-Wandertag mit Edward, wobei wir diesmal bis nach Port Angeles spazierten. Auch dort war eine schöne weihnachtliche Stimmung überall zu spüren.

Ich war so voller Freude, dass wir dieses Jahr ein schönes Weihnachtsfest haben würden, dass ich ständig am Lächeln, ja fast am Grinsen war. Eng an Edwards Arm gekuschelt, ging ich mit ihm durch die geschmückten Straßen und wir lauschten der Weihnachtsmusik, die überall zu hören war. Ab und zu zog er mich in eine Seitengasse und schmuste dort mit mir. Es war einfach ein perfekter Weihnachtstag.

Gegen Abend dann gingen wir wieder langsam aus Port Angeles heraus und rannten los, sobald wir außer Sichtweite der Menschen waren. Erneut bat ich Edward, mir einen Vorsprung zu lassen - diesmal etwas größer, weil ich mich noch umziehen wollte - und rannte voraus.

Zuhause angekommen zog ich ein schönes marineblaues Abendkleid an - weil Edward die Farbe so mochte - und ging schnell zu den anderen. Kaum waren sie in meiner Reichweite, nahm ich pauschal einfach alle unter meinen Schild. Vorsichtshalber, falls noch jemand ein Geheimnis zu bewahren hätte. Dabei bemerkte ich auch, dass Rosalie und Emmett wieder Zuhause waren. Merkwürdiger weise war Rosalie in der Küche.

Ich ging ins Haus und schon kam mir Emmett entgegen.
»Wo ist Edward?«, fragte er etwas nervös.
»Er hat mir einen kleinen Vorsprung gelassen, warum?«
»Du musst Rosy und mich abschirmen. Sie dreht durch, wenn Edward etwas zu früh mitbekommt.«
»Habe ich schon gemacht, Emmett. Ich dachte mir schon, dass das gewünscht wird.«
Emmett lächelte mich erleichtert an.
»Ich bin auch echt gespannt, was du zu unserer Weihnachtsüberraschung sagen wirst.«
Dann nahm er mich kurz in den Arm und drückte mich dabei emmettmäßig fest an sich. Auch wenn mir die Luft wegblieb, freute ich mich darüber. Ich hatte ihn doch mehr vermisst, als mir klar war.

»Hallo Momma!«
Renesmee kam auf mich zu und sprühte ebenfalls voller Freude.
»Na, Stupsi, alles geschafft?«
Sie sagte nichts, sondern zeigte nur grinsend auf einen Stapel Geschenke neben dem Weihnachtsbaum. Dann nahm ich sie auf den Arm und sie schmiegte sich an mich.

Konnte dieser Weihnachtstag überhaupt noch schöner werden?

Edward kam nun auch an, seufzte kurz wegen der absoluten Gedankenstille, gesellte sich dann aber doch lächelnd zu mir und streichelte Renesmee über den Kopf. Auch er hatte sich umgezogen und trug einen festlichen dunklen Anzug. Er sah einfach zum niederknien aus und meine Beine wurden tatsächlich ein bisschen wackelig. Ich sah ihn schmachtend an uns streichelte über das Revers seines Anzuges.

Emmett begrüßte ihn, nahm in auch kurz in den Arm und sie klopften sich dabei gegenseitig kräftig auf den Rücken und grinsten sich an.

»Das war echt ein feiner Zug von dir, Ed, dass du außer Reichweite geblieben bis, um Bella eine Chance zu geben, uns alle abzuschirmen. Rosy war fast panisch, bei dem Gedanken, du könntest vorher etwas herausfinden und vielleicht ausplaudern. Die letzten 10 Kilometer musst ich ständig “Edward, sag Bella dass sie uns abschirmen soll” denken und sie machte das Gleiche.
»Oh man«, sagte Edward. »Das wäre ja die Hölle gewesen. Zum Glück hatte mich Bella vorher entführt.«

Sie lachten beide sehr laut und die Vibrationen kitzelten in meinem Bauch. Dann fiel mir auf, dass alle schon die Geschenkestapel um den Weihnachtsbaum herum aufgetürmt hatten. Daher bat ich Edward, unsere auch dazu zu holen, was er sofort in Windeseile tat.

Ein wenig später kam der große Moment. Die ganze Familie war versammelt und Emmett klopfte an die Küchentür.
»Rose, wir wären dann soweit.«
»Komme gleich«, erklang es fröhlich.

Ich fragte mich, ob ich jemals zuvor Rosalies Stimme mit einer so fröhlichen Note gehört hatte, doch ich konnte mich nicht erinnern. Vor allem nicht, wenn sie doch eigentlich gestresst war. Dann öffnete sie die Tür, nahm ein großes Tablett und ging damit zum Esstisch. An jeden Platz stellte sie etwas, das jeweils unter einem silbernen Deckel versteckt war. Die Deckel mussten sehr kalt sein, da eine dünne Eisschicht auf ihnen ruhte.

»Ich hoffe so, dass es funktioniert hat«, sagte sie noch immer fröhlich. »Los kommt.«

Wir versammelten uns um den Esstisch und nahmen Platz. Neben dem Silberdeckel lag ein kleiner Silberlöffel. Konnte es wirklich sein, dass es etwas zu essen war? Was bitte schön könnte ein Vampir denn mit einem Silberlöffel essen wollen?

»Und jetzt alle zusammen den Deckel abnehmen«, gab sie die Anweisung, die selbstverständlich genau befolgt wurde.

Zum Vorschein kam etwas, das wie tiefgefrorener Himbeer-Wackelpudding aussah. Wir schauten uns gegenseitig an und verstanden nicht, was es war. Nun, da es der warmen Raumtemperatur ausgesetzt war, fing es leicht zu dampfen an und mit dem Dampf stieg ein subtiler Geruch auf, der an Blut erinnerte.

»Das ist meine Kreation!«, sagte Rosalie voller Stolz »Wolfsblutwackelpuddingeis! Probiert mal.«

Ich schabte eine schmale Schicht mit dem Löffel ab und führte ihn zum Mund. Kaum auf der Zunge angekommen, schmolz das Eis und verdampfte die Gelatine im Kontakt mit meinem Gift und übrig blieb ein intensives Aroma von Wolfsblut. Es war absolut köstlich.

Renesmee strahlte Rosalie an.
»Oh man schmeckt das gut. Das ist ja super.«

Alle waren begeistert von dieser tollen Idee und genossen dieses einmalige Dessert. Rosalie wurde von allen Seiten mit Lob überhäuft und wirkte so glücklich, dass selbst ein Engel von ihrer wunderschönen Ausstrahlung vor Neid erblasst wäre.

»Das war eine wundervolle Überraschung«, meinte Esme. »Vielen Dank an euch beide. Ihr habt euch so viel Mühe gegeben.«
Esme schien, als würde sie vor Freude und Glück am liebsten heulen, aber leider konnte sie das ja nicht.
»Das war aber noch nicht alles«, meinte Emmett. »Wir haben da noch etwas für euch.«
Wir alle waren gespannt, was jetzt noch kommen würde.

Nachdem das Dessert bis auf das letzte Tröpfchen aufgegessen war, räumte Rosalie glücklich den Tisch ab und Emmett ging ihr voran, um ihr die Küchentür aufzumachen. Ich bemerkte, dass aus der Küche jetzt sehr warme Luft herausströmte. Was sie wohl erwärmt hatten? Kurz danach kam Emmett mit einer großen Holzkiste, die mit Stroh ausgestopft war, wieder zurück. Er öffnete vorsichtig den Deckel.

In der Zwischenzeit kam Rosalie mit einem anderen Tablett, auf dem nun Kristall-Gläser standen, die sie an uns verteilte.

Emmett hatte inzwischen die Kiste geöffnet und holte vorsichtig eine erste Flasche heraus und stellte sie auf den Tisch. Auf dem Etikett war ein Tiger abgebildet. Dann kamen noch weitere Flaschen dazu. Löwe, Gepard, Leopard, Nashorn, Elefant, Krokodil, Zebra, Gazelle, Jaguar. Ein riesige Auswahl von exotischen Tieren.

»Ist das etwa…«
»Genau das!«, beantwortete Emmett grinsend meine noch nicht ganz gestellt Frage und öffnete die Flasche mit dem Tigeretikett.
»Ein Schlückchen Tiger die Dame?«

Vorsichtig goss er die rote Flüssigkeit in das edle Glas. Es sah aus, wie ein schwerer teurer Rotwein. Sein warmer Duft, der sich in die Luft erhob, verriet mir aber, was es wirklich war. Ich probierte einen Schluck.

»Wow, Emmett. Tiger schmeckt klasse. Edward, das musst du probieren. Dafür würde ich auf Pumas verzichten.«

Emmett grinste breit, freute sich über das gelungene Geschenk und goss Edward ein.

Auch auf Edwards Gesicht machte sich ein Lächeln breit.

»Klasse Idee Em. Spitze Rose. Das war einfach ein genialer Einfall von euch. Ich bin äußerst beeindruckt.«

Diesen Worten konnten sich alle nur anschließen. Emmett und Rosalie waren die Stars des Abends. Auch Renesmees Freude wurde noch größer, als Rosalie ihr ein paar Extra-Flaschen “Wolf” hinstellte. Ich probierte noch von den anderen Raubkatzen und jede war auf ihre individuelle Art einfach einmalig lecker.

»Wie habt ihr das gemacht? Wo habt ihr das alles her?«, wollte ich wissen.
»Wir haben ein Flugzeug gechartert«, fing Emmett an zu erzählen. »Rosalie kennt sich mit allem, das einen Motor hat, ziemlich gut aus. Na ja, und dann sind wir halt dorthin geflogen, wo es diese Leckereien gibt. Das Abfüllen war allerdings schwieriger, als wir dachten und bei den bedrohten Arten haben wir auch versucht, sie am Leben zu lassen und ihnen nur ein Fläschchen abzuzapfen. War gar nicht so einfach, so viele Tiger aufzuspüren. Dann mussten wir noch darauf achten, dass die Flaschen immer gut gekühlt waren, was bei tropischen Temperaturen auch eine Herausforderung war. Erst jetzt zum Trinken, haben wir sie wieder warm werden lassen. Jedenfalls waren wir ständig am Rennen.«
»Ja«, fuhr Rosalie grinsend fort, »und wenn du nicht die eine oder andere Flasche selbst leer getrunken hättest, wären wir vielleicht nicht erst auf den letzten Drücker wieder zurückgekommen.«
»Ach komm schon Rosy, das ständige Jagen, Rennen und Abfüllen hat mich halt durstig gemacht.«

Alle lachten. Ein fröhlicher und äußerst gelungener Abschluss eines wundervollen Tages. Definitiv eines der schönsten Tage meines Lebens.

»Momma? Ich weiß ja, dass man am 24. nur ein Geschenk bekommt und dass das von Rose und Emmett ein echt super Geschenk war, aber darf ich trotzdem eins aufmachen? Biiiiitte.«

Sie hatte wieder ihre besonders kindliche und piepsige Stimme aufgesetzt, gegen die ich sowieso machtlos war. Wie sollte ich denn da “Nein” sagen können? Ich schaute mich um. Sie alle waren amüsiert und lächelten sie an.

»Demokratische Abstimmung!«, bestimmte ich. »Wer dafür ist, dass die hier anwesende Renesmee Carlie Cullen trotz des einmaligen und unbeschreiblichen Geschenks von Rosalie und Emmett ein Päckchen aufmachen darf, der hebe jetzt die Hand.«

Alle Hände gingen nach oben und Renesmee platze fast vor Freude.

Sie ging mit strahlenden Augen zum Baum und betrachtete die Stapel von Geschenken und suchte ihren heraus. Dann überlegte sie, welches Geschenk sie nun aufmachen sollte.

»Ein kleines vielleicht? Oder das große?«, murmelte sie vor sich hin. »Hmm … ich glaube ich nehmen das da.«

Dann griff sie nach dem kleinen Päckchen, das von mir war und packte es aus.

»Ein iPod. Geil!«

Im gleichen Moment hielt sie sich selbst mit einer Hand den Mund zu und alle kicherten.

»Entschuldigung, Momma, Daddy«, nuschelte sie zaghaft durch die vorgehaltene Hand.
»Wo hast du nur diesen Ausdruck her, Fräulein?«, tadelte ich sie spielerisch.
»Von Seth. Der sagt das immer, wenn ihm etwas super gefällt.«
Edward seufzte, aber lächelte gütig.
»Na, Hauptsache mein Geschenk gefällt dir«, sagte ich, um das Thema abzuschließen.
»Das ist von dir? Oh danke, da ist einfach g… … gaaanz toll.«
Diesmal brach bei allen das Lachen laut heraus.
»Da hast du ja gerade noch mal die Kurve gekriegt, Kleine«, meinte Emmett.
»Ist da schon etwas drauf?«, fragte mich Renesmee.
»Ja, ich hab’ dir schon einiges draufgespielt. Ich hoffe, es gefällt dir.«

Sie stopfte sich die Kopfhörer in die Ohren und begann Musik zu hören. Es dauerte nicht lange und sie fing an zu tanzen. Die Musik war zwar nicht sonderlich laut, aber wir alle konnten sie problemlos hören. Alice zog spontan Jasper an sich heran und begann auch mit ihm zu tanzen. Rose und Emmett machten das Gleiche. Unsicher blickte ich zu Edward, ob er denn auch zu dieser Art von Musik tanzen würde, doch im Moment hatte er nur Augen für seine Tochter, die verträumt alleine vor sich hin tanzte. Ich schmiegte mich an seine Schulter und war einfach nur rundum glücklich.

Als Renesmee am späten Abend dann anfing häufiger zu gähnen und schon ganz glasige Augen hatte, brachten wir sie zu Bett. An nächsten Morgen würden wir uns zur Bescherung wieder hier einfinden.

Renesmee zeigte mir als Gute-Nacht-Gruß mit ihrer kleinen vibrierenden Hand noch mal den Abend aus ihrer Sicht. Wie gespannt sie war, als das Dessert aufgetischt wurde. Wie lecker sie es fand. Ich konnte es durch sie auf andere Art schmecken. Da sie kein Gift hatte, löste sich die Gelatine nicht sofort auf, sondern wurde durch ihre Körperwärme verflüssigt. Dadurch entfaltete sich der Geschmack langsamer, was aber nicht weniger lecker war. Sie zeigte mir auch, wie sie sich über die Extra-Flaschen “Wolf” gefreut hatte und wie sie daran dachte, sie gut vor Jacob verstecken zu müssen. Und dann natürlich noch, wie sehr sie sich über den iPod gefreut hatte.

Da ich sie noch immer abschirmte, um Ihr Geheimnis bezüglich ihrer Geschenke für sie zu wahren, zeigte sie das Selbe auch ihrem Dad und der war darüber sehr erfreut und meinte zu ihr:
»Weißt du, Liebling, wenn du es mir direkt zeigst und ich es nicht einfach nur in deinen Gedanken mithöre, dann ist es noch viel schöner.«

Daraufhin streckte sie ihm die Arme entgegen, damit er sie noch mal hoch nahm und sie ihn fest drücken konnte. Danach legte sie den Kopf an seine Schulter und murmelte ein müdes »ich hab dich lieb, Daddy« an sein Ohr.

Er lächelte glücklich und wiegte sie in seinem Arm, bis sie eingeschlafen war.

Die ganze Nacht über schien er im Gedanken noch bei ihr zu sein. Er hatte auch gar nichts dagegen, dass ich mich auch diese Nacht noch darauf konzentrieren wollte, sie abzuschirmen. Ich glaubte sogar, dass ich selbst mehr dagegen hatte als er. Ich war so glücklich, dass ich dieses starke Gefühle so liebend gerne im Gedanken mit ihm geteilt hätte. Außerdem hätte ich ihn auch wahnsinnig gerne ganz nah gespürt, aber ich hatte es ihr versprochen und meine Versprechen würde ich immer halten, selbst wenn es so hart werden würde, wie in dieser Nacht. Seufzend musste ich einsehen, dass ich keine andere Wahl hatte, als meine Sehnsüchte auf den morgigen Abend zu vertrösten.

Am nächsten Morgen war die Sonne schon längst aufgegangen, als Renesmee endlich erwachte. Wir schienen ungeduldiger zu sein als sie, aber das änderte sich schnell, als sie erst einmal so richtig wach war. Flugs warfen wir uns wieder in Schale und machten uns auf den Weg. Zuvor zog ich aber noch das Gegenstück zu Rosalies Freundschaftsband an. Wenn sie es dann auspackte und meines sehen würde, dann wüsste sie hoffentlich auch gleich, wie es gemeint war.

Drüben waren auch schon alle versammelt und warteten auf uns.
»Da seid ihr ja endlich, ihr Langschläfer«, meckerte Alice. »Ich bin es nicht gewohnt, keine Ahnung zu haben, was ich geschenkt bekomme. Nessie, bitte, erlöse mich endlich.«

Natürlich. Da sie Renesmee in ihren Visionen nicht sehen konnte, hatte sie auch keine Ahnung, was für ein Geschenk sie bekommen würde. Gut möglich, dass künftig alle es Renesmee überlassen, die Entscheidungen bezüglich der Geschenke für Alice zu treffen. Ich musste bei dem Gedanken grinsen, wie verzweifelt sie deswegen wohl wäre.

Dann war es soweit. Anstatt sich auf ihre Geschenke zu stürzen, wie es Kinder normalerweise tun würden, ging sie zu dem Stapel, den sie mit ihren Geschenken gemacht hatte, die für uns bestimmt waren. Eines nach dem anderen verteilte sie, wartete aber immer erst darauf, bis es geöffnet war, bevor sie zum Nächsten ging.

»Du zuerst Momma«, sagte sie und überreichte mir eine längliche Schachtel.
Ich öffnete sie vorsichtig und zum Vorschein kam eine Kette. Sie bestand aus vielen kleinen glatt polierten Holzperlen und trug einem hölzernen Anhänger, der die Form eines Sterns hatte. Im Inneren des Sterns war ihr Gesicht eingraviert. Es war einfach wunderschön.

»Das hast du gemacht?«, fragte ich völlig erstaunt.
Die Kunstfertigkeit, die dafür erforderlich war, hätte ich nie bei ihr vermutet, doch sie nickte Freudestrahlend.
»Jacob hat mir schon vor einiger Zeit das Schnitzen beigebracht und die letzte Woche haben wir jeden Tag an den Geschenken gearbeitet. Er hat mir schon viel geholfen, aber die Idee war von mir und den Stern hab ich ganz alleine gemacht.«
»Die ist einfach … geil«, platzte es aus mir heraus und alle lachten.

Ich drückte meinen Schatz fest an mich und ging dann zum Spiegel um die Kette anzuziehen. Da fiel mir dann erst auf, dass die Farbe des Holzes einen perfekten Übergang zwischen meiner Augen- und Haarfarbe darstellte. Ein umwerfendes Geschenk.

»Danke Sternchen, du hast mich wahnsinnig glücklich gemacht.«

Ich war wie berauscht von dem Glücksgefühl, das diese Kette bei mir ausgelöst hatte und nahm nur zur Hälfte wirklich war, wie sie die Runde fortsetzte.

Edward bekam eine größere Schachtel. In ihr war eine Figur, die in einem dunklen Holz gehalten war. Sie zeigte einen Engel, der ein Kind im Arm hielt. Der Engel hatte Edwards Gesichtszüge und das Kind die von Renesmee. Auch er war sprachlos angesichts dieses Geschenks. Er bekam noch nicht einmal ein “Danke” heraus. Renesmee freute sich sehr über die Wirkung ihres Geschenks. In dem Moment hob ich dann auch den Schutzschild um alle auf, damit Edward wieder alles mitbekommen konnte. Er lächelte mich dankbar an, als die Flut der glücklichen Gedanken auf ihn einströmte.

Als nächstes kam Rosalie an die Reihe. Sie bekam ein Armband mit einem Anhänger, der, ähnlich wie der an meiner Kette ihr Gesicht eingraviert hatte, aber diesmal in Form einer Sonne gestaltet war. Auch Rosalie war sehr glücklich über ihr Geschenk.

Emmett bekam die Skulptur eines Bären, der aufgerichtet auf den Hinterbeinen stand und ein Kind auf seinen Schultern trug, die ganz klar als Renesmee zu erkennen war.
»Wow, Kleine. Das ist ja echt bärenstark! Danke.«

Esme und Carlisle bekamen ein gemeinsames Geschenk. Die größte Schachtel. Auch in ihr war eine Skulptur, aber aus einem sehr hellen Holz. Sie stellte deutlich die beiden dar und Renesmee, die zwischen den beiden stand und sie an den Händen hielt. Die Freude von Esme beim Anblick dieser Skulptur war unbeschreiblich.

Jetzt war die Reihe an Jasper. Alice, die schon kurz vor einem Nervenzusammenbruch zu stehen schien, knetete ihre Finger voller Erwartung durch, doch Renesmee ließ sie zappeln. Jasper bekam ebenfalls eine Figur geschenkt. Sie war auch in einem sehr hellen Holz gehalten und zeigte einen Ritter, hoch zu Ross und ein Kind, das hinter ihm saß und sich an ihm festhielt. Durch das offene Visier des Ritters waren Jaspers Gesichtszüge deutlich zu erkennen, genau wie die von Renesmee bei dem Kind. So also sieht sie Jasper. Als beschützenden Ritter. Ein wundervolles Sinnbild ihrer Beziehung zu ihm. Uns alle überkam eine Welle der Begeisterung und des Glücks, die definitiv von Jasper ausgesandt wurde.

Dann endlich erlöste sie Alice. Sie überreichte ihr eine quadratische Schachtel. Als sie diese öffnete, war da etwas unter einem schwarzen Samt-Tuch verborgen. Sie zog es langsam weg und zum Vorschein kam eine Glaskugel auf einem Dunklen Holzpodest. Im Innern der Glaskugel war die Skulptur von Renesmees Kopf.

»Das ist so eine Wahrsager-Kugel«, erklärte Renesmee grinsend. »In der kannst du aber nur mich sehen.«
»Du kleiner Teufel!«, rief Alice aus, stellte vorsichtig ihr Geschenk ab und packte Renesmee, um sie ordentlich durchzukitzeln, aber schon nach kurze Zeit lagen sich die beiden in den Armen und waren einfach nur glücklich.

Schließlich öffneten wir alle nach und nach unsere Geschenke, die um den Weihnachtsbaum herum aufgebaut waren. Alice hatte Rechte behalten. Alle meine Geschenke kamen gut an. Rose, die erst einen Moment brauchte, um zu erkennen, was ich ihr da geschenkt hatte, legte sich gleich das Freundschaftsband am gleichen Handgelenk an, an dem auch Renesmees Geschenk befestigt war. Ich hatte mehrmals beobachtet, wie sie gedankenverloren diese beiden Geschenke streichelte und dabei glücklich lächelte.

Nachdem Jasper mein Geschenk ausgepackt hatte, war wieder eine Welle starker positiver Emotionen zu spüren. Dann kam er zu mir und nahm mich so herzlich in den Arm, wie er es noch nie zuvor getan hatte.

In Renesmees großem Paket war tatsächlich eine Gitarre. Eine E-Gitarre und ein kleiner transportabler Verstärker. Edward hatte sich also doch einen Ruck gegeben und ihr dieses Geschenk gemacht, von dem er wusste, dass sie es sich wünschte. Überall wurde fröhlich ausgepackt, bewundert, bedankt und gefreut. Ich saß mit Edward auf der Couch und zusammen sahen wir unserem glücklichen Mädchen beim anprobieren eines Kleides zu. Es war rot und golden und passte perfekt zu ihrem Hauttyp und ihrer Haarfarbe. Sie sah aus wie ein wahrhaftiger Weihnachtsengel.

Nachdem ich meine Geschenke ausgepackt hatte, wobei ich immer sehr bemüht war, mich nicht über die Unsummen aufzuregen, die hier für Schmuck, Kleider, und vor allem für die alte Originalausgabe von “Sturmhöhe” ausgegeben wurden, griff Edward plötzlich in eine Innentasche seines Anzuges und holte ein Kuvert heraus.

»Das ist mein Geschenk für dich, Liebste.«

Ich hörte auf zu atmen und hielt den Umschlag eine Weile regungslos in meinen fast vor Nervosität zitternden Händen. Dann öffnete ich ihn und zum Vorschein kamen Flugtickets.

»Nach Chicago?«, fragte ich.

Ich verstand die Bedeutung nicht, aber vermutlich war ich im Augenblick einfach zu aufgeregt.

»Nun ja, du willst doch schon lange mehr über meine Vergangenheit erfahren und da habe ich gedacht, fangen wir doch dort an, wo ich geboren wurde.«

»Oh Edward!«

Ich sprang ihm auf den Schoß und hörte dabei ein leises “Krack” meines Kleides, das diese schnelle Bewegung wohl nicht mitmachen konnte. Das war mir aber völlig egal. Ich küsste ihn innig und vergaß dabei, dass uns alle zusehen konnten. Ich hörte zwar ihr Kichern, war aber viel zu glücklich, als dass mich das jetzt stören könnte.

»Was für ein tolles Geschenk.«
»Freut mich, dass es dir gefällt.«
»Du hast ja keine Ahnung wie sehr.«

Ich blieb einfach auf seinem Schoß sitzen, kuschelte mich in seine Umarmung und legte den Kopf an seine Schulter. Nach einer Weile fragte er mich dann:
»Ich will ja nicht ungeduldig sein, aber hast du nicht auch etwas für mich?«
»Doch, habe ich, aber du wirst noch bis heute Abend warten müssen«, antwortete ich und lächelte ihn dabei verführerisch an.

Dann gab ich ihm noch einen vielsagenden zärtlichen Kuss und er streichelte mein Bein an der Stelle, an der mein Kleid zerrissen war. Was für ein verrückter, magischer Moment, der mich da gefangen hielt und aus dem ich nie wieder befreit werden wollte.

»Emmett, hör auf so unverschämt zu grinsen«, hörte ich Rosalie mit einem leichten schmunzeln in der Stimme sagen.

Seufzend löste ich mich wieder von Edward und wandte mich Renesmee zu, die gerade anfing, mit ihrer Gitarre zu experimentieren.

Es war ein rundum gelungener Weihnachtsmorgen und alle waren glücklich. Emmett spielte eine Weile mit seiner Hantel herum, indem er sie auf seinem Zeigefinger kreisen lies. Esme suchte die beste Position auf dem Esstisch für die Schale aus und lächelte mich glücklich an, als sie diese gefunden hatte. Rosalie kam später zu Renesmee und mir, um uns beide zu umarmen.

»Eure Geschenke bedeuten mir sehr viel«, sagte sie, wären sie lächelnd über die Armbänder streichelte. »Vor allem das, wofür sie stehen. Vielen Dank.«

Dann gab sie uns beiden einen Kuss auf die Wange und ging zurück zu Emmett und setzte sich auf seinen Schoß. Der nahm sie dort sehr gerne mit einem liebevollen Kuss auf.

Wir blieben so noch den ganzen Vormittag zusammen. Zwischendurch setzte sich Edward ans Klavier, um ein paar Weihnachtslieder zu spielen und Alice sang dazu, als würden die beiden das schon seit ewigen Zeiten so machen. Ein sehr schöner und besinnlicher Augenblick, bei dem sich Renesmee in meinen Arm kuschelte und der Musik lauschte.

Gegen Mittag dann verabschiedeten Edward, Renesmee und ich uns von den anderen. Wir hatten mit Charlie ausgemacht, uns bei ihm zu treffen. Die Clearwaters und Jacob würden auch dort sein. Zuvor ging ich mich aber noch schnell umziehen, denn mit einem zerrissenen Kleid wollte ich dort wirklich nicht auftauchen. Nessie behielt ihr neues Kleid gleich an. Viel weihnachtlicher konnte sie sowieso nicht mehr aussehen. Dann packten wir noch die Geschenke für unsere Freunde und meinen Dad ein und noch ein Flasche “Löwe”, damit wir etwas zum Anstoßen hatten. Für Dad würde es sicherlich nach Rotwein aussehen und passend dazu hatte Edward auch eine Flasche echten Bordeaux dabei.

Als uns mein Dad dann die Tür öffnete - er hatte das Gleiche an, wie bei meiner Hochzeit - war er beim Anblick von Renesmee im ersten Moment regelrecht sprachlos und sah sie mit großen Augen an.

»Wow … sieht du toll aus. Wir sollten dich sofort auf den Weihnachtsbaum setzten.« Dann nahm er sie hoch und trug den kichernden Weihnachtsengel ins Wohnzimmer. Wir folgten ihm. Jacob und die Clearwaters waren schon da. Der Raum war erfüllt von den merkwürdigen Gerüchen, die von Wölfen, Menschen, einem Truthahn-Braten und jetzt auch von Vampiren ausgingen. Ich brauchte einen Moment, mich daran zu gewöhnen, hatte aber nicht wirklich ein Probleme damit.

Wir begrüßten einander. Jacob und Seth ließen sich natürlich gerne von uns in den Arm nehmen. Sue war Edward und mir gegenüber etwas zurückhaltender, aber dennoch herzlich. Leah konnte sich zumindest zu einem Händeschütteln durchringen.

Edward überreichte Charlie die Weinflasche. Er sah prüfend das Etikett an und bekam große Augen. Für einen Augenblick dachte ich, er würde sie zurückweisen, aber er nahm sie zum Glück mit einem leichten Lächeln und Nicken an. Wir legten noch unsere mitgebrachten Geschenke unter den Weihnachtsbaum und setzten uns dann an den Tisch. Ich war sehr amüsiert, als ich feststellte, dass es ein großer Klapptisch war mit Holzbänken an beiden Seiten. Natürlich hatte Dad keine Tafel für so viele Gäste und musste wohl improvisieren. Dafür hatte er das halbe Wohnzimmer ausgeräumt. An den Kopfenden der Tisches standen dann zwei seiner Küchenstühle. Es störte mich aber nicht, nein, ganz im Gegenteil. Es war so … original Charlie.

Dad saß an einem und Sue am anderen Kopfende. Ich saß direkt bei meinem Vater, Edward an meiner Seite und Renesmee mir gegenüber. Jacob saß natürlich neben Renesmee und neben ihm saß Leah. Seth war sehr zufrieden mit seinem Sitzplatz neben Edward. Die beiden unterhielten sich - wie sollte es auch anders sein - über Autos.

Dad hatte inzwischen natürlich mitbekommen, dass Edward und ich nicht das Gleiche essen, wie er. Er wusste zwar nicht, was wir essen, wollte es aber wohl auch nicht wirklich wissen. Bei Renesmee war er sich aber nicht sicher.
»Möchtest du ein Stück Truthahn, mein Engel?«
»Hmm … ja. Lebend wäre er mir zwar lieber aber so ist auch o.k.«

Jacob und Seth lachten laut los und auch ich konnte mir ein Schmunzeln nicht verkneifen. Edward verdrehte die Augen und Leah blickte zu ihrer Mutter, die merkwürdig amüsiert schien. Charlie schüttelte nur den Kopf und gab ihr ein Stück.

Edward schenkte mir, sich und Renesmee ein Glas “Löwe” ein. Dad wirkte fast schockiert.
»Ihr gebt dem Kind Rotwein?«
»Ähm, Dad, das ist nicht ganz das, wonach es aussieht. Dies Art „Rotwein“ darf sie trinken.«
»Oh! … Schon gut, schon gut. Ihr werden schon wissen, was ihr da tut.«

Leah funkelte Edward böse an, als sie den Geruch bemerkte. Er hielt ihr die Flasche hin, und tippte mit dem Finger gegen das Etikett. Vermutlich dachte sie für den Moment, es wäre Menschenblut. Die Wahrheit schien für sie aber nicht viel weniger widerwärtig zu sein. Zumindest blickte sie jetzt nur noch verächtlich und nicht mehr wütend. Als Seth dann auch noch selbst einen Schluck davon probieren wollte, klinkte sie sich völlig aus.

»Es ist doch Weihnachten, Liebes«, hörte ich Sue ihr zuflüstern. »Bitte, mir zuliebe.«
Sie schnaufte kräftig durch und versuchte sich zusammenzureißen.

Nach dem Essen gab es dann die Bescherung. Charlie freute sich sehr über mein Geschenk und als ob es abgesprochen gewesen wäre, bekam er von Renesmee einen hölzernen Schwimmer für die Angel dazu, den sie kunstvoll verziert hatte. Auch hier war ihr Gesicht eingraviert.

»Ja sag mal, Engel, der ist ja toll. Der ist ja viel zu schade, um ihn zum Angeln zu benutzen.«
»Aber dafür habe ich ihn dir doch gemacht, Opa. Du musst den benutzen.«
»Du hast den gemacht?«, fragte er ungläubig.
»Ja, Jake hat mir geholfen, aber ich hab mein Gesicht hineingeschnitzt.«
Ungläubig blickte er zu Jake, der das ganze mit breitem Grinsen und zustimmenden Nicken bestätigte.
»Das ist unglaublich schön. Danke Engel«, und dann nahmen sie sich in den Arm.

Von Edward bekam er ein eher ungewöhnliches Geschenk. Es war eine kugelsichere Weste. Wohl etwas sehr Modernes, da sie sehr dünn war und problemlos unter der Kleidung getragen werden konnte.

Charlie erkannte sofort, was es war und schaute ihn unschlüssig an.

»Wie kommst du denn an so etwas ran? Die gibt es doch nirgends zu kaufen?«
»Ich kenne jemanden bei der Herstellerfirma. Der hat sie mir besorgt. Ich hoffe allerdings, dass dies das unnötigste Geschenk von allen ist und du sie niemals brauchen wirst.«

Charlie freute sich sehr und nahm Edward in den Arm, zuckte dann aber von seiner Kälte wieder zurück, die ihn immer wieder überraschte. Dennoch freute er sich sehr, über den Gedanken, der hinter dem Geschenk stand.

Jacob überreichte dann Renesmee ihr Geschenk. Es war auch eine Schnitzerei. Sie stellte einen rennenden Wolf dar, der eindeutig als Jacob zu erkennen war. Das Holz hatte die gleiche rotbraune Farbe wie sein Fell in Wolfsgestalt. Auf seinem Rücken saß, wie sollte es anders sein, ein Mädchen mit wehenden Locken. Dieses hatte er aber aus einem anderen Holz geschnitzt, so dass es mehr ihrer Hautfarbe entsprach. Mir fiel auf, dass ihr Gesicht nicht so filigran ausgearbeitet war, wie auf den Skulpturen, die sie uns geschenkt hatte. Das muss tatsächlich ihre Spezialität gewesen sein. Jetzt war ich noch mehr beeindruckt von ihrem Talent und griff zu meiner Kette, um mir den Stern noch mal anzusehen und ihn zu streicheln.

Dann wandte sich Jacob an Edward und mich.
»Entschuldigt bitte, ich habe es nicht mehr geschafft, auch für euch etwas zum machen.«
Edward nahm den überraschten Jacob in den Arm.
»Mein Bruder. Du hast Nessie geholfen diese wunderbaren Geschenke für uns zu machen. Sie sind alle auch teilweise deine Geschenke. Ich bin dir sehr dankbar dafür. Eine Entschuldigung ist absolut nicht angebracht.«

Renesmees Geschenk musste Edward wirklich sehr berührt haben. Das war erst das zweite Mal, dass ich hörte, das er Jacob als seinen Bruder bezeichnete. Das erste Mal war damals auf dem Feld, als wir den Volturi gegenüberstanden und unserem Ende entgegensahen.

»Das stimmt Daddy«, ergänzte Renesmee, »nur das für Rosalie habe ich ganz alleine gemacht.«

Ich schmunzelte. Mir war vollkommen klar, warum. Ich würde ihr später noch sagen, dass sie das Rosalie auch erzählen sollte, damit sie sich noch mehr freute.

»Hier Jacob. Ein Geschenk für dich«, ergänzte Edward noch und gab Jacob ein Päckchen.
Er öffnete es und es kam ein sehr robust wirkendes Handy zum Vorschein.
»Es ist kratz- und stoßfest und außerdem wasserdicht. Es hat auch eine sehr große Reichweite. Vielleicht hast du dafür einmal Verwendung.«
»Und für euch die Gleichen«, sagte er noch in Richtung Seth und Leah und reichte ihnen die Päckchen.
»Echt geil Alter!«, sagte Seth als er das Geschenk voller Freude von Edward entgegennahm.

Renesmee und ich schauten uns an und mussten grinsen. Edward nahm es mit Humor und murmelte etwas von einem “verrückten jungen Hund”. Sogar Leah nahm das Geschenk auch an, was mich überraschte. Vielleicht war der Graben zwischen uns doch nicht so tief oder sie wollte schon lange unbedingt ein Handy haben.

»Wegen der Gesprächskosten müsst ihr euch keine Sorgen machen. Da war ein Flatrate-Tarif im Preis enthalten. Ihr könnt telefonieren, so viel ihr wollt.«
»Ist ja der Hammer«, freute sich Seth.

Meine Geschenke kamen mir im Vergleich dazu richtig albern vor, aber ich gab sie ihnen natürlich trotzdem. Seth legte sich das Band gleich am Fußgelenk an, um es schon mal probe zu tragen. Charlie hatte zwar keine Ahnung, was das sollte, hielt es aber wohl für so eine Jugend-Sache. Dann gab ich Sue den Gutschein für das Wellness-Wochenende und sie schaute mich überrascht an.

»Ich dachte, du hast dir ein bisschen Erholung verdient, wo du dich doch so gut um meinen Dad kümmerst«, sagte ich ihr zur Erklärung.
»Danke. Das ist wirklich … großzügig von euch. Wäre aber nicht nötig gewesen. Ich bin gerne für deinen Dad da.«

Als sie das sagte, lächelte sie zu ihm rüber und er lächelte zurück. Ich fragte mich, wie nah sich die beiden wohl inzwischen gekommen waren.

Charlie schenkte Edward ein paar Manschettenknöpfe, mir ein paar Ohrringe und Renesmee ein Halskette mit Anhänger. Alle hatten eine ähnliche Machart und bildeten in gewisser Weise eine Einheit. Ich fragte mich allerdings, wie ich denn wohl in meine Ohren Löcher für Ohrringe bekommen sollte. Na ja, vielleicht könnte ich sie einfach zu Clips umarbeiten lassen. Er erwähnte noch, dass es ein gemeinsames Geschenk von ihm und den Clearwaters wäre und dass Sue ihm sehr bei der Auswahl geholfen hätte.

Wir verbrachten noch einen schönen Nachmittag zusammen, unternahmen zwischendurch auch einen kleinen Verdauungsspaziergang und fuhren dann am Abend wieder nach Hause. Jacob, Seth und Leah machten sich ebenfalls zeitgleich auf den Heimweg. Sue wollte noch bleiben und Charlie beim aufräumen helfen.

Zuhause angekommen zeigte Renesmee allen ihre Geschenke und erwähnte beiläufig bei Rosalie, dass sie ihr Geschenk ganz ohne Jacobs Hilfe gemacht hatte. Das hatte genau die Wirkung, die ich vermutet hatte.

Gegen Abend schließlich, als die Müdigkeit dann bei Renesmee wieder die Oberhand gewonnen hatte, brachten wir sie zu Bett. Erneut schenkte sie uns Sequenzen aus ihren Erinnerungen an den heutigen Tag und fiel dann schnell in einen tiefen Schlaf.

»Bereit für dein Geschenk, Edward?«, fragte ich keck.
»Ich kann es kaum erwarten«, erwiderte er voller Ungeduld.
»Dann setze dich mal aufs Bett.«

Ich ging in den Nebenraum, den Alice ja gerne nur als Kleiderschrank bezeichnete, schloss die Tür hinter mir und holte meine speziellen Einkäufe aus ihrem Versteck. Nachdem ich mich umgezogen hatte, drückte ich meinen Schild weg, damit Edward alles durch meine Augen sehen konnte. Dann ging ich schnell an dem großen Spiegel vorbei und warf nur einen flüchtigen Blick über die Schulter auf mein Spiegelbild. Danach drehte ich mich um und machte das Selbe noch mal. Beim dritten Mal, ging ich langsamer vorbei und schaute jetzt ganz genau auf mein Spiegelbild. Ich lächelte mich selbst an. Mir gefiel was ich da sah. Dann blieb ich vor dem Spiegel stehen, drehte mich mal links mal rechts herum und betrachtete mich von allen Seiten. Ich fing an, mit meinem Spiegelbild zu flirten, zog einen Träger vom BH über die Schulter nach unten und zog ihn dann wieder grinsend zurück. Hakte einen Daumen seitlich am Höschen ein und schob verführerisch lächelnd die Hüfte zur Seite. Ich fuhr mir mit den Händen durchs Haar, zog eine Strähne vors Gesicht, knabberte auf meiner Unterlippe und fragte im Gedanken mein Spiegelbild, ob meinem Tiger wohl gefiel, was ich hier sah.

Es dauerte keine Sekunde, dann riss Edward die Tür auf, ließ sie hinter sich wieder ins Schloss fallen und fiel geradezu über mich her. Oh ja, meinem Tiger gefiel, was er sah und ja, auch dieses neue Exemplar würde seinen ersten Einsatz nicht überstehen.

Nach einer berauschenden Nacht, in der wir uns unseren aufgestauten Sehnsüchten voller Leidenschaft hingegeben hatten, lagen wir am nächsten Morgen glücklich vereint auf einem Wäscheberg in meinem Kleiderschrank. Dann hörten wir plötzlich, wie Renesmee aus ihrem Bett hüpfte. Leicht panisch griffen wir schnell nach ein paar Sachen, um uns anzuziehen.

»Momma? Daddy?«

»Wir sind hier Schatz.«

Renesmee öffnete die Tür und machte große Augen. Auch ich blickte mich um und bemerkte erst jetzt, was für ein Chaos wir hier in der Nacht angerichtet hatte.

»Haben dich deine Kleider irgendwie geärgert, Momma?«
Ich musste lachen, versuchte es aber zu unterdrücken und räusperte mich. Edwards breites grinsen war dabei aber nicht wirklich hilfreich.
»Nein Schatz, wir haben nur … ausgemistet.«
Sie blickte mich prüfend an und schien mir das nicht wirklich abzunehmen. Wenigstens hatte sie keine Idee, was hier sonst vorgefallen sein könnte.
»Das solltest du Alice aber nicht sehen lassen.«
Oh ja, das war mir durchaus bewusst. Das würde Konsequenzen haben, aber im Gegensatz zu Renesmee hatte ich keine Chance, etwas vor Alice geheim zu halten.

Wir gingen wieder in die Cullen-Villa und wurden dort prompt von Alice und Rosalie abgefangen.
»Guten Morgen ihr Lieben«, begrüße uns beide fast im Chor und grinsten breit.
»Guten Morgen«, erwiderten wir.
»Du Bella«, fuhr Alice fort. »Ich hatte da so eine Vision, dass du dringend neue Klamotten brauchst. Rosalie hat sich sofort bereiterklärt, dass wir dir morgen bei deinem Kleiderproblem helfen müssten. Das passt dir doch oder? Morgen wird ein wunderschöner bewölkter Tag.«

Ich war in der Falle und sah keinen Ausweg. Hilfesuchend schaute ich nach Edward der wissend grinste, dass ich keine Chance hatte, dem zu entrinnen. Also gab ich mich geschlagen und sagte nur:
»Ja, Danke.«
»Super, Bella, dann erhole dich heute gut. Morgen wird ein anstrengender Tag für dich.«

Na prima. Ich quälte ein Lächeln auf mein Gesicht und ließ mich von Edward, der nicht weniger breit grinste als meine beiden weiblichen Folterknechte, auf die Couch ziehen.

Alice und Rosalie gingen lachend zum PC. Offensichtlich wollten sie schon mal die weitere Vorgehensweise für morgen planen.

»Nun ich hoffe, dass dein Kleiderschrank wieder gut bestückt wird«, flüsterte mir Edward ins Ohr mit einem leisen Lachen.

Offensichtlich hatten sich alle gegen mich verschworen. Ich seufzte und fügte mich endgültig in mein Schicksal.

Ansonsten hatte dieser Tag, wie auch die nächsten zwischen Weihnachten und Neujahr eine gewisse Routine eingenommen. Renesmee genoss die letzten Tage ihrer Schneeferien in vollen Zügen mit Jacob, dem es nicht anders ging. Allerdings war sie auch jeden Tag ein, zwei Stunden mit Edward zusammen, um ihr Gitarrenspiel zu üben. Jacob war dabei ein sehr begeisterungsfähiges Publikum. Ansonsten nutzte ich meine Freizeit, um mit Edward weiter an meinem Klavier zu arbeiten oder ging auch mal gerne mit den Schlittschuhen aufs Eis.

Allzu viel Freizeit hatte ich aber nicht. Da ein Tag unmöglich ausreichen konnte, um den Inhalt meines “desolaten” Kleiderschranks wieder auf Vordermann zu bringen, musste ich drei Tage hintereinander einkaufen gehen. Ich hätte mir nie träumen lassen, dass es in den Städten in unserer Umgebung so viele Boutiquen gab.

Im Grunde war es aber alles andere als schlimm. Wir hatten sogar wahnsinnig viel Spaß dabei. Rosalie war immer so gut gelaunt und hatte zeitweise sogar Mitleid mit mir, wenn Alice mal wieder drauf und dran war, es wirklich zu übertreiben. Ansonsten machten sie und Alice sich einen Spaß daraus, den Männern die Köpfe zu verdrehen. Ich versuchte dabei nicht wirklich mitzumachen, weil ich das irgendwie unfair fand, aber heraushalten konnte ich mich auch nicht.

Wenn ich dann bei der x-ten Anprobe doch einen Anflug von Genervtheit empfand, genügte es allerdings fast immer, einfach nur kurz daran zu denken, wie das anprobierte Kleidungsstück wohl Edward gefallen würde, und schon hellte sich meine Stimmung wieder auf. Im Zweifelsfall, dachte ich mir, kann er es mir ja vom Leib reißen. Auch nicht die schlechteste Lösung.

So vergingen die Tage wie im Flug. Am 31. dann gingen wir abends nach Olympia um uns das große Feuerwerk anzusehen. Die ganze Familie einschließlich Jacob und Renesmee, sowie Charlie und Sue waren dabei. Mein kleiner Engel kämpfte tapfer gegen die Müdigkeit an, verlor die Schlacht aber gegen elf und schlief auf Jacobs Arm ein. Als das Feuerwerk dann los ging, erwachte sie aber wieder und bewunderte das Spektakel mit müden Augen. Als dann das Feuerwerk vorbei war und wir uns auf den Heimweg machten, wurde mir bewusst, dass nun tatsächlich ein ganzes Jahr vorbei war. Ein Jahr, in dem die Volturi uns in Ruhe gelassen hatte, obwohl diese hinterlistige Intrigantin uns so zugesetzt hatte. Ein Jahr, das so viele schöne Erinnerungen beinhaltete, obwohl es beinahe das Schlimmste meines Lebens geworden wäre. Doch Edward hatte überlebt. Er war hier an meiner Seite. Meine Tochter war glücklich im Arm ihres Jacobs eingeschlafen. Ich hatte meinen Durst unter Kontrolle und alles schien dafür zu sprechen, dass das neue Jahr unter guten Vorzeichen stand.

Kapitel 11 - Neue Wege

Es war inzwischen Mitte Januar. Nach wie vor lag Forks unter einer dicken Schneeschicht und das Thermometer hatte sich endgültig von den Plusgraden verabschiedet. In den letzten zwei Wochen hatten wir wieder unseren gewohnten Rhythmus aufgenommen. Auch Renesmees Schneeferien waren vorbei und mit einer überraschenden Selbstverständlichkeit hatte sie sich sofort wieder auf den regelmäßigen Unterricht konzentriert.

Nur eine Sache hatte sich dabei verändert. Edwards Musikunterricht bezog sich nun auf die Gitarre und nicht mehr auf das Klavier. Er gab sich wirklich große Mühe, hatte Dutzende von Büchern zum Thema “Gitarrenunterricht” gelesen und stapelweise Notenhefte angeschafft. Inzwischen hatte ihr Gitarrenspiel sogar fast etwas von Musik, wobei das wirklich nicht meinen Geschmack traf. Wie hart es da erst für meinen Liebsten sein musste, wollte ich mir gar nicht ausmalen, aber er war wirklich hingebungsvoll dabei.

Außerdem fanden die Übungsstunden jetzt praktisch täglich statt und wurde teilweise in die Jacob-Zeit verlegt. Es schien ihm aber nichts auszumachen, denn es war ja der Wille seiner Nessie, jeden Tag Gitarre zu spielen. Wenigstens durfte er zusehen und in ihrer Nähe sein und das war wohl für den Augenblick genug. Jacob hatte die Schneeferien wohl genauso genossen wie Renesmee. Jetzt hatte er eben nur noch die Nachmittage mit ihr, oder die Vormittage, wenn er mit ihr zur Jagd ging.


Ihr Training, dem Blutduft zu widerstehen, hatte sie auch wieder aufgenommen, obwohl ich den deutlichen Eindruck gewonnen hatte, dass sie es eigentlich nicht mehr wollte. Ich hatte ihr auch gesagt, dass sie das nicht mehr machen musste, aber sie bestand darauf, den täglichen Versuch zu unternehmen.

Am Ablauf hatte sich nichts geändert. Zuerst las sie mir vor, während ich alles aufbaute und dann wechselten wir und ich las ihr vor, während wir mitten in dem warmen Blutduft saßen. Meine einzige Schwierigkeit bestand darin, zu vermeiden, dass mich das Kratzen im Hals beim Vorlesen behinderte, während sie gegen den Verlust ihrer Selbstkontrolle ankämpften musste. Immer wieder versuchte sie dann am Ende der Trainingszeit die Schüssel auszukippen, doch jedes Mal verweigerten ihr ihre Hände den Dienst.

Einmal erzählte sie mir, dass es jetzt sogar noch schwieriger für sie war, diesen Schritt zu machen. Während sie vor ihrem “Missgeschick” nur damit zu kämpfen hatte, dass ein Teil von ihr unbedingt verhindern wollte, dass dieses köstliche Blut weggeschüttet wurde, war da jetzt noch ein anderer Teil, der Angst hatte, dass sie sich wieder mit Blut voll spritzen könnte und wieder wie paralysiert dastand. Zusammen setzten sich diese Teile durch und brachten sie immer wieder dazu, die Schüssel vorsichtig an der Spüle abzustellen und mir den Rest zu überlassen.


Zu Beginn, als wir das Training wieder aufgenommen hatten, wollte sie den Versuch unternehmen, sich mit Musik abzulenken. Sie nahm dazu ihren iPod mit in den Trainingsraum und drehte die Lautstärke auf. Beim entscheidenden Teil der Übung machte sie ihr Lieblingslied an, um sich so möglichst stark abzulenken und es vielleicht doch zu schaffen. Es gelang ihr jedoch nicht. Für sie war es ein herber Rückschlag in mehrfacher Hinsicht. Ihr Plan hatte nicht funktioniert, was alleine schon frustrierend für sie war. Dann roch ihr iPod auch noch zwei Tage lang leicht nach Blut, was ihr überhaupt nicht gefiel und schließlich erinnerte sie ihr Lieblingslied jetzt ständig an ihr Versagen im Training, so dass sie es schließlich nie mehr wieder hören wollte und deshalb löschte.


Heute nun, saßen wir wieder im Trainingsraum und ich las ihr aus Jeffrey Chaucers “Canterbury Tales” vor. Eine schwierige Literatur, viel zu anspruchsvoll für eine erst Sechsjährige, aber ich wollte den Versuch unternehmen, ob sie das vielleicht so stark beschäftigen könnte, dass es ihr helfen würde.

Wieder stand sie mit der Schüssel an der Spüle und wie schon so oft zuvor konnte ich ihrem Gesicht ansehen, dass sie dabei war, den Kampf zu verlieren. Schließlich stellte sie die Schüssel vorsichtig ab und kam seufzend zurück, um sich mit traurigem Gesichtsausdruck auf ihren Platz zu setzen.

»Es tut mir so leid, Liebling. Ich weiß wirklich nicht, wie ich dir dabei noch helfen könnte.«

Es war schrecklich sie so zu sehen und sie tat mir unendlich leid. Ich streichelte ihr sanft über den Kopf und legte dann meine Hand auf ihre Schulter.

»Momma? Warum finde ich das Blut denn überhaupt so lecker? Opa meinte doch, dass ich kein Blut zum Überleben bräuchte. Dass ich mich auch wie ein Mensch ernähren könnte.«

Das war eine gute Frage, auf die ich keine Antwort hatte. Sicher, sie war zur Hälfte Mensch und zur Hälfte Vampir. War die Vampirhälfte denn soviel stärker? Bestimmte dieser Teil so viel mehr ihr Denken und Handeln? Sie war doch auch in vielerlei Hinsicht so menschlich. Sie schlief, hatte einen Herzschlag und Blutkreislauf. Sie konnte weinen, wenn sie traurig war. Sie entwickelte sich weiter, wuchs und wurde auch körperlich älter. Natürlich gab es bei alle dem mehr oder weniger deutliche Unterschiede zu Menschen, aber in jedem Fall war es doch ganz anders, als bei Vampiren.

»Ich weiß es nicht, Liebling. Vielleicht wird es für dich leichter, wenn du älter wirst. Vielleicht wird deine Willensstärke auch größer, wenn du größer wirst.«

»Ja, aber vielleicht wird mein Durst dann auch größer, so, dass ich ihn nicht mehr kontrollieren kann.«

Ich erschrak. Dass sie so düster in die Zukunft blickte war entsetzlich.

»Denk doch so etwas nicht, Liebling. Du bist so ein tolles und starkes Mädchen. Du musst an dich glauben.«

Sie lächelte mich schwach an. Meine aufmunternden Worte taten ihr wohl gut, konnten ihre Selbstzweifel aber nicht zerstreuen.

»Momma? Was, wenn ich kein Blut mehr trinken würde. Könnte ich mich dann vielleicht so stark an menschliches Essen gewöhnen, dass ich das Blut nicht mehr will?«

Ich seufzte. Mein kleiner Stern hatte heute ganz schön schwere Geschütze aufgefahren. Gedanken schwirrten durch meinen Kopf. Wäre das möglich? Vermutlich schon. Könnte es schief gehen? Vermutlich auch. War das vielleicht nur ein Hirngespinst? Hätte sie überhaupt den Willen, ganz auf Blut zu verzichten? Würde es sie nicht belasten, wenn wir weiterhin regelmäßig jagen gingen und sie nicht mehr dabei war? War sie nicht vielleicht auch einfach noch zu jung, für so einen Selbstversuch?

Ich war besorgt, doch ich wollte ihr gerne eine Antwort geben, ohne sie mit all meinen Sorgen zu belasten und vielleicht dadurch völlig zu entmutigen. Mir war jedoch nicht klar, wie ich das anstellen sollte und sah nur einen kleinen Ausweg.

»Ich glaube, Sternchen, wir sollten das mit Carlisle besprechen.«

Sie nickte zustimmend und wirkte nachdenklich. Es schien ihr wirklich ernst damit zu sein.

Ich ließ mir die Sache noch einen Moment lang durch den Kopf gehen und raffte mich dann schließlich auf, um die Schüssel auszukippen und auszuspülen. Dann verließen wir zusammen den Trainingsraum. Edward wartete wie immer vor der Tür auf uns und wirkte genauso grüblerisch wie ich. Natürlich hatte er alles mit angehört, doch sein Gesichtsausdruck verriet mir nicht, was er davon hielt.

Wie üblich ging ich nach dem Training mit meiner Tochter duschen und umziehen. Dabei sprachen wir praktisch kein Wort. Renesmee wirkte sehr im Gedanken vertieft und bereitete sich vermutlich auf das Gespräch mit Carlisle vor. Ich war froh, dass er heute zu Hause war. Dieses Thema hätte ich ungern den ganzen Tag vor mir her geschoben. So würden wir es gleich klären können. Wenn Carlisle meine Bedenken teilen und aussprechen würde, wäre das für Renesmee sicherlich Grund genug, die Sache zu vergessen.


Edward begrüßte uns nach dem Umziehen mit einem Küsschen und ging dann mit uns hinüber und zielstrebig zum Arbeitszimmer. Erst wollte ich vorangehen, entschied dann aber, dass Renesmee das selbst machen sollte. Ich sah ihr in die Augen und nickte in Richtung Tür. Sie verstand sofort, klopfte an und rief gleichzeitig:
»Carlisle, hast du kurz Zeit für mich?«
Sie sagte nicht Opa. Ein untrügliches Zeichen, dass es ihr sehr ernst war.
»Natürlich Liebes. Komm herein.«

Wir gingen mit ihr hinein und Carlisle kam um seinen Schreibtisch herum. Ich kam nicht umhin zu bemerken, dass die Kristall-Figur, die ich ihm zu Weihnachten geschenkt hatte, wirklich gut auf seinem Schreibtisch zur Geltung kam.

»Wenn ich darf, Carlisle, ich bräuchte deinen Rat«, sagte sie sehr förmlich und höflich zu ihm.
»Nun, was hast du denn auf dem Herzen?«, fragte er und kniete sich dabei vor ihr hin, um mit ihr auf Augenhöhe sprechen zu können.
»Ich habe mich gefragt, ob ich meinen Durst vielleicht besser unter Kontrolle bringen könnte, wenn ich aufhören würde, Blut zu trinken und mich nur noch von menschlichem Essen ernähren würde. Was denkst du darüber?«

Die Frage klang sehr einstudiert. Diese hatte sie sich wohl so unter der Dusche zurecht gelegt. Carlisle dachte kurz nach und antwortete dann recht schnell mit einem gütigen Lächeln.
»Nun, einen Versuch ist es wert, Liebes. Warum nicht.«

Renesmee freute sich über diese Antwort, doch ich war erschrocken. Nahm Carlisle das etwa nicht ernst? Konnte er wirklich keine Gefahr sehen? Ich war direkt ein bisschen wütend, dass er sich so wenig um meine Tochter sorgte. Nein, ich war richtig wütend und nicht nur ein bisschen. Das passte doch gar nicht zu ihm. Wieso jetzt dieser Leichtsinn?

»Bist du dir sicher, Carlisle? Machst du dir deswegen denn keine Sorgen? Hast du denn gar keine Bedenken, dass ihr das schaden könnte?«

Renesmee warf mir einen leicht verärgerten Blick zu, dass ich das jetzt so sagen musste, wo sich die Sache aus ihrem Blickwinkel doch so wunderbar gefügt hatte. Carlisle richtete sich auf und sprach zu mir.

»Bella, natürlich sehe ich die Risiken, aber ich denke, das ist es wert. Vergiss nicht, welche Risiken du eingegangen bist. Das hier ist nicht viel anders.«

Doch! Das war anders. Das war nicht ich, die da jetzt ein Risiko eingehen wollte, das war meine Tochter! Das war etwas völlig Anderes und überhaupt nicht vergleichbar.

»Aber Carlisle«, sagte ich fast wütend. »Wenn ihr das schadet, wenn…«
»Bella, ich bitte dich. Glaubst du ernsthaft ich würde sie das machen lassen, ohne sie im Auge zu behalten?«

Genau das glaubte ich ... irgendwie ... doch jetzt, da er das gesagt hatte, kam ich mir ziemlich blöd vor.
»N-Nein, … natürlich nicht«, log ich.

Carlisle hob Renesmee hoch und setzte sie auf seinen Schreibtisch und lehnte sich selbst daneben. So konnten wir uns jetzt alle praktisch auf Augenhöhe unterhalten. Das schien ihm wichtig zu sein, Renesmee als vollwertige Gesprächsteilnehmerin darzustellen. Ich schämte mich etwas, dass ich das nicht getan hatte.

»Also«, begann Carlisle und blickte dabei abwechselnd zu Edward und mir und dann zu Renesmee. »So wie ich das sehe, gibt es da ein paar mögliche Risiken. Lasst sie uns einfach einmal zusammen durchsprechen und uns alle sehen, wie schwerwiegend sie sind, einverstanden?«

Renesmee nickte sofort und Edward stimmte ebenfalls schnell zu. Ich zögerte noch etwas, denn ich spürte eine starke innere Unruhe deswegen. Das Ganze machte mich nervös und ich brauchte einen Moment, bis ich schließlich mein o.k. geben konnte.

Dann wandte sich Carlisle direkt an Renesmee.
»Zunächst das Schwerwiegendste. Wenn du kein Blut mehr trinkst, besteht eine gewisse Gefahr, dass dein Körper einen Mangel erleidet. Natürlich werden wir deine Ernährung ausgewogen gestalten, aber die Gefahr bleibt. Wenn das passiert, könntest du Mangelerscheinungen bekommen. Wir wissen nicht, wie die aussehen würden, aber es wäre denkbar, dass du vielleicht Schmerzen bekommst oder dich nicht mehr richtig konzentrieren kannst oder vielleicht deine körperliche Entwicklung leidet. Das müssen wir unbedingt im Auge behalten. Wenn das passiert, müssen wir den Versuch sofort abbrechen.«

Renesmee hörte aufmerksam zu und nickte, so als ob sie sich den Punkt auf eine Liste geschrieben hätte. Dann fuhr Carlisle fort.
»Ich möchte von dir, dass du mir sofort sagst, wenn du dich unwohl fühlst.«
Erneut nickte Renesmee und ihr Gesichtsausdruck war dabei sehr ernsthaft.
»Von euch beiden und den Anderen erwarte ich, dass ihr ihre Leistungen im Unterricht genau im Auge behaltet«, sagte er zu Edward und mir. »Außerdem werde ich sie einmal wöchentlich genau durchchecken.«

Das beruhigte mich etwas. Wenn wirklich alle ein Auge auf sie haben würden und der Selbstversuch sofort abgebrochen würde, wenn es Probleme gäbe, dann könnte ich mich wohl damit abfinden.

»Der zweite Punkt ist«, fuhr Carlisle zu Renesmee gewandt fort, »wenn Vampire lange kein Blut trinken, dann werden sie mit der Zeit schwächer und ihr Durst immer stärker. Was den Durst betrifft. Wenn er bei dir wie bei anderen Vampiren immer stärker werden sollte, dann funktioniert dein Plan vermutlich nicht. Zwar bist du auch menschlich und deine Ernährungsumstellung könnte tatsächlich deinen Durst vertreiben, aber du bist eben auch ein Vampir. Ich möchte vermeiden, dass du dann vielleicht einen Menschen in deiner Nähe in größere Gefahr bringst.«
»Genau deshalb will ich es doch machen«, sagte Renesmee und er lächelt sie dafür liebevoll an.
»Das weiß ich doch. Aber gerade deshalb ist es unerlässlich, dass du weiterhin mit deiner Mom das Training fortführst. Wenn dein Durst zu stark wird und du dich im Training nicht mehr beherrschen kannst, dann kommt jedenfalls niemand zu Schaden.«

Auch diesen Punkt bestätigte sie mit einen Kopfnicken und sah dabei aus, als würde sie ihn auf eine imaginäre Liste schreiben.

»Was das “schwächer werden” betrifft«, ergänzte Carlisle, »so könnte sowohl deine körperliche Leistungsfähigkeit davon betroffen sein, als auch die Fähigkeit, deine Gabe zu nutzen. Es wäre also sinnvoll, wenn wir zum Beispiel mit Jacob einen Sport-Plan für den Nachmittag machen würden und du täglich dein besonderes Talent zumindest bei deinen Eltern anwendest.«

Auch das nahm Renesmee auf. Allerdings hatte ich den Eindruck, dass sie bereit wäre, dieses Opfer zu bringen, um ihr Ziel zu erreichen. Mir gefiel der Gedanke nicht, aber was könnte ich schon dagegen tun, wenn dieser Weg sie glücklich machen würde?

Carlisle sah mich und Edward an.
»Haben wir eurer Meinung nach noch etwas vergessen?«

Durch seine Wortwahl stellte er sich klar auf die Seite meiner Tochter und Edward und mich auf die der Gegenpartei. Das gefiel mir gar nicht und ich fragte mich, ob das so ein gesprächstaktischer Zug von ihm war. Natürlich wollte ich auf der Seite meiner Tochter stehen. Ich sah mich immer dort. Ich war doch nur besorgt und es gab in der Tat noch einen Punkt, den er nicht angesprochen hatte. Das würde meiner Kleinen zwar sicherlich nicht gefallen, aber ich musste es einfach sagen.

»Ist sie nicht vielleicht ein bisschen zu jung dafür? Würde es nicht ihrem Selbstvertrauen schaden, wenn es nicht klappt?«

Ich hatte recht. Renesmee verzog das Gesicht. Mein Einwand gefiel ihr ganz und gar nicht. Carlisle jedoch war sehr entspannt und lächelte. Dann sagte er:
»Das kam mir auch kurz in den Sinn, Bella. Es ist möglich, dass sie noch zu jung ist, aber bei den Menschen entwickeln sich viele Fähigkeiten besonders gut in jungen Jahren und hier geht es vor allem um ihre menschliche Seite. Doch wenn sie jetzt scheitern sollte, dann kann sie es in einem oder zwei Jahren ja noch mal versuchen, wenn sie es dann noch will.«

Danach wandte er sich noch mal an Renesmee.
»Und du, Liebes, musst dir im klaren darüber sein, dass ein mögliches Scheitern wirklich alleine an deinem Alter liegen könnte oder vielleicht daran, dass dein Durst und deine Ernährungsweise überhaupt nichts miteinander zu tun haben. Du hast einen starken Willen, das sehe ich dir an und wenn das nicht funktioniert, dann wird uns irgendwann schon etwas Anderes einfallen.«

Renesmee strahlte ihn glücklich an und nickte freudig. Dagegen konnte ich jetzt beim besten Willen auch nichts mehr sagen. Carlisle hatte meine Bedenken zwar nicht restlos aufgelöst, aber mir klar gemacht, dass nicht wirklich viel passieren konnte. Trotz meines leichten Unbehagens, würde ich meiner Tochter bei dem von ihr gewählten Weg zur Seite stehen. Ich nickte daher Carlisle zu und er sprach dann abschließend zu Renesmee.

»Dann sollten wir jetzt den anderen Bescheid geben, damit alle wissen, was du vorhast.«

Sofort hüpfte Renesmee vom Schreibtisch und lief eilig zur Tür hinaus. Dann rief sie schnell hintereinander »Esme, Rosalie, Emmett, Alice, Jasper!«

Innerhalb einer Sekunde waren alle da und blickten sie fragend an. Sie war so überrascht von deren schnellen Erscheinen, dass sie nicht wusste, was sie sagen sollte und nur grinste und ihnen zuwinkte. Carlisle errettete sie jedoch sofort und meinte:
»Danke, dass du alle zusammengerufen hast, Schatz. Wir haben etwas zu besprechen, bitte versammelt euch am Esstisch.«

»Jacob muss auch dazu kommen. Daddy? Ist er in der Nähe?«, fragte Renesmee, während wir die Treppe hinunter gingen.

Edward überprüfte kurz, ob er Jacobs Gedanken hören konnte, schüttelte jedoch gleich darauf den Kopf.
»Er ist nicht in der Nähe, Liebling. Ich rufe ihn an.«

Dann holte er sein Handy aus der Tasche und drückte eine Kurzwahltaste. Das überraschte mich etwas. Ich hatte nicht erwartet, dass er Jacobs neue Handynummer bereits einer Kurzwahltaste zugewiesen hatte. Vermutlich aber war das schlichtweg im Ernstfall einfach nur sehr nützlich.

»Jacob? Kannst du bitte in Kürze zu uns kommen?«
»Ist etwas passiert? Stimmt etwas mit Nessie nicht?«, hörte ich Jacob aufgeregt sagen.
»Nein, alles in Ordnung. Es geht nur um eine Familienkonferenz, bei der du dabei sein solltest.«
»Wirklich? o.k. ich bin in 5 Minuten da.«
Tatsächlich dauerte es 6 Minuten 37 Sekunden. Da weder Carlisle noch Renesmee etwas sagen wollten, bevor Jacob da war, hatte ich nichts besseres zu tun, als die Sekunden zu zählen.

Von draußen hörten wir seine schweren Schritte, wie er die Verandatreppe herauf kam und dann zur Tür ging. Er öffnete sie und schaute herein. Natürlich hatte er wieder nur seine Hose an. Sein Oberkörper dampfte geradezu in der kalten Luft. Bei seiner Körpertemperatur hatte der Schnee keine Chance liegen zu bleiben wie bei uns. Stattdessen hatte er nasse Haare, während seine Hose sehr zerknittert und noch halb gefroren wirkte, da er sie wohl gerade erst angezogen hatte. Es freute mich allerdings zu sehen, dass er mein Weihnachtsgeschenk am Knöchel trug.

»Warte einen Moment«, rief Esme, sprang schnell nach oben und war gleich darauf bei ihm, um ihm ein großes Handtuch zu geben. »Hier bitte, zum Abtrocknen.«
»Ja genau, meinte Emmett. Trockener Hund ist besser als nasser Hund.«

Für diesen Scherz musste er böse Blicke von Renesmee hinnehmen, was ihm sogar etwas auszumachen schien. Rosalie stieß ihm mit dem Ellenbogen in die Seite, schüttelte kurz den Kopf, konnte ein überdeutliches Schmunzeln aber nicht unterdrücken.

Nachdem sich Jacob auch seine Füße abgetrocknet hatte und das Handtuch davon ziemlich verschmutzt wurde, gab er es mit einem entschuldigenden Blick Esme zurück. Die lächelte jedoch nur in ihren bekannt nachsichtigen Art und brachte es gleich weg. Dann setzte sich Jacob auf den letzten freien Platz am Kopfende gegenüber von Carlisle. Unser Tisch war damit mit 10 Personen voll besetzt. Das erste mal, soweit ich mich erinnern konnte. Für einen Moment fragte ich mich, ob das vielleicht in Zukunft immer so wäre, wenn er und Renesmee irgendwann ein Paar w….
Nein! Viel zu früh! Daran wollte ich jetzt nicht denken und verbannte den Gedanken sofort aus meinem Gehirn.

»Da nun alle versammelt sind«, begann Carlisle, »fangen wir doch gleich an. Renesmee möchte etwas Neues versuchen. Sie hat dabei meine volle Unterstützung und ich hoffe, ihr werdet ihr auch helfen.«

Nach dieser Ansprache war klar, dass niemand wirklich eine Chance hatte, etwas dagegen zu sagen. Carlisle begann zu erklären, was Renesmee vorhatte. Er informierte alle noch mal ganz genau über die möglichen Risiken und wie wir vorgehen wollten, um die Gefahr so gering wie möglich zu halten. Er bat jeden Einzelnen beim Unterricht mit Renesmee genau auf ihre Leistungen zu achten. Esme bat er, einen Ernährungsplan auszuarbeiten. Natürlich sagte ich gleich, dass ich auf jeden Fall auch für meine Tochter kochen wollte. Schließlich konnte ich das früher schon. Jetzt war ich zwar nicht mehr in der Lage etwas abzuschmecken, aber das Prinzip hatte sich ja nicht geändert.

Auch Rosalie wollte daran teilhaben. Ihr gelungenes Experiment an Weihnachten hatte ihr viel Spaß gemacht und für Renesmee wollte sie auf jeden Fall auch etwas beitragen. Natürlich war auch sie besorgt. Im Grunde war sie außer mir die Einzige, die so etwas wie Besorgnis zeigte, aber wirkliche Bedenken hatte sie anscheinend nicht. Auch das beruhigte mich. Wenn Rose das für gut halten konnte, würde ich es auch schaffen. Insgeheim dankte ich ihr dafür und streichelte mein Freundschaftsband, was sie bemerkte und mit einem Lächeln belohnte.

Carlisle bat Jacob, sich für Renesmee verschiedene Übungen auszudenken, mit denen er ihre Fitness überprüfen könnte. Ihm schwebte da ein täglicher Trainingsplan vor mit Übungen, die etwas mit Kraft, Geschwindigkeit und Ausdauer zu tun hatten. Ich war mir sicher, dass Jacob besser als irgend ein Anderer das mit einer spielerischen Note versehen konnte.

Jacob sagte dann noch zu seiner Nessie, die er dabei liebevoll anlächelte, dass er ab sofort auch nur noch “normal” essen würde, solange sie es machte. Alleine wollte er als Wolf kein Wapiti mehr jagen.

Das schien Renesmee irgendwie zwar zu freuen, aber gleichzeitig auch traurig zu machen. Ich konnte mir gut vorstellen, dass es für sie etwas Schönes gewesen war, sich mit Jacob die Beute zu teilen. Ich wusste das nur zu gut. Als Esme dann aber anbot, dass Nessie doch zumindest das tägliche Mittagessen und vielleicht auch das Abendessen zusammen mit Jacob bei uns einnehmen könnte, strahlte sie schon wieder.

Jacob warf einen missmutigen Blick auf den überdimensionalen Fressnapf, der noch immer neben der Küchentür stand. Renesmee folgte seinem Blick und kicherte.

»Natürlich essen wir am Tisch, Jake. Das Ding kommt jetzt weg!«, bestimmte sie und Rosalie fügte sich seufzend ihrem Entschluss, was Esme außerordentlich freute.


Nachdem die Familienkonferenz beendet war, ging Jacob noch mit Carlisle in das Arbeitszimmer, um ein paar Details zu dem Trainingsplan zu besprechen. Jasper, Edward und Emmett waren neugierig und gingen mit. Ich gesellte mich mit Rosalie zu Esme, um den Essensplan auszuarbeiten und eine Vereinbarung zu treffen, wer wann was kochen würde. Ab morgen früh sollte es los gehen.

In der Zwischenzeit nahm Alice Renesmee mit und begann schon mal mit einer Unterrichtseinheit Geografie.

Schon bis zum Nachmittag war praktisch alles geklärt. Jacob hatte sofort eine Trainingseinheit mit Renesmee begonnen, um einen Ausgangswert für ihre Entwicklung zu haben. Edward hielt sich in der Nähe auf, um zuzusehen. Er wollte sichergehen, dass Jacobs spezielle Sicht auf unsere Tochter nicht sein Urteilsvermögen trübte, aber ich war mir sicher, dass er sehr genau vorgehen würde, da es schließlich ihrem Schutz diente. Esme, Rose und ich machten uns zu einem Einkaufsbummel auf. Diesmal jedoch mit Lebensmitteln im Visier.


Der Abend verlief dann sehr harmonisch. Esme saß noch mit Renesmee zusammen, um noch ein paar Feinheiten ihre Planes auf sie abzustimmen. Edward spielt mit mir wieder Klavier und die übrigen hatten sich schon bald zurückgezogen. Am späteren Abend brachten wir Renesmee zu Bett und ließen uns noch mal ihre Eindrücke des Tages zeigen. Ich hoffte wirklich sehr, dass ihre Gabe nicht unter ihrer Ernährungsumstellung leiden musste. Es wäre ihr absolut zuzutrauen, dass sie dieses Opfer bringen würde und ich würde dieses Abendritual schrecklich vermissen.

Ich redete noch bis tief in die Nacht hinein mit Edward über Renesmees Vorhaben und ließ ihn dabei meinen Gedanken hören. Auch er versicherte mir, dass er die Idee im Grunde gut fand. Selbst wenn sie scheitern sollte, würde sie doch wieder etwas mehr über sich selbst erfahren und das ist in jedem Fall etwas Gutes. Diese Überlegung hatte mir sehr gut gefallen und ich hielt an ihr fest. So oder so, wenn wir alle auf sie aufpassen würden, konnte ihr nicht wirklich etwas passieren. Das hoffte ich zumindest.


Am nächsten Morgen dann gingen wir zuerst frühstücken. Zum Einstieg gab es ein paar Toasts.

»Gar nicht so schlecht«, meinte sie, aber ich vermutete, dass sie sich das wohl eher selbst gut reden wollte.

Ich war natürlich sehr skeptisch, aber nach der ersten Mahlzeit waren wohl kaum neue Erkenntnisse zu erwarten. Wir würden sicherlich Wochen, wenn nicht sogar Monate warten müssen.

Nach dem Frühstück gingen wir wie vorgesehen in den Übungsraum. Es war im Grunde wie immer, wobei ich diesmal bei ihr kurz vor dem Wegschütten den Eindruck hatte, dass sie es sofort erzwingen wollte. Ich hielt kurz den Atem an und wartete gespannt ab, was passierte. Doch dann schien sie sich zu besinnen und stelle die Schüssel wieder vorsichtig hin und setzt sich wieder auf ihren Platz.

»Hab’ Geduld, Sternchen. Ein Frühstück macht noch keinen Weltmeister.«
Sie lächelte über das Wortspiel.
»Ich weiß, ich dachte nur, wenn ich doch gerade so satt bin, vielleicht geht es ja, aber es war doch fast so wie immer.«
»Fast so?«
»Ja, ich weiß auch nicht. Mir war dabei eher ein bisschen übel.«
»Das solltest du aber unbedingt Carlisle erzählen.«
Ich war schon wieder so besorgt, dass ich mich schon so langsam wie Edward fühlte. Das musste ich definitiv besser in den Griff bekommen.
»Das mache ich, Momma«, sagte sie seufzend.


Nach dem Training ging es wie üblich zum Duschen und Umziehen und dann übergab ich meine Tochter an Emmett, der heute Vormittag mit ihr Sprachen unterrichten würde. Sie war auch schon wieder richtig gut drauf. Der Anflug von Übelkeit, von dem sie mir erzählt hatte, war verflogen und ich sagte mir selbst, dass ich nun unbesorgt war.

Um mich dann endgültig auf andere Gedanken zu bringen, bat ich Edward, mit mir auf die Jagd zu gehen. Nur ein kleiner Imbiss sozusagen. Also setzten wir uns ins Auto und fuhren in ein neues Jagdgebiet.

Wir streiften durch den Wald, auf der Suche nach Beute und fanden schließlich die Fährte von zwei Luchsen. Einen für jeden. Genau das, was mir jetzt die erhoffte Ablenkung bringen würde.

»Wer seinen schneller hat und wieder hier ist!«, sagte ich grinsend zu Edward und eilte einer Fährte nach. Hinter mir hörte ich Edward davonzischen.

Der Spur meines Luchses zu folgen war leicht, fast zu leicht. Selbst ohne meinen Geruchssinn hätte ich seinen Spuren im Schnee problemlos folgen können. Dann bemerkte ich die Kratzer in der Rinde eines Baumes, die seine Krallen hinterlassen hatten. Dort saß er auf einem großen Ast. Noch bevor er auf mich reagieren konnte, sprang ich hoch und packte ihn. Dann rannte ich sofort zurück zum Ausgangspunkt.


Edward war schon da. “Mist”. Den leichten Bewegungen des Gestrüpps hinter ihm nach zu urteilen, war er aber auch erst höchstens eine Sekunde vor mir angekommen. Es war also knapp gewesen. Das versöhnte mich ein wenig.

Wir setzten uns einander zugewandt auf den Boden, hielten jeweils unsere Beute in den Händen und nährten uns an ihrem Blut. Ich sah Edward dabei die ganze Zeit in die wundervollen goldbraunen Augen, die beim Trinken noch kräftiger zu strahlen schienen. Sein Blick war durchdringend und fordernd. Er atmete heftig und stoßweise und ich hörte das saugende Geräusch in den Atempausen. Spontan blitzten Bilder von dem Erlebnis mit unserem letzten Puma vor meinem inneren Auge auf und vermischten sich mit den noch so frischen Erinnerungen an das Kleiderschrank-Ereignis von vor drei Wochen. Ein kribbelnder Schauer lief durch meinen Körper.

Meine Sinne waren noch immer im Jagdmodus und nach wie vor geschärft, doch ich fühlte mich im Augenblick nicht wie die Jägerin. Ich wollte die Beute sein, die da hilflos in seinen Armen lag und seine Lippen an meinem Hals spüren.

Es fiel mir schwer, sehr schwer, mich auch nur für einen Moment von meinen Instinkten zu lösen, um die nötige Selbstkontrolle zu erringen, um meinen Schild wegdrücken zu können, doch es gelang mir. Nur für den Bruchteil einer Sekunde, aber lange genug um “Fang mich” zu denken und den Schild schlagartig wieder zurückrauschen zu lassen.

Ich warf meine Beute zur Seite, sprang auf und rannte los. Hinter mir hörte ich meinen Verfolger. Er hatte nicht lange gewartet, mir keinen Vorsprung gegönnt. Er war ein gnadenloser Jäger. Ein weiterer Schauer rauschte durch meinen Körper und verwirrte mich. Wohin sollte ich fliehen? Wie ihn abschütteln? Seine Schritte kamen näher. Er war so viel schneller als ich. Er war der Gepard und ich die Gazelle. Als er ganz dicht an mir dran war, duckte ich mich und schlug einen Haken und er schoss an mir vorbei. Ich hatte vielleicht eine halbe Sekunde gewonnen und rannte weiter, immer wieder die Richtung ändernd. Ab und zu sprang ich gegen einen Baum, um mich abzustoßen und die Richtung noch effektiver verändern zu können. Ich versuchte auch die Flucht über die Äste der Bäume, doch mein Jäger war ein viel geschickterer Kletterer als ich und holte rasend schnell auf. Also flüchtete ich am Boden weiter, immer noch Haken schlagend.

Dann spürte ich plötzlich eine Berührung an meiner Hüfte. Er bekam mich nicht richtig zu fassen, aber es reichte aus, um mich kurz aus dem Tritt zu bringen und dann war es um mich geschehen. Noch bevor ich die Kontrolle über meine Beine wieder erlangen konnte, war er bei mir, packte mich und drückte mich mit dem Rücken gegen einen Baum. Schneeschwaden fielen herab. Sein drängender Atem traf auf mein Gesicht und berauschte mich. Unsere Blicke trafen sich.

Seine Augen waren die eines Raubtiers, das seine Beute in die Enge getrieben hatte. Ein tiefes Grollen quoll aus seiner Brust. Ich war gefangen, hatte keine Fluchtmöglichkeit mehr … und ich genoss es. Mein Körper bebte unter den schnellen Atemzügen. Ich knurrte ihn an und erzitterte. Meine Knie wurden weich, doch das spielte keine Rolle. Er verstärkte seinen Griff und riss mich plötzlich herum. Noch eher ich wusste, wie er das gemacht hatte, lagen wir nackt auf dem schneebedeckten Waldboden in einem leidenschaftlichen Kuss vereint. Ich hörte noch, wie Stofffetzen leise raschelnd zu Boden fielen, doch nahm ich das nur undeutlich wahr, denn seine Liebkosungen verhinderten, dass ich meine Sinne auf irgend etwas Anderes ausrichten konnte, als auf ihn.

Seine Lippen glitten über meine Wange, den Hals hinab, zu meinem Nacken. Ich spürte das leichte Ritzen auf meiner Haut, das seine Zähne verursachten und spürte die kleinen Bisse, mit denen er seinen Weg markierte. Das war nicht der sanfte, zärtliche und übertrieben vorsichtige Liebhaber den ich kannte. Er war wild, fordernd, begierig und raubte mir den Verstand. Für einen Augenblick befürchtete ich, dass seine Zähne bleibende Spuren hinterlassen würde, wenn sein Gift dünne Linien und kleine Punkte in meine Haut brennen würde, die mich dann auf ewig an dieses unbeschreibliche Erlebnis erinnern würden. Wieder durchzuckte mich ein kribbelnder Schauer. Ich schluckte, doch es schmeckte anders als sonst, anders, als wenn ich jagte. Mein Mund war nicht trocken, doch da war trotzdem kein leichtes Brennen in der Kehle beim Schlucken. Konnte das sein? Konnte mein Körper tatsächlich zwischen einer echten Bedrohung und dieser fordernden Liebkosung unterscheiden? Versagte er mir mein Gift, damit ich meinen Liebsten nicht versehentlich verletzte?

Ich musste es wissen. Musste seinen Kuss schmecken. Ihn überprüfen, ob es bei ihm genauso war, doch er ließ mir keine Chance, ihn zu mir nach oben zu ziehen. Er hielt meine Arme fest, fixierte mich am Boden, während seine Lippen und Zähne meinen Körper erforschten. Noch ein mal. Ein letztes Mal, kämpfte ich verzweifelt gegen meine überwältigenden Emotionen an und konzentrierte mich darauf, meinen Schild wegzudrücken und “bitte küss mich” zu denken.

Hatte es funktioniert? Hatte er mich gehört? Ich wusste es nicht und war atemlos und unfähig zu sprechen. Seine Lippen, die sich dann auf meine pressten, gaben mir schließlich die Antwort, die ich ersehnt hatte. Ich schmeckte ihn, schmeckte das unnachahmliche Aroma meines Edwards. Ich vergaß kurz den Grund, warum ich diesen Kuss haben wollte, erinnerte mich dann aber wieder. Es war wie bei mir. Kein Gift war zu schmecken. Ich verspürte eine Mischung aus leichter Enttäuschung und großer Erleichterung. Enttäuschung darüber, dass das Spiel doch nicht so gefährlich war, wie ich vermutete und große Erleichterung, weil es jetzt keinen Grund mehr gab, mich zurückzuhalten.

Ich war seine Beute und wollte es auch sein. Ich gehörte ihm voll und ganz, ergab mich und wurde von einer Welle des Glücks überrollt.


Ich wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war, doch nun lag ich in seinem Arm an seiner Seite, noch immer überwältigt von dem gerade Erlebten. Als ich noch ein Mensch war, hätte ich mich nicht als prüde bezeichnet. Unerfahren, ja natürlich, aber prüde? Ich hatte meine Phantasien, doch so etwas wie eben hätte ich mir nie träumen lassen. Aus der Erinnerung heraus wollte ich ihn necken und ihn noch mal anknurren, doch das, was da aus meiner Kehle kam, war eindeutig ein Schnurren. Ich musste über mich selbst schmunzeln. Jetzt war ich definitiv ein gezähmtes und kein wütendes Kätzchen mehr. Ich lag da, eng an meinen Jäger gekuschelt und schnurrte zufrieden.

Mein Blick schweifte herum. Ich bemerkte dass unser Liebesspiel für den Wald nicht ohne Folgen geblieben war. Ein kleinerer Baum lag entwurzelt auf dem Boden. Bei einem größeren fehlten Teile der Rinde und er hatte eine tiefe Kerbe im Holz. Er sah aus, als hätte er einen Zusammenstoß mit einem Bulldozer gehabt, nur dass es hier viel zu eng für einen Bulldozer war. Jetzt erst verstand ich so richtig Emmetts Anspielungen darauf, das unser Häuschen ja noch immer stehen würde.

Vereinzelt entdeckte ich kleinere Stofffetzen herumliegen - die wohl von den Überresten unsere Kleider stammten - und hoffte inständig, dass es wenigstens ein halbwegs anziehbarer Teil überlebt haben möge. Für die Zukunft würde ich wohl besser ein Köfferchen mit Reservekleidung im Auto deponieren.

Bei dem Gedanken, dass dies kein einmaliges Erlebnis gewesen sein könnte, dass wir so etwas immer wieder erleben dürften, gab ich ein weiteres wohliges Schnurren von mir.

»Bist du glücklich?«, fragte mich Edward plötzlich.

Es war mir, als hätte ich seine wohlklingende Stimme seit einer Ewigkeit nicht mehr gehört. Sofort zog sie mich in ihren Bann, wie sie meine Ohren umspielte und mein Trommelfell streichelte. Es gab hier und jetzt nichts wichtigeres, als den Klang seiner Stimme.

»Hört man das denn nicht?«, antwortete ich keck in Anspielung auf mein Schnurren.

Er seufzte zufrieden und zog mich enger an sich heran. Obwohl unsere Körper vermutlich inzwischen die gleiche Temperatur wie der schneebedeckte Waldboden hatten, auf dem wir lagen, fühlte sich seine Brust für mich warm an. Ich war sicher und geborgen, frei und unendlich glücklich.

»War es für dich genauso … berauschend … wie für mich?«, fragte er nach einer Weile nach.

Die Frage war ebenso einfach wie schwierig zu beantworten. Natürlich war es der Hammer gewesen. Am liebsten hätte ich gesagt, dass es richtig “geil” war, aber dieser Spaß hätte vermutlich die Stimmung verändert und das wollte ich nicht. Auf der anderen Seite konnte ich ihm diese Frage aber unmöglich beantworten. Woher sollte ich denn wissen, wie es für ihn war? Er war der Jäger, ich war die Beute. Es konnte nicht für beide genau das selbe Vergnügen gewesen sein, aber vermutlich doch die gleiche Intensität gehabt haben.

Er bezeichnete es als “berauschend”. Das war es zweifellos gewesen, obwohl ich mir nicht sicher war, dass dieses Wort den erlebten Gefühlen wirklich ausreichend Ausdruck verschaffte. Ging es ihm wirklich darum, ob wir das Gleiche empfunden hatten? Oder wollte er vielleicht nur wissen, ob ich dieses Spiel noch mal spielen wollte?

Ich richtete mich auf, um in seine Augen sehen zu können.

»Lass es mich mal so sagen…«, begann ich, um ihn noch ein wenig auf die Folter zu spannen.
Obwohl er versuchte gelassen zu wirken, konnte ich deutlich die Ungeduld und eine Spur von Unsicherheit in seinem Gesicht erkennen.
»… ich habe beschlossen, dass ich ab sofort vorsorglich immer einen Koffer mit Ersatzkleidung mit auf unsere Jagdausflüge nehmen werde.«

Dabei lächelte ich ihn so verführerisch an, wie ich nur konnte. Es dauerte zwei Sekunden, bis er die Bedeutung meiner Worte richtig gedeutet hatte und dann richtete auch er sich schnell auf, aber nur, um mich wieder unter sich zu begraben und zu liebkosen.


Gegen Abend dann streiften wir uns zumindest noch die größten Kleiderfetzen über - die hier und da nur durch entsprechende Knoten an ihrem Platz blieben - richteten noch den armen entwurzelten Baum wieder auf und machten uns auf den Heimweg.

Dort angekommen überprüfte Edward kurz ob “die Luft rein wäre” und wir rannten leise lachend in unser Haus, um uns schnell umzuziehen, obwohl Edward meinte, dass an meinem derzeitigen Outfit wirklich nichts auszusetzen wäre. Ein paar leidenschaftliche Küsse später gingen wir dann endgültig zu den anderen.


»Da seid ihr ja endlich!«, rief uns Rosalie entgegen.
Ich erschrak. War etwas passiert, als wir uns auf der Jagd vergnügten?
»Ist was mit Renesmee? Warum habt ihr uns nicht angerufen?«
»He, ganz ruhig kleine Schwester«, neckte mich Rose. »Unserer Kleinen geht es bestens. Jacob bringt sie bald nach Hause. Kannst du dir vorstellen, dass er meinen Napf als Andenken haben wollte?«
Sie schüttelte grinsend den Kopf.
»Rosalie! Warum dann dieses “Da seid ihr ja endlich!”«, sagte ich leicht gereizt.
»Jetzt beruhige dich doch. Es ist nur weil Jasper und Alice ins Kino gegangen sind und da haben sich Carlisle und Esme spontan entschlossen, nach Seattle in die Oper zu fahren. Sie brauchen wohl ein bisschen Kultur, nach dem ganzen Gitarrengeklimper (sie kicherte) und da wollte ich auch gerne mal mit Emmett wieder ausgehen und deshalb warten wir auf euch. Damit jemand zu Hause ist, wenn Jacob Renesmee zurück bringt.«
»Oh man, Rose. Deswegen jagst du mir so einen Schrecken ein?«
»Ich habe doch gar nichts gemacht? Ich war nur ein bisschen ungeduldig. Was kann ich denn dafür, dass du gleich immer vom Schlimmsten ausgehst. Du passt echt gut zu deinem Edward, weißt du das?«

Sie grinste mich so breit an, dass auch mein Anflug von Ärger schnell verrauchte.

»Übrigen«, wollte sie noch wissen, »warum habt ihr euch denn umgezogen? Als ihr aufgebrochen seid, hattet ihr noch etwas Anderes an.«

Sie grinste noch breiter und Emmett, der ebenfalls breit grinsend hinter ihr stand, hatte sich schon eine Antwort zurecht gelegt. Ich konnte sie mir gut vorstellen und das Schlimmste war, er lag goldrichtig, aber das wollte ich die beiden auf keinen Fall wissen lassen.

»Die sind schmutzig geworden«, log ich, obwohl es keine ganze Lüge war.

Die Fetzen, die wir uns umgebunden hatten, waren schließlich wirklich schmutzig. Bei dem Gedanken musste ich grinsen und offenbarte dadurch meine schlechte, halbe Lüge.

»Na wenn das so ist«, meinte Emmett, »dann solltet ihr sie das nächste Mal vielleicht lieber vorher ausziehen.«
»Lass gut sein Em«, sagte Edward grinsend.

Spätestens jetzt musste ihnen klar sein, dass ich nicht die ganze Wahrheit verraten hatte und auch nicht verraten würde. Sie ließen es - Gott sei dank - darauf beruhen und gingen grinsend Arm in Arm aus dem Haus. Das Letzte das ich hörte war Emmett der zu Rosalie meinte:
»Ist das ein Fleck auf deiner Bluse?«

Kapitel 12 - Widerstand

»Renesmee? Möchtest du heute Eier zum Frühstück?«
»Ja, Rührei wäre schön, Momma. Ich komme gleich.«
“Also Rührei”, notierte ich in Esmes Ernährungskalender.

1. Februar. Es war der 15. Tag ihrer Umstellung auf menschliche Nahrung. Seit zwei Wochen hatte sie kein Blut mehr getrunken und es hatte ihr bisher nicht geschadet. Sie war fit und munter und ich deshalb sehr erleichtert. Sie schien sogar ihren Unterricht besonders ernst zu nehmen, um uns allen zu beweisen, dass der Blutverzicht ihre Leistungsfähigkeit nicht beeinträchtigte.

»Bin da Momma!«, rief sie fröhlich, als sie zur Küche herein kam und sich zu mir stellte.
»Dann schlag doch schon mal ein paar Eier auf.«

Schon kurz nach ihrer Umstellung wollte sie auch bei der Zubereitung dabei sein. Esme hatte das natürlich sofort aufgenommen und ihr kurzerhand “Hauswirtschaftsunterricht” auf den Stundenplan geschrieben. Sie bekam von ihr Unmengen an Tabellen und Beschreibungen der Nährwerte und Zubereitungsempfehlungen diverser Lebensmittel und Renesmee studierte sie eifrig. Dadurch wurde allerdings aus unserer stillen Beobachterin allmählich eine kritische Kontrolleurin. Esme und mir machte das nichts aus. Irgendwie gefiel es mir sogar, dass sie so akribisch ihre Ernährung mit plante. Rosalie allerdings verlor dadurch schnell das Interesse am Kochen. Sie konnte es überhaupt nicht leiden, wenn Renesmee sie kritisierte. Dann musste sie sich stark zusammenreißen, um nicht auszuflippen. Außerdem widerstrebte es ihr, etwas zu kochen, das dann auch von Jacob gegessen wurde, während Renesmee immer gerne mit ihm das Mittag- und Abendessen einnahm. Schließlich räumte Rose das Feld, um sich wieder “anderen Aufgaben” zu widmen. Ich weiß noch, wie ich dabei schmunzeln musste. Das war allerdings bevor mir klar wurde, dass ihre alternative Beschäftigung darin bestand, wieder an meinem Audi herumzubasteln. Der Gedanke daran ließ mich unweigerlich leise aufstöhnen.

»Hier Momma, sechs Eier sollten reichen.«

Wahnsinn, was mein kleiner Vielfraß verschlingen konnte. Sie futterte locker das Dreifache von dem, was ich früher gegessen hatte, aber Carlisle meinte, das wäre in Ordnung. Schließlich würde ihr Körper für die rasante Entwicklung sehr viel Energie benötigen. Er hatte sicherlich recht. Überhaupt lag er mit seiner unbekümmerten Einstellung zu ihrem Selbstversuch genau richtig und auch ich war nun unbesorgt.

»Riecht ganz gut, Momma.«

Renesmee griff mir an den Ellenbogen, um mir zu zeigen, was sie gerade gerochen hatte. Ein neuer Anwendungsbereich ihrer Gabe, der mir sehr gelegen kam. Ich hätte nicht gedacht, wie wichtig der Geruchs- und Geschmackssinn beim Kochen ist. Jetzt, da ich für sie kochte, wusste ich einfach nie wirklich, ob etwas fertig war, oder nicht. Ob vielleicht ein Gewürz fehlte, oder ob etwas vielleicht sogar verdorben war. Für mich roch das Essen immer unangenehm. So oder so. Ob roh, durch oder verbrannt. Es roch zwar immer anders, aber kein Geruch war für meine Vampirnase so, wie ich ihn aus meiner menschlichen Zeit in Erinnerung hatte. Ich musste alles nach seinem optischen Eindruck beurteilen, doch der konnte täuschen. Renesmees Wahrnehmung von Gerüchen und Geschmäckern war wiederum meiner früheren sehr ähnlich. Jetzt schnupperte sie am Essen oder probierte etwas zum Abschmecken und berührte mich dann, um mir genau das zu zeigen. Auf diese Weise merkte ich schnell, ob es so war, wie es sein sollte, oder nicht und sie lernte das bei der Gelegenheit gleich mit.

Ich schaufelte die Eier auf einen Teller und legte noch zwei Toasts dazu.
»Hier Schatz, lass es dir schmecken.«
»Danke Momma.«

Sie ging mit dem Teller und einer Gabel an den Esstisch. Das Frühstück nahm sie eigentlich immer alleine ein. Wobei “einnehmen” der Geschwindigkeit mit der sie aß, nicht gerecht wurde. Sie aß nicht nur viel, sondern auch wahnsinnig schnell.

»Bin fertig.«
»Schlinge doch nicht immer so. Hier isst dir mit Sicherheit niemand etwas weg.«
»Oh Momma, lass mich doch. Opa hat gesagt, das ist in Ordnung.«
Ich seufzte und begann die Küche aufzuräumen.
»Können wir jetzt zum Training gehen?«
»Gleich Schatz, gib mir eine Minute.«

Vampir-Geschwindigkeit war schon etwas Feines, aber einiges wie z.B. Abspülen konnte man nicht in vollem Tempo machen. Man muss dem Schwamm auch die Zeit lassen, sich mit Wasser voll zu saugen oder der Seife, den Schmutz abzulösen.

»Eine Minute? Ich gebe dir 40 Sekunden«, sagte sie grinsend.
»Sei nicht so ungeduldig«, erwiderte ich ebenfalls grinsen.
Ich schaffte es in 34 Sekunden.
»So, kann los gehen.«


Wir gingen wieder wie inzwischen jeden Morgen gleich nach dem Frühstück in den Übungsraum. Da mein kleiner Engel nun nicht mehr jagen gehen musste, hatten wir unseren Tagesablauf etwas abgeändert. Edward wartete wie immer vor der Tür auf uns, stets darauf bedachte, Renesmee zu überwachen, um im Notfall eingreifen zu können. Allerdings ist schon lange nichts Neues mehr im Übungsraum passiert. Woche für Woche immer das Selbe.

Kaum waren wir eingetreten, ging sie schon zielstrebig zu ihrem Platz, nahm das Buch zur Hand und begann dort weiter zu lesen, wo wir gestern aufgehört hatten. Ich bereitete wie üblich alles vor und setzt mich dann zu ihr. Wenn dann das Licht an der Wärmeplatte aus ging, übernahm ich das Vorlesen und zählte nebenbei die Sekunden. Noch immer wurden meine Sinne durch den Blutduft geschärft. Es war immer und überall so, wenn ich Blut oder Menschen riechen konnte. Im Grunde war es sehr nützlich, da ich so besser als normal mehrere Dinge gleichzeitig machen konnte.

Nach 15 Minuten zwinkerte ich ihr wie üblich zu und sie stand auf, um die Wärmeplatte auszuschalten und die Schüssel zur Spüle zu tragen. Seit Wochen blieb sie an dieser Stelle hängen. Es war immer das Selbe. Ich hatte inzwischen sogar angefangen die Sekunden zu zählen, die es dauerte, bis sie dann die Schüssel abstellte. Erstaunlicher Weise schwankte es nur um ein bis zwei Sekunden. Gleich würde es wieder so weit sein. Ich konnte es deutlich in ihrem Gesicht lesen.

“Drei, zwei, eins.”

Sie stellte die Schüssel ab und ging zu ihrem Platz. Ich lächelte ihr noch mal mit einer Mischung aus Mitleid und Aufmunterung zu und stand auf, um den Rest zu erledigen.

»Momma? Irgendwie tut sich da gar nichts«, sagte sie plötzlich enttäuscht.
»Aber Sternchen, du musst Geduld haben. Carlisle hat doch gesagt, dass es Monate dauern kann.«
»Ich weiß was Opa gesagt hat. Er hat eine Menge gesagt.«
Ihr Stimme war leicht genervt.
»Er hat auch gesagt, dass mein Durst vermutlich stärker wird.«
»Ja ich weiß, Schatz. Ist er denn stärker geworden?«
Sie schüttelte energisch den Kopf.
»Überhaupt nicht. Es ist alles genau so wie immer, nur mit dem Unterschied, dass mir jetzt bei dieser Übung auch noch ein bisschen übel wird und ich ansonsten ständig auf die Toilette muss.«

Die Toilettengänge waren natürlich eine zwangsläufige Begleiterscheinung ihrer Ernährungsumstellung. Esme hatte deshalb schon nach zwei Tagen in unserem Häuschen einen separaten WC-Raum angebaut, den Renesmee von ihrem Zimmer aus erreichen konnte. Für uns war das natürlich nicht nötig. Unsere Körper verarbeiteten das Blut, das wir tranken, vollständig.

»Aber Liebling. Das mit dem “auf die Toilette gehen” wusstest du doch schon vorher. Menschliche Nahrung ist nun mal voll von Ballaststoffen und Wasser. Das muss halt alles wieder raus.«

»Ja, aber darum geht es doch gar nicht wirklich. Ich meine, es ist immer noch das Gleiche. Mein Durst hat sich kein bisschen verändert, obwohl ich seit zwei Wochen kein Blut mehr getrunken habe. Ich glaube langsam, das funktioniert nicht.«

Bei den letzten Worten klang sie sehr traurig und niedergeschlagen. Ich hatte mir schon gewünscht, dass sie Erfolg haben würde. Natürlich war es das Wichtigste für mich, dass es ihr nicht schadete, aber ich hatte mir für sie auch erhofft, dass es klappte.

»Schatz, lass den Kopf nicht hängen. Es kann doch sein, dass es wirklich ein paar Monate dauert. Willst du wirklich schon vorher aufgeben?«

Sie blickte mich missmutig an und dachte kurz nach.

»Wenn ich glauben könnte, dass es etwas bringt, dann würde ich sicherlich nicht aufgeben. Aber so? Ich meine, das menschliche Essen ist schon akzeptabel, aber ein Wapiti schmeckt so viel besser. Und außerdem vermisse ich das Jagen. Jetzt versucht mein Mittagessen ja noch nicht einmal mehr, vor mir wegzulaufen.«

Ich musste kurz schmunzeln bei der Vorstellung, wie es wohl wäre, wenn ein Teller Spaghetti auf der Flucht vor Renesmee um den Tisch hüpfen würde. Ihr war aber gar nicht nach lachen zumute und sie sah mich missmutig an und leicht strafen an.

»Ich verstehe es ja, Renesmee, aber du solltest wirklich noch nicht aufhören. Sieh es doch wenigstens als Übung für später an.«
Sie warf mir einen prüfenden Blick zu.
»Wie meinst du das, Momma?«
»Na ja, wenn sich deine Wachstumsgeschwindigkeit so in etwa 4-5 Jahren soweit verringert hat, dass du fast so ähnlich wie Menschen alterst, dann könntest du ja vielleicht eine Schule besuchen.«

Kaum, dass ich das gesagt hatte, konnte ich in ihren Augen ein leichtes Glitzern erkennen. Der Gedanken schien ihr zu gefallen.

»Echt? Du meinst, ich kann schon in 4 Jahren auf eine Schule gehen? Ich dachte, ich muss noch 6 Jahre warten, eben bis ich ausgewachsen bin?«

»Ich glaube schon, dass das 1-2 Jahre früher geht, aber versprechen kann ich dir das natürlich nicht. Wenn Carlisle recht hat, dann solltest du bis dahin mindestens wie 14 aussehen. Wir könnten dich ja als knappe 15 ausgeben und du würdest vermutlich nicht besonders auffallen. Außer natürlich dadurch, dass du viel schlauer und hübscher und stärker bist als die Andern. Du musst natürlich auch deinen Durst gut unter Kontrolle haben, aber wenn es soweit ist, wäre es dann nicht toll, wenn du als Einzige von uns bei deinen Klassenkameraden sitzen könntest, um mit ihnen zusammen zu essen? Das wäre perfekt für dein Tarnung.«

Sie lächelte. Ein echtes überzeugendes Lächeln breitete sich auf ihrem Gesicht aus und die Vorfreude war überdeutlich.

»o.k. Momma, wenn ich das jetzt durchhalten kann, dann auch in 4 Jahren. Ich mache weiter.«

Hoffentlich war das eine gute Entscheidung. Ich wollte wirklich, dass sie weiter machte, alleine schon deshalb, weil es vielleicht wirklich Monate dauern könnte, bis sich etwas änderte, aber sie würde meinen Köder sicherlich nicht vergessen. In spätestens 4 Jahren, 4 ½ Jahre allerspätestens, würde sie erwarten, zur Schule gehen zu dürfen. Auch jetzt schon hätte sie sicherlich gerne ein paar Freunde in ihrem Alter, aber das war ausgeschlossen. Was sollte sie denn jetzt in der Schule? Sie konnte lesen, schreiben, rechnen und das alles bereits auf einem Niveau, das viele Erstklässler vermutlich nicht in ihrem ganzen Leben erreichen würden. Sie verstand Literatur, von der andere noch nie etwas gehört hatten. Und sie wuchs noch so schnell, dass sie schon nach wenigen Wochen extrem auffallen würde. Nein, jetzt war das weder möglich noch sinnvoll, aber in 4-5 Jahren würde ich ihr diesen Weg ermöglichen wollen.

Ich räumte die Trainingsutensilien weg und dann gingen wir wieder hinaus. Edward lächelte mich an.

»Das war eine nette Idee, Liebste, die du da hattest. Gefällt mir.«

Oh ich war schwer erleichtert. Wenn mein besorgter Edward es sogar für möglich hielt, dass sie in 4 Jahren zur Schule gehen könnte, dann war es definitiv schon so gut wie sicher. Ich reckte mich zu ihm hoch, um ihm einen Kuss auf die Wange zu geben. Mmh, wie gut er wieder roch. Warum nur war sein Geruch immer so anziehend? Ich knurrte ihm leise ins Ohr und zwickte ihm kurz mit den Zähnen am Ohrläppchen, doch noch bevor ich zur Seite hüpfen konnte, hatte er mir schon einen Klaps auf den Hintern gegeben. Er war einfach so unfassbar schnell und sein Blick dabei, so raubtiermäßig. Sofort spürte ich wieder dieses wunderbare Kribbeln, aber ich konnte dem jetzt nicht nachgeben. Erstens stand Renesmee grinsend neben uns und Zweitens … hatte ich Zweitens vergessen … aber es ging trotzdem nicht. Ich drückte meinen Schild weg, dachte “ich freue mich schon auf unsere nächste Jagd”, atmete tief durch und ging dann mit Renesmee zum Duschen und Umziehen.

»Momma? Glaubst du, ich werde später auch mal so jemanden haben?«
»So jemanden?«
»Na ja«, druckste sie herum, »so wie du Daddy hast.«
»Oh … das hoffe ich doch Liebling.«
»Ob es bei mir dann genau so ist?«

Oh je, in welche Richtung entwickelte sich denn jetzt dieses Gespräch?

»Ach weißt du, Sternchen. Genauso wird es wohl nicht sein, aber vielleicht ähnlich. Schau mal. Alice hat ihren Jasper und Rosalie Emmett und Esme hat Carlisle. Bei allen ist es ein bisschen anders, aber alle sind glücklich, so wie es bei ihnen ist.«

Sie wirkte sehr nachdenklich. Ich hoffte inständig, dass sie mit dieser Antwort zufrieden war.

»Momma? Warum hat dann Jacob niemanden?«

Nein! Nicht das. Warum musste sie mir ausgerechnet diese Frage stellen? Was sollte ich ihr nur darauf antworten? “Wieso, er hat doch dich”, konnte ich nicht sagen und “er hat sie vielleicht noch nicht gefunden”, wäre gelogen.

»Da bin ich mir nicht sicher, Schatz. Die Liebe geht manchmal merkwürdige Wege und bei Daddy hat es ja auch fast 100 Jahre gedauert, bis er mich gefunden hatte.«

Hoffentlich merkte sie nicht, dass ich nur Ausflüchte machen konnte.

»Hm.«

Sie zuckte mit den Schultern, aber griff das Thema nicht mehr auf. Puh, da hatte ich ja noch mal Glück gehabt.


Als wir aus dem Badezimmer heraus kamen, grinste mich Edward breit an. Für diese Schadenfreude erntete er ein böses Funkeln von mir, was ihn nur noch breiter grinsen lies. Vermutlich sah er gerade mal wieder sein wütendes Kätzchen, das er nur zu gerne zähmen würde.

Wir gingen wieder ins Haupthaus und Renesmee verschwand gleich auf der Toilette.

Da bemerkte ich Alice’ Stimme.

»Ha! Das gibt es ja wohl nicht … Hey? Was ist jetzt los? … Da stimmt doch etwas nicht … was wollen die hier? … Noch mehr? … Carlisle!?«
Sie kam aus dem Zimmer heraus und rief noch mal »Carlisle!?«

Carlisle kam aus seinem Arbeitszimmer, wo er sich wohl gerade für seinen Dienst in der Klinik fertig gemacht hatte. Alarmiert von Alice’ rufen versammelte sich sofort die ganze Familie.

»Was ist los, Alice?«

Alice hatte schon wieder ihren “Visions-Blick”. Ich schaute zu Edward der ganz auf sie konzentriert war. Sein Mienenspiel war verwirrend und ich wurde nicht schlau daraus.

»Ich verstehe das nicht, Carlisle. Wir bekommen Besuch. Eine Menge Besuch.«
»Von wem?«, wollte Carlisle wissen.
»Ich kenne einige. Viele waren bei uns, als die Volturi hier waren. Einige der Zeugen. Aber auch Andere, die ich nicht kenne. Aber das Beste ist, der Erste, der zu uns kommen wird, ist dieser Dylan.«
»Was? Dieser Gerüchteverbreiter, den ihr in Calgary aufgespürt hattet?«, rief ich dazwischen und Alice nickte.
»Weißt du was er will, was die anderen wollen?«, fragte Carlisle.
Sie schüttelte mit dem Kopf.
»Ich sehe nur, dass sie kommen. Dass sie mit uns reden wollen.«
»Worüber denn?«, fragte ich mich eher selbst, aber ich hatte es laut ausgesprochen.
»Bella, so funktioniert meine Gabe nicht. Ich habe nur Video, kein Audio.«
Es klang unheimlich witzig, obwohl sie das eher genervt gesagt hatte und sicherlich keinen Scherz machen wollte.
»He, Struwwelkopf, vielleicht kann dir Rosy ja eine Stereoanlage einbauen?«

Dieser Scherz konnte natürlich nur von Emmett kommen und Rosalie kicherte leicht. Ich unterdrückte das Schmunzeln. Der Zeitpunkt war einfach ungünstig. Die ganze Sache war etwas besorgniserregend.

»Das ist nicht witzig!«, fauchte Alice Emmett an und der ließ es ausnahmsweise gut sein.
»Alice.«, übernahm Carlisle wieder das Wort und seine bestimmende Art ließ wieder alle zum Ernst des Themas zurückkehren. »Wann kommen sie denn?«
»Also Dylan kommt in drei Tagen. Definitiv. Er wird zuerst zu den Denalis gehen. Ich glaube, er will Garrett mitbringen, aber das ist noch nicht entschieden. Er kommt aber zu uns. So oder so.«
»Und die Anderen?«
»Nach und nach. Wir werden in den nächsten sechs Wochen eine Menge Besuch erhalten.«

Was hatte das zu bedeuten? Was könnte diesen Dylan, der sicherlich schreckliche Angst vor uns haben musste, dazu bringen, mit uns reden zu wollen? Es musste etwas sehr Wichtiges sein. Ob diese Intrigantin dahinter steckte?

»Alice?«, fragte ich, »kann es sein, dass unsere Unbekannte dahinter steckt? Hat er sie vielleicht doch getroffen?«
Sie zuckte mit den Schultern.
»Ich habe sie nicht gesehen. Weder damals, als ich seine Zukunft überprüft hatte, noch jetzt, da er hierher kommen wird. Sie taucht nicht auf. Es ist zum Haare ausreißen … wage es nicht Emmett!«

Noch bevor er einen Scherz zu diesem Punkt anbringen konnte, verwies sie ihn sofort in seine Schranken. Er grinste, sagte aber lieber doch nichts.

»Also wenn er und die anderen kommen wollen, um mit uns zu reden, dann werden wir sie willkommen heißen«, sagte Esme die damit natürlich die aus ihrer Sicht einzige Option auf den Punkt brachte.

Etwas Anderes kam jetzt ohnehin nicht in Frage. Er und die anderen würden kommen, um mit uns zu reden und dann würden wir wissen, was los war. Carlisle sah es wohl genauso, lächelte Esme an und gab ihr einen zärtlichen Kuss auf die Wange.

»Darling? Würdest du Garrett bitte Bescheid geben, dass Dylan bei ihm auftauchen wird? Er soll nicht völlig unvorbereitet sein.«
»Das mache ich doch gerne«, gab sie ihm zur Antwort.
»Und du Bella«, wandte sich Carlisle noch an mich, »informiere doch bitte Jacob, damit er sich mit Sam abstimmen kann. Sie müssen wissen, dass einige Vampire hierher kommen werden und mit uns reden wollen. Ich hoffe sehr, dass wir Zwischenfälle vermeiden können. So lange wir nichts anderes wissen, würde ich sie gerne als Freunde sehen.«
Ich nickte zur Bestätigung.


Carlisle verließ das Haus und machte sich auf den Weg in die Klinik und Esme schnappte sich das Telefon. Alice ging in ihr Zimmer und widmete sich wieder ihren Visionen und Jasper begleitete sie. Dann kam auch Renesmee von der Toilette. Sie hatte von dem Ganze wohl nur wenig mitbekommen und ging zu Rosalie, da nun Kunstgeschichte auf dem Lehrplan stand. Emmett kam zu Edward und mir.

»Was haltet ihr davon?«
»Sehr merkwürdig«, antwortete Edward. »Ihre Visionen sind eindeutig. Es kommen bestimmt zwei Dutzend Vampire zu uns. Einige einzeln. Die meisten in Zweier- oder Dreiergruppen. Wie eine lang gezogene Prozession. Verteilt über sechs Wochen. Ich werde daraus nicht schlau. Ein Angriff kann das unmöglich sein.«
»Dann können wir wirklich nichts tun, außer abwarten«, seufzte ich.

Emmett zuckte mit den Schultern und machte ein mürrisches Gesicht. Warten gehörte definitiv nicht zu seinen Stärken.


Ich setzte mich vor den Fernseher und zappte durch die Nachrichtenkanäle, in der Hoffnung, vielleicht irgendetwas aufzuschnappen, das darauf hin deuten könnte, was da vor sich ging, doch es gab nichts. Schließlich versuchte ich mich etwas mit Klavierspielen abzulenken.

Gegen Mittag dann kam Jacob wie inzwischen üblich zum Mittagessen vorbei. Ich mochte den Essensgeruch nicht, wie eigentlich alle von uns. Zu den Mahlzeiten, beziehungsweise ab dem Zeitpunkt, da der Geruch deutlich aus der Küche kam, leerte sich der Wohnbereich fast wie von selbst. Es spielte auch keine Rolle ob ich selbst kochte oder nicht. Natürlich war es auszuhalten. Es war einfach nur unangenehm.

Jacob aß mit Renesmee eine Riesenportion Schmorbraten. Er konnte definitiv genauso viel futtern wie sie. Beim Mittagessen, ließ sich Renesmee mehr Zeit mit dem Essen. Sie unterhielt sich dabei mit Jacob, meisten über den Unterricht, den sie gerade hatte und er hörte sich alles interessiert an.

Danach folgte der übliche Gitarrenunterricht, für mich normalerweise das Zeichen, einen Spaziergang zu machen oder mir sonst etwas zu suchen, das ich draußen tun konnte, wenn mich nicht der Essensgeruch schon vorher vertrieben hatte. Ich hatte sogar schon damit angefangen, Rosalie beim Auto-Basteln zuzusehen. Das erinnerte mich an meine frühere Zeit bei Jacob. Ich fragte mich, ob die beiden sich vielleicht besser verstehen würden, wenn sie zusammen an meinem Audi herumschrauben würden.

Diesmal schnappte ich mir jedoch Jacob, der mir nur widerwillig nach draußen folgte. Dort informierte ich ihn dann über unsere Besucher und bat ihn inständig, sich sofort mit Sam abzustimmen, damit sich die beiden Rudel bestmöglich auf diese Situation einstellen konnten. Er wollte das zwar auf später verschieben und wieder zu Nessie gehen, aber ich bestand darauf, dass er es sofort machte. Schließlich fügte er sich, verzog sich in den Wald und verwandelte sich. Er war bestimmt eine Stunde lang weg, bis er endlich zurück kam.

»Soweit ist alles geregelt, Bella. Immer zwei Gruppen, rund um die Uhr. Wenn wir auf sie stoßen, wird sich einer zurückverwandeln und eure Gäste entsprechend instruieren. “Keine Angriffe auf Menschen, direkt zu euch und dann direkt wieder hinaus aus unserem Revier.” Solange sie sich daran halten, werden wir ihnen nichts tun.«

Das war akzeptabel. Mir wäre zwar eine etwas weniger aggressive Vorgehensweise lieber gewesen, aber ich war den Wölfen dankbar, dass sie kooperativ waren. Das Letzte, das ich wollte, war, dass jemand zu Schaden kam.

Renesmee war mit ihrem Gitarrenunterricht fertig, ging noch mal schnell zur Toilette und dann mit Jacob zum Fitnesstest. Meine Kleine hatte wirklich ein straffes Pensum jeden Tag, doch sie beschwerte sich nie. Für sie war das einfach so. Es war normal.


Den Nachmittag verbrachte ich mit Alice auf dem Eis. Ich dachte mir, dass ihr eine kleine Ablenkung auch gut tun würde und hatte sie dazu überredet. Eigentlich hatte ich sie fast genötigt und mich beschwert, dass wir so wenig miteinander unternehmen würden. Schließlich gab sie nach. Mein Plan ging aber nicht so richtig auf. Als sie dann mitten in einer Pirouette plötzlich eine Vision hatte, knallte sie auf den Hintern, was das Eis unter ihr splittern ließ. Damit hatte sie die Lust dann vollkommen verloren und zog ein Miesepeter-Gesicht.

»Ach komm schon, Alice. Ich habe es doch nur gut gemeint. Ich dachte wirklich, dass dir ein bisschen Ablenkung gut tun würde.«
»Ja, ich weiß«, gab sie deprimiert zurück. »Das war auch nett von dir, aber heute bringt das nichts. Lass es gut sein, Bella. Ein andermal vielleicht.«
Sie setzte noch ein gequältes Lächeln auf und ging wieder.


Gegen Abend kamen dann Jacob und Renesmee wieder zurück und machten sich zusammen ihr Abendbrot. Danach verabschiedete sich Jacob und ich stellte mit Renesmee die Musik auf ihrem iPod neu zusammen. Neuerdings hörte sie gerne noch ein wenig Musik in ihrem Zimmer und las ein Buch dabei, bevor sie zu Bett ging. Inzwischen kam es auch häufiger vor, dass sie gar nicht mehr von uns zu Bett gebracht werden wollte. Sei meinte, dass sie ja wohl inzwischen groß genug sei, um das alleine machen zu können. Dann schickte sie uns noch einen Gute-Nacht-Gruß durch ihre vibrierende Hand und ging schon mal rüber. Mir gefiel das nicht wirklich. Ich vermisste schon jetzt unser Abend-Ritual, aber ich konnte sie dazu ja nicht zwingen. Ich würde mich wohl damit abfinden müssen.


Die Nacht war bei Edward und mir auch wieder hauptsächlich von Nachdenken und Reden geprägt. Er hatte sich mittlerweile auch besser im Griff, nicht auf meine gedachten Fragen zu antworten, wenn ich ihn zuhören ließ. Er sagte nur noch etwas, wenn er sich ganz sicher war, dass ich es auch hören wollte und das klappte ziemlich gut.


Die nächsten zwei Tage waren davon geprägt, dass wir auf den entscheidenden Besuch von Dylan warteten. Unser Tagesablauf war eher eine Pflichtbewältigung. Je näher der Termin rückte, desto weniger konnte ich mich mit irgendwelchen Beschäftigungen ablenken. Selbst eine E-Mail an meine Mom wollte mir nicht so recht von der Hand gehen und mit meinem Dad wollte ich mich lieber nicht treffen. Er hätte sicherlich bemerkt, dass mich etwas bedrückte und das hätte ihn nur belastet, weil ich ihm ja nichts darüber erzählen konnte.

Einmal stand ich kurz davor, in der Nacht einen Koller zu bekommen und bin dann kurzerhand zwei Stunden lang zwischen Olympia und Forks hin und her gerannt. Edward hatte das natürlich überhaupt nicht gefallen. Er wollte mich begleiten, doch ich wollte alleine sein und hatte ihn gebeten, bei Renesmee zu bleiben.

Inzwischen bekam ich eine richtige Wut auf diesen Dylan. Was bildete sich der Kerl überhaupt ein? Erst der Ärger mit seinem Angriff auf Dr. Kims Familie und dann das Gerücht, dass er verbreitet hatte. Der Typ machte uns nur Probleme und jetzt kam er auch noch zu uns und verdarb mir die gute Laune. Ich hoffte wirklich, um seinetwillen, dass er einen guten Grund hatte. So aggressiv hatte ich mich seit dem Kampf mit Brian nicht mehr gefühlt und ich mochte das ganz und gar nicht.


Schließlich gingen die Tage vorbei. Alice hatte inzwischen gesehen, dass er mit Garrett und Kate zu uns kommen würde. Heute Nachmittag würden sie ankommen.

Carlisle hatte früher Schluss gemacht, um rechtzeitig hier zu sein. Die Familie war im Wohnzimmer versammelt und wartete auf unsere Besucher. Jacob hatte ich gebeten, mit Renesmee bei den Quileute zu warten, bis die Sache geklärt war. Ich konnte mir zwar nicht vorstellen, dass der Kerl eine Gefahr werden könnte, aber ich wollte sie trotzdem lieber nicht in der Nähe wissen. Alleine die Vorstellung, dass es vielleicht hässlich werden könnte, wenn sie dabei war, missfiel mir außerordentlich.

Dann endlich war es soweit. Von draußen hörten wir die Schritte der Vampire, die offensichtlich von einer Wolfs-Eskorte begleitet wurden. Carlisle öffnete die Tür und ich konnte einen ersten Blick auf diesen Dylan werfen. Ich erkannte ihn sofort. Alice hatte sein Gesicht mit ihrer Zeichnung perfekt getroffen. Seine Statur wirkte eher unscheinbar. Er hatte aber etwas von einem Cowboy oder einem Holzfäller, trug Jeans, ein dickes kariertes Hemd und auf dem Kopf einen Westernhut. Die Haare waren braun, lockig und zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Sie dürften wohl etwas mehr als schulterlang sein. Seine blasse Haut und die roten Augen waren ein untrügliches Zeichen, dass er ein Vampir war. Allerdings hatten seine Augen ein größeres schwarzes Zentrum. Ich deutete dies als Zeichen, dass er sich schon länger nicht mehr genährt hatte. Seine Körperhaltung war unsicher und ängstlich. Er ging fast leicht gebückt und ließ die Schultern hängen. Als er dann Carlisle an der Tür bemerkte, zog er ruckartig den Hut vom Kopf und drückte ihn sich auf die Brust. Er verbeugte sich fast vor Carlisle, blieb aber wie angewurzelt stehen.

»Sie müssen Dylan sein«, begrüßte er den Besucher und wandte sich dann kurz zu den Wölfen. »Ich danke euch, meine Freunde, dass ihr unsere Gäste sicher zu uns geleitet habt.«

Es war eine Gruppe von Sams Rudel. Ich kannte sie nicht wirklich, glaubte aber Brady und Collin zu erkennen. Die beiden waren inzwischen definitiv nicht mehr die Jüngsten im Rudel. Ich bedauerte es sehr, wie viele Kinder der Quileute inzwischen das Fieber bekommen hatten.

»Kommen sie doch herein, Dylan.«
Er blickte unsicher auf Carlisle.
»Das ist sehr freundlich von ihnen, Mr. Cullen, Sir.«

Langsam und vorsichtig, offensichtlich sehr bedacht darauf, keine hektischen Bewegungen zu machen, kam er in das Haus und sah uns an. Als er Jasper bemerkte, schien er sich schon wieder zu verbeugen. Er musste wahnsinnige Angst vor ihm haben. Meine Wut verwandelte sich in Mitleid. Was konnte diesen ängstlichen Mann nur dazu gebracht haben, hierher zu uns zu kommen?

»Wollen Sie sich vielleicht setzen?«
Carlisle wies auf die Couch doch er schüttelte sofort den Kopf.
»Nein Danke, Sir, das ist nicht nötig. Wenn sie erlauben, würde ich lieber stehen bleiben.«
»Ganz wie sie wollen, Dylan.«

Inzwischen waren Garrett und Kate hereingekommen. Sie schienen von dem Schauspiel leicht amüsiert zu sein. Carlisle schloss die Tür hinter Dylan, der unweigerlich zusammenzuckte, als wäre ihm nun der einzige Fluchtweg versperrt.

Carlisle legte ihm die Hand auf die Schulter - was ein weiteres Zusammenzucken verursachte - und sprach ihn an.

»Nun Dylan, sie haben sicherlich einen guten Grund, dass sie uns aufgesucht haben. Vielleicht wäre es das Beste, wenn sie es einfach frei heraus sagen.«

Sein Blick war unverändert verängstigt und unsicher. Er dachte nach, was er sagen wollte. Allerdings sah er dabei nicht zu Edward. Er wusste wohl nichts von seiner Gabe, wusste nicht, dass seine Gedanken nicht sicher waren. Ich hätte ihn abschirmen können, doch ich sah keinen Grund dazu. Wir mussten alles über diesen Dylan und seine Beweggründe erfahren. Dann wandte er sich an Carlisle, wobei er ab und zu einen kurzen Blick auf Jasper warf.

»Bitte Sir. Sie müssen mir glauben. Ich hatte nichts damit zu tun. Ich würde den Fehler nicht ein zweites Mal machen. Ich bin gekommen, weil ich befürchtete, dass sie mich in Verdacht haben könnten, doch ich würde das nicht noch mal tun. Sie müssen mir glauben, Sir.«

Seine Worte waren so voller Angst, dass ich mir sicher war, dass er als Mensch gerade einen gewaltigen Schweißausbruch gehabt hätte.

»Natürlich glaube ich ihnen das, doch nun sollten sie sagen, weshalb sie gekommen sind.«

Er zögerte. Emmett, der seitlich von mir stand, schien allmählich die Geduld zu verlieren. Er ballte die Fäuste, so dass ich dachte, ich würde seinen Finger knacken hören. Dylan bemerkte es und nahm noch mal seinen ganzen Mut zusammen und sprach.

»Es ist so. Vor einigen Tagen begegnete ich einem alten Bekannten. Er fragte mich, ob ich schon das Neueste über die Cullens wüsste. Natürlich ging ich davon aus, dass er von meinen Gerüchten sprach und ich wollte ihm sofort sagen, dass das alles gelogen war, doch dann erzählte er mir etwas Anderes. Er sagte, dass sie, Sir und ihre Familie und die Denalis, zusammen eine Widerstandsbewegung gegen die Volturi gründen würden. Dass sie alle Vampire Amerikas aufrufen würden, sich dem Kampf anzuschließen. Für unsere Unabhängigkeit.«

»Das glaube ich ja nicht«, zischte es aus Rosalie heraus und ließ Dylan wieder mächtig zusammenzucken.

»Bitte Madam, bitte Sir, ich habe ihm natürlich gesagt, dass ich das nicht glaube und ihn gefragt, von wem er das Gerücht hat und er sagte mir, dass er es von einer ausländischen Frau gehört hatte, die nach eigenen Angaben für sie, Sir, Leute anwerben würde.«

Schweigen war im Raum. Alle dachten über die Bedeutung dieser Worte nach. Dann ergänzte Dylan noch:
»Ich habe ihn nach der Frau gefragt, wie sie aussah, was er über sie wusste, aber er sagte mir das Gleiche, was ich selbst über meine … ehemalige Auftraggeberin wusste. Ich bin mir sicher, dass sie es wieder war, Sir.«

Carlisle sah ihm tief in die Augen. Seine Autorität war deutlich zu spüren.

»Das ist alles sehr aufschlussreich. Ich danke ihnen, dass sie so offen zu uns waren. Gibt es vielleicht noch irgendetwas, dass sie vergessen haben, dass sie noch erwähnen möchten?«

Er dachte angestrengt nach und Carlisle blickte zu Edward. Auch ich sah ihn an. Sein Gesicht wirkte fast ein bisschen enttäuscht. Da waren wohl keine Geheimnisse mehr. Edwards schüttelte leicht mit dem Kopf.

»Nein, Sir, ich habe nichts vergessen. Ich habe ihnen alles gesagt. … Wenn sie erlauben, dann würde ich jetzt gerne wieder gehen.«
»Natürlich, Dylan, ich danke ihnen für ihren Besuch.«

Und dann ergänzte Alice noch mit einem leichten Lächeln:
»Das war wieder eine gute Entscheidung!«
Dylan lächelte erleichtert zurück und Carlisle öffnete ihm die Tür.

»Wenn ich sie noch um etwas bitten dürfte, Dylan?«
Er sah ihn fragend und erneut sehr unsicher an. Dann fuhr Carlisle fort.
»Ich wäre ihnen sehr verbunden, wenn sie im Umkreis von 100 Meilen nicht jagen würden.«
»Selbstverständlich Sir. Das ist überhaupt kein Problem. Ich werde ihnen keine Schwierigkeiten machen.«
»Gut, freut mich das zu hören.«
Danach wandte er sich an die Wölfe die am Waldrand warteten.
»Unser Gast möchte uns wieder verlassen. Würdet ihr ihn bitte sicher zur Grenze geleiten?«

Einer der Wölfe nickte ihm zu und lief voraus. Dylan folgte ihm. Dann waren sie auch schon schnell aus unserer Sichtweite verschwunden.


Carlisle kam wieder ins Haus. Wir alle dachten über die neuen Informationen nach. Was sollte das? Was versprach sich diese Person nur davon?

»Was willst du nun tun, Carlisle?«, durchbrach Garrett das Schweigen. »Willst du das Gerücht wahr werden lassen?«

Wie konnte er so etwas nur denken? Ich wusste, dass er zu Zeiten der französischen Revolution geboren wurde und ich erinnerte mich an seine Ansprache gegen die Machtgier der Volturi, aber er konnte doch nicht wirklich einen Krieg wollen? Ich blickte mich um. Wie ich befürchtet hatte, schien Emmett der Idee positiv gegenüber zu stehen. Bei Jasper war ich mir nicht sicher. Er war noch sehr nachdenklich und ich vermutete, dass er gerade unsere Siegeschancen kalkulierte. Die übrigen waren wohl nicht unbedingt dafür, warteten aber gespannt, was Carlisle dazu meinte.

»Garrett, das verstößt gegen all meine Prinzipien. Ich ziehe jeden friedlichen Kompromiss einer kämpferischen Auseinandersetzung vor.«

Garrett schien enttäuscht und auch Kate verzog das Gesicht. Ich konnte mir vorstellen, dass sie gerne eine Gelegenheit gehabt hätte, ihre Schwester Irina zu rächen. Vielleicht war sie auch deshalb mit Garrett hergekommen. Hatten sie ernsthaft geglaubt, dass Carlisle diesen Schritt gehen würde? Ich war jedenfalls sehr erleichtert, dass Carlisle das nicht in Erwägung zog.

»Aber was willst du denn dann machen?«, fragte Garrett nach. »Wenn die Volturi davon erfahren, werden sie kommen, um ihre Machtansprüche durchzusetzen. Das muss dir doch klar sein.«

Carlisle war nachdenklich, doch dann bat er uns alle, uns am Tisch zu versammeln. Als wir alles saßen, ergriff er das Wort.


»Meine lieben Kinder, liebe Freunde. Wir stehen vor schweren Entscheidungen. Wer auch immer sie ist, die um uns diese Intrige spinnt, jetzt ist es klar, dass sie einen Kampf zwischen uns und den Volturi provozieren will. Nur das Warum, bleibt ungelöst.«

»Und wie willst du jetzt den Kampf verhindern, Carlisle?«, fragte Edward. »Die Volturi werden davon erfahren, wenn sie es nicht schon wissen und vermutlich sind zwei Dutzend Vampire auf dem Weg hierher, um sich uns anzuschließen. Was sollen wir denen denn sagen?«

»Mein Sohn, unsere einzige Chance, einen Krieg zu vermeiden, besteht darin, die Volturi zu überzeugen, dass wir keinen Krieg wollen. Wir dürfen sie nicht so herausfordern. Vielleicht würden sich zwei Dutzend Vampire uns anschließen, aber wie viele würden sich den Volturi anschießen, wenn es zu einer offenen Auseinandersetzung käme? Es gibt sehr viele, die an der alten Ordnung festhalten wollen und noch mehr, die aus Angst oder der Hoffnung auf eine Belohnung so handeln würden. Das wäre eine Katastrophe. Egal wie es aus geht. Wir können nur verlieren.«

Damit gab sich Edward noch nicht zufrieden.

»Aber wie willst du sie denn überzeugen? Selbst wenn wir jedem Einzelnen der zu uns kommt die Wahrheit sagen und sie wieder weg schicken, wieso sollte Aro das glauben wollen? Jetzt könnte er wieder alle mobilisieren. Jetzt hat er den Beweis, dass wir eine Bedrohung sind.«

»Gerade deshalb müssen wir sie ja wegschicken, Edward. Er hat die Gerüchte, ja, aber er hat keine echten Beweise und die dürfen wir ihm nicht liefern.«

Wieder war bedächtiges Schweigen im Raum. Gab es denn überhaupt eine Lösung für dieses Problem? Carlisle ergriff erneut das Wort.

»Vielleicht … meine Familie … sollte ich zu Aro gehen und es ihm erklären.«
“Was?”, schoss es mir durch den Kopf. Das konnte er doch nicht machen, oder?

»AUF GAR KEINEN FALL, Carlisle!«
Jasper war aufgesprungen und stand kurz vor einem Wutausbruch, wie wir ihn vor nicht allzu langer Zeit erlebt hatten.
»Wenn du das tust, sind wir alle verloren.«
»Jasper, deine Sorge in allen Ehren, aber das ist die einzige Möglichkeit.«
»DAS IST KEINE MÖGLICHKEIT! Versteh’ doch. Er wartet doch nur darauf, dass du diesen Fehler machst. Wenn er dich in seiner Gewalt hat, wird er dich nicht mehr gehen lassen. Er kann es nicht. Du bist das Zentrum dieser Gerüchte. Du bist die Galionsfigur, um die man sich versammelt. Ohne dich brechen wir auseinander. Er wird dich als Druckmittel gegen uns einsetzen. Er wird versuchen, Alice und Bella in seine Dienste zu zwingen oder uns vernichten, wenn wir uns widersetzen. Selbst wenn wir es schaffen, uns zu verteidigen, hätte er durch dich das Wissen, wie er Alice’ Gabe umgehen kann. Er wird sich Alice und Bella holen. Das kann er nicht aufgeben. Wenn du das tust, vernichtest du uns alle. Wenn Alice und Bella flüchten, dann wird er die Wölfe vernichten. Er wird ein Exempel statuieren, das wie der Kampf gegen die Rumänen nie in Vergessenheit gerät.

Ich hatte Angst. Es war keine Angst, die von Jasper ausging. Es war meine eigene Angst. Jaspers Logik war überwältigend. Ich konnte es Carlisles Gesicht ansehen. Seine Hoffnung auf einen friedliche Lösung, die er durch sein Opfer zu erreichen gedachte, war verschwunden.

»Was sollen wir denn tun, Jasper?«, fragte ich ihn und er setzte sich wieder.
»Wir können gar nichts tun. Carlisle hat in dem Punkt recht. Wir dürfen Aro keine Beweise liefern. Wir müssen jeden der kommt zurückschicken und darum ersuchen, dass er allen von dieser Verschwörung erzählt und wir müssen versuchen, diese Frau ausfindig zu machen. Wenn wir sie haben, können wir vielleicht endlich das Geheimnis aufdecken. Dann bekommen wir vielleicht wirklich eine Chance auf einen dauerhaften Frieden.«
»Und wenn wir sie nicht finden?«, fragte Rosalie mürrisch.
»Dann müssen wir den Status Quo, so wie er ist, aufrechterhalten. Wenn Aro kommt, dann dürfen nur wir und die Denalis und die Wölfe vor ihm stehen. Kein anderer. Seine Zeugen müssen sehen, dass es keine Widerstandsarmee gibt. Dann hätten wir wieder die Chance, dass er sich zurückzieht. Das weiß er. Diese Blöße wird er sich nicht noch mal geben.«
»Aber dann können wir ja nie wieder weg von hier?«, meinte Rosalie mit einer entsetzten Stimme. »Sollen wir uns hier 100 Jahre lang in den Wälder verstecken?«
»Nicht zwangsläufig, Rosalie. Solange Alice’ Schwäche geheim bleibt, kann sie die Entscheidungen der Volturi überwachen. Dann werden wir immer die Chance haben, im Notfall zu den Wölfen zu flüchten, bzw. sie zu beschützen. Wir würden einen entsprechenden Pakt mit ihnen schließen müssen.«

Rosalie schnaubte. Das schien ihr genauso wenig zu gefallen. Auf die Wölfe angewiesen zu sein, oder sie beschützen zu müssen, war wohl für sie so oder so nicht akzeptabel. Ich fragte mich, ob sie uns vielleicht lieber mit Emmett verlassen würde. Sie gehörten nicht zu Aros Zielen. Sie könnten gehen und wo anders glücklich leben. Ich beschloss, ihr diesen Vorschlag bei Gelegenheit zu unterbreiten. Ich würde sie sehr vermissen, aber ihr Glück lag mir auch am Herzen.

»Jasper«, sprach ihn Carlisle plötzlich an, nachdem er nun eine ganze Weile geschwiegen hatte. »Du hast recht. Vollkommen recht. Wir müssen die Frau finden. Wir müssen jeden, den wir kennen, jeden, der zu uns kommt, bitten, diese Frau zu suchen und zu uns zu bringen.«
Jasper nickte zustimmend und wandte sich dann an Alice.
»Wirst du mit mir kommen? Wenn ich diese Frau suchen will?«
»Was ist das denn für eine Frage? Glaubst du, ich könnte dich alleine gehen lassen?«

Sie lächelten sich gegenseitig an und küssten sich. Es war glaube ich das erste Mal, dass ich die beiden sich so innig küssen sah. Es war so bewegend. Dieser harte Krieger und dieses zarte Mädchen, die sich liebevoll in die Augen sahen und keinen Zweifel an ihrer gegenseitigen Zuneigung aufkommen ließen.

»Und wir kommen mit euch«, beschloss Garrett, ohne Kate zu fragen, doch ihr Gesicht zeigte Zustimmung. »Wir waren schon einmal ein gutes Team. Wir werden es wieder sein.
»Bitte ihr vier«, sagte plötzlich Esme. »Ihr müsst uns auf dem Laufenden halten. Versprecht mir, dass ihr uns täglich anruft. Bitte.«
»Wie könnte ich meiner Mom so etwas abschlagen«, sagte Alice und ich konnte die Freude darüber in Esmes Gesicht lesen. Auch das war ein Novum. Zum ersten Mal hörte ich Alice “Mom” zu Esme sagen.

Wie beim letzten Mal, als eine Suchaktion beschlossen wurde, brachen die vier abermals sofort auf. Sie verabschiedeten sich von allen. Jeder wusste, dass es vermutlich sehr lange dauern würde, bis sie Erfolg hatten oder aufgeben mussten.

Später dann rief ich Jacob auf seinem Handy an und gab ihm Bescheid, dass er Renesmee jetzt zurückbringen konnte. Er aß mit ihr zu Abend und dann nahm ich ihn noch mal beiseite, um ihm von den heutigen Ereignissen zu berichten. Ich wollte, dass er es wusste. Ich würde ihm im Ernstfall noch einmal meine Renesmee anvertrauen und hoffen, dass er sich mit ihr in Sicherheit bringen könnte. Renesmee hätte keinen Nutzen für Aro, wenn ich sterben würde und dafür würde ich sorgen, bevor er sie benutzen konnte, um mich zu erpressen. Doch diese allzu düsteren Gedanken wollte ich jetzt nicht vertiefen. Noch hatte ich die kleine Hoffnung, dass Jaspers Plan aufgehen würde. Dass wir die Drahtzieherin dieser Verschwörung dingfest machen könnten, um damit vielleicht eine dauerhafte Lösung zu erreichen. Doch bis es soweit war, würden wir Geduld haben müssen. Sehr viel Geduld.


In der Nacht dann holten mich meine düsteren Gedanken doch wieder ein. Ich war besorgt und sehr beunruhigt. Wenn Aro die Volturi noch mal zu uns führte, dann würde er uns vernichten, dessen war ich mir sicher.

»Bella, bitte, lass mich an deinen Gedanken teilhaben.«

Edward war wie so häufig, wenn ich im Bett nachdachte, an meinen Rücken gekuschelt. Ich mochte es sehr, wenn er mich so mit seiner Liebe umfing, mir Sicherheit und Geborgenheit schenkte, doch heute funktionierte es nicht. Die Angst, die ich vor der Zukunft verspürte, konnte er heute nicht vertreiben. Für alles, was mir wichtig war, bestand große Gefahr. Sie war zum Greifen nah und der Hoffnungsschimmer war sehr blass.

»Meine Gedanken werden dir nicht gefallen Edward.«
»Mir gefällt auch nicht, dich so verstört zu sehen. Den Grund kann ich zwar vermuten, aber ich würde es lieber genau wissen. Du willst doch, dass ich nicht immer vom Schlimmsten ausgehe.«
»Edward, diesmal liegst du mit dem Schlimmsten vermutlich genau richtig.«
Er schwieg einen Moment, streichelte mir über den Kopf und küsste mir das Haar.
»Ich weiß, Liebste, ich möchte trotzdem teilhaben. Bitte.«

Ich seufzte, drückte den Schild weg und versuchte meine Gedanken zu ordnen. Wenn die Volturi jetzt kommen würden, noch bevor wir die Verschwörung ergründen konnten, was für Möglichkeiten hätten wir dann? Flucht? Könnten wir weglaufen? Demetri würde uns überall finden. Ich könnte vielleicht alle vor ihm abschirmen, aber sollte ich das auf Ewig machen können? Ein Fehler, eine kleine Unaufmerksamkeit und er könnte uns sofort orten und wir müssten weiter fliehen. Außerdem müssten alle rund um die Uhr in meiner Nähe bleiben. Das wäre kein Leben. Abgesehen davon, brauchten die Volturi vielleicht noch nicht einmal Demetris Gabe, um uns zu finden. Wenn wir die Gejagten wären, würden sich auch andere daran beteiligen, in der Hoffnung auf eine Belohnung oder das Wohlwollen der Volturi. Früher oder Später hätten sie uns. Das Schlimmste bei dem Flucht-Gedanken war aber, dass wir dann unsere Freunde, die Quileute, schutzlos zurücklassen müssten. Caius war voller Hass auf sie, weil er sie für Werwölfe hielt. Er würde nicht ruhen, bis alle ausgerottet wären. Nein, Flucht war keine Option.

»Da hast du vollkommen Recht, Liebste. Das sehe ich genauso.«

Wenn wir uns also den Volturi stellen würden, nur die Familie und die Wölfe. Welche Chance hätten wir dann? Ich wäre sicherlich ihr erstes Ziel. Solang ich Jane, Alec und Chelsea neutralisieren konnte, wäre ich eine zu große Gefahr für sie. Sie würden mich als Erste töten, doch das wäre schon in Ordnung. Vielleicht würde ich ja lange genug am Leben bleiben, damit einer oder vielleicht sogar mehrere, vor allem Jane, Alec, Chelsea und Demetri besiegt werden konnten. Jacob könnte mit Renesmee flüchten. Wenn ich tot wäre, hätte Aro keinen Grund mehr, Renesmee zu verfolgen. Vielleicht würde er auch ein paar andere verschonen, aber ich glaube nicht, dass er Edward verschonen würde.

»Ich würde das auch nicht wollen Bella. Ich würde liebend gerne mit dir in den Tod gehen, wenn ich Renesmee und Teile der Familie retten könnte, doch diese Möglichkeit existiert nicht. Jasper weiß das. Ich habe es in seinen Gedanken gelesen.«

Panik machte sich in mir breit. Ich verlor die Kontrolle über meinen Schild und er rauschte zurück.
»Was sagst du da, Edward? Wieso soll das nicht gehen? Es muss doch einen Weg geben, Renesmee zu retten.«
»Nicht wenn wir kämpfen müssen. Jasper erhofft sich, die Verschwörung aufdecken zu können, damit wir einen Kampf vermeiden können, aber wenn es jetzt zu einem Kampf käme, könntest du Renesmee nicht vorher wegschicken. Aro würde sie einfangen lassen und als Druckmittel benutzen. Er würde Jacob auf jeden Fall töten. Marcus würde sofort erkennen, dass Jacob unser Bindeglied zu den Wölfen ist und er ist auch ein Leitwolf. Es würde uns erheblich schwächen. Dann hätte er kampflos gewonnen. Du würdest dich ergeben, das weißt du. Niemals könntest du mit ansehen, wie Renesmee von Jane gefoltert wird. Wenn Renesmee aber bei uns bleibt und wir kämpfen, dann wirst du ihr erstes Ziel sein. Aber nicht, um dich zu töten. Aro will dich lebend. Wenn wir es nicht verhindern können, werden seine Wachen dich von uns wegreißen, damit du uns nicht mehr schützen kannst. Dann würde uns Alec die Sinne rauben und wir wären verloren. Egal wie, wenn du von uns oder Renesmee getrennt wirst, ist alles verloren.«

Nein! Nein, nein, nein, das durfte einfach nicht sein. Wieso? Wieso konnte ich meine Renesmee nicht in Sicherheit bringen? Sie nicht retten? Wieso durfte ich nicht sterben, um die anderen zu schützen? Ich müsste meine Tochter auf dem Schlachtfeld behalten und sie mit ansehen lassen, wie ihre Familie und ihre Freunde getötet würden?

Ich musste schluchzen, unaufhörlich schluchzen. Mein Leid war fast unerträglich. Ich kämpfte dagegen an, doch spürte ich, wie eine kalte Leere in meiner Brust wuchs. Warum nur? Warum hatte ich jetzt keine Tränen, die einen Teil der Schmerzen wegwaschen könnten? Warum nur konnte ich nicht bei all der Verzweiflung irgendwann in einen tiefen traumlosen Schlaf fallen, damit ich wenigstens für kurze Zeit meinen quälenden Gefühlen entgehen könnte? Bilder stiegen vor meinem inneren Auge hoch. Bilder, die Renesmee zeigten, wie sie inmitten zerfetzter Körper stand. Jacob lag da und Edward und Esme und Rosalie. Alle waren tot, zerrissen, verstümmelt. Nur sie stand da. Tränen liefen ihr Gesicht herab. Ich sah Jane, wie sie hinter ihr stand, die Hand auf ihrer Schulter, böse grinsend. Sie blickte mich an. Das war das Ende … das Ende meiner Welt. Ich konnte die Bilder nicht mehr aus meinem Kopf bekommen. Sie hatten sich gnadenlos eingebrannt. Da war keine Hoffnung mehr. Ich schluchzte unaufhörlich und der Schmerz wurde immer größer. Ich versuchte ihn zu verdrängen, doch das Loch in meiner Brust schwoll immer weiter an, biss es plötzlich zu explodieren schien. Es zerriss mich und hüllte mich in Dunkelheit. Ich fiel. Fiel immer tiefer in das schwarze Nichts und nahm nichts mehr wahr, spürte nichts mehr. War das meine Ende? War mein Leben jetzt vorbei? Ich hoffte es, denn dann hatte Aro keinen Grund mehr zu kommen. Also gab ich auf, dachte zum Abschied noch “Lebe wohl Edward. Pass auf unser Mädchen auf” und lies mich einfach in die Dunkelheit fallen, erlöst von dem Schmerz und dem Leid.

...

Ich trieb durch die Dunkelheit, unwissend ob es mehr ein Fallen oder Schweben war. Unwissend, wie lange es schon so war oder wie lange es noch andauern würde. Ich hatte mein Zeitgefühl verloren. Ich hatte alles verloren. Ich war im Nichts und das fühlte ich auch. “Nichts.”

Am Anfang, als ich in die Finsternis stürzte, da hatte ich den Eindruck, dass ich durchgerüttelt wurde. Ich schleuderte hin und her. Ob es der Luftwiderstand war, der mich trudeln ließ? Ich erinnerte mich auch an Stimmen. Ich konnte zwar nicht verstehen, was sie sagten, aber der Klang der Stimmen kam mir bekannt vor. Gesichter schwebten an mir vorbei, wenn ich sie hörte, doch drangen die Worte nicht zu mir durch. Ich war wie in Watte gepackt und je tiefer ich hinab glitt, desto weniger nahm ich wahr. Vielleicht war es auch nur der Wind, der an meinen Ohren vorbeirauschte.

Jetzt herrschte nur noch Stille und Dunkelheit. Zumindest die meiste Zeit, soweit ich das beurteilen konnte. Hin und wieder tauchten Bilder auf, bei denen ich nicht wusste, woher sie kamen. Bilder von einem Mädchen und einem Mann, die sich ähnlich sahen und mir so vertraut vorkamen. Sie standen am Rande der Finsternis und schienen auf mich zu warten. Ich wollte zu ihnen gelangen, doch wenn ich näher an sie heran kam, spürte ich wieder den Schmerz und die Verzweiflung. Es war so schrecklich und ich flüchtete immer sofort zurück in den Schutz der Dunkelheit. Dort gab es keinen Schmerz, keine Verzweiflung, aber auch nichts Anderes.

Die Bilder von dem hübschen Mädchen und dem liebevollen Mann kamen immer wieder. Sie waren das Einzige, das annähernd so etwas wie Zeitgefühl entstehen ließ. Sie kamen in einem sich immer wiederholenden Rhythmus. Ich hatte sie inzwischen vielleicht fünfzig mal gesehen.

Ich wollte so gerne zu ihnen. Es schien, als würden sie auf mich warten und kamen immer wieder in meine Nähe, doch blieben sie immer außerhalb der schützenden Finsternis. Ich wusste, dass es eine Verbindung zwischen ihnen und mir geben musste, doch ich wusste nicht, was es war. In der Dunkelheit fühlte ich einfach nichts. Da war nur der Wunsch, bei ihnen zu sein, doch ich fürchtete das Leid, dass mir widerfahren würde, wenn ich mich zu weit heraus wagte. Doch konnte es wirklich sein, dass dort nur Leid auf mich wartete? Das glaubte ich nicht. Warum sollte ich mich denn so zu ihnen hingezogen fühlen, wenn es da nur Leid gab? Ich war mir sicher, dass mehr dahinter stecken musste. Etwas, das wertvoll war, dass das Leid wert war. Daher beschloss ich, dass ich es einfach versuchen musste, dass ich den Schmerz und die Verzweiflung überwinden musste, um mehr zu erfahren.

Die Bilder tauchten wieder auf. Diesmal wollte ich es unbedingt wagen. Sie zogen mich so magisch an. Ich schwebte auf sie zu, trieb langsam heraus aus der Schwärze, die mich umgab. Angst befiel mich. Etwas Schlimmes wartete auf mich, von dem ich nur wusste, dass es mich hierher getrieben hatte, doch ich wollte nicht mehr hier sein. Ich wollte bei ihnen sein und stellte mich der Angst und der Unsicherheit. Ich ließ meinen sicheren Zufluchtsort hinter mir, was mir großes Unbehagen bereitete. Die beiden zogen mich immer weiter heraus und ich wollte es geschehen lassen, egal wie weh es tat. Ich schwebte ihnen entgegen, doch konnte ich sie nicht erreichen. Warum nur wichen sie vor mir zurück? War es eine Falle? Wollten sie mich nur aus meinem Versteck herauslocken, um mich zu quälen? Verzweiflung machte sich wieder in mir breit und ich dachte daran, wieder in die Dunkelheit zurück zu flüchten.

Nein, das konnte nicht sein, da war nicht nur Hoffnungslosigkeit, da war auch große Zuneigung. Ich widerstand dem Drang, mich zurückzuziehen und ließ mich weiter aus der Finsternis heraus treiben.

»Gute Nacht, Momma.«

Wer hatte das gesagt? Ich hatte schon so lange keine Stimmen mehr gehört, doch diese schien so nahe zu sein. War es die Stimme des Mädchens? Ja, die Stimme war mir vertraut. Es musste das Mädchen sein, doch wem wünschte sie eine gute Nacht? Mir etwa? Wollte sie, dass ich zurück in die Nacht ging, die ich gerade versuchte hinter mir zu lassen? Hatte sie mich “Momma” genannt? War das der Grund, warum sie mir so vertraut war? Konnte das tatsächlich meine Tochter sein? Ich wusste es nicht. Ich hatte keine Erinnerungen mehr. Alles was hinter mir lag, war Dunkelheit. Doch was lag vor mir? Was lag hinter der Dunkelheit?

Die Stimme schien von den Bildern zu kommen und ich flog ihnen entgegen, doch sie verschwanden einfach.

“Nein, geht nicht weg, bitte bleibt”, dachte ich verzweifelt.

Wie lange würde ich warten müssen, bis sie zurück kamen? Oder könnte ich ihnen vielleicht folgen? Ich sah ein entferntes Licht, dort wo vorher das Mädchen und der Mann zu sehen waren. Was bedeutete das? Waren sie ins Licht gegangen? Sollte ich ihnen folgen? Ist das der Übergang in ein anderes Leben?

Ich näherte mich dem Licht. Langsam, unendlich langsam trieb ich darauf zu. Ich fürchtete mich vor dem, was mich hinter dem Licht erwarten würde und doch wollte ich sie unbedingt wieder sehen.

»Bella, komm zu mir zurück. Bitte Bella. Lass mich nicht alleine.«

Eine traurige Stimme drang durch das Licht zu mir. Auch diese Stimme kannte ich. Ihr Klang war so schön, obwohl er so traurig war. Es musste die Stimme des Mannes sein, der mir so vertraut war und zu dem ich mich so hingezogen fühlte. Ich wollte nicht, dass er traurig war. Er hatte nach einer Bella gerufen. War das mein Name? Ich musste es herausfinden und erfahren, warum er so traurig war. Musste sehen, ob ich ihm helfen konnte.

Als ich dem Licht ganz nahe war, nahm ich all meinen Mut zusammen und tauchte ein, ließ die Finsternis endgültig hinter mir. Dann wartete ich darauf, etwas sehen zu können.

Ich war wie geblendet. Mein Blick war trüb und verschwommen und ich konnte nichts erkennen. Mein ganzer Körper war plötzlich steif und ließ keine Bewegungen zu, doch spürte ich ein stechendes Kribbeln. Es war sehr unangenehm und fühlte sich an, als ob ein Bein oder ein Arm eingeschlafen war, doch hier war es mein ganzer Körper. Was war nur mit meinem Körper los, dass er sich so merkwürdig anfühlte und ich ihn nicht kontrollieren konnte und warum sahen meine Augen nichts?

Ich merkte, dass ich blinzelte. Meine Augen brannten von den vielen kleinen Nadelstichen.

»Bella? Bella hörst du mich?«

Da war sie wieder, die schöne, traurige Stimme, die ich jetzt deutlicher wahrnehmen konnte. Sie hatte sich ein wenig verändert und trug jetzt einem winzigen Hauch Hoffnung. Woher kam sie nur? Ich konnte einfach nichts erkennen.

»Verdammt! Verliere ich jetzt den Verstand? Du hast doch gerade geblinzelt, oder? Das habe ich mir doch nicht eingebildet. Bella? Hörst du mich? Komm bitte zu mir zurück.«

Panik lag in der Stimme, die mir so bekannt vorkam. Ich wusste plötzlich, dass er Edward hieß und dass er mich meinte.

“Ja ich höre dich, Edward”, wollte ich sagen, doch mein Mund bewegte sich nicht und meine Stimme blieb stumm.

Wo war er nur? Ich nahm nur den grauen Schleier vor meinen Augen wahr und blinzelte noch mal.

»Bella? Oh Gott Bella, Liebste, hörst du mich? Siehst du mich?«

Woher kam seine Stimme? Er musste doch ganz nah sein. Mein Blick war immer noch so trüb und ich blinzelte noch mal. Es wurde besser und ich konnte allmählich helle und dunkle Flecken erkennen.

»Bella! Oh bitte Bella, bitte, bitte, bitte, komm zu mir zurück.«

Hoffnung war in seiner Stimme jetzt ganz deutlich zu hören. Ein schönes Gefühl. Ich nahm es in mich auf und schob es in meine Brust. Es wärmte mich von innen und verstärkte das pieksende Kribbeln.

Schemenhafte Umrisse waren vor mir. Ich blinzelte noch mal. Endlich wurde mein Blick schärfer. Ja, da war Edward vor mir. Ich konnte ihn sehen, wollte ihn unbedingt anlächeln, doch mein Mund wollte mir nicht gehorchen. Nur ein leichtes, fast unmerkliches Zucken, das von unzähligen Stichen begleitet wurde, war an einem Mundwinkel aufgetreten.

»Ja Bella. Oh bitte komm zu dir. Ich bin hier!«
Seine Stimme war so aufgeregt. Ich hörte ein paar Klick-Geräusche und dann wieder seine Stimme.
»Carlisle? Bei Bella tut sich etwas. Bitte komm so schnell wie möglich nach Hause.«
Ein weiteres Klicken.

Ich blinzelte wieder und konnte sein Gesicht jetzt ganz deutlich sehen. Er wirkte schrecklich besorgt. Ich kannte dieses Gesicht so gut. Wie gerne hätte ich seine Wange gestreichelt, um seine Besorgnis zu zerstreuen, doch noch immer verweigerte mir mein prickelnder Körper den Gehorsam. Es gelang mir nur einen einzigen Finger minimal zu bewegen, was sofort eine Intensivierung der Stiche zur Folge hatte. Ich kam mir vor, als wäre ich ganz eng in Glaswolle eingewickelt.

Edward hatte die Bewegung meines Fingers wohl bemerkt und streckte seine Hand nach meiner aus. Sein fester Griff ließ das Stechen unerträglich schmerzhaft werden. “Au, nicht so grob”, dachte ich.

Es tat so weh. Er zog die Hand zu seinem Gesicht. Mein ganzer Arm fühlte sich an, als würde er von einem Schwarm Bienen angegriffen. Dann küsste er die Innenseite meines Handgelenks und legte meine Hand auf seine Wange. Als meine Hand und der Arm wieder zur Ruhe kamen, ließ das Pieksen etwas nach, jedoch fühlte sich meine Hand an, als würde sie auf einem Nadelkissen liegen. Aber jetzt spürte ich auch seine Haut unter meiner Hand und sah in seinem Gesicht Freude aufblitzen. Freude, die auch ich verspürte, jetzt da ich ihn berühren konnte. Ein weiteres schönes Gefühl, das ich zu der Hoffnung in meiner Brust legte. Noch mehr Wärme war in meinem Innern und fachte das Kribbeln noch stärker an.

Ich konnte ihn jetzt hören, sehen und auch fühlen. Wie gerne würde ich ihn auch noch riechen. Meine schwache Erinnerung sagte mir, dass sein Geruch sehr angenehm war, also versuchte ich einzuatmen. Meine Brust ließ nur eine minimale Bewegung zu. Gerade genug, um seinen Duft in mich aufzunehmen. Hmm ... Wie gut er roch. Meine Erinnerung hatte deutlich untertrieben. Dieser Honig-Flieder-Sonnenduft war unnachahmlich und wundervoll. Ich versuchte weiterzuatmen. Das stechende Prickeln breitete sich jetzt auch in meiner Lunge aus, doch obwohl es furchtbar schmerzte, war es mir das wert. Sein Geruch war so wunderbar. Nichts auf der Welt konnte besser riechen. Ich war so glücklich, dass ich den Geruch wahrnehmen durfte. Wieder ein schönes Gefühl, dass ich in meine Brust legte, um es mit der Hoffnung und der Freude sicher zu verwahren. Meine leichten Atembewegungen führten dazu, dass die Wärme in mir nun stärker durch meinen Körper pulsierte, wenn auch immer von den Nadelstichen begleitet.

»Ja, Bella, atme mein Schatz. Atme weiter. Hör ja nicht auf. Hörst du?«

“Ich habe es nicht vor”, wollte ich sagen, doch noch immer weigerte sich mein Mund zu sprechen.

Edward rückte ganz nah an mich heran, meine Hand immer noch auf seiner Wange liegend. Seine Stirn berührte meine und auch unsere Nasen berührten sich. An diesen Stellen war das pieksende Kribbeln besonders stark, aber um nichts in der Welt wollte ich, dass er weg ging. Jetzt konnte ich seinen Duft noch besser aufnehmen und meine Brust ließ mich wie von selbst ein wenig tiefer atmen.

Ich wusste, dass seine Lippen ganz nah an meinen sein mussten, doch sie berührten sich nicht. Oh, wie gerne hätte ich sie jetzt gespürt. Ich wollte ihm einen Kuss geben, doch obwohl seine Lippen so nah vor mir waren, waren sie auch gleichzeitig unerreichbar weit weg.

Irgendwie musste ich doch meinen Mund zum Leben erwecken können. Ich versuchte zu schlucken. Mein ganzer Mundraum war trocken und voller stechender Nadeln. Meine Lippen prickelten und die Zuge war taub. Ich versuchte sie zu bewegen, spürte etwas Feuchtigkeit, wodurch sich die Taubheit meiner Zunge in das gleiche schmerzhafte Stechen verwandelte, das ich überall zu spüren schien.

Langsam errang ich die Kontrolle über meine Zuge und sie ließ sich bewegen. Ich befeuchtete ein kleines bisschen meine Lippen und versuchte erneut zu schlucken, um auch den trockenen Rachen zu befeuchten. Ein starkes Brennen in der Kehle überraschte mich. Ich erinnerte mich an das Brennen, erinnerte mich an den Durst. So stark hatte meine Kehle schon einmal gebrannt. Damals als ich als Vampir neu geboren wurde.

Ich versuchte den Durst zu ignorieren. Ich wollte doch, dass sich seine Lippen und meine berührten. Das war jetzt viel wichtiger. Also versucht ich mich ihm entgegenzustrecken. Mein Genick und mein Rücken begannen zu brennen, bei dem Versuch, mich nach vorne zu schieben. Ich versuchte es nicht zu beachten, obwohl es furchtbar schmerzhaft war. Ich wollte doch meinen Kuss haben und endlich erreichte ich mein Ziel. Sanft berührte ich seine mit meinen pieksenden Lippen. Es fühlte sich zwar an, als hätte ich einen Kaktus geküsst, doch das war es wert gewesen. Langsam ließ ich mich den Zentimeter wieder zurücksinken und krächzte ein kaum hörbares »geschafft!«, aus meinem Mund.

»Hast du gerade etwas gesagt?«, fragte Edward verwirrt und unsicher, doch voller Optimismus.

Ich schaffte ein ganz langsames Nicken und ein leichtes Lächeln. Die Bewegung, die für den Kuss erforderlich war, wirkte wie eine Initialzündung in meinem Körper. Alle Muskeln fingen an zu brennen und zuckten ab und zu leicht. Es fühlte sich an, als ob die Marmorstatur, die ich war, allmählich zum Leben erwachte. Ich bemerkte, dass ich meine kribbelnden Zehen und Finger bewegen konnte. Ich nutzte es aus, um mit den Fingerkuppen der Hand, die noch immer auf seinem Gesicht lag, sanft seine Schläfe zu streicheln. Es fühlte sich auch nicht mehr so stechend an, sondern eher so, als ob man eine Batterie berührte und ein leichter Strom zu fließen begann. Ich spürte, wie allmählich mein Körper wieder unter meine Kontrolle kam. Das pieksende Kribbeln war immer noch da, doch es war erträglicher geworden.

»Bella, sag doch bitte noch mal etwas.«
»Etwas«, krächzte ich, jetzt aber deutlich hörbarer.
»Oh Bella!«, rief er voller Freude und zog mich mit einem Ruck auf sich.

Es fühlte sich an, als ob ich auf einem Nagelbett gelegen und mich zu schnell umgedreht hätte. Gleichzeitig wurde ein Karton mit Glassplittern über meinem Rücken ausgekippt. Seine Arme umschlossen mich und waren wie zwei dornenbesetzte Schraubstöcke.

»Ahrg! Edward, sachte«, presste ich vom Schmerz gequält aus meinem Mund.
»Oh! … Das tut mir leid … Entschuldige bitte.«

Er erstarrte unter mir, ließ die Arme fallen und berührte mich nicht mehr mit ihnen. Der starke stechende Schmerz verschwand zwar augenblicklich, aber dass er mich gar nicht mehr umarmte, wollte ich auch nicht.

»Ich sagte sachte. Nicht Hände weg!«

Meine Kontrolle über meine Stimme wurde immer besser. Sie wurde fester, war aber noch immer so kratzig. Ich schluckte erneut, um meine Stimmbänder etwas geschmeidiger zu machen, erntete aber vor allem ein weiteres starkes Brennen in meiner Kehle.

Ganz sanft legte er wieder die Arme um mich, ließ sie fast über meinem Körper schweben. Er streichelte mich und überall, wo er mich berührte, kehrte mehr Leben prickelnd zurück. Mein Kopf lag halb auf seiner Brust und halb auf seiner Schulter. Ich fühlte mich so geliebt, sicher und geborgen. Weitere Sammelstücke, die ich in meiner Brust verwahrte.

Ich sah mich um. Es war offensichtlich Nacht. Eine klare Nacht. Durch das Fenster konnte ich Sterne sehen und das Mondlicht fiel vom Schnee reflektiert ins Haus. Allmählich konnte ich meine Hände und Arme bewegen. Auch die Beine ließen zu, dass ich mich etwas streckte und reckte. Alles wurde von vielen kleinen Pieksern begleitet, doch sie ließen spürbar nach und an ihre Stelle trat mein eigenes Körpergefühl. Es war fast so, als würde ich gerade nach Hause kommen. Mich wieder an mich selbst gewöhnen. Auch mein Gehirn, das seit geraumer Zeit von dem stechenden Prickeln heimgesucht wurde, schien seinen Dienste wieder aufzunehmen. Meine Erinnerungen kehrten zurück.

Plötzlich wusste ich wieder, was mich in die Dunkelheit getrieben hatte. Die Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit wollten zurückkehren, doch ich weigerte mich. Ich wollte mich nicht zurücktreiben lassen. Ich wollte hier bei Edward bleiben. Wie konnte ich nur so dumm sein? Was hatte es mir denn gebracht? Nichts hatte sich durch meine Flucht verändert. Ich wusste doch schon vorher, dass eine Flucht keine Lösung war. Was, wenn wir gerade jetzt angegriffen worden wären und ich keinen hätte schützen können?

Ich schämte mich so. Wie hatte ich mich nur dazu hinreißen lassen können. Das war unverzeihlich. Aus Schmerz und Mutlosigkeit hatte ich meine Familie im Stich gelassen. Ob sie mir jemals vergeben konnten? Hoffentlich war inzwischen nichts passiert. Ich erschrak kurz bei dem Gedanken, dass meiner Renesmee vielleicht etwas zugestoßen sein könnte. Und was war mit den Anderen? Ich musste es einfach wissen.

Ich hob meinen Kopf, stützte mich auf den Armen ab, um Edward anzusehen. Sein Blick war unbeschreiblich. So voller Überraschung, Freude, Fassungslosigkeit, Hoffnung. Es war einfach alles in seinem Gesicht zu sehen.

»Edward? Geht es Renesmee gut? Was ist mit den Anderen. Ist etwas passiert? Bitte du musst mir …«
»Schscht, Liebste. Es geht allen gut. Unsere Tochter schläft gleich nebenan in ihrem Bett. Kannst du sie nicht hören?«

Ich lauschte. Bis jetzt hatte das Kribbeln und Pieksen in meinen Ohren meine Wahrnehmung getrübt, doch inzwischen war es fast verschwunden. Ich schüttelte leicht den Kopf zur Seite. Ich hatte das Gefühl, dass eine Staubschicht aus meinem Ohr herausrieselte und dann endlich hörte ich den leisen Atem und den schnellen Herzschlag meiner kleinen Sonne. Ich war so erleichtert und ließ mich wieder auf seine Brust sinken. Mein Rücken und meine Arme freuten sich über die Entspannung. Erst jetzt merkte ich, wie anstrengend es gewesen war, mich so aufzurichten. Ich hatte fast keine Kraft mehr und das Brennen in meiner Kehle wurde wieder stärker.

Edwards Hände streichelten noch immer fast berührungslos über meinen Körper.

»Also ein bisschen mehr würde ich deine Hände schon gerne spüren«, sagte ich zu ihm.

Das ließ er sich natürlich nicht zweimal sagen. Er umarmte mich fester. Es piekste noch, aber war nicht mehr so schlimm. Ich fühlte mich sehr wohl und mein Körper füllte sich mit Leben. Leider schwoll in gleichem Maße das Brennen in meinem Hals immer stärker an. Ich hatte so schrecklichen Durst. Wäre es jetzt sehr egoistisch von mir, wenn ich um etwas Blut bitten würde? Mein Körper war noch so schwach. Ich wüsste nicht, wie ich jetzt jagen sollte. Vielleicht sollte ich auch einfach warten, bis ich wieder stärker war.

Ich hob noch einmal meinen Kopf, um ihn anzusehen. Sah ihm tief in die Augen. Erst jetzt fiel mir auf, wie schwarz sie waren. Nur ein ganz schmaler brauner Rand war noch zu sehen. Er musste doch auch schrecklich durstig sein. Warum hatte er denn nichts getrunken?

»Edward? Wie lange hast du schon nichts mehr getrunken?«
Er sah mich überrascht an.
»Was? Das ist doch unwichtig. Ich bin nur froh, dass du wieder bei mir bist. … aber du hast doch sicherlich Durst, oder?«
Ich nickte verlegen.
»Dann hole ich dir sofort etwas.«

Sanft rollte er sich mit mir zur Seite und legte mich neben sich ab. Ich versuchte mich aufzurichten, wollte mich aufsetzen, doch es war schwierig, nein, es war unmöglich.

»Warte, ich helfe dir«, sagte mein galanter Gentleman.
Dann griff er mir vorsichtig unter die Arme und schob mich zum Kopfende des Bettes.
»Ich bringe dir gleich etwas zu trinken … versprich mir nur, dass du noch wach bist, wenn ich zurückkomme, ja? Ich lasse dich nur ungern aus den Augen.«
Natürlich nickte ich und lächelte. Ich hoffte nichts Anderes.

Fünf Sekunden später stand er mit einer Flasche “Löwe” und einem Glas wieder vor mir, öffnete die Flasche, schenkte ein und reichte mir das Glas. Es war ganz kalt, doch ich wollte nicht wählerisch sein. Das wäre jetzt zu albern gewesen.

»Edward? Was ist mir dir. Wo ist dein Glas?«
»Bella bitte trink jetzt. Ich werde später meinen Durst löschen.«

Oh ja, ich wollte trinken, mein Durst war so unglaublich stark. Wie lange hatte ich nur nichts mehr getrunken? Aber Edwards Augen sprachen auch eine deutliche Sprache. Ich wollte einfach, dass er auch etwas trank und wenn ich ihn dazu zwingen müsste. Also schüttelte ich den Kopf. Es waren aber nur schwache Bewegungen, denn zu mehr war ich nicht in der Lage.

»Ich trinke nur mit dir oder gar nicht.«
Schweren Herzens senkte ich meinen Arm und stellte das Glas auf meinem Oberschenkel ab.
»Du machst mich wahnsinnig!«, grummelte er, doch dann rannte er wieder hinaus und war vier Sekunden später wieder hier, mit einem Glas in der Hand und schenkte sich schnell ein.
»Zufrieden? Jetzt trink endlich.«

Ich lächelte und klopfte unter großer Kraftanstrengung mit der flachen Hand neben mir auf Bett, damit er sich zu mir setzte.

»Bella! Du kannst doch nicht …«

Ich zog meine Stirn in Falten, was auch ein leichtes Kribbeln auslöste, und klopfte abermals auf die freie Stelle an meiner Seite. Hoffentlich gab er jetzt nach. Ich würde nicht noch mal die Kraft für diese Geste aufbringen können.

Er seufzte und setzte sich neben mich. Ich schaute ihm tief in die Augen, hob mein Glas wieder an und wartete darauf, dass er das Gleiche tat. Erneut seufzte er, als er merkte, worauf ich wartete. Dann führten wir gleichzeitig das Glas zum Mund und tranken.

Als das Blut meine Kehle hinab lief und das Brennen zu löschen versuchte, bemerkte ich auch Augenblicke später, dass mein Körper leicht zu Kräften kam. Meine Arme fühlten sich nicht mehr ganz so schwer an. Mein Kopf wollte nicht mehr ständig zur Seite kippen und meine Muskeln brannten weniger.

Ich trank mein Glas aus, wartete, dass er seines auch ausgetrunken hatte und streckte es ihm dann zum Nachfüllen entgegen. Ohne Diskussion füllte er beide Gläser auf, was ich mit einem Lächeln belohnte, was ihm ebenfalls ein wunderschönes schiefes Lächeln auf das Gesicht zauberte. Wir tranken erneut unsere Gläser aus und ich fühlte mich noch besser. Mein Durst war noch lange nicht gestillt, aber das Pieksen war jetzt fast ganz verschwunden und ich fühlte mich lebendiger.

Kurz darauf hörte ich Schritte von draußen und die Tür ging auf.

»Edward? Warst du gerade in der Küche? Ich dachte ich…«

Es war Esme. Mitten im Satz brach sie ab, als sie mich sah und hielt sich die Hand vor den Mund. Ihre Augen waren weit aufgerissen. Es schien, als konnte sie nicht glauben, was sie gerade sah. Es war fast unheimlich.

»Hallo Esme«, sagte ich, denn mir wollte im Moment nichts besseres einfallen.

»Du … bist wieder … Edward! … warum hast du denn nichts …«

Ich streckte ihr die Arme entgegen. Ich freute mich so, sie zu sehen und wollte sie umarmen. Schneller als ich denken konnte, war sie schon über mich gebeugt und schenkte mir die ersehnte Umarmung.

»Oh Liebes, du bist wieder wach? Oh wie schön, wie wundervoll.«

Ihre Freude war so groß. Sie überschüttete mich geradezu mit Mutterliebe. Ein weiteres schönes Gefühl, das ich der neuen Sammlung in meiner Brust hinzufügte. Doch gleichzeitig war ich auch etwas traurig. Mir wurde bewusst, wie erleichtert sie gerade war. Das war ein deutlicher Beweis, wie besorgt sie vorher um mich gewesen sein musste. Alles nur, weil ich so feige war und mich in einer kleinen dunklen Ecke versteckt hatte.

»Esme, es tut mir sehr leid. Ich schäme mich so.«
Verwirrt schaute sie mich an.
»Was redest du denn da, Kind? Davon will ich nichts hören. Ich bin unsagbar froh und kann kaum fassen, was ich sehe.«

Sie streichelte mir das Gesicht, gab mir einen zärtlichen Kuss auf die Wange und setzte sich dann liebevoll lächelnd an das Fußende des Bettes.

Edward füllte unsere Gläser nach. Die Flasche war jetzt leer. Mein Glas hatte er mir natürlich ganz voll gemacht und seines war höchstens zu einem Drittel gefüllt. Ich sah ihn mürrisch an.

»Bella. Das ist jetzt nicht dein Ernst. Da spiele ich jetzt nicht mehr mit. Das ist inakzeptabel. Du trinkst dein Glas jetzt aus und ich meines.«

Seine Stimme war fast verärgert, wenn auch überwiegend besorgt. Ausnahmsweise gab ich nach und trank.

»Ich hole euch noch etwas«, trällerte Esme und noch bevor ich das Blut in meinem Mund schlucken konnte, um etwas zu sagen, war sie auch schon verschwunden. Kurz darauf kam sie mit fünf Flaschen im Arm zurück.

»Moment, das geht doch nicht«, sagte ich. »Die sind doch für besondere Anlässe. Zum Feiern. Die können wir doch nicht einfach so wegtrinken.«

Edward schüttelte fassungslos den Kopf und auch Esme verlor leicht die Kontrolle über ihre Gesichtszüge, als sie versuchte meine Worte zu begreifen.

»Liebste, ich bitte dich«, sprach Edward zu mir. »Du bist wieder zurück. Bist wieder wach, sitzt hier und redest und atmest und … lebst. Ich kann mir keinen besseren Grund zum Feiern vorstellen.«

Also da übertrieb er doch, oder? Ich brauchte doch nur Blut, um wieder zu Kräften zu kommen. Nicht weil ich etwas zu feiern hätte. Was bitteschön könnte ich den jetzt feiern? Dass ich aufgegeben hatte? Dass ich alle im Stich gelassen hatte? Dass ich mich feige versteckt hatte?

Ich wurde wieder traurig, bei dem Gedanken, was ich ihnen angetan hatte. Beschämt blickte ich vor mich hin auf das leere Glas auf meinem Schoß.

»Edward, Esme, wirklich jetzt, ich verdiene nicht, dass ihr euch so meinetwegen freut. Ich habe euch im Stich gelassen. Ihr müsstet eigentlich wütend auf mich sein.«
Wieder sah ich fassungslose Gesichter.
»Mein liebes Kind, was denkst du da nur? Wir alle können uns das Leid kaum vorstellen, das du erfahren hattest. Keiner macht dir auch nur den Hauch eines Vorwurfs. Niemand fühlt sich von dir im Stich gelassen. Wir alle dachten, wir hätten dich im Stich gelassen, dass du keinen Auswege mehr sehen konntest. Kannst du dir denn nicht vorstellen, wie erleichtert alle sein werden, wenn sie dich so sehen?«

Nein, konnte ich nicht wirklich. Es war merkwürdig. Wer von meiner Familie könnte denn ernsthaft denken, er hätte mich im Stich gelassen? Das war absurd. Niemand hatte mich in die Dunkelheit gestoßen. Ich hatte mich fallen lassen.

»Aber Esme. Ich hatte aufgegeben und das belastet mich. Ich war feige.«
»Bella, Liebes, hör doch auf damit. Können wir es nicht einfach als Unfall sehen?«

Ich seufzte. Von den beiden würde ich nicht die Strafe erhalten, die ich verdiente. Also ließ ich es darauf beruhen und nickte ihr nur betrübt zu. Dann griff Esme nach einer neuen Flasche um sie zu öffnen.

»Aber nur noch eine und nichts besonders Leckeres, ja?«

Edward und Esme sahen sich wieder ratlos an und jeder schüttelten mit dem Kopf. Dann schaute sie die Auswahl der Flaschen genauer an und nahm seufzend eine “Gazelle”.

Esme wollte Edward und mir gerade einschenken, als erneut Schritte von draußen zu hören waren. Rosalie kam herein.

»Was ist hier eigentlich …«
Ihr Blick fiel auf mich und wie bei Esme verschlug es ihr die Sprache.
»Hallo Rose«., sagte ich und winkte ihr leicht zu.
»EMMETT!«, brüllte sie plötzlich, dass es mir in den Ohren pfiff und ich zusammenzuckte, was ihr offensichtlich sehr leid tat, da sie sich gleich die Hand vor den Mund hielt.

Allerdings war ich nicht die Einzige, die von ihrem Ruf aufgeschreckt wurde. Ich hörte aus Renesmees Zimmer Schritte und dann ging die Tür auf. Sie trat mit müdem Blick auf die Schwelle, schaute sich um und dann, als sich mich sah, riss sie die Augen auf. Ein strahlendes Lächeln explodierte auf ihrem Gesicht. Ich breitete die Arme aus.

»Hallo Sternchen.«

Ohne auch nur einen weiteren Schritt zu machen, sprang sie aus dem Stand quer durch den Raum und rummste in meine Umarmung. Das letzte Pieksen und Stechen in meinem Körper wurde von dem Aufprall weggeschleudert. Ich kippte zu Seite, wurde aber von Edward aufgefangen und gestützt.

»Vorsichtig Renesmee!«, tadelte Edward sie.
»Nicht, Edward«, sagte ich kurz und drückte mein Mädchen an mich. »Du warst auch nicht viel sanfter vorhin und es hatte mir auch gut getan.«

Die Wärme ihres Körpers, ihren Herzschlag, den ich spüren konnte und die Liebe, die sie mir schenkte, machte die Sammlung in meiner Brust komplett. Ich war wieder dort, wo ich hin gehörte.

Rosalie und Emmett standen bei der Tür. Sie hielt immer noch die Hand vor den Mund und er grinste und streichelte ihren Rücken. Renesmee drückte sich fest an mich.

»Momma. Du bist wieder gesund«, sagte sie glücklich.
»Ja Liebling. Mir geht es wieder besser. Ich hatte dich ja so vermisst. Du weißt ja gar nicht, wie oft ich dich und Daddy in meinem komischen Traum gesehen habe.«
Sie hob ihren Kopf und strahlte mich an.
»Du hast Daddy und mich gesehen? Wie sah das denn aus?«

Ich versuchte mich zu erinnern. Das gefiel mir zwar nicht, mich an diesen dunklen Ort im Gedanken zurück zu begeben, aber ich wollte ihr die Antwort geben, die sie verlangte.

»Ich habe euch immer wieder vor mir stehen sehen. Nebeneinander. So, als ob ihr auf mich warten würdet. Dann seid ihr zwar wieder verschwunden, aber immer wieder zurück gekommen. Irgendwann habe ich euch dann so vermisst, dass ich zurückkommen wollte.«

Grinsend sah sie jetzt zu Edward.
»Siehst du? Ich hab’ doch gesagt, dass ich es schaffe.«
Edward sah sie dankbar an.
»Oh Liebling, es tut mir so leid, dass ich an dir gezweifelt habe. Du hast sie gerettet, soviel ist sicher.«

Edward schloss sich unserer Umarmung an. Wir bildeten einen kleinen Kreis voller Glückseligkeit. Das Gefühl musste ich unbedingt noch der Sammlung in meiner Brust hinzufügen, damit ich auch dieses nie wieder vergessen sollte.

Aber was bedeuteten Edwards Worte, dass mein Kind mich gerettet hatte?

»Was meint ihr damit, dass Renesmee mich gerettet hat?«
Sie grinste noch breiter.
»Also, als du so da lagst, dich nicht mehr bewegt hast, da habe ich zu Daddy gesagt, dass ich mit meiner Gabe bestimmt zu dir durchkomme. Ich habe dir jeden Morgen, Mittag und Abend Bilder geschickt. Ich habe sie aus meinen Erinnerungen zusammengesucht. Sie sollten dir zeigen, dass wir dich vermissen.«
»Oh Sternchen, du warst das? Du hast mich aus der Dunkelheit herausgelockt?«
Sie nickte und kuschelte sich wieder an mich.
»Ich wollte dich doch wieder zurück haben.«

War das zu fassen? Meine kleine Tochter hatte ihre große Gabe genutzt, um mich zu retten. Ich küsste sie aufs Haar und drückte sie fester an mich. Die Bilder waren kein Zufall. Sie hatte sie mir ganz bewusst geschickt. Nur sie schaffte es, mich da raus zu holen. Ich war ihr so dankbar und gleichzeitig schämte ich mich schon wieder, dass ich sie im Stich gelassen hatte.

»Es tut mir so leid Schatz, dass ich dir solchen Kummer bereitet habe.«

Sie sagte nichts und drückte mich einfach nur fester. Anscheinend wollte sie auch nichts von meinen Selbstanschuldigungen hören. Auch sie war einfach nur glücklich, dass ich wieder da war. Das verstand ich zwar nicht ganz, war aber dankbar dafür.

Ein Auto war zu hören. Ich vermutete, dass es Carlisle war, der gerade nach Hause kam. Die Geräusche des Wagens hörten sich so an, aber noch traute ich meinen Ohren nicht so richtig. Er hatte wohl eine Spätschicht in der Klinik übernommen und ist nach Edwards Anruf gleich nach Hause gekommen. Dann kam er auch schon zur Tür herein, lächelte mich erleichtert an und kam zu mir.

Renesmee löste sich aus meiner Umarmung und setzte sich auf Edwards Schoß, der sie seinerseits liebevoll umarmte und auf den Kopf küsste. Ich hörte noch wie er ihr “Dankeschön Engelchen, vielen, vielen Dank”, ins Ohr flüsterte und sie noch breiter grinsen lies.

»Wie geht es dir, Bella?«, fragte mich Carlisle und sah mir prüfend in die Augen.
»Ich weiß es nicht genau. Besser, würde ich sagen. Vielleicht noch ein bisschen schwach, aber mir tut nichts mehr weh.«
»Du hattest Schmerzen?«
»Ja, als ich … zurückgekommen bin. Da fühlte ich am ganzen Körper unzählige Nadelstiche. Später dann ein Brennen meiner Muskeln, aber das ist jetzt alles weg.«

Sein Blick erfasste das Glas, das neben mir auf dem Bett lag und inzwischen einen roten Fleck hinterlassen hatte.
“Mist!”, dachte ich, “man soll halt nicht im Bett essen.”
»Hast du getrunken?«
Ich nickte.
»Ja, aber nur drei Gläser«, antwortete Edward für mich.
Das “nur” hätte er sich wirklich sparen können.
»Du musst unbedingt mehr trinken, mein Kind. Damit du wieder zu Kräften kommst.«

Ich seufzte und griff nach meinen Glas. Ich hatte es kaum richtig in der Hand, da stand schon Esme bei mir und goss ein.

»Aber Edward muss auch trinken. Schau dir mal seine Augen an.«
Edward schnaubte.
»Mir geht es gut Bella. Würdest du bitte aufhören, dir um mich Sorgen zu machen? Du machst mich verrückt.«
»Dann solltest du lieber etwas trinken«, setzte ich nach.
»Ja mein Sohn. Es wird auch dir gut tun und wenn es Bella glücklich macht, kann es nicht falsch sein.«

Nach dieser Ansprache von Carlisle gab sich Edward geschlagen und reichte Esme sein Glas. Dann hielt ich wieder Augenkontakt mit ihm und wir tranken gemeinsam.

Carlisle wollte, dass wir zügig auch gleich das nächste Glas tranken. Beim dritten Nachschenken, bat ich Esme darauf zu achten, dass die Gläser gleich voll wären, was bei Edward wieder ein Stöhnen hervorrief. Carlisle lächelte mich an, klopfte mir auf die Schulter und küsste mich auf die Stirn. Dann hörten wir wieder ein Auto. Diesmal konnten es nur Alice und Jasper sein, die auch Sekunden später bei uns waren.

»Bella! Du verrücktes Huhn. Musstest du dich ausgerechnet dann zum Aufwachen entschließen, wenn wir so weit weg beim Jagen sind?«

Sie umarmte mich herzlich und ich spürte große Freude. Allerdings kam es mir so vor, als wäre das nicht nur meine Freude. Sicherlich hatte Jasper die Finger im Spiel.

»Tut mir leid, Alice.«
»Oh, komm her du. Was hast du uns nur für einen Schreck eingejagt.«

Noch einmal drückte sie mich an sich. Mein Glas lag wieder auf dem Bett und produzierte gerade den nächsten Fleck. Dann ließ Alice von mir ab und Jasper beugte sich zu mir, um mich kurz zu umarmen.

Sie alle waren so nett zu mir. Nur Rosalie hielt sich aus irgendeinem Grund zurück. Bestimmt war sie wütend auf mich, dass ich die Familie im Stich gelassen hatte. Endlich jemand, der es richtig sah und auf dessen Offenheit und Ehrlichkeit ich mich verlassen konnte. Sie hatte ja so recht und ich freute mich merkwürdiger Weise darüber. Eine Freude, die ich aber nicht zeigen konnte. Es war keine Freude, die ein Lächeln verursachte, sondern eine Freude über Gerechtigkeit, auch wenn man selbst derjenige war, der die Strafe erhalten musste.

Schuldbewusst schaute ich zu ihr. Hoffte, dass sie etwas sagen würde. Erst jetzt bemerkte ich, dass sie unaufhörlich mit den Fingern über das Freundschaftsband streichelte. Sie wirkte so abwesend.

»Rosalie? Geht es dir gut?«, fragte ich sie unsicher.
Sie schaute mich verwirrt an. Blickte sich kurz im Raum um, als würde sie nicht verstehen, was ich sagte.
»Ob es mir gut geht? … Bella ich … ja … jetzt ja … ich bis ja so erleichtert … ich hatte solche Angst.«

Ja, natürlich hatte sie Angst. Ich hatte sie schutzlos zurückgelassen. Ohne mich hatten sie gegen die Volturi ja überhaupt keine Chance.

»Es tut mir so leid Rosalie. Ich wollte das nicht. Ich wusste nicht was ich da tat. Es ist alles meine Schuld. Ich habe euch im Stich gelassen.«

Wieder schaute sie mich verwirrt und ungläubig an, schaute um sich und sah nur Kopfschütteln und Stirnrunzeln.

»Bella was redest du da? Ich hatte solche Angst, dich als meine kleine Schwester zu verlieren. All die Tage, die du regungslos da lagst. Ich konnte es nicht ertragen. Jetzt kann ich kaum glauben, dass du wieder … lebst.«

Was? Keine Standpauke? Kein Wutausbruch? Ich hätte erwartet, dass sie sich das Freundschaftsband vom Arm reißt und mir für meine Treulosigkeit an den Kopf werfen würde.

»Aber wie könnt ihr denn alle nur so … nett sein?«
Die gleiche Reaktion von allen. Kopfschütteln, Stirnrunzeln, Unverständnis. Ja redete ich denn chinesisch?
»Ehrlich Leute, ich kapier’ es nicht. Ist denn keiner auch nur ein bisschen wütend auf mich? Ich habe euch doch alle schutzlos hier zurückgelassen.«
»Du dachtest, ich wäre wütend auf dich, Bella?«, fragte Rosalie verwirrt.
»Natürlich, Rose. Das wäre doch die einzige vernünftige Reaktion.«
»Du hast echt nicht mehr alle Tassen im Schrank«, sagte sie und kam schnell zu mir und umarmte mich, drückte mich so fest an sich, dass ich das Atmen einstellen musste. Emmett kam mit ihr, lachte leise und tätschelte die freie Seite meines Gesichts. Überhaupt lächelten mich alle an. Dann löste Rosalie die Umarmung wieder und auch sie lächelte, doch ich verstand es noch immer nicht.

Plötzlich sprach mich Carlisle an.
»Bella, liebe Tochter. Du bist wahrlich einmalig, wenn es darum geht, dir für etwas die Schuld zu geben, wofür du gar nichts kannst. Das Thema hatten wir doch schon mal, erinnerst du dich?«
»Ja, Bella-Monster, erinnere dich«, ergänzte Emmett grinsend.

Ich wusste was er meinte und lächelte schwach. Mein Gehirn schien wieder voll funktionstüchtig zu sein und mir alle Erinnerungen zur Verfügung zu stellen. Natürlich erinnerte ich mich an den schwer verletzten Jungen, dessen Blut ich unbedingt haben wollte. Ich schämte mich damals so sehr für den Teil in mir, der versuchte die Kontrolle zu übernehmen. Doch damals hatte ich es wenigstens geschafft, mich selbst aufzuhalten, so dass mich Edward wegbringen konnte. Das Monster im Inneren als Teil von einem zu akzeptieren, wenn man es halbwegs kontrollieren konnte, war einfacher. Aber das hier? Konnte man das vergleichen? Das Monster in mir, kam mit der Verwandlung dazu. Doch meine Flucht in das finstere Versteck, hatte ich aus eigenem Willen angetreten. Ich hatte nicht die Kraft, mich selbst aufzuhalten. Ich hatte mich fallen lassen, um dem Leid zu entgehen und damit hatte ich alle ohne Schutz zurückgelassen. Wie sollte ich jetzt alle Selbstzweifel deswegen einfach vergessen können?

»Mein liebes Kind«, fuhr Carlisle fort. »Nachdem uns Edward erzählt hatte, was passiert war, wurde uns allen plötzlich klar, wie schlimm die Situation für dich gewesen sein musste. Wir alle hatten im Grund nur unsere Leben zu verlieren. Das ist etwas, womit man sich abfinden kann. Man kann immer an die Chance glauben, doch zu überleben und davon zu kommen, egal wie klein sie ist. Im Zweifelsfalle kann man sich Mut machen und sich selbst bereit erklären, sich für die anderen zu opfern. Man kann auch über Flucht oder Ergeben nachdenken. Das ist zwar alles auch nicht wirklich einfach, aber man hat eine Wahl, die man treffen kann. Bei dir war es ganz anders. Du hattest keine Wahl. Bei dir war es entweder das schlimmstmögliche Schicksal, oder ein Wunder, an das du nicht glauben konntest. Ich kann mir gar nicht vorstellen, wie quälend das für dich gewesen sein muss. Vor allem, weil es eben nicht nur dein schlimmstmögliches Schicksal alleine war. Du hast dir selbst die Verantwortung für unser aller Zukunft gegeben und wir haben das zugelassen. Wir haben dich in einer ausweglosen Situation alleine gelassen. Wenn also jemand Vorwürfe verdient, dann sicherlich nicht du. Dass du in eine Art Koma gefallen bist, um deinen Verstand zu schützen, war ein großes Glück. Ich hatte nie zuvor von so etwas gehört. Sei dir sicher, Tochter, es war nicht deine Entscheidung, ins Koma zu fallen. Das war eine Schutzfunktion deines Gehirns.«

Ich ließ die Worte auf mich einwirken. Sagte er das nur, weil er mich beruhigen wollte? Weil er Angst hatte, ich könnte noch mal “flüchten”? Ich würde das nie wieder machen. Nein, das konnte ich nicht. Nicht mehr, nachdem ich das alles wusste. Ich nahm mir fest vor, mein Schicksal zu ertragen. Vielleicht war ja doch ein Wunder möglich. Ich schaute ihm ins Gesicht. Er hatte diesen aufrichtigen und gütigen Blick. Wie könnte ich an seinen Worten zweifeln?

Ich schaute um mich. Alle zeigten ihre Zustimmung zu seinen Worten, allerdings wirkte Edward sehr bedrückt. Ich sah ihn eindringlich an. Was bedrückte ihn denn jetzt? Ich wollte keine Spekulationen anstellen. Ich wollte es einfach wissen.

»Edward? Was hast du?«
Er brauchte einen Moment, sich zu fassen.
»Bella, Liebste. Es war doch im Grunde meine Schuld. Hätte ich dir nicht erzählt, was Jasper gedacht hatte, dann hättest du an deine Wahl geglaubt und das wäre alles nicht passiert. Es zerreißt mich fast, dass du dir selbst die Schuld für etwas gibst, dass ich zu verantworten habe.«

Nein. Wenn ich mir die Schuld nicht geben durfte, dann Edward auch nicht.
»Liebst du mich, Edward?«
»Wie kannst du das nur fragen? Du bist mein Leben. Natürlich liebe ich dich.«
»Und respektierst du meine Wünsche?«
»Natürlich Bella. Alles was du willst.«
»Dann weißt du auch, dass ich mir wünsche, dass wir immer offen und ehrlich zueinander sind.«
»Ja, Bella, aber…«
»Kein aber, Edward. Du warst offen und ehrlich zu mir. Das war es, was ich wollte, was ich immer noch will und was ich immer wollen werde. Wenn ich mir also nicht die Schuld geben darf, dann darfst du es auch nicht. Dann halten wir es wie Esme vorgeschlagen hat. Es war ein Unfall.«
»Aber Bella, ich …«
»Edward! Du willst jetzt nicht wirklich mit mir streiten, oder? Ich will es nicht. Ich kann es wohl auch nicht wirklich. Ich habe noch nicht genug Kraft dafür. Bitte, Liebster. Ich war so lange alleine in der Dunkelheit. Ich habe dich und Renesmee und die ganze Familie so vermisst.«

Ich fühlte mich plötzlich so erschöpft. Dies Ansprache hatte mich viel Kraft und Konzentration gekostet und ich spürte, wie ich leicht zur Seite kippte. Edward fing mich auf und bettete meinen Kopf an seinen Schulter. Es war irgendwie alles so anstrengend. Renesmee streichelte mein Gesicht und lächelte liebevoll. Edward lehnte seinen Kopf an meinen und meinte nur:

»Was immer dich glücklich macht, Liebste, doch jetzt ruhe dich bitte aus.«

Ich seufzte. Es gefiel mir nicht, so schwach zu sein, doch ich genoss seine Nähe. Mit jedem Augenblick, den ich an seiner Schulter ruhte, spürte ich die Kraft allmählich wieder zurück kehren. Dann ging plötzlich die Tür auf und ich zuckte hoch. Überrascht sah Esme in mein Gesicht.

»Ich dachte, wir lassen euch jetzt besser alleine.«
»Nein Esme, bitte nicht. Ich habe euch doch alle vermisst. Ich stehe auch auf und komme zu euch.«
Ich drückte mich von Edward weg und schob mich zur Bettkante.
»Bleibst du wohl liegen, Kind.«
Esme stand plötzlich vor mir und versperrte mir den Weg.
»Du musst doch nur etwas sagen und wir kommen zu dir.«
Sie klang gleichermaßen besorgt wie auch ungehalten.
»Aber hier ist doch nicht genug Platz auf dem Bett für euch alle«, gab ich kleinlaut zurück.
»Komm Bella«, sagte Edward, »dafür finden wir einen Lösung.«

Renesmee stand von seinem Schoß auf und er setzte sich im Schneidersitz in die Mitte des Bettes. Dann hob er mich zu sich und legte mich in die Kuhle zwischen seinen Beinen. Er hielt mich sicher mit seinem rechten Arm, legte meine Beine über sein linkes Bein, drückte mich leicht an seine Brust und ich legte meinen Kopf an seiner Schulter ab. Dann kamen alle zu uns und setzten sich um uns herum ebenfalls aufs Bett.

Ich war etwas überrascht, dass das Bett das aushielt und alle Platz fanden. Renesmee stand vor mir auf dem Bett, mit der Hand auf Edwards Schulter. Sie wollte wohl auch näher bei mir sein, wusste aber nicht, wie sie das machen sollte. Ich lächelte sie an, hob fragend die Augenbrauen, klopfte mit der Hand leicht auf meine Oberschenkel und streckte ihr den Arm entgegen. Glücklich lächelnd nahm sie die Einladung an, setzte sich vorsichtig auf meinen Schoß und legte den Kopf dort ab, wo sich Edwards und meine Brust berührten. Er umfasste uns sicher mit beiden Armen.

Wir bildeten einen kleinen Kreis und um uns herum war die Familie in einem weiteren Kreis vereint. Es erinnerte mich an die Nacht von Renesmees Albtraum, als sich alle um sie versammelt hatten, um ihr Trost zu spenden. Jetzt waren alle um mich versammelt und es fühlte sich so gut an. Ich hatte kein passendes Wort für dieses Gefühl, doch es passte noch wunderbar zu den anderen in meiner Brust.

»Jetzt solltest du aber wirklich etwas mehr trinken, Bella. Du musst zu Kräften kommen.«
Carlisle stand auf und holte eine Flasche, öffnete sie, goss mein Glas voll und reichte es mir.
»Das ist aber nicht richtig, Carlisle«, sagte ich. »Die Flaschen sind doch ein Geschenk von Rosalie und Emmett. Die sind zum Feiern für alle da und nicht dafür, dass ich sie einfach so in mich hinein kippe.«

»Bella!«, fauchte mich plötzlich Rosalie an, die schräg hinter mir saß. »Wenn du nicht sofort mit diesem Schwachsinn aufhörst. Werfe ich dich an die Wand!«

Sie klang so wütend und ungehalten, dass ich direkt etwas Angst vor ihr bekam. Verunsichert drehte ich leicht den Kopf zu ihr und schaute sie an. Augenblicklich wich der Ernst aus ihrem Gesicht und wurde von Entsetzen abgelöst.

»Bella? … Das hast du doch jetzt nicht etwas ernst genommen, oder? … Ich würde das doch niemals wirklich machen. Das war doch nur so dahin gesagt.«
Ihre Stimme war jetzt entschuldigend und sanft und ich beruhigte mich sofort wieder.
»Aber ich habe es ernst gemeint«, sagte ich fast schüchtern. »Die Flaschen sind für alle da, nicht nur für mich. Edward meinte doch vorhin, es wäre ein Grund zum Feiern, dass ich wieder zurück bin. Seht ihr das auch so?«
Wieder schauten mich alle ungläubig an.
»Natürlich Liebes. Wir alle sind so erleichtert und glücklich darüber«, meinte Esme.
»Dann sollten wir auch zusammen feiern. Ich habe keine Lust, das ganze Blut alleine zu trinken. Wenn ich schon die leckeren Reserven trinken soll, dann müsst ihr auch mitmachen.«
Esme lächelte mich gütig an.
»Gut, dann hole ich mal noch ein paar Gläser.«
»Und ich die restlichen Flaschen«, ergänzte Emmett.

Nur Sekunden später hatte jeder ein gefülltes Glas. Alle stießen mit einander an und tranken vor allem auf meine Gesundheit. Ich mochte es zwar nicht, so im Mittelpunkt zu stehen, aber es tat gut, die Familie glücklich vereint zu sehen. Im Moment wollte ich jedenfalls an nichts Anderes denken.

Kapitel 13 - Stand der Dinge

Es war eine schöne Feier. Die Stimmung wurde immer entspannter und wir hatten viel gelacht. Ich hatte darauf bestanden, dass jeder wenigstens eine Flasche Blut bekommen musste. Die acht, die dann noch übrig waren, wollte ich gerecht zwischen Edward und mir aufteilen, aber er weigerte sich. Er bestand darauf, dass es ihm ja viel besser gehen würde und dass ich noch viel schwächer war. Ich ließ mich dann auf fünf zu drei herunterhandeln, aber keine mehr.

Nach etwa einer Stunde war Renesmee eingeschlafen. Ich hätte sie so gerne ins Bett getragen, aber ich traute der Kraft in meinen Armen und Beinen noch nicht. Natürlich hatte sich Rosalie sofort dazu bereit erklärt.

Nachdem alles ausgetrunken war und ich mich wirklich schon sehr viel besser fühlte, meinte Carlisle, dass ich doch noch vorsichtshalber ein wenig Ruhe bekommen sollte. Ich wollte aber auf jeden Fall einmal aufstehen, um jeden Einzelnen noch mal zum Abschied zu umarmen. Edward und Esme protestierten natürlich, doch Carlisle wollte sehen, ob ich das schon hinbekommen würde, nachdem ich nur zwei Stunden vorher so unglaublich schwach war, dass ich mich kaum aufsetzen konnte.

Jetzt war ich allerdings von dem Blut belebt und spürte die Kraft zurückkehren. Also stand ich mit zunächst noch wackeligen Beinen auf und machte ein paar Schritte. Edward war immer ganz nah bei mir, wie ein Vater, der seinem Baby das Laufen beibringen wollte. Mein Gleichgewichtssinn brauchte einen Moment, um seine Arbeit wieder ordnungsgemäß auszuführen. Dann ging es richtig gut. Erleichtert nahm mich jeder in die Arme und Rosalie hatte mich sogar geküsst. Dann gingen sie zurück ins andere Haus und ließen uns den Rest der Nacht alleine.

Als nächstes wollte ich das Bett abziehen.
»Was tust du denn da? Das ist jetzt aber nicht dein Ernst, hier mit Hausarbeit anzufangen.«
»Edward. Da sind Blutflecken auf der Decke und außerdem sieht das Bett so staubig aus.«
Er seufzte.
»Dann lass mich das machen.«
»Ich schaffe das schon.«
»Bitte Bella, ich bekomme gleich einen Nervenzusammenbruch.«
»Also gut, aber schön langsam. Nicht, dass du mir den ganzen Staub hier aufwirbelst. Warum ist es eigentlich so staubig hier?«

Er sagte nicht und zog ohne mich anzusehen das Bett ab.
»Edward? Wie lange war ich da gelegen?«
Er vermied immer noch den Blickkontakt zu mir und machte schweigend weiter.
»Edward? Jetzt sag schon.«
Ein tiefer Seufzer kam aus seiner Brust.
»Lass mich erst das Bett fertig machen.«

Es war alles so staubig. Es mussten wohl einige Tage gewesen sein. Renesmee hatte vorhin ja auch gesagt, dass sie mir jeden Morgen, Mittag und Abend Bilder geschickt hatte. Das hörte sich definitiv nach mehreren Tagen an. Eine Woche vielleicht?

Nachdem er fertig war, zog er mich wieder zu sich aufs Bett. Ich kuschelte mich an ihn und er umarmte mich.

»Also, wie lange Edward?«
Er seufzte wieder.
»Müssen wir jetzt wirklich darüber sprechen?«
»Ja Edward, ich muss es wissen.«

Er zögerte, was ich als Ausdruck seiner Besorgnis deutete. Also versuchte ich ihn etwas zu beruhigen.

»Hab’ doch bitte keine Angst mehr, Schatz. Das wird nicht noch mal passieren. Jetzt erzähl mir alles.«
Ein weiterer tiefer Seufzer.
»19 Tage.«
»Was? Ich war fast drei Wochen bewusstlos?«

Er nickte. Ich sah es nicht, da ich an seine Brust gekuschelt lag, aber ich spürte die Bewegung. Dann schoss mir ein Gedanke durch den Kopf.

»Aber die Volturi. Wann kommen sie?«

Panik machte sich augenblicklich in mir breit. Ich war doch noch so schwach, wie sollte ich nur rechtzeitig bereit werden.

»Ganz ruhig, Liebste. Es ist nichts passiert. Alice überwacht sie ständig. Sie kommen noch immer nicht.«
»Wirklich? Warum? Auf was warten sie?«
»Das wissen wir nicht, aber wir sind sehr froh darüber.«

Oh ja. Eine gewaltige Last fiel von meinen Schultern ab. War das das Wunder, an das ich nicht glauben konnte? War die Situation tatsächlich nicht so aussichtslos, wie ich gedacht hatte? Die Hoffnung, die ich nun verspürte, belebte mich zusätzlich, doch im Augenblick wollte ich noch nicht darüber nachdenken, was vor mir lag. Jetzt wollte ich wissen, was hinter mir lag.

»Wie war das denn mit mir, Edward. Lag ich einfach nur so da?«
»Oh Bella, muss ich dir das alles erzählen? Ich will mich gar nicht mehr daran erinnern. Können wir das nicht einfach vergessen?«
»Ich muss es wissen, Edward. Bitte, erzähle mir alles.«
Er holte tief Luft und dann begann er zu berichten.

»Zuerst wusste ich nicht, was los war. Eben lagst du noch schluchzend und zuckend in meinen Armen und ich versuchte dich zu trösten und dann war da plötzlich keine Bewegung mehr in dir. Ich redete auf dich ein, doch du gabst mir keine Antwort. Irgendwann habe ich dich dann zu mir umgedreht und bin fast zu Tode erschrocken. Deine Augen waren offen, doch es war kein Leben in ihnen. Du hattest nicht mehr geatmet. Dich kein bisschen mehr bewegt. Ich habe dich angebrüllt, dich geschüttelt, doch keine Reaktion.«

War das das Trudeln, das ich zu Beginn beim Fallen in die Dunkelheit verspürt hatte? Es war wohl gut möglich, doch ich wollte jetzt keine Vermutungen anstellen, sondern Edward beim Erzählen zuhören.

»Renesmee kam aus ihrem Zimmer und Carlisle kam mit Esme, Rosalie und Emmett herüber. Alle waren wie erstarrt, bei deinem Anblick. Dann untersuchte Carlisle dich. Er erkannte, dass es eine Art Koma war, doch er hatte noch nie zuvor gehört, dass ein Vampir ins Koma fallen konnte. Das kannte er nur von Menschen. Alle hatten auf dich eingeredet, doch keine Reaktion. Ich musste ihnen erzählen, was passiert war, was der Auslöser war. Esme erkannte als Erste das Dilemma, in dem du gesteckt hattest. Die Hoffnungslosigkeit, sein Kind nicht retten zu können, kannte sie gut. Du weißt ja, dass sie als Mensch ein Kind verloren hatte und danach einen Selbstmordversuch durchgeführt hatte, der auch funktioniert hätte, wenn Carlisle sie nicht verwandelt hätte. Ihr war klar, dass du sterben wolltest, damit Aro keinen Grund mehr hatte, hierher zu kommen. Sie war sich sicher, dass du uns alle auf diese Weise retten wolltest.«

»Wow«, sagte ich. »Esme wusste wirklich wie es in mir aussah? Sie ist echt unglaublich.«
»Ja, und sie war jeden Tag hier, um mit dir zu reden. Das hatte dann Renesmee auf die Idee gebracht, dir drei mal täglich eine Botschaft zu schicken. Sie war so überzeugt davon, dass du sie bestimmt hören konntest.«
»Und sie hatte recht damit.«
»Offensichtlich und dafür werde ich ihr ewig dankbar sein.«
»Wie ging es ihr dabei?«
»Ich kann es dir nicht wirklich sagen. Ich konnte mich nicht um sie kümmern. Es tut mir leid. Das enttäuscht dich jetzt bestimmt von mir, aber ich konnte dich nicht aus den Augen lassen. Esme und vor allem Rosalie und Jacob haben sich um sie gekümmert. Sie sah natürlich traurig aus, du hast ihr sehr gefehlt, aber sie war sich so sicher, dass sie dich zurückholen konnte und so gab sie die Hoffnung nie auf. Sie hat auch versucht, mir Hoffnung zu machen. Hat auch mir schöne Bilder geschickt. Ich möchte gar nicht darüber nachdenken, wie sehr sie bei unserem Anblick gelitten haben muss, aber sie hat sich nicht hängen lassen. Wir können wirklich sehr stolz auf sie sein.«

Das war ich auch. Mächtig stolz auf mein Mädchen. Sie war so viel tapferer als ich.

»Auch Carlisle hatte jeden Tag nach dir gesehen, doch er kannte keine Therapie für deinen Zustand. Es hätte Jahre dauern können, bis du wieder aufgewacht wärst und er machte sich große Sorgen, wie wir dich ernähren sollten. Bei Menschen ist das einfach, aber bei dir? Wir konnten dir keine Infusionen geben oder dich künstlich ernähren. Er hatte es mit einem Schlauch durch den Mund und durch die Nase versucht, doch dein Hals war wie zugeschnürt. Du hast das von innen heraus abgeblockt und er kam nicht durch. Wir hatten dir Blut in dem Mund gegossen, doch du hattest noch nicht einmal einen Schluckreflex. Gar nichts. Carlisle war ratlos. Ich dachte wirklich, dass du schon tot wärst. Das Einzige, das mir zeigte, dass da noch ein kleines bisschen Leben sein musste, war die grausame Veränderung deiner Augen. Stunde für Stunde, Tag für Tag, wich das Braun immer weiter zurück und dehnte sich das Schwarz immer weiter aus. Ich habe dir rund um die Uhr in die Augen gesehen. Ich hoffte so sehr, dass mein Anblick dich vielleicht erreichen könnte, dass du irgendwann zurückfinden könntest. Ich habe dich immer und immer wieder darum gebeten, doch deine Augen wurden fortwährend dunkler und meine Hoffnung immer schwächer. Ich hatte für mich beschlossen, dass ich nie wieder trinken würde, so lange du es auch nicht tust. Ich wollte bis in alle Ewigkeit hier bei dir liegen bleiben. Tod oder lebendig.«

Das Leid in seiner Stimme war deutlich zu hören. Ich kuschelte mich näher an ihn heran, hoffte, dass es ihm ein wenig Trost spenden würde und seine Umarmung wurde fester.

»Edward. Es tut mir so leid, dass du meinetwegen …«
»Jetzt hör aber auf, Bella. Wenn hier jemand Schuld hat dann …«
»o.k., o.k., ist schon gut. Wir haben beide keine Schuld. Es war einfach ein Unfall.«

Er küsste mein Haar und streichelte mich zärtlich. Es war so schön, so nah bei ihm zu liegen, seine Zärtlichkeiten zu genießen und pausenlos seinen Duft einzuatmen. Nach einer Weile erzählte er dann weiter.

»Alice und Jasper waren wenige Stunden nach ihrem Aufbruch umgekehrt und zurückgekommen, nachdem Alice dich in ihrer Vision ins Koma fallen sah. Sie sah dich aber nicht mehr aufwachen und das brachte mich fast um den Verstand. Natürlich versuchte sie mich zu beruhigen, meinte, dass die nötige Entscheidung einfach noch nicht getroffen worden sei und ich klammerte mich an diese schwache Hoffnung. Jasper war auch ratlos. Er empfing keine Gefühle von dir. Er versuchte dir alle möglichen Emotionen zu schicken, um irgendeine Reaktion zu erreichen, doch du warst unverändert leblos.«

»Ja, Edward. Ich habe dort gar nichts gespürt. Nichts schlimmes, aber auch nichts schönes. Ich war wie in Watte gepackt. Nichts drang zu mir durch.«

»Jedenfalls waren Alice und Jasper auch jeden Tag bei dir. Meistens war Emmett dabei. Ich glaube allerdings, dass Jasper und Emmett auch sehr um mich besorgt waren. Ich spürte immer wieder, wie Jasper mir Hoffnung machen wollte oder mich mit Sorglosigkeit überhäufte, aber ich weigerte mich, diese Gefühle anzunehmen. Sie waren nicht echt. Ich wusste, dass sie von ihm waren, da ich in seinen Gedanken hören konnte, wie er sie mir schickte. Emmett redete meistens auf mich ein. Bot mir an, mich abzulösen, damit ich jagen gehen könnte, doch das wollte ich nicht. Es war einfach unmöglich für mich, von dir weg zu gehen. In ihren Gedanken hatte ich gehört, dass sie mich notfalls mit Gewalt von dir wegreißen wollten, wenn es zu kritisch für mich würde, aber ich hatte sie gewarnt, das ja nicht zu versuchen. Wer weiß, wenn du nicht aufgewacht wärst, hätten sie es vielleicht doch in ein, zwei Wochen gemacht.«

Es war gut zu wissen, dass die Familie für ihn da war. Dass sie ihn retten wollten, wenn sie mich schon nicht retten konnten.

»Edward, hättest du nicht vielleicht irgendwann weitermachen können? Renesmee zuliebe?«
Er seufzte und atmete tief durch.
»Nein Bella, vermutlich nicht. Ich liebe unsere Tochter, natürlich tue ich das, aber ich wusste doch, dass sie gut versorgt war. Es waren viele für sie da. Ich hatte darüber nachgedacht, für sie weiterzuleben, konnte es aber vor mir selbst nicht rechtfertigen, dich zu verlassen. Alleine der Gedanke ließ mich verzweifeln. Ich schaffte es nicht und ich wollte sterben, wenn du sterben würdest.«

Auch ich seufzte. Irgendwie wusste ich es, hatte doch selbst auch schon ähnliche Gedanken. Wenn Renesmee sicher wäre, was hätte mich davon abhalten können, mit ihm in den Tod zu gehen?

»Ich verstehe dich Edward. Ich liebe dich so sehr, dass ich dich zwar gerne gerettet wissen würde, aber nur zu gut verstehen kann, warum du mir in jedwedes Schicksal folgen willst.«

Ich reckte ihm den Kopf entgegen und streichelte sein Gesicht. Er rutschte etwas zu mir herunter und küsste mich zärtlich. Endlich wieder ein Küssen ohne Pieksen. Jetzt konnte ich auch seinen Geschmack richtig wahrnehmen, ihn nun wieder mit allen Sinnen genießen. Bedauerlich war nur, dass ich mich noch so schwach fühlte. Also kuschelte ich mich wieder an seine Brust. Dann kam mir allerdings ein Gedanke, den ich nicht verstand.

»Edward? Du hast mir von allen erzählt, die jeden Tag hier bei dir und mir waren. Aber warum hast du Rosalie nicht erwähnt?«
»Sie konnte es nicht ertragen, dich so zu sehen.«
»Wie meinst du das?«
»Weißt du denn nicht, wie sie für dich empfindet?«
»Na ja, wie eine Schwester, … hoffe ich.«
»Oh Bella, du bist inzwischen viel mehr für sie. Vor Alice würde sie das nie sagen, aber für Rosalie bist du mit Emmett und Renesmee zusammen das Wichtigste überhaupt. Ihr steht für sie alle an erster Stelle auf einer Stufe. Sie hoffte und bangte wie ich. Sie versuchte für Renesmee stark zu sein, weil sie sich sicher war, dass du das so gewollt hättest. Dich anzusehen, tat ihr so schrecklich weh, dass sie es nicht aushalten konnte. Für Emmett waren die letzten Wochen dadurch auch sehr hart. Hast du nicht gesehen, wie glücklich und erleichtert er sie gestreichelt hatte, als du aufgewacht warst? Sie explodierte fast vor Freude. Sie kann es nur nicht so zeigen, aber ich hörte es überdeutlich.«

“Wow. Rosalie … liebt mich?”

Damit hatte ich nicht gerechnet, aber ich würde ihr auf jedenfalls noch dafür danken, dass sie sich so gut um Renesmee gekümmert hatte.

»Danke Edward, dass du mir das alles erzählt hast. Ich verstehe es jetzt sehr viel besser.«
Er seufzte erleichtert und drückte mich wieder fester an sich.
»Ach Bella, als ich dann dein Blinzeln bemerkte, war das definitiv einer der glücklichsten Momente in meinem Leben, obwohl ich erst dachte, den Verstand zu verlieren.
»Ja, ich habe gehört, wie du das gesagt hast.«

Er drückte mich noch immer fest an sich und ich hoffte, dass er das noch lange tun würde, da ich nicht die Kraft hatte, ihn so fest zu drücken. Doch andererseits war meine Neugierde noch nicht gestillt. Ich hatte noch mehr Fragen.

»Aber eines würde ich doch noch gerne wissen, Liebster. Was ist mit dem Gerücht? Was ist mit den Nomaden, die auf dem Weg zu uns waren. Müssten nicht schon ein paar hier gewesen sein? Was ist mit der Unbekannten? Was ist mit Garrett und Kate? Haben sie weiterhin versucht sie zu finden?«

»Langsam, Bella. Nicht so viele Fragen auf einmal. Also der Reihe nach. Es waren wohl inzwischen ein Dutzend Besucher hier. Meistens hatte Carlisle sie empfangen, oder Jasper, wenn Carlisle in der Klinik war. Sie mussten sie jedes Mal erst überzeugen, dass das Gerücht eine Lüge, eine Intrige war und dass die Unbekannte alles erfunden hatte, um einen Krieg zwischen den Volturi und uns zu provozieren. Die meisten waren direkt enttäuscht darüber, dass es nicht die Wahrheit war und sie alle boten an, wiederzukommen, wenn die Volturi uns angreifen würden. Carlisle und Jasper bedankten sich natürlich für die Unterstützung, schickten sie aber nach Hause. Sie sagten ihnen, dass wir die Volturi nicht herausfordern und ihnen keinen Grund geben wollten, hierher zu kommen. Sie verstanden gut, dass wir einfach nur gerne diese Intrigantin dingfest machen wollten und fast alle haben uns ungefragt versprochen, dass sie nach ihr suchen und sie zu uns bringen würden, wenn es ihnen gelänge, sie zu schnappen. Außerdem sagten sie uns zu, dass sie jedem von diesem Lügenmärchen erzählen würden.«

»Das hört sich gut an«, sagte ich unsicher.
War es denn gut? Was meinte Jasper dazu?
»Das ist auch gut. Jasper ist sehr glücklich darüber«, beantwortete er meine nicht gestellte Frage.
»Und Garrett und Kate?«
»Die suchen tatsächlich nach ihr, doch es gibt keine heiße Spur. Es gibt auch keine neuen Nomaden, die auf dem Weg zu uns wären. Nur noch die, von denen wir schon wissen. Alice vermutet, dass die Intrigantin das Land wieder verlassen hat.«
»Dann … hat sie aufgegeben?«
»Das hoffen wir alle.«

Ja, das war eine gute Hoffnung. Natürlich war mir klar, dass Edward jetzt nicht sagen wollte, dass wir es nicht wissen konnten. Dass sie sich genauso gut auch versteckt halten konnte, um eine neue Gemeinheit auszuhecken. Doch im Augenblick schien die Welt wieder auf einem besseren Weg zu sein.

Das war so verrückt. Meine ganze Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit, die mich dazu gebracht hatte, in die Dunkelheit zu fliehen, war jetzt auf einmal verblasst. Ich wurde regelrecht wütend auf mich, dass ich die Hoffnung aufgegeben hatte. Niemals wieder, würde ich das zulassen.

Die ganze restliche Nacht lag ich eng umschlungen in Edwards Armen. Doch diesmal wurde mir erst so richtig bewusst, wie regungslos wir dann waren. Manchmal hatte ich ein wenig Angst, dass meine Glieder wieder steif werden könnten. Dann reckte und streckte ich mich, nur um sicherzugehen, dass ich noch die volle Beweglichkeit hatte. Jedes Mal blickte mich Edward dann erschrocken an, doch ich beruhigte ihn und erklärte, dass das nur Tests wären und das alles in Ordnung sei.

Ich konzentrierte mich auch auf meinen Schild. Wollte wissen, ob ich schon stark genug war, ihn einzusetzen. Ich spürte sofort Edwards und Renesmees “Licht” auf und versuchte dann, meine Tochter vor ihm abzuschirmen. Es war sehr anstrengend und ermüdend. Mein Schild schien genauso wackelig zu sein, wie meine Beine, als ich sie zum ersten Mal wieder benutzte.

»Bella, was machst du da? Hörst du wohl sofort auf, Renesmee vor mir abzuschirmen! Das darf ja wohl nicht wahr sein. Du sollst dich ausruhen!«
»Ich ja schon gut, Edward.«

Ich ließ den Schild erschöpft wieder fallen. Mir wurde sogar etwas schwindelig. Warum nur strengte mich das so unglaublich an? Wie lange würde ich denn noch so schwach sein? Na ja, wenigstens hatte es halbwegs geklappt.

»Ich wollte nur sehen, ob ich es noch kann.«
»Sei nicht so ungeduldig. Du hast doch alle Zeit der Welt. Außerdem möchte ich jetzt in ihre Gedanken sehen.«
»Warum, was gibt es denn zu sehen?«
»Sie träumt so schon. Es ist so … glücklich … und entspannend.«
»Oh bitte erzähle es mir.«
»Im Augenblick träumt sie gerade, wie sie in einem dunklen Raum nach dir gesucht hat. Er sieht aus wie euer Trainingsraum. Dort hat sie dich in einer Ecke sitzend gefunden, an die Hand genommen und zur Tür geführt. Ich warte in ihrem Traum vor der Tür auf sie. Jetzt kommt sie mit dir heraus und wir alle liegen uns glücklich in den Armen. Es ist so schön.«

Ich seufzte glücklich. Mein kleiner Schutzengel träumte davon mich zu retten und die Familie wieder zu vereinen. Es ist so wunderbar. Ich kuschelte mich wieder enger an Edward heran.

Inzwischen schien die Morgendämmerung bevor zu stehen. Die Nacht würde in Kürze vorbei sein. Plötzlich vernahm ich ein “Oh!” von Edward.

»Edward? Was ist denn?«
Er zögerte kurz, doch dann sprach er.
»Bella, ich … da ist noch etwas, das ich dir nicht erzählt habe. Es tut mir leid, das war keine Absicht. Ich habe es einfach vergessen.«
»Na, dann erzähl es mir eben jetzt.«
»Ja, … aber es ist schwierig … es wird dir nicht gefallen. Ganz und gar nicht. Versprich mir, dass du dich nicht aufregst. Ja? Bitte Bella.«

Was könnte es denn sein, das Edward so besorgt werden ließ. Die Bedrohung durch die Volturi war im Moment doch nicht so akut. Ich wüsste nicht, was mich mehr beunruhigen könnte.

»Edward. Jetzt mache mich nicht auch noch nervös. Was ist es denn?«

Er seufzte und atmete schwer. Anscheinend suchte er nach den richtigen Worten, konnte sie aber nicht finden. Dann sagte er es einfach frei heraus.

»Charlie war hier.«
»Was? Mein Dad war hier als ich im Koma lag? Hat er mich gesehen? Wie hat er darauf reagiert? Warum ist er denn überhaupt gekommen? Was habt ihr ihm erzählt?«
»Langsam Bella, langsam. Ich erzähl dir ja alles. Bitte beruhige dich.«

Er drückte mich wieder fester an sich. Fast zu fest, aber nur fast. Er küsste mich mehrmals auf den Kopf und streichelte mir ziemlich kräftig über den Rücken. Ich wusste, dass das nichts Gutes zu bedeuten hatte, aber ich wusste auch, dass er schreckliche Angst hatte, ich könnte zurück ins Koma fallen. Also versuchte ich so ruhig wie möglich zu wirken.

»Edward, ist ja gut. Ich habe dir doch gesagt, dass das nicht noch mal passiert. Vertrau mir doch bitte. Ich weiß ja, dass du nicht hören willst, dass es mir leid tut, obwohl es mir schrecklich leid tut. Ich weiß auch, dass ihr alle davon überzeugt seid, dass es einfach passiert ist, weil mein Verstand sich schützen wollte, aber ich sage dir, da war auch eine Entscheidung von mir beteiligt. Eine Entscheidung, die mich dort hin gebracht hatte und eine, die mich wieder zurückkommen ließ. Glaube mir, ich werde nie wieder eine Entscheidung treffen, die mich noch mal dorthin bringt. Nicht nach all dem, was ich jetzt weiß … und jetzt, erzähl mir, was mit meinem Dad ist.«

Er seufzte, atmete noch mal tief durch und dann begann er zu erzählen.

»Vor vier Tagen war Charlie hier. Er hatte mit Carlisle gesprochen und wollte wissen, was mit dir los ist. Wollte dich auf der Stelle sehen. Carlisle erklärte ihm, dass du jetzt keinen Besuch empfangen könntest und da ist er halb ausgerastet. Er hatte gedroht, alle Sheriffs von Staat Washington auf uns zu hetzen, wenn er nicht sofort zu dir vorgelassen wird. Carlisle hat dann versucht ihm schonend beizubringen, dass du ins Koma gefallen bist und nun in Gottes Hand liegst.«

Oh, mein Armer Dad. Auch ihm hatte ich solches Leid angetan.

»Wie hat er das aufgenommen?«
»Wie wohl. Er wollte dich unbedingt sehen, also hat Carlisle ihn hierher gebracht. Charlie dachte, dass ich das Gleiche hätte, weil ich ja auch regungslos vor dir lag, doch Carlisle erklärte ihm, dass ich freiwillig hier wäre und dass ich nicht weggehen könnte. Das war glaube ich das erste Mal, dass ich Charlie besorgt über mich denken hörte. Er wusste, wie sehr ich dich liebe und unser beider Anblick machte ihm den Ernst der Lage bewusst.«
»Aber, dann muss ich zu ihm. Muss ihm sagen, dass es mir wieder gut geht.«

Ich wollte aufspringen und wenigstens zum Telefon rennen, doch Edward hielt mich zurück und ich war nicht in der Lage, mich zu wehren.

»Langsam, Bella, bitte. Komm erst wieder zu Kräften. Nachher können wir ihn ja anrufen und berichten, dass du auf dem Weg der Besserung bist.«

Das beruhigte mich etwas, doch ich verstand nicht, warum er hier gewesen war. Wir sahen uns doch auch so nicht gerade häufig. Warum war er denn jetzt plötzlich gekommen?

»Edward? Weißt du warum er hier war?«
»Ja.«
Ich wartete, dass er anfangen würde zu erklären, doch er schwieg.
»Edward?«
Ein weiterer Seufzer, gefolgt von einer kräftigeren Umarmung, ließ mich vom Schlimmsten ausgehen.
»Ich weiß nicht, wie ich dir das schonend beibringen kann. Es ist … Renée hatte ihn angerufen.«
»Meine Mom! Was ist mit ihr? Edward, raus mit der Sprache!«
»Ja, Bella, ich erzähle es ja schon. Bitte beruhige dich.«
»Sag es sofort!«, knurrte ich ihn an und schlug mit all meiner kläglichen Kraft mit der Faust gegen seine Brust, doch er bewegte sich noch nicht einmal.

»Bella. Wir hatten nicht damit gerechnet, dass deine Mom auf eine E-Mail von dir wartete. Sie hatte deinen Dad angerufen und ihn gefragt, ob er wüsste, was mit dir los sei und hatte ihm berichtet, dass du seit zwei Wochen nicht auf ihre Mails reagieren würdest und so kam Charlie zu uns.«

Oh nein. Nicht auch noch meine Mom. Das war nicht richtig. Ich schluchzte leicht, was Edward nahezu in Panik versetzte.

»Bitte, Bella, es geht ihr doch gut. Sie ist einfach nur besorgt. Charlie hat mit ihr gesprochen.«
»Was hat Dad meiner Mom erzählt?«, fragte ich mit zittriger Stimme.
»Muss das jetzt alles sein? Können wir nicht später…«
»Hör sofort auf damit, irgendetwas vor mir zurückhalten zu wollen! Du sagst es mir jetzt sofort!«

Er zögerte. Natürlich zögerte er. Seine Hände streichelten mich nervös. Obwohl ich so aufgewühlt war, wollte ich ihm etwas Zeit geben und versuchte mich selbst zu beruhigen. Dann redete er weiter.

»Carlisle und Charlie hatten darüber gesprochen, dass es das Beste für Renée wäre, wenn sie glauben würde, du hättest einen Rückfall wegen der Tropenkrankheit und dass du unter Quarantäne stehen würdest.«
»Aber sie macht sich doch sicher schreckliche Sorgen um mich. Bitte Edward, wir müssen ihr sofort sagen, dass es mir wieder gut geht.«
»Bella«, sagte er mit fast verzweifelter Stimme. »Bitte, lass uns nichts überstürzen.«
»Worauf sollen wir denn warten?«, fragte ich recht ungehalten.

Was gab es da zu überlegen? Wieder atmete er tief durch, immer noch auf der Suche nach den richtigen Worten.

»Ich habe Carlisle und Charlie darüber reden hören, Bella. Dein Dad weiß, dass Renée nie wieder richtig Teil deines Lebens sein kann. Dass sie dich nie so sehen darf, wie du jetzt aussiehst und dass sie nie deine Tochter kennen lernen darf. Er glaubt, dass sie auf lange Sicht weit aus mehr leiden wird, als wenn…«

Edward hörte auf zu reden. Ich wusste was er sagen wollte. Er musste es nicht aussprechen. Mein Dad meinte, dass es das Beste für meine Mom wäre, wenn sie an meinen Tod glauben würde. Ich fühlte wieder, wie ein Loch in meiner Brust zu wachsen versuchte und musste unweigerlich schluchzen, doch es wurde nicht größer. All die positiven Gefühle, die ich erst kürzlich dort verwahrt hatte, hielte es im Zaum.

Ich versuchte mich zu beruhigen und das Schluchzen wieder abzuschalten. Also hielt ich meinen Atem an, um diesem traurigen Geräusch den Nährboden zu entziehen. Nur zehn Sekunden später wurde ich grob von Edwards starken Händen gepackt und durchgeschüttelt.

»Bella! Um Himmels Willen. NEIN!«
Er schüttelte mich so kräftig, dass ich kurz die Orientierung verlor.
»E-E-E-dwaaaard. Stopp.«

Schlagartig hielt er an und legte mich vor sich hin. Mir schwirrte der Kopf und ich griff mir an die Stirn. Er kniete vor mir auf dem Bett und ich sah das Entsetzten auf seinem Gesicht.

»Was soll das denn? Das kannst du doch nicht mit mir machen«, sagte ich verdattert.
Ich schaute ihm in die Augen. Die Panik wich allmählich der Erleichterung.
»Ich dachte du…«

Ja natürlich. Als ich in seinem Arm lag, mein Schluchzen und meinen Atem stoppte, musste er natürlich denken, dass ich wieder ins Koma fallen würde.

»Oh Edward.«

Ich drehte mich zu ihm und zog ihn zu mir herunter, das heißt, eigentlich zupfte ich nur an seinem Arm und er legte sich vor mich. Dann legte ich die Hand auf sein Gesicht und streichelte ihn zärtlich.

»Ich hab dir doch gesagt, dass das nicht noch mal passieren kann. Hab doch vertrauen.«

Er seufzte erleichtert, sagte aber nichts. Es würde wohl noch eine ganze Weile dauern, bis er wieder volles Vertrauen zu mir fassen könnte.

Hinter mir ging Renesmees Tür auf. Sein Aufschrei hatte sie wohl alarmiert. Ich drehte mich zu ihr um und sah ihr besorgtes Gesicht, dass sich aber auch gleich in Erleichterung wandelte.

»Ich dachte schon, es wäre etwas passiert, weil Daddy so geschrien hat.«
»Es tut mir leid, Liebling«, sagte Edward. »Ich war kurz erschrocken.«
»Magst du zu uns kommen?«, fragte ich sie und sofort hielt ein Lächeln Einzug auf ihrem Gesicht und sie kam zu uns.

Wir legten sie zwischen uns und streichelten sie. Ihr Rücken schmiegte sich an meine Brust und sie nahm eine Hand von Edward in ihre. Ob sie von der Sache mit meinem Dad und meiner Mom wusste? Ich versuchte meinen Schild wegzudrücken, um Edward dies im Gedanken zu fragen. Es war so schwierig. Mein Schild klebte wie ein Kaugummi an mir. Die nötige Konzentration aufzubringen, um ihn von mir weg bewegen zu können, war extrem anstrengend. Ich konnte ihn nur leicht lösen, dachte schnell “weiß sie von Mom und Dad?” und dann konnte ich ihn nicht mehr halten und er rummste auch schon wieder zurück. Es war fast wie ein Schlag auf den Hinterkopf und mir wurde direkt wieder kurz schwindlig.

»Würdest du bitte damit aufhören, dich so anzustrengen? War ich dir denn heute nicht schon verzweifelt genug?«
»Tut mir leid«, sagte ich kleinlaut und massierte meine Schläfe.
»Wovon redet ihr?«, wollte Renesmee wissen.
»Momma hat versucht ihren Schild wegzurücken, um mich etwas im Gedanken zu fragen und ich finde das nicht gut, weil sie doch noch so schwach ist.«
»Nicht machen, Momma!«, sagte sie bestimmend und dann fragte sie:
»Daddy, was wollte Momma denn wissen?«
»Ob du von Charlies Besuch weißt.
»Ach so. Ja Momma, davon weiß ich. Ich hab auch mit Opa geredet. Außerdem habe ich meine Opas miteinander reden hören. Ich weiß auch das mit deiner Mom.«

Den letzten Satz sprach sie sehr mitfühlend aus. Aber mir fiel auf, dass sie meine Mom nicht Oma genannt hatte. Warum auch. Sie kannte sie ja nicht und würde sie nie kennen lernen. Ich war sehr unglücklich deswegen.

Renesmee drehte sich zu mir um und streichelte mein Gesicht.
»Momma? Ich weiß was sie deiner Mom erzählen wollen. Ich finde das auch sehr traurig. Ich hätte sie wirklich gerne mal kennen gelernt.«
»Aber das kannst du doch vielleicht irgendwann«, sagte ich, wobei ich mir dabei wohl eher selbst Mut machen wollte als ihr.
»Ach Momma. Ich bin vielleicht noch klein, aber nicht doof. Ich weiß, dass das nicht geht. Sie darf nicht wissen, was wir sind und würde es auch nicht verstehen. Ich würde sie niemals besuchen. Ihr sagt doch alle, dass ich deine Augen habe, also deine früheren Augen. Die würde sie bestimmt erkennen. Das geht einfach nicht. Aber wenigstens darf ich mich ja mit Opa treffen. Ich hab ihn sehr gerne.«
»Du würdest meine Mom auch mögen«, schluchzte ich und sie drückte sich an mich, um mir Trost zu spenden.

Auch Edward rückte näher heran, um mir über den Kopf und das Gesicht zu streicheln. Dass meine Mom erfahren sollte, dass ich gestorben sei, brach mir fast das stille Herz. Nur meine zwei Sonnen sorgten dafür, dass es heil blieb.

»Ich bin so froh, dass ich euch beide habe«, sagte ich mit zittriger Stimme und drückte mich näher an sie dran.

Edward umfing mich mit seinem Arm und zog mich fester zu sich.

»He, nicht so fest, sonst habt ihr mich nicht mehr lange«, gab Renesmee, die zwischen uns eingequetscht wurde, schmunzelnd von sich.

Edward musste grinsen und auch meine Trauer wurde von dem kleinen Scherz etwas aufgebrochen. Ich zog sie zu mir hoch und schloss sie so fest ich nur konnte, also eigentlich ganz sanft, in meine Arme und küsste sie. Edward huschte über uns hinweg, legte sich an meinen Rücken und umarmte uns beide. Sie schenkten mir den Trost, den ich so dringend brauchte.

Ja, ich wusste, dass es für meine Mom das Beste war, wenn es ein Ende hätte. Wie viel mehr würde es sie quälen, wenn ich Jahr für Jahr immer wieder neue Ausreden erfinden müsste, um ein Treffen mit ihr zu vermeiden? Wäre es nicht viel schlimmer für sie, wenn sie glauben müsste, ich würde sie nicht mehr in meiner Nähe haben wollen, würde den Kontakt vermeiden? Sie würde sich sicherlich immer wieder fragen, was sie falsch gemacht haben könnte und alles versuchen, um mich zurück zu gewinnen. Nein, das konnte ich ihr nicht länger antun. Es musste einfach ein Ende haben. Ich beschloss, es zuzulassen.

Sie gaben mir noch eine Weile, bis ich mich wieder gefangen hatte. Dann hörte ich leises knurren aus Renesmees Bauch.

»Was war das denn? Hast du Hunger, Schatz?«
»Ja, das ist echt blöd. Mein Bauch hat sich so an das menschliche Essen gewöhnt, dass er immer gleich zu meckern anfängt, wenn es keinen Nachschub gibt.«
Wir lachten zusammen.
»Dann sollten wir wohl aufstehen, damit du etwas zu futtern bekommst.«

Renesmee hüpfte aus dem Bett und flitzte in ihr Zimmer, um sich umzuziehen. Ich bewegte mich etwas behutsamer, fühlte mich aber sicher und kontrolliert. Vielleicht etwas langsam, aber wenigstens nicht mehr so wackelig auf den Beinen. Edward schien sehr erleichtert zu sein, dass ich ohne Probleme aufstehen konnte. Ich holte mir eine Jeans und quälte mich in sie hinein. Selbst das Anziehen war irgendwie anstrengend. Als ich es dann endlich geschafft hatte, fragte ich mich selbst, warum ich nicht einfach eines der vielen Kleider angezogen hatte. Das wäre doch wirklich viel einfacher gewesen, aber jetzt war es zu spät. Diese Hose würde ich so schnell nicht wieder ausziehen. Noch ein T-Shirt, Schuhe, fertig. Fix und fertig. Wahnsinn. Wieso war das alles nur so anstrengend? Wo war meine Kraft denn hin verschwunden und warum spürte ich schon wieder das Brennen in der Kehle?

Etwas zögerlich trat ich vor den Spiegel, um mich zu betrachten. Ich war unsicher, ob ich mich in den Tagen meiner Starre sehr verändert hatte. Fast ängstlich warf ich einen Blick auf mein Spiegelbild, doch ich sah im Grunde so aus, wie ich mich in Erinnerung hatte. Nur meine Augen nicht. Ich erschrak, als ich feststellte, dass sie fast vollständig schwarz waren.

Wie konnte das sein? Ich hatte doch in der vergangenen Nacht insgesamt gut 6 Flaschen Blut getrunken. War ich denn so ausgezehrt? Jetzt wurde mir auch klar, warum Edward und die anderen wollten, dass ich den ganzen Vorrat alleine trinken sollte und warum er so verzweifelt wirkte, als ich meine Gabe angewendet hatte und mich nicht schonte, wie er wollte. Es kam mir jetzt so albern vor, dass ich die anderen dazu gezwungen hatte, auch zu trinken.

Edward trat neben mich. Seine Augen waren schon deutlich erholter. Natürlich hatten sie auch ein großes schwarzes Zentrum, aber auch ein viel deutlicheren braunen Rand, als noch vor unserer Feier.

»Ist alles in Ordnung, Liebste? Du wirkst so besorgt.«
»Ja Edward, ich habe nur wieder so einen schrecklichen Durst und bin selbst über meine Augen erschrocken. Wieso hat mich das Koma nur so ausgezehrt? Ich hatte mich doch praktisch nicht bewegt. Mein ganzer Körper war doch in einem Energiesparmodus.«
»Ich weiß es nicht, Liebste, aber vielleicht hatte dein dunkles Versteck einen erhöhten Energiebedarf.«

Ich nickte. Zwar hatte ich keine Ahnung, aber die Erklärung war mir plausibel.

»Auf jeden Fall gehen wir beide heute auf die Jagd. Du musst viel trinken und heute lasse ich keine Ausreden gelten.«

Ich nickte wieder, auch wenn ich keine Ahnung hatte, wie ich in meinem Zustand etwas jagen sollte.


Wir gingen hinüber ins Familienhaus. Als wir beim Trainingsraum und der Garage vorbeikamen, bemerkte ich ein Lächeln auf Renesmees Gesicht und auch Edward grinste leicht.

»Was freut euch denn so?«, wollte ich wissen.
»Na, dass du wieder mit uns hier rüber kommst, natürlich«, sagte mein kleiner Stern kichernd.

Ich sah sie prüfend an. Irgendetwas verheimlichte sie vor mir, aber das würde sie mir sicherlich noch erzählen. Wir gingen ins Haus und schon wehte mir ein unangenehmer Essensduft entgegen.

»Hmm. Spiegeleier mit Speck«, sagte Renesmee und eilte zu Esme in die Küche.
»Hallo Esme. Du kochst schon für mich?«
»Ja Liebes. Alice hatte da so eine Ahnung, dass ihr gleich kommen werdet.«
»Guten Morgen Bella.«

Alice sprang die Treppe herunter und begrüßte mich mit dem klingenden Windspiel ihrer Stimme. Dann nahm sie mich übertrieben vorsichtig und zärtlich ich den Arm und küsste mich auf die Wange.

»Also ganz so zaghaft musst du mich auch nicht umarmen. Ich gehe doch nicht gleich kaputt, wenn du mich drückst«, sagte ich und setzte einen Schmollmund auf.
»Ach Bella, wenn du wieder richtig bei Kräften bist, drücke ich dich wieder so fest du nur willst, o.k.?«

Ich seufzte. Ich wusste was sie meinte. Würden ihre Augen so wie meine aussehen, hätte ich auch Angst, sie fest zu umarmen. Also nickte ich zustimmend und lächelte wieder.

Auch Jasper, der Alice gefolgt war, kam zu mir, um mich zu umarmen.
»Du siehst sehr durstig aus, Bella.«
»Bin ich auch, Jasper. Edward wird gleich mit mir auf die Jagd gehen.«

Rosalie kam ebenfalls aus ihrem Zimmer und sah wütend aus.
»Edward! Hattest du den Verstand verloren, vorhin so zu brüllen? Mir hätte fast das Herz wieder angefangen zu schlagen.«

Ich musste direkt loslachen. Dass sie den Spruch mit dem stehen bleibenden Herzen herumgedreht hatte, fand ich irre komisch. Sie lächelte mich an und schien gleichzeitig Edward anzufunkeln. Wie machte sie das bloß?

»Das ist nicht komisch. Ich wäre fast durchs Fenster gesprungen, vor lauter Sorge.«
»Aber ich habe dir doch gesagt, dass alles in Ordnung ist«, meinte Alice.
»Ja zum Glück, aber dem Wahnsinnigen da würde ich jetzt gerne den Kopf abreißen, oder besser irgendetwas Anderes, das er vielleicht mehr vermissen würde.«

Edward verdrehte die Augen aber ich musste schon wieder lachen. Rosalie war ja so gut drauf.
»Hey! Unser Koma-Vampir kann ja wieder lachen«, meinte Emmett und kam grinsend zu uns. »Wenn das mal nicht ein gutes Zeichen ist.«
»Ist es«, bestätigte ich.

»Wenn ihr nichts dagegen habt, dann würde ich jetzt gerne dafür sorgen, dass meine Frau etwas zu trinken bekommt.«
Sie stimmten zu. Dagegen konnte noch nicht einmal Rosalie etwas haben.
»Komm Liebste, lass uns jagen gehen.«
»Moment noch.«

Ich ging zu Rosalie und nahm sie in den Arm um sie zu drücken, so fest ich nur konnte, was derzeit selbst für einen Menschen alles andere als gefährlich gewesen wäre.

»Rose, ich möchte dir nur danken, dass du so gut auf meine Renesmee aufgepasst hast, als ich … es nicht konnte. Das werde ich dir nie vergessen.«
Ihre Augen strahlten vor Rührung und aus den Augenwinkeln konnte ich das Gleiche bei Esme sehen.
»Das … war doch selbstverständlich, Schwesterchen. Kein Grund zu danken.«
Sie war fast verlegen. Den Zug kannte ich gar nicht an ihr.
»Doch, es ist ein Grund zu danken. Ein riesiger Grund. Ich will nur, dass du weißt, wie froh ich deshalb bin. Danke Rose, ich hab dich lieb.«

Dann küsste ich sie noch auf die Wange, ließ sie sprachlos aber glücklich lächelnd stehen und ging mit Edward aus dem Haus. Als wir draußen waren, hörte ich noch mal ihre jetzt sehr fröhliche Stimme.
»So Nessie, was machen wir heute?«


Edward hielt mir die Beifahrertür an seinem Volvo auf und ich stieg ein. Eine Diskussion, wer heute fahren würde, war absolut überflüssig.

»Wohin fährst du mit mir?«
»Dorthin, wo wir das letzte Mal gejagt haben.«

Oh!? Warum ausgerechnet dahin? Der Ort hatte etwas Besonderes für mich. Dort hatten wir unser Jagd-Spiel gespielt. Wollte er deshalb erneut in dieses Jagdgebiet? Verzehrte er sich auch auf diese Weise so sehr nach mir? Für ihn waren die letzten Wochen sicherlich sehr viel länger als für mich, aber ich würde doch eine viel zu einfache Beute für ihn sein. Oder reizte ihn gerade das? Ich wusste wirklich nicht, ob ich mich darauf freuen sollte oder nicht. Für mich zählte im Augenblick vor allem der brennende Durst. Andererseits wusste ich doch auch gar nicht, ob er das tatsächlich im Sinn hatte.

»Hat es einen besonderen Grund, warum du dort jagen möchtest?«
»Ja … dort gibt es so leckere Raubkatzen«, sagte er mit seiner verführerisch sanften Stimme und setzte dabei sein so schönes schiefes Lächeln auf.

Was sollte denn das jetzt heißen? Meinte er wirklich die Beutetiere, oder meinte er mich mit “leckerer Raubkatze”. Ich war verwirrt. Der Klang seiner Stimme verhinderte, dass ich klar denken konnte und plötzlich nahm ich auch seinen Duft intensiver war, der sich im Auto ausbreitete und mich berauschte. Warum nur hatte er immer so eine Wirkung auf mich? Ich beschloss es einfach mal auf mich zukommen zu lassen und keine weiteren Vermutungen anzustellen und atmete ruhig und genüsslich weiter.


Wir kamen an und stiegen aus dem Auto aus. Ich fand es zwar albern, wenn er immer gleich um das Auto herum huschte, um mir die Tür aufzumachen, aber heute war ich ohnehin nicht schnell genug, um vorher aussteigen zu können.

Dann gingen wir gemeinsam in die tiefe Winterlandschaft. Das bisschen warme Luft, dass ich noch aus dem Auto in mir hatte, verursachte beim Ausatmen einen kleinen Nebel. Alle weiteren Atemzüge waren aber leider vollkommen kalt und nicht mehr zu sehen.

Wir stapften durch den tiefen Schnee. Das war so merkwürdig. Wenn wir rannten, sanken wir gar nicht ein. So aber zog sich eine tiefer Spur von uns durch den Schnee und zerstörte den idyllischen Anblick. Das gefiel mir gar nicht.

»Edward? Das klingt jetzt vielleicht albern, aber könntest du mich vielleicht dorthin tragen, wo du jagen willst?«

Er schmunzelte. Ja es war wirklich albern, das Raubtier zur Beute tragen zu müssen, aber ich wusste doch sowieso nicht, wie ich jagen sollte. Ich kam ja kaum durch den Schnee. Vielleicht wäre das eine neue Jagdtaktik. Ich würde die Beute spielen und dann zubeißen, wenn sich mir eine unvorsichtige Raubkatze genähert hatte. Wie lange ich wohl warten müsste?

Auf Edward musste ich jedenfalls nicht warten. Er hob mich gleich auf die Arme und rannte los. Augenblicke später waren wir an der selben Stelle, an der wir das letzte Mal unsere Luchse getrunken hatten.

»Warte hier«, sagte Edward, nachdem er mich abgesetzt hatte und rannte los.

Natürlich. Er würde jagen und mir die Beute bringen. Typisch. Ganz Gentleman. Aber heute würde ich ihm das sicherlich nicht vorwerfen. Ich hoffte nur, dass ich nach 1-2 Beutetieren wieder stark genug war, um selbst jagen zu können.

Kurze Zeit später war Edward wieder zurück. Zwei Luchse zappelten in dem Griff seiner Hände.

“Die gleiche Stelle, die gleiche Beute”, dachte ich mir.

Wollte er wirklich mehr als mich füttern? Er reichte mir einen Luchs und ich nahm ihn gerne an.

»Lass ihn dir schmecken.«

Himmel, ich hatte so einen schrecklichen Durst. Das Tier roch so köstlich und meine Kehle brannte unerbittlich. Ich konnte nicht darauf warten, dass er seinen auch trank und schlug die Zähne in den Hals meiner Beute. Das frische warme Blut belebte mich stärker, als das kalte, abgefüllte von gestern Nacht. Vielleicht lag es aber auch daran, dass es mir schon besser ging. Jedenfalls spürte ich deutlich, wie die Kraft in meine Glieder zurückkehrte.

Nachdem der Luchs leer getrunken war, schaute ich zu ihm. Er stand einfach da, lächelte mich an, reichte mir den zweiten Luchs und nahm mir den ersten wieder ab.

Er hatte seine Beute also nicht getrunken. Das war nicht seine Mahlzeit, sondern die war auch für mich bestimmt. Ich zögerte kurz, ob ich mich deshalb beschweren sollte, dass er nicht trank, aber ich hatte noch immer solchen Durst, dass ich für seine Großzügigkeit wirklich dankbar war. Also trank ich ohne Kommentar.

»Schon besser?«, fragte er mich und nahm mir auch den zweiten Luchs ab.
»Ja, Danke.«
»Ich hole dir noch etwas«

Kaum, dass er das gesagt hatte, war er auch schon wieder verschwunden. Wie viel Energie ich wohl durch das frische Blut gewonnen hatte? Ich versuchte kraftvoll nach oben zu springen und schoss in die Luft. Völlig überrascht von der neu gewonnenen Sprungkraft, durchschlug ich einen Ast über mir und fiel schließlich wieder herunter. Allerdings sah meine Landung sehr viel graziler aus, als mein Absprung.

Edward kam zurück - jetzt mit einem bewusstlosen Puma über der Schulter - und bemerkte den riesigen Ast, der nun neben mir lag und sah mich verwundert an.

»Was ist denn hier passiert?«
»Nur ein kleines Experiment, bei dessen Ausführung mich das Ergebnis etwas überrascht hat.«

Er grinste und legte den Puma vor mir auf den Boden, seine Kehle entblößt, damit sich meine Zähne auf direktem Weg hineinschlagen konnten.

Ich seufzte kurz. Bei Pumas war ich es schon fast gewohnt, dass wir sie zusammen tranken, doch nicht heute. Er machte keinerlei Anstalten und ich war immer noch so unglaublich durstig, dass ich irgendwie auch nicht teilen wollte, wofür ich mich direkt schämte. Aber ich würde das schon irgendwie wieder gut machen können. Also ließ ich mich nicht lange bitten und machte mich über meine Lieblingsbeute her.

Pumas sind nicht nur wahnsinnig lecker, sie haben auch richtig viel Blut. Ich strotzte plötzlich wieder vor Kraft. Als ich ausgetrunken hatte, schaute ich nach ihm. Er stand noch immer vor mir und lächelte mich glücklich an. Ich konnte nicht anders, als zurück zu lächeln.

»Wie sehen meine Augen aus?«
»Schon viel besser, aber nicht gut genug.«
»Dir gefallen meine Augen nicht mehr?«, sagte ich mit dem gespielten entsetzen einer verschmähten Geliebten.
»Was? … Natürlich, doch … ich mein nur … du musst noch mehr trinken.«
Er stotterte. Er war doch tatsächlich auf meinen Scherz hereingefallen und ich prustete ein Lachen heraus.
»Wie? … Du machst dich über mich lustig? Komm her du.«

Er sprang auf mich zu, doch ich wich ihm aus, womit er nicht gerechnet hatte. Dann rannte ich schnell weg. Es war so wunderbar, wieder richtig mit vollem Tempo rennen zu können. Ich nahm wieder alle Gerüche um mich herum intensiv war. Jede Schneeflocke in der Luft wurde von meinem scharfen Auge erfasst. Es war wieder so, wie es sein sollte.

Vor lauter Freude über meine wiedergewonnene Stärke und Schnelligkeit vergaß ich ganz, dass ich eigentlich eine Gazelle auf der Flucht war. Mein Jäger hatte mich in Sekundenschnelle eingeholt und zu Boden gerissen. Lachend kam ich in seinem Arm zum Liegen und er gab mir gleich einen zärtlichen Kuss.

Der Geschmack seiner Lippen und der Duft seines nahen Körpers erweckten jetzt einen ganz anderen Durst in mir. Vielleicht hatte ich auf dem Weg hierher noch an mir gezweifelt, ob ich mehr wollte, aber dieser Zweifel war jetzt verflogen. Außerdem hatte er so gut für mich gesorgt, dass ich ihn gerne belohnen wollte.

»Komm, Liebste. Dein kläglicher Fluchtversuch war Beweis genug, dass du unbedingt noch mehr trinken musst.«

Was? Er wollte mich jetzt gar nicht. War es ihm denn entgangen, dass ich dazu bereit war? Das ich es auch wollte? Ich reckte mich ihm entgegen, um ihn noch mal zu küssen und ihm davon zu überzeugen, dass ich mehr wollte, doch er zog mich einfach hoch auf die Beine und versuchte eine weitere Fährte aufzuspüren.

Ich war verwirrt. Sollte ich jetzt enttäuscht sein, dass er nicht mehr wollte? Aber das war doch albern. Er war natürlich einfach nur besorgt um mich. Besorgnis war eindeutig gleich nach der Liebe die stärkste Emotion, die er für mich empfand. Die Lust kam definitiv später dran. Solange er mich umsorgen konnte, war er absolut in seinem Element. Alles andere konnte warten.

Ich seufzte und konzentrierte mich ebenfalls auf meinen Jagd-Modus. Zusammen liefen wir durch den Wald und spürten weitere Beutetiere auf. Mittlerweile machte ich mir sorgen, ob wir die Luchs-Population in diesem Gebiet nicht gefährden würden, aber Edward informierte mich darüber, dass hier eher von einer Plage gesprochen würde. Wir begegneten auch einer Menge dieser Katzen, so dass ich ihm Glauben schenkte. Außerdem legten wir bei der Jagd auch weite Strecken zurück und jagten ja nicht jedes einzelne Tier, dem wir begegneten.


Nachdem ich nun wieder selbst jagte, trank auch er seine Beutetiere aus. Nach meinem siebten Luchs und zweiten Puma war ich definitiv vollkommen satt. Ich ging zu ihm, wartete, bis auch er ausgetrunken hatte und nahm ihn an die Hand.

»Wie gefallen dir meine Augen jetzt?«
»Jetzt sind sie wieder das Schönste, das anzusehen ich mir vorstellen kann.«

Ich stellte mich auf die Zehenspitzen, legte die Hände um sein Genick und küsste ihn leidenschaftlich. Auch seine Arme umschlossen mich und ich spürte seine streichelnden Hände auf meinem Rücken und meinem Po. Es war wunderschön. Ich war wieder gesund, im Vollbesitz meiner Kräfte und noch immer hoffnungs- und bedingungslos in ihn verliebt. Ich drückte meinen Schild weg, was mir jetzt sehr viel leichter fiel und dachte ein intensives “Ich liebe dich so sehr”, woraufhin mein Kuss sehr viel leidenschaftlicher erwidert wurde. Danach löste er sich von mir.

»Wollen wir wieder nach Hause gehen?«

“Was? Er will mich jetzt noch immer nicht? Aber habe ich ihm denn nicht deutlich gezeigt, dass ich will?”

Meine Gedanken hatten mich verraten. Dummer Weise hatte ich nicht bedacht, dass ich meinen Schild noch weggedrückt hatte. Es fiel mir wirklich wieder sehr leicht. Er blickte mich an und zögerte etwas. Wusste er nicht was ich meinte?

»Oh?! Ich verstehe. Tut mir leid, aber daran habe ich jetzt wirklich nicht gedacht.«
Jetzt war ich wirklich enttäuscht.
»Aber du musst doch nicht enttäuscht sein.«
“Blöder Schild!”, fluchte ich innerlich und ließ ihn wieder zurückschnellen.
»Bella, ich hatte wirklich nicht erwartet, dass du das machen wolltest«, sagte er mit seiner sanften und einfühlsamen Stimme. »Natürlich können wir, wenn du willst.«
»OH EDWARD! Was ist denn das jetzt für eine Stimmung dafür. So geht das nicht.«

Ich war tatsächlich etwas wütend und enttäuscht und natürlich auch peinlich berührt, dass ich wollte und er nicht. Das war ja fast so wie damals, als ich noch ein Mensch war.

»Bella, es tut mir leid. Wie kann ich das denn wieder gut machen?«

“Jetzt entschuldigt er sich auch noch dafür”, dachte ich und verzog das Gesicht.
Seine Mimik war undefinierbar. War das Enttäuschung? Oder Bedauern? Oder Verzweiflung?
“Was habe ich ihm denn jetzt wieder angetan?”

»Nicht Edward. Keine Selbstzweifel. Bitte, es war wohl eher ein … Missverständnis. Ich dachte, da du hierher zum Jagen kommen wolltest und du ja außerdem so lange auf mich gewartet hast, dass du auch … na ja, mich wolltest. Erst war ich deswegen verunsichert aber dann habe ich mich darauf gefreut.«
»Und ich habe es ärgerlicher Weise nicht erkannt.«
»So könnte man es ausdrücken«, sagte ich leise lachend und er stimmte mit ein.
Zumindest war die peinliche Situation damit beseitigt.

»Wer zuerst beim Auto ist. Aber ich bekomme zwei Sekunden Vorsprung.«
»Bei der kurzen Distanz? Da bis du schon am Auto, bevor ich überhaupt losgerannt bin.«
»Dann solltest du nicht so herumtrödeln«, sagte ich und rannte los.

Kurz vor dem Auto spürte ich einen Windhauch und dann stand Edward auch schon vor mir und hielt mir die Tür auf.

»Wieso bist du nur so unfassbar schnell?«
»Na ja«, sagte er grinsend. »Wenn man immer vor so vielen Verehrerinnen weglaufen muss…«
»Du Mistkerl!«, sagte ich, sprang ihn an und riss ihn zu Boden.

Noch bevor wir unten ankamen, hatten sich unsere Lippen bereits zum Kuss vereint.

»Edward. Ich liebe dich doch über alles. So kleine Missverständnisse oder Peinlichkeiten dürfen einfach nicht zwischen uns stehen. Außerdem verstehe ich sehr gut, warum du nicht daran gedacht hast. Lass es uns einfach vergessen.«
»Schade. Gerade hatte ich daran gedacht. Dann halt ein andermal.«

Wir lachten und küssten uns noch mal und setzten uns dann doch lieber wieder ins Auto um weitere Peinlichkeiten zu vermeiden. Na ja. Es war trotzdem eine gute Jagd gewesen.


Als wir wieder zu Hause ankamen, begrüßte auch Jacob mich überschwänglich. Er war wohl nicht minder besorgt um mich gewesen und nun sehr erleichtert, dass ich wieder fit war. Danach hatte ich Alice aufgefordert, ihr Versprechen einzulösen und mich jetzt richtig fest in den Arm zu nehmen. Mit einem glockenklaren Lachen schloss sie mich in die Arme und drückte mich endlich so, wie ich es wollte.

Carlisle war ebenfalls gerade nach Hause gekommen und sehr erfreut über meine “gesunde Augenfarbe”. Danach wollte ich noch meinen Dad anrufen, entschloss mich aber, ihn direkt zu besuchen. Edward und Renesmee begleiteten mich.

Wir fuhren mit meinem Auto, das jetzt merkwürdiger Weise andere Felgen und ein anderes Lenkrad hatte. Ich grinste vor mich hin und dachte mir, dass ich Rosalie mal fragen musste, wen sie lieber hatte. Meinen Audi oder mich, aber vermutlich war diese ständige Bastelei so eine merkwürdige Art Liebesbeweis.


Kaum waren wir bei meinem Dad angekommen, ging auch schon die Haustür auf, noch bevor wir ausgestiegen waren.

»Opa!«, rief Renesmee freudig aus, lief auf ihn zu, reckte ihm die Arme entgegen, wartete bis er sich zu ihr bückte und sie hoch hob.

Dann drückte sie sich dann vorsichtig an ihn. Sie machte das mit der menschlichen Tarnung einfach perfekt. Ich wartete etwas unsicher und wusste nicht so recht, wie ich mich verhalten sollte. Dad hatte trotz des kleinen Engels auf seinem Arm nur Augen für mich und ich bemerkte, wie er ein kleine Freudenträne wegwischte. In dem Moment wollte ich einfach nur zu ihm. Ich rannte vielleicht etwas zu schnell, legte dann aber meine Arme sehr vorsichtig um ihn und drückte mich sanft an die freie Schulter.

»Bella? Du bist wieder gesund?«
»Ja, Dad. Ich bin wieder ganz die Alte. Ich bin ja so froh dich zu sehen.«
»Und ich erst, mein Schatz, du hast ja keine Ahnung. Träume ich das vielleicht? Bin ich auf dem Sofa eingeschlafen?«
»Nein Dad, ich bin es wirklich.«
»Wie kann das sein, vor vier Tagen da warst du …«
»Dad, wie soll ich sagen. Inzwischen geht es sehr schnell, wenn ich gesund werde.«
»Ja, ja, schon gut. Ich bin nur froh, dass du wieder gesund bist. Kommt doch herein. Ach … Edward, es tut gut dich auch wieder wohlauf zu sehen.«
»Danke Chief Swan.«
»Bitte Edward. Nenn’ mich Charlie.«
»Gerne Charlie.«

Wir gingen hinein, setzten uns an den Küchentisch und Renesmee futterte ein paar Kekse, obwohl sie gerade erst mit Jacob zu Abend gegessen hatte. Dad redete sich die Sorgen, die er sich um mich gemacht hatte, von der Seele und wir hörten ihm zu. Dann hatte ich allerdings auch noch ein Thema anzusprechen.

»Dad. Wir müssen noch über etwas reden. Wegen Mom.«

Sein Gesicht war schlagartig ernst und er wartete gespannt auf das, was ich zu sagen hatte.

»Glaubst du wirklich, dass es für Mom das Beste wäre, wenn sie glauben würde, dass ich gestorben sei?«
Er atmete schwer, doch dann nickte er.
»Bella. Du kannst dich ihr nicht zeigen. Sie würde es nicht verstehen, es nicht akzeptieren können. Das wäre sicher schlimmer für sie. Du kannst sie auch nicht für den Rest ihres Lebens immer auf Distanz halten. Daran würde sie noch mehr zugrunde gehen. Jetzt ist sie mit Phil sehr glücklich. Dich zu verlieren, wird sehr hart für sie, aber mit Phil an ihrer Seite wird sie darüber hinweg kommen.«

Auch ich seufzte, doch im Grunde war mir das schon vorher klar gewesen.

»Also gut Dad. Tu es. Nur bitte, sie darf nicht hierher kommen. Keine Trauerfeier hier in Forks. Keine Beerdigung. Das würde ich nicht aushalten.«
»Ja Bella, ich habe mit Carlisle darüber gesprochen. Ich werde ihr berichten, dass du im Zentrum für Tropenkrankheiten gestorben bist und dass sie deinen Körper aus Sicherheitsgründen einäschern mussten. Ich werde eine Urne besorgen und sie zu ihr bringen.«
»Danke Dad. Und wenn sie nach Edward fragen sollte?«
»Dann werde ich ihr sagen, dass er zu Verwandten gefahren ist und wohl nicht mehr zurückkommen wird.«
»Eine gute Begründung, Charlie«, sagte Edward und nickte zustimmend.


Es war ein trauriges Gespräch, wegen meiner Mom und ein fröhliches Gespräch, wegen meinem Dad, der so glücklich über meine Genesung war. Eine Achterbahn der Gefühle, doch letzten Endes war ich mir sicher, dass wir das Richtige taten. Am späten Abend dann, Renesmee war schon sehr müde, fuhren wir wieder nach Hause. Dad umarmte Edward zum Abschied und zuckte diesmal nicht vor seiner Kälte zurück. Vielleicht hatte sich wirklich etwas verändert, seit er uns so leblos auf dem Bett liegen sah.

Als wir dann Zuhause angekommen waren und Renesmee, die während der Fahrt eingeschlafen war, in ihr Bett legten, hatte ich noch eine traurige Aufgabe zu erfüllen. Ich musste meine E-Mails checken. Mom hatte mir 15 Nachrichten geschickt. Die ersten beiden im Abstand von drei Tagen. Sie waren noch unbesorgt und chaotisch, ganz meine Mom. Ab der dritten, kamen die Mails dann praktisch täglich und waren erst verärgert und dann zunehmend besorgt. Die letzten fünf kamen alle am gleichen Tag. Ich konnte sie nicht mehr lesen. Ich schaffte es einfach nicht, noch mehr besorgte Zeilen aufzunehmen. Ich löschte sie alle. Ich löschte meine Mom aus meinem Adressbuch. Löschte alle Mails die ich jemals von ihr bekommen hatte und die ich ihr jemals geschickt hatte. Ich wollte diese Erinnerungsstücke nicht mehr haben. Sie waren sowieso alle in meinem Gedächtnis. Nur dort konnte ich sie nicht löschen. Sie würden mich auf Ewig an sie erinnern.

Traurig und leicht schluchzend ging ich wieder in unser Häuschen und legte mich gleich zu Edward aufs Bett, der auf mich wartete. Er umfing mich mit seiner Liebe und spendete mir erneut viel Trost. Er redete mir gut zu und bestätigte mir immer wieder, dass es das Richtige war. Ich wusste es natürlich, doch das änderte nichts daran, dass es so traurig war. Eng an ihn gekuschelt, mit dem Wissen, dass es das Beste für meine Mom war und mit seinem Duft in der Nase, kam ich allmählich zur Ruhe. Morgen, das nahm ich mir fest vor, würde wieder ein “normaler” Tag werden.

Kapitel 14 - Chicago

An nächsten Morgen kam Renesmee aus ihrem Zimmer und stutzte erst kurz, als sie mich erblickte und musterte mich dann kritisch.

»Momma? Du hast dich schon angezogen?«

Ich schaute an mir herab und bemerkte, dass ich noch immer die Jeans und das T-Shirt und sogar noch die Schuhe vom Vortag anhatte. Ich war so verstört ins Bett gegangen, dass ich glatt vergessen hatte, mich umzuziehen. So wörtlich hatte ich das eigentlich nicht gemeint, als ich gestern zu mir selbst sagte, dass ich diese Jeans so schnell nicht wieder ausziehen würde. Aber es war dennoch eine gute Nacht gewesen, in der ich meine Besorgnis verarbeiten und meine Gedanken ordnen konnte. Der neue Tag versprach mir irgendwie, dass er sorgenfrei sein würde.

»Ähm, guten Morgen Schatz, also genau genommen, habe ich mich noch gar nicht ausgezogen.«
Sie kicherte.
»Du bist mir ja ein schönes Vorbild.«
»Spricht man so mit seiner Momma?«

Ich sprang aus dem Bett und fing an, sie durch Haus zu jagen. Sie kreischte und quietschte dabei vergnügt. Edward saß grinsend und kopfschüttelnd auf dem Bett.

»Hilfe Daddy! Hilfe!«
Sie hüpfte in seine Arme und er fing sie sicher auf.
»Selbstverständlich werde ich euch helfen, holdes Fräulein.«

Sehr zu Renesmees Freude, spielte Edward gleich mit. Er erhob sich schnell aus dem Bett, schob sie auf seinen Rücken, hielt sie dabei gut fest und ging in Verteidigungsstellung. Natürlich versuchte ich mein kleines Mädchen zu erwischen, aber er wich meinen Attacken geschickt aus. Ohne seine Arme, konnte er mich natürlich nicht abwehren, nur ausweichen. Es hatte etwas von einem Stierkampf.

Dann versuchte ich ihn zu überraschen und täuschte einen Sprung an. Er wich dem vermeintlichen Angriff aus und ging mir in die Falle. Ich sprang ihn an, doch er drehte sich dabei unglaublich schnell um und plumpste mit einem johlenden Jockey auf dem Rücken auf mich. Glücklicher Weise nahm er noch rechtzeitig seine Hände nach vorne, um den Sturz abzufangen. Der schöne Fußboden hätte sonst sicherlich arge Blessuren erlitten.

»Ergebe dich, Unhold!«, sagte er mit so einer übertriebenen Stimme, dass ich schwer damit zu kämpfen hatte, nicht laut loszulachen.
»Niemals! Sie wird meine Gefangene werden!«

Ich versuchte weiter mitzuspielen, aber das leichte Kichern in meiner Stimme ließ mich nicht sehr ernsthaft klingen. Sehr zur Freude von Renesmee, die sich kaum vor Lachen halten konnte.

»Dann zwingt ihr mich zum Äußersten!«

Er hatte diese Stimme immer noch total gut drauf. Während er das sagte, ließ er sich auf die Ellenbogen sinken, schob die Unterarme unter meinen Rücken, fixierte mich mit den Händen an den Schultern und legte sich auf mich.

»Wenn ihr euch nicht ergebt, so muss ich euch zerquetschen.«

»Uaaarg!«, kam ein spielerischer Todeslaut aus meiner Kehle, der aber so überzeugend war, dass Renesmee sich beim Lachen verschluckte und »nicht Daddy!«, rief.

Edward sprang auf und setzte Renesmee ab. Ich blieb mit geschlossenen Augen regungslos liegen und verließ mich ganz auf meine übrigen Sinne.

»Momma?«

Mein kleiner Engel kam unsicher näher und tappte in die Falle. Das flatternde Trommeln ihres Herzens und das Rauschen ihres Atems verrieten mir genau, wo sie stand.

»Uaaah!«, schrie ich, sprang auf, packte sie und zog sie zu mir runter. »Hab ich dich endlich.«

Sie kreischte, aber als sie dann mein Lachen hörte, meinte sie nur noch:
»Oh man, hast du mich erschreckt.«

Ich drückte sie an mich und küsste sie. Ihr rasender Herzschlag normalisierte sich allmählich wieder. Ich konnte das Adrenalin riechen. Offensichtlich hatte ich sie stärker erschreckt, als ich wollte.

»Tja, man soll halt seine Momma nicht so ärgern, was?«
Ich knabberte an ihrem Hals, was sie mächtig kitzelte und folglich kichern ließ.
»Gnade Momma, ich ergebe mich, Gnade!«
»Dann wirst du also ein braves Vampirmädchen sein?«
»Hmm!?«
Sie zögerte und tat so, als müsste sie ernsthaft darüber nachdenken.
»Gibst du wohl auf«, rief ich und knabberte wieder an ihrem Hals.
»Ja, Ja, Ja, ich gebe auf«, gab sie unter ständigem Kichern von sich. »Ich werde ein braves Vampirmädchen sein.«
Ich sah sie prüfend an und sie unterdrückte ihr Kichern und machte ein Unschuldsengelgesicht.
»Also gut«, sagte ich, setzte mich mit ihr auf und stellte sie auf den Boden.
»Dann Abmarsch und anziehen!«, befahl ich und gab ihr einen kleinen Klaps auf den Po.
Sie rannte kichernd in ihr Zimmer.

»Du kannst aber eine strenge Mom sein«, meinte Edwards grinsend.
»Mit dir habe ich auch noch ein Hühnchen zu rupfen«, tadelte ich ihn. »Wie kannst du nur gegen mich Partei für unsere Tochter ergreifen? Weißt du denn nicht, dass wir eine gemeinsame Front bilden müssen? Sonst sind wir verloren!«
»Oh man, Bella, du unterhältst dich entscheiden zu oft mit Jasper.«
Dann lachten wir und fielen uns in die Arme.

Nach diesem fröhlichen Morgen gingen wir rüber in die Cullen-Villa und ich machte erst einmal ein paar Waffeln mit Ahorn-Sirup für mein braves Vampirmädchen.

»Na ihr«, meinte Rosalie, die gerade zu uns kam und ihre Abneigung gegen den Essensgeruch zu unterdrücken versuchte. »Ihr hattet ja schon mächtig Spaß heute Morgen, was?«
Renesmee grinste breit und nickte eifrig.
»Oh, ja, aber dafür muss ich jetzt ein braves Vampirmädchen sein.«
»Ach du Arme. Wie lange denn?«
Sie überlegte.
»Keine Ahnung, wir hatten glaube ich keine Zeit ausgemacht.«
»Na dann bist du ja aus dem Schneider. Erstens warst du ja gerade brav und Zweitens bist du doch ein Halbvampirmädchen.«
»Stimmt ja!«, sagte sie und schlug sich mit der flachen Hand gegen den Kopf. »Ich bin frei!«
»Na toll, Rose«, meckerte ich mit ihr. »Jetzt fällst du mir auch noch in den Rücken.«
»Natürlich. Du hast ja auch eine entzückende Rückseite.«
Rosalie lächelte mich an und ich wusste gar nichts mit dem Kompliment anzufangen.
»Aha!?«

Sie lachte, schüttelte den Kopf und ging dann wieder in ihr Zimmer. Renesmee sah ihr noch kurz nach und machte dabei ein etwas enttäuschtes Gesicht. Dann setzte sie sich an den Tisch schlang ihr Essen herunter.


Nachdem mein nun immer noch recht braves Halbvampirmädchen fertig war und mir beim Abspülen geholfen hatte, wollte sie mit mir zum Training gehen.

»Willst du das wirklich? Hättest du nach dem … Stress der letzten Wochen nicht lieber etwas Ferien?«
»Schon wieder Ferien? Nee, das geht nicht. Ich habe doch drei Wochen Literatur-, Musik- und Matheunterricht verpasst. Das muss ich doch alles nachholen.«
»Also ehrlich Sternchen. So brav musst du nun auch wieder nicht sein.«
»Will ich aber«, sagte sie grinsend.

Fröhlich gelaunt ging sie mit mir zum Trainingsraum. Ich hoffte sehr, dass die gute Stimmung auch nach der Übungsstunde noch da war. Wir betraten den Raum und sie tänzelte fast zu ihrem Platz, nahm das Buch zur Hand und begann laut vorzulesen, während ich wie üblich aufbaute.

»Waren wir da stehen geblieben? Ich dachte, wir wären noch weiter vorne?«
Sie blickte mich erschrocken an.
»Oh, äh ja, stimmt ja. Können wir trotzdem hier weitermachen?«

Sie wirkte irritiert und ich wollte sie nicht noch zusätzlich belasten. Sicherlich machte ihr der Blutduft nach fast 3 Wochen Trainingspause heute mehr zu schaffen.

»Wie du willst, Renesmee.«

Sie las irgendwie erleichtert weiter. Nachdem ich dann den Aufbau beendet hatte und mich zu ihr setzte, bemerkte ich, dass sie schon wieder sehr fröhlich wirkte. Mein Kind war mir heute ein Rätsel. Nun ja, wenigsten stellte ich für mich erleichtert fest, dass mein Koma meine Durst-Kontrolle nicht beeinträchtigt hatte. Es war wirklich alles wieder wie vorher.

Das rote Licht an der Wärmeplatte ging aus und ich übernahm das Vorlesen. Nach 15 Minuten zwinkerte ich ihr zu und sie stand auf, schaltete die Wärmeplatte aus, trug die Schüssel zu der Spüle und kippte das Blut langsam aus.

Vor Überraschung ließ ich das Buch fallen, sprang auf und klatschte in die Hände.

»Liebling, du hast es geschafft!«

Sie grinste so breit, dass ihre Ohren wackelten, spülte die Schüssel aus und legte sie ab. Dann kam sie schnell zu mir, sprang an mir hoch und wir umarmten uns fest.
»Mensch Sternchen, das war ja super. Wie hast du das denn gemacht?«
Sie schmiegte sich an meine Schulter und flüsterte mir ins Ohr.
»Ich kann das jetzt schon seit über einer Woche.«
»Was?«
Ich holte sie vor mich, um ihr ins Gesicht sehen zu können.
»Du hast weitertrainiert, als ich … nicht konnte? Wer war denn bei dir?«
»Niemand.«
»Du hast alleine trainiert? Und deine Tante Rosalie hat das zugelassen?«
Sie kicherte und hielt sich die Hand vor den Mund.
»Lass das ja nicht Rosalie hören. Die flippt bestimmt aus, wenn du sie Tante nennst.«

Oh, oh. Sie hatte mich davor gewarnt, sie jemals so vor Renesmee zu nennen. Ich werde meinen Kopf wirklich vermissen. Na ja, vielleicht gibt sie sich auch mit einem Arm oder Bein zufrieden. Einen Finger vielleicht, wenn sie gnädig gestimmt ist.

»Bitte verrate mich nicht«, tat ich ängstlich.
»Mach ich nicht«, versprach sie großzügig.
»Jetzt aber mal im Ernst. Wieso hast du denn alleine weitertrainiert?«
»Na ja, Rosalie wollte nicht und die Anderen wollte ich nicht fragen. Da habe ich mich in der Jacob-Zeit einfach in den Trainingsraum geschlichen.«
»Und Jacob wusste davon?«
»Nicht wirklich. Ich habe ihm nur gesagt, dass ich noch üben müsste, aber nicht was.«
»Oh, Liebling, war das nicht etwas leichtsinnig?«
»Nicht wirklich, Momma. Ich meine, ich habe es die letzten Wochen ja immer geschafft, die Schüssel abzustellen und mich wieder hinzusetzen. Da war ich mir ganz sicher, dass ich, wenn ich es nicht schaffe, auch einfach rausgehen kann und genauso war es auch die ersten beiden Male, als ich ohne dich trainiert hatte. Ich habe dann Opa gebeichtet, dass ich heimlich im Übungsraum war und ihn gebeten, die Schüssel auszuleeren und mich nicht zu verraten.«
»Und dann hast du es tatsächlich alleine geschafft?«
»Ja, das war richtig cool. Ich habe mir gedacht, wenn ich es schaffe, den Mut nicht zu verlieren, wenn … du und Daddy … also wenn ihr … krank seid, dann kann doch so eine blöde Blutschüssel nicht schlimmer sein. Ja und das war sie dann auch nicht mehr.«
»Oh ich freue mich ja so für dich.«

Ich war so glücklich, dass mein kleiner Schatz sein Ziel erreicht hatte und drehte mich mit ihr mehrmals im Kreis.
»Nicht so schnell. Mir wird schlecht.«
»Ups, entschuldige.«
»Ist ja nichts passiert.«

Da fiel mir etwas ein.
»Hast du deshalb an einer anderen Stelle im Buch weitergelesen?«
»Ja, das hätte mich fast verraten, was? Ich wollte dich doch unbedingt überraschen. Daddy hat mir auch versprochen, dass er dir nichts verrät.«
»Nun, das Versprechen hat er gehalten.«
Sie grinste wieder.

»Jedenfalls habe ich es so gemacht, wie mit dir. Ich habe aufgebaut, mich auf meinen Platz gesetzt und mir selbst laut vorgelesen und wenn dann das Licht ausgegangen ist, habe ich mich auf deinen Platz gesetzt und weitergelesen. Ach ja, wie machst du das nur, dass du dabei die Sekunden zählen kannst? Bei mir hat das überhaupt nicht funktioniert. Ich musste die Stoppuhr benutzen.«
»Ich weiß nicht, wie ich das mache. Es geht einfach, wenn ich Blut rieche. Ich kann es dir nicht erklären. Tut mir leid.«
»Na ja, kann man halt nichts machen. Ich muss ja nicht gleich alles können.«

Sie grinste wieder so fröhlich und ich küsste sie links und rechts auf die Wangen.
»Ich bin ja so unglaublich stolz auf dich. Du hast es wirklich geschafft.«

Wir verließen den Trainingsraum und ich hielt ihr die Hand zum “High Five” hin und sie sprang nach oben um einzuschlagen. Dort fing ich sie dann mit der Hand und hielt sie fest, so dass sie kichernd an meinem ausgestreckten Arm hing und herumwedelte. Dann zog ich sie in meine Arme und knuddelte sie.

Edward kam zu uns und umarmte uns. Natürlich war ich ihm nicht böse, dass er ihr Geheimnis vor mir bewahrt hatte. Es war so eine schöne Überraschung. Ich lächelte ihn dankbar an und küsste ihn auf die Wange. Vorsichtshalber hielt ich die Luft an. Ich wollte jetzt nicht von seinem Duft auf andere Gedanken gebracht werden. Dann ging ich mit Renesmee duschen.

»Weißt du was, Momma. Ich glaube, wir haben da noch eine Gemeinsamkeit gefunden.«
»Was meinst du denn?«
»Na ja, du hast es damals geschafft, weil du so besorgt um mich warst und dir dein Durst deshalb egal war und ich habe es geschafft, weil ich um dich und Daddy so besorgt war. Ist das nicht irgendwie das Gleiche?«
»Ja Schatz, das sehe ich auch so.«
Ich musste sie einfach wieder an mich drücken.
»Das ist aber schon ein bisschen gruselig, Momma.«
»Wie meinst du das?«
»Na ja, wenn wir nur dann etwas Schwieriges schaffen, wenn andere aus der Familie leiden?«

Obwohl sie damit verblüffend recht hatte, entschärfte sie die Worte durch ihr Lächeln.
»Ich glaube Sternchen, die eigentliche Kraft dahinter, ist nicht das Leid, sondern die Liebe, die dagegen kämpfen will.«
»Das gefällt mir viel besser«, sagte sie strahlend.

Nach dem Umziehen gingen wir wieder ins Haupthaus. Kaum angekommen, kam uns auch schon Alice entgegen.

»Bella, Edward. Also wenn ihr noch nach Chicago reisen wollt, die nächsten drei Tage wären ideal dafür. Am Tag ist es immer bewölkt mit leichtem Schneefall und bei Nacht meistens nur leicht bewölkt und mitunter auch mal sternenklar. So ein Wetter bekommt ihr so schnell nicht wieder.«
»Wow, Alice. Du hast doch nicht etwa die ganze Zeit Wetterfrosch gespielt oder?«, fragte Edward.
»Doch habe ich«, sagte sie grinsend. »Schließlich sollt ihr schönes Wetter haben und das gibt es jetzt für euch. Aber nur jetzt.«
»Ich weiß nicht, Alice«, sagte ich. »Eigentlich wollte ich jetzt mehr Zeit mit Renesmee verbringen.«
»Aber Momma. Wenn Alice schon sagt, dass ihr kein besseres Wetter bekommen könnt, dann müsst ihr dort hin. Auf die paar Tage kommt es doch nicht an. Ich bin sicher Ta…. ich meine Rosalie wird sich gerne mit mir beschäftigen.«
»Wer ist Ta…?«, fragte Alice.
»Unwichtig«, sagte ich.
»Hä? … Wie auch immer. Komm schon Bella. Das wird ganz toll für euch.«
»Ja, Momma. Du und Daddy, ihr habt euch definitiv ein paar Tage Ferien verdient.«
»Was meinst du, Edward. Hast du jetzt Lust auf Chicago?«
Er lächelte mich verführerisch schief an und meinte:
»Mit dir habe ich auf alles Lust.«

Wieder einmal war ich froh, dass Vampire nicht rot werden konnten.

»Klasse!«, freute sich Alice für uns. »Euer Flug geht in fünf Stunden von Seattle ab. Also beeilt euch und “viel Spaß”.«

Sie drückte Edward und mich und tanzte dann wieder in ihr Zimmer. Renesmee informierte inzwischen Rosalie, Emmett und Esme und ich ging mit Edward Koffer packen.


Obwohl es in gewisser Weise unnötig war, packten wir Winterkleidung für drei Tage ein. Am Ende waren es dann tatsächlich zwei große Koffer voll. Wahnsinn.

Wir beeilten uns und gingen hinüber, um uns zu verabschieden. Fünf Stunden war im Grunde eine Menge Zeit, mehr als genug, wenn wir zum Flughafen in Seattle gerannt wären, aber wir mussten ja mit dem Auto fahren.

Ich drückte jeden noch mal fest zum Abschied und bedauerte es sehr, dass Carlisle nicht da war. Dann schob mich Edward sanft in Richtung Tür und zu seinem Auto. Er verstaute die Koffer und dann ging es auch schon mit einem Affenzahn los.

Unterwegs schrieb ich Carlisle noch schnell eine SMS und verabschiedete mich auf diese Weise von ihm. Später kam dann ein “viel Vergnügen” als Antwort zurück.

An Edwards Fahrstil hatte ich mich ja inzwischen gewöhnt. Ich fuhr auch selbst seit geraumer Zeit wesentlich schneller, als ich es mich früher jemals getraut hätte. o.k., mein alter Transporter hatte auf jeden Fall immer sein Bestes gegeben, aber in meinem neuen Leben nahm ich Geschwindigkeit einfach ganz anders wahr.

Edwards unschlagbarer Vorteil zeigte sich aber vor allem darin, dass er hin und wieder leicht abbremste, um dann gemütlich an einer Radarkontrolle vorbeizufahren. Er hatte es da so viel einfacher. Ich musste immer den Straßenrand genau im Auge behalten. Das funktionierte zwar auch, aber meine Vorwarnzeit war viel kürzer und meine abrupten Bremsmanöver entsprechend heftiger.

Trotz allem kamen wir nicht wirklich so zügig voran, wie wir wollten. Die Zeit lief uns davon und wir waren spät dran, als wir endlich auf dem Parkplatz vom Flughafen waren. Warum hatte Alice denn das nicht gesehen? Ich sprang aus dem Auto und holte die Koffer heraus.

»Bella, das sind schwere Koffer«, zischte Edward leise.

Ruckartig ließ ich die Koffer zu Boden sinken und sah ihn erschrocken und schuldbewusst an. Er grinste und kam kopfschüttelnd auf mich zu, zog die Teleskopstangen aus den Koffern und drückte mir eine in die Hand.

»Hektik - o.k. … Panik - nicht o.k.«

“Und sich über mich lustig machen - absolut nicht o.k.!”, hätte ich ihm am liebsten ins Gesicht gebrüllt.

Ich dachte kurz darüber nach, meinen Schild wegzudrücken und mir vorzustellen, wie ich ihn anspringe und ihm den Kopf abreiße, ließ es dann aber bleiben. Ich mochte seinen Kopf und irgendwie veränderte sich gerade in meiner Vorstellung die Szenerie, was die Folge wäre, wenn ich ihn jetzt anspringen würde.

Ich schüttelte den Kopf. Für solche Gedanken hatte ich jetzt wirklich keine Zeit. Ich verdrängte den Ärger, den ich mehr über mich als über ihn empfand und ging hektisch, nicht panisch, zum Check In.

Ein Blick auf die Anzeigetafel ließ mir ein knurrendes »Alice!« entweichen. Unser Flug hatte über eine Stunde Verspätung und wir damit genug Zeit. Sicherlich saß sie jetzt gerade in ihrem Zimmer und hielt sich vor Lachen den Bauch. Wenigstens hatten wir einen Direktflug, der dann nur rund zweieinhalb Stunden dauerte.


Als wir in Chicago ankamen, war es früher Abend. Die Sonne war bereits untergegangen und die Wolkendecke am Himmel schien allmählich aufzureißen. Meine Gedanken an Alice waren schlagartig positiver.

Wir fuhren mit dem Taxi in die Stadt und nahmen uns ein Zimmer im Trump International Hotel. Das Hotel war gigantisch. Ein riesiges Gebäude das nagelneu zu sein schien. Edward erklärte mir, dass es mit über 400 Metern das zweithöchste der Stadt wäre und dass wir ein Zimmer in einer der oberen Etagen hätten. Ich war sehr gespannt auf den Ausblick, doch es bereitete mir auch Unbehagen, so viel Geld für ein Hotelzimmer auszugeben, auch wenn ich genau wusste, dass das für … uns … keine Rolle spielte. Edward gab dem Pagen ein großzügiges Trinkgeld und warf die Koffer aufs Bett. Ich trat an eines der großen Fenster und war einfach fasziniert von dem Anblick dieser Großstadt.

Dann ging Edward zur Minibar und holte ein paar Fläschchen heraus.
»Was hast du vor?«, fragte ich verwirrt. “Können Vampire denn Alkohol trinken?”
»Tarnung, Liebste.«

Er ging zum Waschbecken, schraube die Deckel ab, goss den Inhalt aus und spülte mit Wasser nach. Dann stellte er die leeren Fläschchen auf den Tisch.

»Das stinkt ja widerlich«, bemerkte ich.

Menschliches Essen roch immer eklig, aber Schnaps setzte dem Ganzen die Krone auf. Edward nickte zustimmend.

»Ja, ich weiß. Entschuldige. Ich hatte das früher sehr oft gerochen…«

Seine Stimmung war plötzlich bedrückt. Sein Gesicht spiegelte wider, dass alte verdrängte Erinnerungen in ihm hoch kamen. Ich ging zu ihm, reckte mich und küsste ihm auf die Wange. Dann ergriff ich seine Hand und schmiegte mich an seinen Arm.

»Komm, Liebste, lass und ein wenig die Stadt erkunden«, meinte er schließlich und setzte ein Lächeln auf, das ich ihm aber noch nicht ganz abkaufte.
Doch schließlich war das ja der Grund, warum wir hierher gekommen waren und natürlich war ich einverstanden.

Wir gingen zu Fuß durch die Straßen. Die Luft war kalt, roch aber bei Weitem nicht so gut, wie die zu Hause. Sie war vor allem von Abgasen geprägt und überall waberte der Duft unzähliger Menschen herum. Schweiß, Adrenalin, Alkohol, Essen. Vor allem die unangenehmen Gerüche schienen über alle Maßen dominant zu sein. Meiner Nase gefiel dieser Ausflug nicht sehr gut.

Auf unserem Spaziergang zeigte er auf ein paar Häuser, die im Vergleich zu den riesigen Wolkenkratzern eher mickrig wirkten. Er meinte aber, dass die schon zu seiner Zeit dort gestanden hätten und damals zu den höchsten Gebäuden der Stadt gezählt hätten. Kaum Vorstellbar, was er für eine Skyline in Erinnerung haben musste.

Edward führte mich zu ein paar Sehenswürdigkeiten, zeigte mir den Alten Wasserturm und die dazugehörige Pumpstation die schon seit 150 Jahren hier standen und zu den ältesten Gebäuden der Stadt zählten. Sie sahen aus, wie Teile eines mittelalterlichen europäischen Schlosses. Dann führte er mich zu der Kirche, in der er getauft wurde und in der er häufig mit seinen Eltern den Gottesdienst besucht hatte.

Bei unserem Spaziergang bemerkte ich häufig, wie es in seinem Gesicht zuckte. Ein untrügliches Zeichen dafür, dass er seine Erinnerungen selektierte. Offensichtlich überlegte er, was er mir erzählen wollte und was nicht. Hier und da wies er auf Gebäude und erzählte von dem, was früher hier stand oder wo er in einem Park mit Freunden spielte. Dann blieb er plötzlich vor einem Haus stehen.

»Hier wurde ich geboren«, sagte er.
Ich schaute das Haus an. Es sah eher nach 70er Jahre aus.
»Echt?«
Er lächelte das Lächeln, das ich ihm immer noch nicht abkaufen konnte.
»Genau genommen, in dem Haus, das früher einmal hier stand, aber es war dieser Ort, an dem ich damals wohnte.«

Er seufzte. Ich schaute mich um und musste feststellen, dass hier nichts älter als höchsten 50 Jahre zu sein schien. Die Stadt seiner Kindheit existierte nicht mehr. Er wirkte traurig und ich schmiegte mich an ihn und nahm seinen rechte Hand in meine Hände.

»Edward. Ich sehe dir an, dass dich viele deiner Erinnerungen quälen. Ich bin dir dankbar für die paar, die du mit mir geteilt hast, aber vielleicht sollten wir jetzt ins Hotel zurückkehren.«

Er drehte sich zu mir und blickte mir in die Augen. Sein trauriges Engelsgesicht erweichte mein Herz. Ich versuchte ihm ein tröstendes Lächeln zu schenken.

»Du hast recht, Bella. Das ist nicht fair von mir. Entschuldige bitte.«
Wofür entschuldigte er sich denn? Was könnte einen Engel dazu bringen, sich bei einem Wesen wie mir zu entschuldigen?
»Was meinst du, Edward?«
»Mein Geschenk an dich, sollte keine Stadtrundfahrt werden. Es sollte ein Einblick in meine Vergangenheit werden und ich enthalte dir vieles vor. Das ist nicht richtig.«
»Ach Edward. Erzähl mir was du willst. Mach dir nicht so viele Sorgen deswegen. Ich bin froh, mit dir hier zu sein.«

Dann schenkte er mir ein echtes traumhaft schiefes Lächeln, beugte sich zu mir herab und sah mir mit seinen goldbraunen Augen tief in meine. Ich spürte seinen Atem auf der Haut und meine Knie wurden weich. Sein Duft verdrängte all die unangenehmen Gerüche um uns herum. Seine Lippen berührten meine zu einem zärtlichen Kuss, was nicht gerade zur Stabilität meiner Knie beitrug.

Ich verzehrte mich nach ihm. Am liebsten hätte ich mich hier und jetzt ihm hingegeben. Das wäre doch mal eine Erregung von öffentlicher Aufmerksamkeit gewesen, wie sie die Volturi von Vampiren noch nie erlebt hatten.

“Verdammt!”, dachte ich. “Warum kamen mir denn ausgerechnet jetzt die Volturi in den Sinn.”

Als Edward sich von meinen Lippen löste, schüttelte ich meinen Kopf durch, um die störenden Gedanken an die Volturi herauszuschleudern. Es klappte. Er streichelte mir eine Haarsträhne aus dem Gesicht und ließ die Fingerspitzen seitlich von meiner Schläfe hinunter bis zum Kinn gleiten und hob es wieder leicht an. Ich versank hilflos in dem unendlichen weiten, goldenen Meer seinen Augen.

“Haltet durch, meine Knie, bitte halten durch!”, flehte ich innerlich.

Er küsste mich erneut zärtlich und löste sich dann leicht von mir.

»Lass uns wieder zurück ins Hotel fahren. Morgen zeige ich dir … mehr.«

Dann pfiff er nach einem Taxi und wir führen zurück.


Die ganze Zeit wirkte er sehr nachdenklich. Im Taxi, im Fahrstuhl, im Badezimmer.

Er zog sich einen Pyjama an. Warum machte er das? Hier war doch keine Renesmee im Haus, der er sich nicht nackt zeigen wollte. Nur ich. Wollte er sich mir nicht nackt zeigen? War er so sehr mit seinen Erinnerungen beschäftigt, dass er jeden Gedanken an unsere Zweisamkeit verdrängte?

Ich war enttäuscht, sehr enttäuscht sogar. Er würde sich sicherlich von mir verführen lassen, aber sollte ich das machen, wenn er selbst doch eigentlich nicht von sich aus wollte? Nein, ich musste ihm die Zeit geben, seine Gedanken zu ordnen. Seufzend zog auch ich mir einen Schlafanzug an.

»Alles zur Tarnung«, gab ich leise und noch immer seufzend von mir.

Dann legte ich mich zu ihm aufs Bett, kuschelte mich an seine Seite und bettete meinen Kopf auf seiner Schulter. Er legte seinen Arm um mich und streichelte gedankenverloren über meine Taille und Hüfte. Sein Blick war starr zur Decke gerichtet. Ich schloss einfach meine Augen und tat so, als ob ich schlafen würde. Wenigstens hatte ich ja seine Nähe, seinen Duft und das Geräusch seiner Atemzüge. Es gab Schlimmeres.


Erst am nächsten Morgen, die Sonne war längst hinter einer dicken Wolkendecke aufgegangen und erhellte etwas die Stadt, öffnete ich wieder die Augen. Für Menschen lag die Gegend in einem dunstigen Grau, doch für uns war sie farbenfroh und hell. Es dauerte lange, bis Edward sich zum Aufstehen entschloss. Er setzte ein angestrengtes Lächeln auf und wir zogen uns um und verließen das Hotel.

Es folgte ein weiterer langer Spaziergang, diesmal mit dem Hafen als Ziel. Nur wenige Male durchbrach er unseren schweigenden Marsch und erwähnte irgendwelche Belanglosigkeiten zu der Gegend, durch die wir gerade liefen. Ich versuchte mich interessiert zu geben, aber das, was mich wirklich interessierte, lag noch immer verschlossen in seinem Gehirn.

Gegen Nachmittag erreichten wir eine Gebiet des Hafens, das wohl nicht für Touristen gedacht war. Es war schmutzig und es gab hier mehrere Kneipen. Der Geruch war ekelhaft. Fragend blickte ich ihn an. Was wollte er nur hier? Gespannt blickte ich ihn an. Ich bemerkte ein paar kleine Zuckungen in seinem Gesicht und dann sprach er plötzlich.

»Hier, Bella. An dieser Stelle habe ich 1927 meinen ersten Menschen getötet.«

Seine Stimme war angespannt und seine Mundwinkel sehr unruhig. Mir war nicht klar, was ihn mehr quälte. Die Erinnerung selbst, oder sein Versprechen, sie mit mir zu teilen, was er nun tat. Ich sagte nichts. Meine Augen hingen gebannt an seinen Lippen und warteten darauf, dass er weitererzählte.

Er holte tief Luft und dann redete er.
»Es war ein Hafenarbeiter. Er kam gegen Abend aus einer Kneipe heraus, in der er sich geprügelt hatte. Er war betrunken. In seinen Gedanken konnte ich sehen, dass er sich auf den Heimweg machen wollte. Ich sah das Gesicht einer Frau in seinen Gedanken. Sie wirkte so hilflos und ängstlich. Ihm gefiel dieser Anblick. Er stellte sich vor, dass er sie verprügeln würde, wenn das Essen nicht auf dem Tisch stand, oder wenn es schon kalt war, oder wenn es nicht schmeckte. Er würde schon einen Grund finden. Er malte sich aus, sie mit seinem Gürtel zu schlagen. Dann sah ich noch in seinen Gedanken, dass er auch einen Sohn hatte, der sich ängstlich unter seiner Bettdecke verkroch. Er hatte noch nicht entschieden, was er mit dem Jungen machen wollte. Das war dann zu viel für mich. Dieses Monster musste aufgehalten werden. Ich packte ihn, zog ihn in einen dunklen Winkel, schlug meine Zähne in seinen Nacken und trank.«

Er schwieg wieder. Sein Gesicht verriet mir, dass die Bilder zu dem Erzählten vor seinem inneren Auge abliefen. Nach einer Minute fragte ich:
»Wie war das für dich?«

Er sah mir tief in die Augen. Seine Augenlider flackerten leicht und seine Mundwinkel zuckten erneut. Er kämpfte mit den Emotionen, die auf ihn einströmten.

»Es war … erhebend. Sein Blut schmeckte nicht wirklich gut. Der Alkoholgeschmack in seinem Blut hatte ein ähnliches Aroma wie der Geruch, den du ja kennst. Dennoch war das Blut belebend und köstlich. Ich fühlte, dass mein Durst auf eine Weise gestillt wurde, wie ich es nie zuvor durch das Blut von Tieren erlebt hatte. Ich fühlte mich gut dabei. Ich war so mächtig. Ich war die Polizei, die den Täter aufspürte. Ich ersetzte die Geschworenen, die ihn schuldig sprachen. Ich war der Richter, der das Urteil verkündete und auch der Henker, der es vollstreckte. Ich hatte die Menschheit von einem Monster befreit und mir dafür diese Belohnung verdient. So hatte ich es vor mir selbst gerechtfertigt. Selbst mein rot glühender Blick störten mich nicht. Es waren für mich die harten Augen eines gnadenlosen Rächers und genau das sah ich zu jenem Zeitpunkt als meine Bestimmung an.«

Weitere Minuten vergingen, bis er wieder erzählte.
»Etwa ein Jahr später. Ich hatte inzwischen mehrere Dutzend Mörder, Vergewaltiger und Gewaltverbrecher getötet und war sehr zufrieden mit mir selbst, da begegnete ich eines Nachts einer Frau auf der Straße, die in Lumpen gekleidet bettelte. An ihrer Seite schlief ein kleiner Junge, der in der Kälte zitterte. Im Grunde war das nichts ungewöhnliches, denn Chicago erlebte zu der Zeit einen wirtschaftlichen Aufschwung, der auf den Rücken der einfachen Bevölkerung aufgebaut wurde. Die Arbeits- und Lebensbedingungen waren hart und diejenigen, die nicht Schritt halten konnten, litten grausame Armut.

Diese Frau jedoch und den Jungen kannte ich. Sie waren die Familie meines ersten Opfers. Ich musste mich zum ersten Mal fragen, ob ich einen Fehler begangen hatte. Würde es ihnen vielleicht besser gehen, wenn ich ihn nicht getötet hätte? Hatte die Frau sich bewusst in dieses Schicksal gefügt, damit sie ihren Sohn versorgen konnte? Jetzt war sie am Boden und bettelte um Almosen.

Das Einzige, das ich tun konnte, war ihr etwas Geld zu schenken. Ich gab ihr 1000 Dollar. Ein kleines Vermögen zur damaligen Zeit. Genug Geld, hoffte ich, dass sie ihrem Sohn eine Zukunft bieten konnte. Ihr fassungsloses, ungläubiges und dankbares Gesicht werde ich nie vergessen. Sicherlich hielt sie mich für einen von Gott gesandten Engel, doch ich wusste, dass ich wohl eher aus der anderen Richtung kam.«

Er schwieg wieder eine Minute und ich ließ die Worte auf mich wirken. Ich mochte es gar nicht, wenn er sich als vom Teufel gesandt bezeichnete, auch wenn er es nicht direkt sagte, doch jetzt musste ich das ertragen. Ich war die Zuhörerin und er erzählte weiter.

»Von diesem Tag an, ging ich vorsichtiger vor. Ich überprüfte meine Opfer genau. Beobachtete sie Tage lang. Fand heraus, ob sie Familien hatte, die durch ihren Tod leiden müssten und wog ab, was schwerwiegender war. Wieder war ich sehr zufrieden mit mir selbst.«

Bei diesen Worten hatte er ein so grausames Grinsen aufgesetzt, dass mir ein Schauer über den Rücken lief. Ein Grinsen, wie ich es nur von Jane kannte. Dann fuhr er fort.

»Ich machte so noch ganze vier Jahre weiter und nährte mich an dem Blut der menschlichen Monster, die ich für Ihre Verbrechen zum Tode verurteilt hatte. Es gab nur diese eine Strafe in meinem Rechtssystem (wieder ein grausames Grinsen). Dann geschah etwas, womit ich nicht gerechnet hatte. Ich überwachte mein nächstes “Opfer” und folgte ihm. In einer dunklen Seitengasse stieß er auf eine junge Frau, die sich wohl verlaufen hatte oder einfach unglaublich unvorsichtig war. Ich sah sie durch seine Augen. Er konnte sie nicht richtig sehen, aber er bewertete sie als attraktiv und malte sich aus, sie gegen ihren Willen zu nehmen. Das hatte er schon zuvor anderen Frauen angetan. Deshalb war ich hinter ihm her, doch jetzt schien mir die Zeit davon zu laufen. Sollte ich mit meiner Überprüfung fortfahren, um ganz sicher zu gehen, oder sollte ich sofort eingreifen, um die junge Frau zu retten?
Ich entschloss mich dazu, ihn aufzuhalten. Kurz bevor ich zuschlug, war da aber plötzlich eine Veränderung in seinen Gedanken. Die Frau hatte ihn bemerkt und sich zu ihm umgedreht. Sie sah so erschrocken und furchtbar ängstlich aus, doch er wollte ihr plötzlich keine Gewalt mehr antun. Er hatte Mitleid und wusste selbst nicht warum. Erst sehr viel später wurde mir bewusst, dass er sich auf den ersten Blick in sie verliebt hatte. Ich folgte ihm, nur um sicher zu gehen und sah zu, wie er sie aus der Gasse heraus führte. Er verscheuchte sogar zwei andere Halunken, die sich ihnen näherten. Er brachte sie unversehrt nach Hause. Nie zuvor, hatte ich so etwas bei einem meiner “Opfer” erlebt.
Verstehst du Bella? Dieses Monster hatte eine gute Seite, die ich zuvor nicht sehen konnte. Er wollte mit einem Mal für sie sein Leben ändern. Ich hatte schon hunderte getötet. Wie vielen hatte ich diese Chance genommen? Wie viel Glück zerstört? Das Glück meiner Opfer interessierte mich wenig, aber das Glück der anderen? Wie wäre es dieser jungen Frau ergangen, wenn ich ihn schon zuvor getötet hätte? Wäre sie dann nicht das Opfer der anderen beiden geworden? War es nicht ihr größtes Glück, dass ich nicht eingegriffen hatte?
Ich hasste, was aus mir geworden war, Bella. Ich war ein Monster, das einfach nur nach Rechtfertigungen für seine Taten gesucht hatte. Ich war so viel schlimmer, als alle meine Opfer zusammen und deshalb war ich mir sicher, dass Gott mir niemals das Glück der Liebe schenken würde, … dachte ich zumindest, bis vor wenigen Jahren.«

»Oh, Edward!«
Ich fiel ihm um den Hals und drückte mich an ihn und er umarmte mich zärtlich. Ich konnte nichts sagen. Ich hatte keinen Worte dafür, die ausdrücken könnten, wie dankbar ich ihm für seinen Offenheit war. Wie groß mein Mitgefühl für ihn war, weil er diese Last mit sich herumtrug. Wie sehr ich davon überzeugt war, dass er alles nur getan hatte, weil er eine gute Seele hatte, die ihre dunkle Gabe für den Kampf gegen das Böse verwenden wollte. Er war ein Engel in meinen Augen. Ein dunkler Engel vielleicht aber definitiv ein Geschenk des Himmels.

Schlagartig erinnerte ich mich an Renesmees Weihnachtsgeschenk. Den Engel aus dunklem Holz, der seine Gesichtszüge trug und ein Kind im Arm hielt. Mein kleines Mädchen hatte ihm schon viel früher in seine Seele geblickt und ihn erkannt.

»Jetzt weißt du, was ich bin, Bella«, sagte er plötzlich mit zittriger und trauriger Stimme.

Ich blickte zu ihm auf. Er sah aus, als würde er verzweifelt mit Tränen kämpfen, die bei ihm genauso wenig fließen würden wie bei mir.

»Natürlich weiß ich wer du bist. Jetzt noch mehr als zuvor und ich fühle mich dir noch mehr verbunden. Ich liebe dich so sehr.«

Er schob mich leicht von sich weg, was ich überhaupt nicht verstehen konnte und noch weniger wollte.

»Bella. Hast du mir denn nicht zugehört? Hast du denn das Monster nicht erkannt, das ich bin?«
»Ach Edward. Du hast dieselbe dunkle Seite in dir, wie wir alle, doch das ist nicht entscheidend, sondern die Art, wie man damit umgeht. Man kann versuchen, sie tief im Innern zu vergraben oder ihr freie Hand lassen oder sie für etwas Gutes benutzen, so wie du es wolltest. Ich kann darin nichts falsches sehen. Abgesehen davon, hast du diese Seite nicht mehr aus dir heraus gelassen, seit deine gute Seele dir eine Schwachstelle in deinem Plan aufgezeigt hatte. Das macht mich sehr glücklich. Du bist mein Engel, ob dir das gefällt oder nicht. Meinetwegen ein dunkler Engel, aber ohne Zweifel eine gute Seele.«

Ich bezwang den Widerstand seiner Arme und drückte mich wieder an seine Brust.

»Oh, Bella, du bist blind vor Liebe«, sagte er und streichelt mir dabei über den Kopf.
»Meinst du? Du bist doch derjenige, der mir immer vorwirft, ich könnte mich selbst nicht klar sehen. Dabei vergisst du aber, dass du auch nicht gerade einen scharfen Blick auf dich selbst hast.«
»Aber Bella, ich …«
»Nein Edward!«

Jetzt schob ich mich von ihm weg, um in seine Augen sehen zu können. Sie waren immer noch ein deutlicher Ausdruck seiner Selbstzweifel.

»DU BIST GUT! Alle sehen das, nur du willst es nicht sehen. Carlisle umgibt sich nur mit den Guten und du warst das erste Mitglied seiner Familie. Esme könnte dich nicht so lieben, wenn du nicht so eine gute Seele wärst. Aber vor allem Renesmee. Erinnere dich an ihr Weihnachtsgeschenk. Nichts könnte dein Wesen besser Beschreiben als diese wundervolle Skulptur des beschützenden dunklen Engels. Das musst du doch mal in deinen Kopf hinein bekommen.«

Er schwieg und schaute mir forschend in die Augen. Allmählich entspannte sich sein Gesicht und es war sogar ein hauch von Lächeln zu erkennen.
»Du kannst sehr überzeugend sein, Liebste.«
»Na endlich.«
Jetzt war unsere Umarmung so, wie sie sein sollte. Innig, aufrichtig und voller Liebe.


Wir spazierten noch bis spät in die Nacht durch die Straßen Chicagos. Wir hatten schnell das Hafengebiet hinter uns gelassen und uns wieder den farbenfrohen Regionen zugewandt. Aus diversen Gebäuden drang unterschiedliche Musik zu uns. Eine Weile blieben wir von einer Jazz-Bar stehen. Ich wäre zwar irgendwie gerne hinein gegangen, um die Band spielen zu sehen, aber der Whisky-Gestank war einfach zu heftig. Da bleibe ich doch lieber an Edward gekuschelt draußen in der kalten Luft der Nacht stehen.

Wenigstens roch die Stadt in der Nacht nicht ganz so unangenehm. Für mich stand allerdings fest, dass ich niemals in solch einer Metropole leben wollte, auch wenn ich mir gut vorstellen könnte, dass man sich als Vampir in dieser Anonymität gut versteckt halten könnte. Nun ja, für den Moment war es mir jedenfalls egal, wo ich war. Ich stand auf irgendeiner Straße, in irgendeiner Stadt und tanzte leicht mit meinem Mann zur Musik aus einer Bar. Ich war glücklich und seinem Gesicht nach zu urteilen war er es auch wieder.

Dann fuhren wir, der Tarnung zuliebe, wieder mit dem Taxi zurück ins Hotel. Wir gingen ins Badezimmer und Edward zog doch tatsächlich wieder seinen Pyjama an. War das jetzt einfach nur Gewohnheit oder wollte er mich tatsächlich ärgern? Er konnte doch nicht noch immer seinen düsteren Gedanken nachhängen wollen. Er hatte sich doch alles von der Seele gesprochen und der Abend war doch richtig schön.

Jetzt kapierte ich gar nichts mehr. Ich zog mir ein seidenes Nachthemd an und ging ins Schlafzimmer. Er lag ausgestreckt auf dem Bett, den Blick zur Decke gerichtet.

“Bitte nicht noch so eine Nacht.”, dachte ich halb verzweifelt, halb enttäuscht.

Doch dann schaute er zu mir und bemerkte ein kurzes »hübsch«. Er lächelte mich an, ließ sein Blick aber schon kurz darauf wieder zurück zur Decke wandern.

“Oh Nein, Freundchen, so kommst du mir heute nicht davon”, beschloss ich und legte mich erst mal unschuldig wieder an seine Seite, wie ich es auch in der letzten Nacht getan hatte.

Auch dieses Mal, legte er den Arm um mich und ließ die Hand erst mal auf meiner Taille ruhen. Ich spielte mit meiner Hand an den Knöpfen seinen Oberteils herum und fuhr mit den Fingern in die Zwischenräume, damit ich mit den Fingerkuppen seine Haut spüren konnte. Es war so elektrisierend. Sofort nahm ich auch seinen Duft viel intensiver wahr.

Fast unabsichtlich, aber nur fast, schnippte ich einen Knopf zwischen den Fingern auf und drang weiter vor. Ich ertastete die Konturen seiner Brustmuskeln, streichelte die zarte weiche Haut und bemerkte, wie sein Atem schneller wurde. Seine Hand lag jetzt auch nicht mehr ruhig auf meiner Taille, sondern begann mich zu streicheln.

Ich schnippte einen weiteren Knopf auf und dann noch einen und noch einen. Jedes Mal ließ ich meine Finger die neuen Regionen ertasten, die nun freigelegt waren. Sanft streichelte ich über seinen Bauchmuskeln und fuhr die schmale Spur nach, die den Weg von seiner Brust zu seinem Bauchnabel markierte.

Als ich den letzten Knopf geöffnet hatte, richtete er sich plötzlich auf, zog das Oberteil ganz aus und beugte sich über mich, um mich leidenschaftlich zu küssen.

Natürlich genoss ich den Kuss, war berauscht von seinem Geschmack, doch eigentlich hatte ich gerade noch anderes im Sinn gehabt. Seine Finger glitten durch mein Haar und bahnten sich den Weg zum Träger meines Nachthemdes, um ihn herunterzustreifen.

»Stopp!«, keuchte ich und drückte meinen überraschten und verwirrten Edward widerstandslos zurück auf den Rücken und setzte mich auf ihn.

Ich war so aufgewühlt und atmete erst ein paar mal kräftig durch, um mich zu beruhigen, wobei sein Duft, den ich dabei aufnahm, nicht gerade viel dazu beitrug.

»Edward? Würdest du bitte, bitte, einmal meine Beute spielen?«
Er sah mich unschlüssig und fragend an.
»Ach komm schon«, sagte ich fast schmollend.
»Was soll ich machen?«, wollte er wissen.
»Dich möglichst nicht bewegen und deine Arme hier liegen lassen«, sagte ich, nahm seine Handgelenke und legte sie über seinem Kopf ab.

Ich spürte seinen Atem auf meinem Dekolletee und ein Schauer fuhr durch meinen Körper. Ich griff ihm in die Haare und küsste ihn innig. Er ließ seine Hände liegen, was mich sehr freute. Dann löste ich mich von seinen Lippen und ließ meine über seinen Hals zu seiner Brust wandern und dann tiefer zum Bauchnabel. Ich ließ mir Zeit und genoss meine Beute, schmeckte seine Haut mit der Zungenspitze, atmete tief seinen Duft ein und kämpfte damit, nicht die Beherrschung zu verlieren. Ich rutschte von ihm herunter und zog ihn dann ganz aus. Immer noch kein Widerstand. Er bemühte sich wirklich meine Beute zu sein, doch ich sah, dass er die Hände zu Fäusten geballt hatte und seine Augen zugekniffen waren.

Ich küsste seine Zehen und wanderte über den Fußrücken und das Schienbein entlang zu seinem Knie. Ich erlaubte meinen Lippen und meiner Zunge immer weitere Regionen zu erforschen, die sie noch nie berührt hatten. Ich wollte ihn so sehr verwöhnen und spürte doch selbst eine kribbelnde Welle nach der anderen durch mich hindurch jagen. So ganz selbstlos war ich wohl doch nicht, musste ich mir selbst eingestehen.

Sein Atem veränderte sich. Er wurde gepresster. Ab und zu spürte ich ein Zucken, das durch seinen Körper fuhr und hörte, wie seine Hände nach Halt suchend, die Matratze zerquetschten. Gefiel ihm nicht, was ich da machte? Waren meine Liebkosungen zu heftig? Oh wie gerne würde ich jetzt seine Gedanken lesen können. Er hatte es da so viel einfacher, wenn ich meinen Schild weggedrückt halten konnte. Er wusste dann immer genau, was mir gefiel und was nicht. Ich war ganz auf meine fünf Sinne angewiesen, die im Augenblick allerdings auf Hochtouren arbeiteten.

Ich löste mich leicht von ihm, wollte mich zurückhalten, doch er reckte sich mir entgegen.

“Es gefällt ihm!”, freute ich mich.

Warum sonst sollte er sich mir so entgegen recken? Ich intensivierte meine Liebkosungen wieder und dann hörte ich Holz knirschen. Seine Hände hatten ein besseres Ziel erreicht und griffen nach dem Bettgestell, das eindeutig mehr Widerstand leistete als die Matratze. Sein Atem schien schneller zu werden und ich genoss den Moment. Jede seiner Bewegungen, jedes Knirschen des Holzes, das seinen Fingern zu widerstehen versuchte, jeder heftige Atemzug, alles fachte auch in mir ein Feuer an.

Dann plötzlich rauschte ein Zucken durch seinen Körper und ein tiefes lang anhaltendes Grollen kam aus seiner Brust, gefolgt von dem lauten Krachen des Holzstückes, das er aus dem Rahmen des Bettes gebrochen hatte.

Ich ließ die ganzen neuen Eindrücke auf mich einwirken, verlangsamte meine Liebkosungen und lauschte seinem allmählich ruhiger werdenden Atem. Laut polternd ließ er das Holzstück zu Boden fallen. Ich konnte ein kleines Kichern einfach nicht unterdrücken und rutschte an ihm hoch, um mich wieder an seine Seite zu kuscheln. Ich war noch immer so aufgewühlt, von dieser Erfahrung und hoffte sehr, dass es ihm wirklich gefallen hatte. Fragend sah ich zu seinem Gesicht und wartete auf ein unmissverständliches Zeichen.

Überraschend schnell drehte er sich zu mir, schloss mich in seine Arme und drückte mich so fest an sich, dass ich das Atmen einstellen musste. Bedauerlich zwar, weil ich so gerne an ihm roch, was aber völlig unwichtig war, solange er mich nur nicht los lies.

Nach einer endlosen Minute löste er dann langsam seinen Griff. Er streichelte mir übers Haar und dann der Linie meines Kiefers folgend zum Kinn, um es leicht anzuheben. Er lächelte mich verführerisch an, gab mir einen unbeschreiblich zärtlichen Kuss und meinte dann:

»Jetzt bist du dran.«

Mit einem Ruck war auch die Existenz dieses netten Nachthemdes beendet, doch das störte mich nicht im geringsten. Glücklich und wohlig schnurrend gab ich mich nun seinen Liebkosungen hin.


Am nächste Morgen hatte Edward die schwierige Aufgabe, dem Concierge zu erklären, was mit dem Bett passiert war. Gegen Bezahlung einen horrenden Trinkgeldes wurden dann aber keine weiteren Fragen mehr gestellt.

Wir verbrachten noch einen weiteren Tag in Chicago und besuchten diesmal ein paar Museen - von denen es erstaunlich viele gab - und am Abend dann noch ein Theater.

Danach schlenderten wir vergnügt zurück und gingen durch ein paar Seitenstraßen und kleine Gassen. Edward hatte diesen Weg gewählt, weil ich den Geruch der großen Straßen nicht mochte. Er knabberte ständig an meinen Ohrläppchen und an meinem Nacken und ich drückte meinen Schild weg, um ihm zu zeigen, wie sehr mir das gefiel. Das wiederum führte dazu, dass er seine Hände nicht mehr bei sich lassen konnte, was mir noch viel mehr gefiel.

Er zog wieder einmal meine ganze Aufmerksamkeit auf sich. Alle meine Sinne waren nur auf ihn ausgerichtet und das half mir, die stinkende und lärmende Stadt um uns herum vollkommen auszublenden. Edward schien es ganz genau so zu gehen. Immer, wenn ich meinen Schild weggedrückt hielt, hatte ich das Gefühl, dass er nur noch meine Gedanken wahr nahm und das erzeugte ein freudiges Kribbeln in meinem Bauch. In diesen Momenten fühlte ich mich ihm so unendlich nah. Wir genossen einfach unsere Liebe und schmusten ungeniert.

Plötzlich hörten wir die raue Stimme eines Mannes seitlich von uns, die uns aus unserer verträumten Zweisamkeit riss und in die Realität zurück schleuderte.

»Hey ihr Zwei. Los Geld raus, aber zackig!«

Überrascht schreckten wir auseinander. Offensichtlich war Edward so auf mich konzentriert gewesen, dass er den Kerl nicht bemerkt hatte und auch mir war nichts aufgefallen. Wie auch. Hier waren ständig irgendwelche Menschen in unserer Nähe. Wie hätten wir mit so etwas rechnen können?

Nun standen wir in einer dunklen Seitenstraße und ich griff nach seiner Hand. Nicht weil ich um uns Angst hatte, wie es vermutlich für den Straßenräuber aussah, sondern weil ich fürchtete, Edward könnte etwas Unüberlegtes tun.

Ich bemerkte, dass der Mann eine Pistole auf uns richtete und dachte darüber nach, wie es sich wohl anfühlte, wenn auf mich geschossen würde. Soweit ich wusste, konnte uns eine Kugel nichts anhaben. Ich war richtig neugierig und ein Teil von mir wollte, dass auf mich geschossen wurde. Ich schüttelte wegen dieser Gedanken den Kopf. So etwas war für unsere Tarnung sicherlich nicht von Vorteil.

»Wird’s Bald!«, brummte der Kerl und fuchtelte mit der Pistole herum.

Vermutlich wollte er uns zeigen, dass er bewaffnet war. Hatte er tatsächlich geglaubt, wir hätten das nicht gesehen? Ich konnte jeden Pickel in seinem Gesicht durch das schwache Mondlicht sehen. Ich könnte der Polizei eine Täterbeschreibung liefern, bei der sie sich nur die Augen reiben würden. Er hielt seine linke Hand vor und machte einen winkende Bewegung. Jetzt könnte ich der Polizei sogar seine Fingerabdrücke aufzeichnen.

Ich schaute zu Edward. Sein Gesicht war angespannt und äußerst aggressiv. Dieser Blick erinnerte mich an jenen Tag in Port Angeles, als er mich vor einer halben Ewigkeit vor einer Gruppe betrunkener Kerle rettete. Der Tag, an dem er mir verriet, dass er Gedanken lesen konnte. Ich ahnte, dass die Gedanken dieses Typs ihn rasend machten. Er kämpfte mit seiner Selbstbeherrschung und ich befürchtete, dass er die Kontrolle verlieren könnte.

Unser Räuber wurde nervös und richtete die Pistole auf Edward. Instinktiv, obwohl auch völlig unnötig, schob ich mich vor Edward.

»Bitte nicht«, sagte ich mit sanfter Stimme zu Edward, aber auch zu dem Mann und hoffte, er würde von seinem Vorhaben ablassen.
»Dann her mit der Kohle!«

Seine Stimme zitterte. Er war nervös, sehr nervös. Ich roch das Adrenalin, roch auch die widerwärtige Alkoholfahne. Sein Blick war durchdringend. Er würde nicht zurückstecken. Er war bereit zu töten, da war ich mir sicher. Der Gestank seines Atems und seine rücksichtslose Art machten mich wütend. Ich drückte meinen Schild weg und fragte Edward im Gedanken:
“Kann uns hier irgendjemand sehen?”

Er zischte nur ein leises »nein« durch die zusammengebissenen Zähne. Das war mein Stichwort. Ich sprang vor, griff die Pistole mit der linken Hand und zerquetschte sie dabei, packte ihn gleichzeitig mit der rechten Hand an der Jacke und warf ihn aus der Drehung heraus gegen eine Hauswand. Von dort fiel er zu Boden und blieb regungslos liegen.

Mein Zorn verrauchte so schnell wie er gekommen war. Was hatte ich nur getan? Ich war so besorgt gewesen, dass Edward etwas Unüberlegtes tun könnte und hatte dabei selbst unbedacht gehandelt. Hatte er vielleicht schwere innere Verletzungen und Knochenbrüche erlitten? Hatte ich ihn womöglich sogar umgebracht? Meine Wut hatte mich versehentlich viel mehr Kraft einsetzen lassen, als ich eigentlich wollte. Der Klumpen Metall in meiner Hand bestätigte das überdeutlich.

»Warum durfte ich das nicht machen?«, frage Edward mit breitem Grinsen und gespielter Enttäuschung.
»Ich wollte das gar nicht. … Na ja, nicht so doll jedenfalls.«
Er lachte leise.
»Edward, was machen wir denn jetzt? Wenn er tot ist, dann …«
»Keine Sorge, Bella. Er lebt. Er ist nur K.O. Gegangen.«
»Aber wenn er innere Verletzungen hat.«
Edward seufzte.
»Wie kannst du dir um den Kerl nur solche Sorgen machen? Wenn du wüsstest was er gedacht hat…«
»Ich kann es mir vorstellen, Edward. Ich war mir sicher, dass er auf dich schießen wollte.«
»Ja … und mit dir hatte er dann auch noch etwas vor.«
»So genau wollte ich es gar nicht wissen.«

Ein kurzes nachdenkliches Schweigen breitete sich aus.
»Du willst ihn immer noch gerettet wissen?«
Ich nickte und Edward seufzte erneut.
»Dann warte mal einen Moment.«

Er ging zu dem am Boden liegenden Täter und durchsuchte seinen Taschen. Wollte er ihn jetzt etwa ausrauben? Das hatten wir doch nun wirklich nicht nötig und was hatte das mit seiner Rettung zu tun?

Schließlich zog er etwas aus einer Tasche heraus. Ein Handy, wie ich erkennen konnte. Er wählte die Notrufnummer und sagte mit verstellter Stimme, dass ein bewusstloser Mann auf der Straße lag und wo er zu finden war. Dann legte er auf, warf das Handy vor ihn und schob mich aus der Gasse heraus.

»Die bringen ihn in ein Krankenhaus und wenn er ein gesuchter Verbrecher ist, wovon ich eigentlich ausgehe, dann wird ihn die Polizei auch gleich dingfest machen. Zufrieden?«
Wieder grinste er mich schief an und ich lächelte nickend zurück.
»Hattest du einen bestimmten Grund, dass du nicht dein Handy benutzt hast?«
»Ja, bei der Notrufzentrale wird die Anrufernummer gespeichert. Da nützt auch keine Rufnummernunterdrückung. War nur zur Vorsicht.«

Auf dem Weg zum Hotel entsorgten wir dann den Metallklumpen, der einmal eine Schusswaffe war, in einem Fluss.


Wir verbrachten noch eine Nacht im Hotel und an nächsten Morgen flogen wir wieder zurück nach Seattle, gefolgt von einer Autofahrt nach Hause. Gegen Nachmittag kamen wir an und wurden von allen freudig begrüßt. Natürlich erzählten wir gleich von unserem Straßenräuber. Vor allem Emmett fand das Ganze äußerst amüsant. Rosalie gefiel vor allem der Teil, bei dem ich mich vor Edward gestellt hatte und Esme war ganz gerührt, als sich Edward darüber beklagte, dass er einen Rettungswagen rufen musste. Renesmee erzählte ich vor allem von den Museen, die wir besucht hatten. Sie bat mich inständig, mit ihr auch einmal ein Museum zu besuchen und ich versprach ihr, dass wir das demnächst mal machen würden. So ging allmählich der Tag zu Ende, bis mich dann Renesmee überraschend etwas Anderes fragte.

»Momma? Ich bin müde, bringst du mich vielleicht ins Bett?«
Ich schaute sie verwundert, aber auch gerührt an.
»Wirklich Liebling? Ich soll dich ins Bett bringen?«

Damit hatte ich nicht gerechnet, auch wenn es mich natürlich sehr freute, weil ich das schon seit einer ganzen Weile nicht mehr durfte. Kurz vor meinem Koma hatte sie mir ja erklärt, dass sie alt genug sei, um das alleine zu können und seither haben wir sie nur noch ins Bett gelegt, wenn sie vorher eingeschlafen war.

»Ja Momma. Ich habe festgestellt, dass es zwar schön ist, alleine ins Bett zu gehen, wenn ich das so will, aber nicht, wenn ich das muss, weil du und Daddy mich nicht ins Bett bringen könnt. … Und jetzt hätte ich das gerne wieder, … wenn es euch nichts ausmacht.«

Sie sagte das so süß mit ihrer kleinen piepsigen Stimme, dass es unmöglich war, ihrer Bitte nicht nachzukommen. Außerdem war das ja auch etwas, das ich liebend gerne machte.

»Natürlich macht uns das nichts aus Sternchen«, sagte ich fröhlich und hob sie auf meinen Arm.

Auch Edward sprang sofort auf und lächelte sie an. Wir wünschten allen eine gute Nacht und gingen in unser Häuschen. Renesmee machte sich bettfertig, schickte uns dann zum Abschluss noch ihre schönsten Erlebnisse der letzten drei Tage und legte sich dann zum Schlafen ins Bett. Ich blieb noch ein paar Minuten bei ihr, streichelt ihr Gesicht und gab ihr kleine Küsschen. Dann wurde sie immer müder, murmelte noch »ich hab dich lieb, Momma«, und drehte sich schließlich zum Einschlafen um. Glücklich verließ ich ihr Schlafzimmer und ging zu Edward.

»Ich hab dich auch lieb«, sagte er mit seiner samtweichen Stimme. Dann küssten wir uns innig und ließen uns aufs Bett sinken.

Kapitel 15 - Eine harte Entscheidung

Die Sonne war aufgegangen und erhellte den Raum. Wieder einmal reckte ich meinen Arm in den Sonnenstrahl und bewunderte das Farbspiel meiner Hand und meines Eheringes. Es würde heute wohl ein sonniger Tag werden, aber das kümmerte mich nicht. Ich war glücklich und zufrieden und für den Moment war die Welt in Ordnung.

Ich konnte Renesmee in ihrem Zimmer hören, wie sie allmählich aufstand und sich anzog. Edward und ich machten das Gleiche. Dann gingen wir zusammen ins Haupthaus.

Auf dem Weg konnte Renesmee kaum die Augen von uns lassen. Sie sah uns nicht so häufig im Sonnenlicht und war, wie ich selbst, immer sehr fasziniert von dem Funkeln unserer Haut. Mit einem leicht bedauernden Gesichtsausdruck betrachtete sie dann ihren eigenen Arm, der nur unmerklich und schwach schimmerte. Mir gefiel ihr zartes glitzern, das für Menschen wohl kaum zu sehen sein dürfte oder höchstens für Schweißperlen oder kleine Härchen gehalten würde. Es passte so gut zu ihr und würde ihr außerdem einen unschätzbaren Vorteil bei einem Leben unter Menschen bieten. Ihr selbst schien das aber nicht bewusst zu sein und Edwards besorgter Blick auf sie, war ein deutliches Zeichen dafür, dass sie im Augenblick unglücklich war. Also wollte ich versuchen, sie etwas aufzuheitern.

»Hey, Sternchen. Ein schöner sonniger Tag heute, was?«
»Hmm.«
»Was hast du denn?«
Sie seufzte.
»Ach nichts.«
»Bedrückt dich etwas?«

Ich kniete mich vor sie hin und sah ihr prüfend und leicht besorgt in die Augen. Natürlich blieb mir nicht verborgen, wie das Glitzern meiner Haut kleine Lichtpunkte über ihren Körper wandern lies und wie ihre Augen das Spiel der Farben beobachteten.

»Eure Haut ist so viel schöner als meine. Ich wünschte, ich wäre auch ein ganzer Vampir.«

Sie sagte das so traurig, dass ich sie einfach in den Arm nehmen musste.

»Ach Sternchen, du bist so wunderschön. Mir gefällt der zarte Schimmer deiner Haut und außerdem wirst du später einmal etwas können, das wir nicht können.«
»Was denn?«, fragte sie neugierig und nicht mehr ganz so traurig.
»Na, du wirst mit deinen menschlichen Freunden auch bei Sonnenschein zusammen sein können, ohne dabei aufzufallen. Die können die Schönheit deiner Haut nämlich nicht so sehen wie wir. Du bist viel besser getarnt als Daddy und ich.«
Ein kleines, wenn auch nicht ganz überzeugendes Lächeln huschte über ihr Gesicht.
»Ich weiß ja, aber irgendwie ist der Unterschied zwischen euch und mir so groß. Ich denke manchmal, ich gehöre gar nicht so richtig dazu, weil ich so anders bin.«

Ach du Schreck! Wie kam sie denn nur auf so eine Idee?

“Das ist ja furchtbar.”, dachte ich und sprach sie so liebevoll und zärtlich an, wie ich nur konnte.
»Liebling, wie kannst du nur so etwas glauben? Du gehörst zu uns, wie kein anderes Wesen in diesem Universum. Du bist unsere Tochter und das absolut Wichtigste für uns.«
»Ja, trotzdem, ich bin anders als ihr und ich bin anders als die Menschen. Ich gehöre nirgends richtig hin.«
»Das siehst du aber völlig falsch, Kleines. Es ist genau andersherum. Du gehörst zu beiden Seiten und bist perfekt an dieses Leben angepasst. Ich wünschte, ich wäre wie du.«
»Das sagst du doch jetzt nur so, um mich aufzuheitern.«
»Nein Schatz, ich meine das wirklich so. Wie gerne würde ich mit dir im Sonnenlicht an einem Strand spazieren gehen. Wie gerne mich mit dir frei unter den Menschen bewegen können. Ich muss mich immer so anstrengen, nicht entdeckt zu werden, aber dir fällt das ganz leicht. Ehrlich Liebling, ich bin neidisch auf dich.«

Sie sah mich prüfend an und lächelte leicht und seufzte noch mal. So richtig überzeugt schien sie noch immer nicht zu sein, aber zumindest auch nicht mehr so bedrückt. Schließlich gingen wir weiter.

»Momma? Was wird eigentlich aus unserem Training, jetzt wo ich das kann?«
»Ich weiß nicht, Renesmee. Wir können ja mal mit Carlisle sprechen.«

Sie nickte und ich überprüfte kurz meinen Schild um zu sehen, wo Carlisle gerade war und sah, dass er gleich das Haus verlassen würde. Als wir die Tür erreichten, kam er gerade heraus.

»Guten Morgen, Opa«, sagte mein kleiner Engel jetzt schon etwas fröhlicher.
»Guten Morgen, Liebes.«
»Hast du vielleicht noch kurz Zeit für uns?«, wollte sie wissen.
»Ich kann mir kurz Zeit nehmen, was kann ich für euch tun?«

Renesmee blickte mich fragend an. Offensichtlich wollte sie, dass ich ihn fragte.

»Ähm … Carlisle, wir wollten wissen, was jetzt aus unserem Training wird, nachdem sie diese Phase ja geschafft hat.«
»Oh!? Darum geht es. … Also was dich betrifft, Bella, du weißt, dass du das Training nicht mehr brauchst. Und du, junge Dame (er kniete sich vor sie hin), du hast schon mehr erreicht, als man erwarten konnte. Du kannst wirklich sehr stolz auf dich sein.«
»Ja, bin ich auch, aber ich kann das noch lange nicht so gut wie Momma.«
»Ich weiß, Liebes, aber ich denke wirklich, du solltest hier stoppen. Alles was jetzt noch im Training gesteigert werden kann, ist die Intensität des Blutgeruchs. Das würde wirklich sehr hart für dich werden. Es wäre mir wirklich sehr viel lieber, wenn du das nicht machen würdest.«
»Traust du es mir denn nicht zu?«, fragte sie traurig.
»So wollte ich das nicht sagen, Renesmee. Ich meine, lass dir doch einfach mehr Zeit. Es gibt keinen Grund zur Eile. Es braucht für gewöhnlich sehr lange, bis man sich wirklich ganz unter Kontrolle hat. Ich möchte nicht, dass du dich übernimmst.«

Das war das erste Mal, dass Carlisle so ernsthaft versucht hatte, Renesmee das Training auszureden. Würde die nächste Phase wirklich so viel schlimmer für sie werden?

»Opa. Warum darf ich es denn nicht wenigstens mal versuchen?«

Carlisle seufzte und machte ein kritisches Gesicht. Jetzt war ich restlos davon überzeugt, dass er es wirklich nicht wollte.

»Liebes, es wird dir ganz sicher nicht gefallen, was in der nächste Stufe auf dich wartet.«
»Die letzte Stufe hatte mir anfangs auch nicht gefallen und ich habe es irgendwann geschafft. Ich versteh nicht, warum ich jetzt aufgeben soll.«

Sie wirkte so enttäuscht, dass Carlisle nicht wollte, dass sie weiter übte. Ich war hin und her gerissen und Carlisle schien es ähnlich zu gehen.

»Es ist kein Aufgeben, sondern ein Abwarten. Wirklich, es gibt keinen Grund zur Eile.«
»Ach bitte Opa, lass es mich doch wenigstens ein Mal ausprobieren.«

Er stand auf und sah Edward an, der augenblicklich das Gesicht verzog. Carlisles Gedanken schienen ihm überhaupt nicht zu gefallen.

»Carlisle, gibt es denn keinen sanfteren Übergang?«, fragte Edward und klang dabei Vorwurfsvoll.
»Nein mein Sohn. Das ist der nächste Schritt. Ich kann diese Entscheidung nicht für eure Tochter treffen, das müsst ihr machen. Du weißt jetzt alles, was du wissen musst, um entscheiden und gegebenenfalls aufbauen zu können, wenn ihr es zulassen wollt. Ich muss jetzt gehen. Und Renesmee, es wäre mir wirklich lieber, du würdest noch warten.«

Dann streichelte er ihr noch kurz über den Kopf und ging zu seinem Wagen.

Völlig ratlos blickte ich Edward an und auch Renesmees Augen waren auf ihn gerichtet. Sie wollte unbedingt ihren Versuch haben. Könnte es wirklich so schlimm werden, dass wir es ihr verbieten müssten?

»Lass uns erst mal das Frühstück machen«, entschied ich um etwas Zeit zu gewinnen.

Heute sollte es ein recht deftiges Frühstück geben. Gebratene Würstchen mit Bratkartoffeln. Renesmee half mir natürlich dabei und wurde es nicht müde, immer wieder zu erwähnen, dass sie wirklich unbedingt einen Versuch haben wollte, egal wie schwer es werden würde.

Hilfesuchend schaute ich nach Edward, der jedoch nur seinen Gedanken nachhing und mir keine Zeichen gab. Als Renesmee beim Essen war, sprach er in der Küche zu mir.

»Bella, ich kann das nicht entscheiden. Ich glaube wie Carlisle, dass es sehr hart für sie wird, aber ich höre auch deutlich ihren Wunsch, es wenigsten versuchen zu dürfen.«
»Was muss sie denn machen?«, fragte ich und meine Stimme transportierte deutlich meine Unsicherheit und Besorgnis.
Er seufzte schwer.
»Ich zeige es euch im Trainingsraum. Dann muss eine Entscheidung getroffen werden.«

Nachdem Renesmee fertig war, gingen Edward und ich mit mulmigem Gefühl mit ihr zum Trainingsraum. Sie schien voller Vorfreude zu sein, unwissend was sie erwartete.

Edward ging zu einem der Schränke und holte etwas heraus, das wie ein kleiner Springbrunnen aussah.

»Das hier, soll nun in die Schüssel gestellt werden. Der Effekt ist, dass das Blut stark aufgewirbelt wird und seinen Duft wesentlich intensiver in die Luft abgibt. Nessie, bitte, das wird sehr hart für dich werden. Willst du es dir nicht noch mal überlegen?«

Sie schüttelte bestimmend den Kopf. Mein kleiner Dickschädel war fest entschlossen.

Edward seufzte und redete weiter.
»Danach muss das Teil gründlich ausgespült werden. Es wird sich praktisch nicht verhindern lassen, dass dabei zumindest die Hände von dem Blut benetzt werden und das gehört auch zu der Übung dazu. Nicht, dass ihr auf die Idee kommt, Handschuhe zu benutzen.«

Mir war klar, was er damit meinte. Ich fürchtete diese Aufgabe auch nicht und würde sie definitiv selbst übernehmen und das auf keinen Fall Renesmee überlassen.

»Wollen wir, Momma?«
Es war im Grunde keine Frage, sondern die Aufforderung, anzufangen.
»Schatz, ich weiß nicht …«
»Ach bitte. Einen Versuch, ja?«

Ich seufzte schwer und blickte in Edwards ebenfalls unschlüssige Augen. Na toll. Wenn ich es nicht zulasse, wird Renesmee auf mich sauer sein und glauben, dass wir kein Vertrauen in ihre Stärke hätte. Wenn ich es aber zulasse, wird sie leiden müssen und vielleicht versagen. Was war denn da das kleinere Übel? Edward wollte diese Entscheidung nicht treffen. Auch Carlisle war dazu nicht in der Lage, was mir eigentlich schon Warnung genug sein sollte. Die anderen brauchte ich erst gar nicht zu fragen. Jeder würde vor dem gleichen Problem stehen. War sie denn wirklich reif genug, solch eine Entscheidung für sich treffen zu können? Sie? Ein Mädchen von noch nicht einmal 1 ½ Jahren, wenn auch mit dem Aussehen einer Siebenjährigen und einem äußerst wachen Verstand? Wäre ein Scheitern wirklich so schlimm? Ich würde doch die ganze Zeit bei ihr sein.

Ich seufzte abermals schwer. Diese Gedanken waren belastend und die Entscheidung alles andere als einfach. Renesmee blickte mich gebannt an und ich überlegte eine Weile, bis ich bereit war einen Entschluss zu fassen.

»Also gut, Liebling. Du setzt dich, ich baue auf, lese dir die ganze Zeit vor und danach baue ich wieder ab … und du versprichst mir, es sofort zu sagen, wenn es zu anstrengend für dich wird. Übertreibe es nicht, ja?«
»Super! o.k. Momma.«
Sie freute sich total und gab mir einen Kuss und ging zu ihrem Platz. Ich holte zwei Blutkonserven.
»Du brauchst jetzt drei«, sagte Edward.

Ich seufzte erneut und nahm eine Dritte aus dem Kühlschrank. Dann kippte ich sie alle in die Glasschüssel und warf die leeren Behälter in den Mülleimer.

“So Weit, so Gut”, dachte ich mir.

Edward gab mir den Zimmerbrunnen in die Hand.
»Soll ich vielleicht hier bleiben?«
Ich dachte kurz darüber nach, aber es schien mir albern.
»Nein, warte draußen wie üblich.«

Er nickte angestrengt und ging hinaus. Ich schloss den Zimmerbrunnen an einer freien Steckdose im Boden an, stellte ihn vorsichtig in die blutgefüllte Glasschüssel, schaltete die Wärmeplatte ein und schließlich auch den kleinen Folterapparat an.

Augenblicklich füllte sich die nähere Umgebung mit einem intensiven Blutgeruch. Er war stärker, als ich erwartet hatte. Sofort waren meine Sinne aufs Äußerste geschärft, mein Hals kratzte und mein Blutdurst, den ich in mir eingeschlossen hatte, rüttelte kräftig an seiner Gefängnistür. Winzige kleine Bluttröpfchen, so klein, dass sie von den Luftmolekülen getragen werden konnten, schwebten um den Zimmerbrunnen herum. Besorgt blickte ich zu meiner Tochter. Sie wirkte im Moment sehr ruhig und ich ging langsam zu ihr, sehr darauf bedacht, keinen allzu großen Sog zu verursachen, der dieses Luft-Blut-Gemisch zu ihr tragen könnte. Ich setzte mich und begann vorzulesen.

Die Minuten schien so langsam zu vergehen, dass ich ernsthaft an meinem Zeitgefühl zu zweifeln begann. Nach einer gefühlten Ewigkeit hatte die Wärmeplatte endlich die gewünschte Zieltemperatur erreicht. Sicherlich sorgte die zusätzliche Konserve, der in der Schüssel platzierte Springbrunnen und die zusätzliche Abkühlung durch die Luft dafür, dass es sehr viel länger gedauert hatte, als das bisher in unserem Training der Fall gewesen war.

Besorgt stelle ich fest, dass die Wärme der Platte nicht nur die Flüchtigkeit der Bluttröpfchen erhöht, sondern auch die Luft darüber in Bewegung versetzt hatte. Eine fast unsichtbare Wolke breitete sich aus und bewegte sich unaufhaltsam auf uns zu, doch Renesmee schien immer noch ruhig und konzentriert meiner Stimme zu lauschen.

Dann war es soweit. Die Wolke hatte uns erreicht. Winzige Tröpfchen legten sich auf meine Haut und bahnten sich den Weg durch meine Nase, um meinen Durst anzufachen. Ich war darauf vorbereitet und behielt die Kontrolle, doch Renesmees Augen weiteten sich augenblicklich und sie hielt den Atem an. Ihr Herz schlug plötzlich viel schneller und schlagartig verkrampften sich die zitternden Hände, die nun die Stuhllehnen zerquetschten.

»Renesmee? Geht es? Willst du raus?«
Sie zeigte keine Reaktion und ich wurde schlagartig sehr besorgt.
»Renesmee? Liebling?«

Ich griff nach ihrer zitternden Hand und kaum, dass ich sie berührt hatte, schoss eine vibrierende Gedankenübertragung in mein Gehirn. Durch einen roten Schleier, den ich sofort als ihren Jagdmodus erkannte, zeigte sie mir in rasender Wiederholung immer wieder die Erinnerung an den Tag, an dem sie blutbespritzt von mir aus dem Trainingsraum getragen wurde.

Ich wusste sofort, was es bedeutete. Sie wollte hier raus. Draußen rief Edward ein verzweifeltes “Bella!” und ich griff nach meiner Tochter um sie auf den Arm zu nehmen. Sie hielt noch immer die Armlehnen des Stuhls fest umklammert. Schweren Herzens setzt ich sie für eine Zehntel Sekunde noch mal auf den Boden, brach die Armlehnen ab und hob sie wieder hoch. Dann rannte ich mit ihr zur Tür hinaus und eilte nach Hause. Eine rötliche Duftwolke wurde hinter uns aus dem Trainingsraum geweht, doch ich konnte mir darum jetzt keine Gedanken machen. Ich bemerkte aber noch, dass Edward scharf Luft einzog und uns dann folgte.

Zu Hause sprang ich mit meinem erstarrten Mädchen gleich unter die Dusche und drehte das Wasser auf.

»Liebling?«

Sie reagierte noch immer nicht und war wie versteinert. Ich griff nach ihrer Hand. Sie vibrierte nicht mehr, zeigte mir nichts.

»Liebling?«

Ganz langsam lösten sich die verkrampften Hände und erlaubten mir, die Überreste der Armlehnen herauszudrehen. Ich ließ ihr das warme Wasser über den Kopf laufen und fuhr ihr mit den Fingern durchs Haar.

»Liebling? Sag doch bitte etwas.«

Ich stelle sie auf ihre Beine und zog sie aus, griff schnell nach dem Duschgel und seifte sie ein. Dann machte ich mit mir das Selbe, um jeglichen Blutgeruch endgültig zu vertreiben.

Unsicher kniete ich vor ihr und beobachtete sie. Ihr Herzschlag und die Atmung normalisierte sich wieder. Blutdruck und Körpertemperatur schienen auch bald wieder normal zu sein. Sie fing auch wieder an sich zu bewegen und blickte mich dabei zaghaft an.

»Schatz, alles in Ordnung?«

Sie schüttelte den Kopf und dann fiel sie mir schluchzend um den Hals.

»Es war so schrecklich, Momma«, gab sie unter Tränen von sich. »Ich will das nicht mehr machen.«
»Das musst du auch nicht, Kleines. Nie wieder. Es tut mir so leid. Ich hätte das nie zulassen dürfen.«

Sanft wiegte ich sie in meinem Arm. Bei jedem Schluchzer von ihr, wünschte ich mir, meinen Augen würden sich auch mit Tränen füllen, doch lief mir nur das Wasser aus der Dusche über die Wangen. Wie hatte ich das nur zulassen können? Ich musste den Verstand verloren haben. Sie war doch noch ein kleines Mädchen und hatte noch weniger Ahnung von dem, was sie erwartet hatte als ich. Selbst wenn sie wütend auf mich gewesen wäre, hätte ich das nicht zulassen dürfen. Das war so unverantwortlich von mir gewesen.

Allmählich, wir standen seit etwa zehn Minuten in der Dusche, ließ ihr Schluchzen nach und sie schien sich wieder zu beruhigen.

»Ich hoffe, du kannst mir irgendwann verzeihen, Liebling.«
Sie beugte sich zurück und blickte mich mit feuchten Augen an.
»Dir verzeihen?«
Ich nickte nur und sah sie schuldbewusst und um Vergebung bittend an.
»Aber Momma. Ich wollte das doch.«
»Spielt keine Rolle, Sternchen, ich hätte das besser wissen müssen. Carlisle hatte es geahnt und nicht gewollt. Daddy hatte es geahnt und nicht gewollt. Ich hatte es geahnt und trotzdem zugelassen. Es tut mir schrecklich leid.«

Sie legte den Kopf wieder an meine Schulter und atmete schon bald ruhig weiter. Das Schluchzen hörte ganz auf und dann gab sie einen leichten Seufzer vom sich. Danach streichelte sie mir das Gesicht und schickte mir plötzlich viele glückliche Bilder und Filmchen von ihr mit mir. Ich war sehr überrascht und drückte sie fester an mich.

»Liebling, wie machst du das nur, dass du so kurz nach solch einem Schock schon wieder so positiv denken kannst?«
»Na ja, du hast mich doch gleich raus gebracht. Es geht schon. Ich glaube auch, dass es gut war, dass ich es gemacht habe.«
»Du glaubst dass es gut war? Aber Schatz, du hast doch gerade erst gesagt, dass es ganz schrecklich war und so geweint.«
»Ja Momma, es war ja auch schlimm. Es ist gar nicht schön, wenn einem der Jagdmodus aufgezwungen wird und man sich nicht dagegen wehren kann. Es ist furchtbar, solch großen Durst zu verspüren, dass man Angst hat, die Kontrolle zu verlieren und sich nur krampfhaft irgendwo festhalten kann. Das war wirklich schrecklich.«
»Aber dann verstehe ich nicht, wieso du glaubst, dass es gut war, dass du das gemacht hast.«

Sie schwieg eine Weile, doch dann erklärte sie es mir.

»Momma? Ich weiß nicht wie ich das sagen kann, ohne dass es blöd klingt. … Es war einfach so, … dass ich mich da drin mit dem Durst so richtig als Vampir gefühlt habe. … Ich hab das vermisst.«
»Vermisst?«

Sie nickte und wartete einen Moment, bis sie weiter redete.

»Seit Wochen tue ich so, als ob ich ein Mensch wäre. Das gefällt mir nicht. Ich habe einfach das Gefühl, dass ich immer weniger zu euch gehöre.«
»Aber Sternchen. Wieso denkst du das nur? Du gehörst ganz und gar zu uns.«
»Aber nicht richtig, Momma. Schau, seit Wochen esse ich menschliches Essen. Ich mag es nicht besonders. Blut ist viel leckerer. Ich mache es eigentlich nur noch, weil du mich darum gebeten hast. Als Training für später, wenn ich vielleicht Menschen zu Freunden haben kann. Aber jetzt? Ich lebe nicht mit Menschen zusammen, ich lebe mit euch zusammen. Ich mag es nicht, immer auf die Toilette gehen zu müssen. Ich mag es nicht, ständig Hunger zu bekommen. Ich mag es nicht, wie ihr alle eure Nase rümpft, wenn Essen für mich gemacht wird. Ich esse schon so schnell es nur geht, damit ihr nicht so belästigt werdet. Ich mag es auch nicht, dass Rosalie immer auf Abstand geht, wenn ich mit Jacob zu Mittag oder zu Abend esse. Ich mag mir auch nicht mehr mit Jacob einen Salat teilen, ich will mir mit ihm ein Wapiti teilen. Ich will auch mal wieder mit dir und Daddy auf die Jagd gehen. Ich will einfach nicht mehr so anders sein als ihr. Kannst du das denn nicht verstehen?«

Oh je, ich hätte nie gedacht, dass sie so darunter leiden könnte.
»Doch Schatz, ich kann es verstehen. Ich hatte es nur nicht erwartet. Das habe ich nicht gewollt.«
»Bitte Momma. Ich will damit aufhören. Ich will wieder Vampir sein. Wenigstens ein Halber. Auch wenn ich dafür erst in zehn Jahren in eine Schule gehen darf.«
»Ach Sternchen.«

Ich drückte sie wieder fest an mich. Nie hätte ich damit gerechnet, dass meine Tochter sich so zwischen den Welten der Menschen und der Vampire hin und her gerissen fühlte. Ich dachte, sie hätte die einmalige Chance, zu beiden Welten zu gehören, aber jetzt hörte sie sich an, als ob sie es so empfinden würde, dass sie zu keiner der beiden Welten gehörte. Das fand ich so schrecklich.

»Schatz, es tut mir so leid. Das habe ich niemals gewollt. Natürlich kannst du damit aufhören und das hat gar nichts damit zu tun, wann du eine Schule besuchen kannst. Du bist schon jetzt so beherrscht, wenn du bei Opa und Sue bist, oder mit Jacob bei seinen Leuten. Ich mache mir keine Sorgen, dass du das nicht kannst.«
»Dann darf ich wieder Vampir sein?«, fragte sie mit einem unsicheren Lächeln.
»Liebling, du bist ein Vampir. Ein Vampir, der versucht hat, wie ein Mensch zu leben und gelernt hat, dass er das kann. Du kannst etwas, das kein anderer Vampir kann. Du hast die Wahl, ob du als Vampir oder als Mensch leben willst.«
»Dann will ich jetzt wieder Vampir sein«, sagte sie entschlossen.
»Gut, dann sagen wir Esme, dass sich dein Hauswirtschaftsunterricht wieder erledigt hat und morgen gehen wir dann zusammen auf die Jagd, o.k.?«
Jetzt nickte sie mit einem glücklichen und erleichtertem Lächeln auf den Lippen.
»Oh ja, das ist o.k., mehr als o.k.«
Sie umarmte mich wieder innig und dann sagte sie noch:
»Heute Mittag will ich noch mal zum Abschluss mit Jacob essen und dann sage ich ihm, dass ich das nicht mehr will. … Momma? Darf ich ihn auch mit auf die Jagd nehmen?«
»Natürlich, da wartet bestimmt irgendwo ein Wapiti auf euch.«
»Das hoffe ich doch sehr.«

Ich war sehr erleichtert, dass es Renesmee schon wieder besser ging und dass sie endlich erzählt hatte, was sie schon seit Wochen belastete. Ich hoffte inständig, dass ihre kleine Krise jetzt überstanden war und dass sie sich wieder voll als Teil der Familie sehen konnte und dass sie irgendwann die Möglichkeiten, die sich ihr boten, richtig verstehen und nutzen könnte.

Nachdem wir nun schon eine halbe Stunde unter der Dusche waren, trockneten wir und ab und zogen uns wieder um. Edward empfing uns vor der Tür und umarmte uns. Natürlich hatte er durch Renesmees Gedanken zugehört. Es war gut zu wissen, dass er immer für uns da war, aber es tat mir plötzlich auch leid, dass er bei diesem Teil von Renesmees Leben nicht wirklich dazu gehörte. Er durfte immer nur zusehen. Auch heute, wo er doch wusste, wie schwer es für sie werden würde, hatte ich ihn aus dem Trainingsraum heraus geschickt. Später dann, als Renesmee unter Schock stand, hatte ich ihn nicht beteiligt. Ich hatte sie alleine beruhigt und er durfte wieder nur zusehen. Kaum vorstellbar, wie ich mich an seiner Stelle gefühlt hätte.

Jetzt, da es ihr wieder gut ging, durfte er sich wieder beteiligen. Mir war nie bewusst, wie unfair das ihm gegenüber war. Ich drückte meinen Schild weg und dachte:
“Danke Liebster, dass du immer für uns da bist und dich nie beklagst, egal wie hart es für dich ist.”

Überrascht schaute er mich an, lächelte herrlich schief und gab mir einen Kuss auf die Wange.


Wir gingen wieder hinüber ins Haupthaus. Als wir am Trainingsraum vorbeikamen, nahmen wir sofort den Blutduft war, der schwer in der Luft hingt. Renesmee schaute kritisch. Der Geruch war natürlich bei weitem nicht so stark wie im Trainingsraum und konnte ihr nichts anhaben, aber dennoch spürte ich, dass er sie jetzt etwas belastete, da diese schlimme Erlebnis noch so präsent in ihren Gedanken war. Auch in mir blitzten die Erinnerungen an unseren hektischen Trainingsabbruch auf und ein »Mist!«, rutschte über meine Lippen. Die beiden schauten mich leicht überrascht an.

»Ich glaube, wir haben da drin etwas vergessen«, sagte ich leicht missmutig. »Ich muss noch aufräumen gehen.«
»Oh!? Das tut mir leid, Momma.«
»Ja, ist ja nicht so schlimm. Geh du doch schon mal mit Daddy ins Haus, ich komm dann nach. Das wird wohl jetzt mein Abschiedsaufräumen.«
»o.k. Momma. … Ähm, können wir es vielleicht irgendwann noch mal versuchen?«
»Bist du dir sicher, dass du das noch mal willst?«
»Jetzt natürlich nicht, aber irgendwann vielleicht. Wenn ich mich … stark genug fühle.«
»Nun ja, wahrscheinlich schon.«

Sie lächelte, nahm ihren Dad an die Hand und ging mit ihm ins Haus. Ich wandte mich seufzend meiner unangenehmen Aufgabe zu.

“Wie stark es da drin wohl jetzt nach Blut riecht?”, fragte ich mich.

Ich atmete noch mal tief durch, öffnete schnell die Tür und huschte hinein. Natürlich hatte ich auch die Schiebetür nicht zugemacht und der ganze Raum glich einer Sauna mit Blutaufguss. Der Geruch war extrem. Bestimmt war die Hälfte des Blutes inzwischen verdunstet. Der Zimmerbrunnen sprudelte nun unregelmäßiger als vorhin. Ich betätigte die Absauganlage, um etwas bessere Luft zu erhalten. Dann schaltete ich erst einmal die Wärmeplatte und den Folterbrunnen aus. Ich zog den Stecker aus der Steckdose und trug die Schüssel mitsamt dem Brunnen zur Spüle. Die Glasschüssel hatte inzwischen einen angetrockneten Blutrand, der sich nicht einfach wegspülen lies. Ich kramte in den Schubladen nach einem Schwamm und einer Bürste und fand sie glücklicher weise auch. Dort war auch eine spezielle Seife, um das Blut besser entfernen zu können. Also machte ich mich ans Abschrubben.

Immer noch war der Blutduft allgegenwärtig. Der Geruch und der Kontakt mit dem Blut auf der Haut ließ meine Sinne unglaublich stark werden. Auch das Kratzen im Hals und das Hämmern des Durstes in meinem Innern war extrem. Doch andererseits ermöglichte es mir gerade diese Anspannung, unglaublich schnell zu arbeiten. Ich fragte mich, ob ich auch schneller rennen könnte, wenn ich diesen Geruch in der Nase hätte.

Nachdem die Schüssel und der Brunnen gereinigt waren, betätigte ich nochmals die Absauganlage und machte mich dann daran, mit dem Schwamm alle Oberflächen abzuwischen. Meine Sehschärfe war im Moment außergewöhnlich. Überall konnte ich die winzigen Blutpartikel kleben sehen. Es fühlte sich wie eine Ewigkeit an, bis ich endlich alles gereinigt hatte.

Noch einmal betätigte ich die Absauganlage. Nun schien der Raum wieder sauber zu sein. Der Blutduft, der jetzt noch zu riechen war, kam von mir. Er klebte wieder an meiner Haut und meinen Kleidern. Ich würde mich schon wieder duschen und umziehen müssen. Man könnte meinen, ich würde unter einer Zwangsneurose leiden.

Seufzend ging ich wieder nach Hause, um mich abermals zu Duschen und frische Kleidung anzuziehen und dann ging ich zu den anderen.

Renesmee machte gerade Mathe mit Edward und Esme stand in der Küche. Ein Blick auf die Uhr verriet mir, dass ich etwa drei Stunden für das Aufräumen gebraucht hatte. Das war doch verrückt. Es war mir viel länger vorgekommen. Ich schüttelte ungläubig den Kopf und ging in die Küche.

»Hallo Esme.«
»Hallo Liebes.«
»Weißt du schon Bescheid, wegen Renesmees Wunsch?«
»Ja, sie hat es mir gesagt. Das hier wird ihr vorerst letztes Mittagessen werden. Ich mache noch mal etwas Italienisches, das hatte sie, glaube ich, ganz gern.«

Esmes Stimme klang etwas wehmütig. Ich legte ihr automatisch den Arm um und streichelte sie über die Schulter.
»Glaubst du, du wirst das Kochen vermissen?«, fragte ich sie.
»Nicht das Kochen, Liebes. Den Geruch vermisse ich bestimmt nicht, aber ich werde es vermissen, etwas für sie zu tun.«
»Oh!? … ich weiß nicht, was ich dazu sagen soll, Esme.«
»Du musst gar nichts sagen, Kind. Deine Tochter hat so ein fröhliches Wesen. Sie hat dich und Edward und natürlich auch Rosalie und Jacob. Ihr gebt ihr alles, was sie braucht. Das ist das Wichtigste und das stimmt mich glücklich. Alles andere ist nur … albern.«

Ich lächelte sie unsicher an. War Esme traurig darüber, dass Renesmee sie nicht so sehr brauchte? Dass sie nur wenig Zeit miteinander verbrachten? Aber wie könnte ich das ändern? Ich hatte keine Ahnung.

Als Jacob kam, wurde er sofort freudig von Renesmee begrüßt. Die beiden setzten sich zum Essen und sie erzählte ihm von ihrer Entscheidung, künftig wieder wie ein Vampir leben zu wollen. Sie wirkte dabei sehr unsicher, wie er das wohl aufnehmen würde, aber Jacob wäre nicht Jacob, wenn er sie nicht sofort voll und ganz dabei unterstützt hätte. Natürlich sagte er ihr genau das, was sie hören wollte, nämlich, dass er sich schon sehr darauf freuen würde, mit ihr zu jagen, da er die gemeinsamen Wapitis doch sehr vermisst hätte. Das wurde natürlich mit einem glücklichen Lächeln belohnt.

Nach dem Essen spielte sie wieder Gitarre. Offensichtlich hatte sie auch während meiner “Abwesenheit” weiter geübt. Sie war ziemlich gut geworden. Einige Stücke, die sie spielte, erkannte ich als Rock-Klassiker, die ich auch schon gehört hatte und nicht ganz so furchtbar fand. Es war direkt nett, ihr zuzuhören und ich kam nicht umhin festzustellen, dass ihr das später auch einmal in der Schule helfen könnte, sich zum Beispiel an einer Band zu beteiligen.

Ihre Möglichkeiten schienen mir so grenzenlos zu sein. Genau so grenzenlos wie mein Bedauern, dass die das jetzt noch nicht erkennen konnte. Doch ich war mir sicher, dass sie es richtig sehen würde, wenn es erst einmal soweit war.

Nachdem sie fertig war, ging sie mit Jacob nach draußen und ich spielte mit Edward etwas Klavier. Was für ein Kontrast für das Ohr. Edwards gefühlvolles Klavierspiel auf der einen Seite und Renesmees austoben an der Gitarre auf der anderen.

Zwischendurch kam dann auch eine Dreiergruppe der Nomaden vorbei, eskortiert von sechs nervös wirkenden Wölfen. Genau wie es mir Edward erzählt hatte, empfing sie Jasper gleich vor der Haustür und informierte sie über die falschen Gerüchte und die Intrigantin, die versuchte, einen Konflikt zwischen den Volturi und uns heraufzubeschwören. Ich verstand auch gut, warum es entweder Carlisle oder Jasper sein musste, der die Besucher empfing. Wem sonst würden es Außenstehende wohl abnehmen, wenn nicht dem Familienoberhaupt oder dem Militärexperten?

Der weitere Nachmittag und Abend verlief sehr gemütlich und harmonisch. Die Familie versammelte sich im Wohnzimmer und es wurden Spiele gespielt und Gespräche geführt. Renesmee schien sehr erlöst und zufrieden zu sein. Ich freute mich für sie. Noch heute Vormittag hatte ich mir größte Sorgen um sie gemacht und befürchtet, dass jetzt wieder Albträume auf sie warten würden, doch das war jetzt alles wie weggeblasen. Sie freute sich über das Zusammensein der Familie. Sicherlich freute sie sich auch auf die morgige Jagd. Es war schön, dass ein Tag, der so schrecklich begonnen hatte, so angenehm endete.


Der nächste Morgen war wieder bewölkt mit zeitweilig kräftigem Schneefall. Ein typisches Wetter für Ende Februar in Forks. Wir machten uns zügig für die Jagd fertig, trafen uns mit Jacob und fuhren dann zu einem entlegenen Teil des Olympic National Park. Nachdem wir angekommen waren, dauerte es auch nicht lange, da hatte Renesmee auch schon ihr Wapiti. Schnell und zielsicher brachte sie es zur Strecke, als ob sie in den letzten Wochen nichts anderes gemacht hätte.

Glücklich lächelte unser kleiner Vampir uns mit seinem blutverschmierten Gesicht an. Ich hatte den Eindruck, dass sie sich extra stark mit Blut voll gespritzt hatte, um sich noch mehr in ihrem Element zu fühlen. Doch die Hauptsache war, dass sie so glücklich und befreit wirkte. Auch Jacob schien seine Beute zu genießen und schlang sich in Wolfsgestalt so richtig den Bauch voll. Renesmee stand dabei grinsend neben ihm und streichelte sein dichtes Fell, während er große Fleischbrocken heraus riss und verschlang.

Edward und ich waren beide noch ziemlich satt von der letzten Jagd, aber wenn wir schon mal hier waren, dann wollten wir natürlich auch etwas erlegen. Wobei es aus meiner Sicht für “etwas” nur eine Möglichkeit gab. Wir rannten durch den Wald, immer auf der Suche nach der einen besonderen Fährte. Es musste einfach ein Puma sein. Ich wollte so sehr wieder einen mit Edward teilen. Wir brauchten recht lange, bis wir einen aufgespürt hatten.

»Edward? Kann es sein, dass es hier inzwischen weniger Pumas gibt? Bedrohen wir vielleicht den Bestand ihrer Art in dieser Gegend?«
»Nein, das glaube ich nicht. Ihr Population ist ordentlich. Sie sind eben Einzelgänger und haben immerhin ein Revier von 50 Quadratkilometer. Deshalb begegnen wir ihnen nicht so oft.«

Das beruhigte mich wieder. Den Bestand meiner Lieblingsbeute zu gefährden, war wirklich das Letzte, das ich wollte. Ich nahm also die Fährte auf und folgte ihr. Bald darauf erspähte ich schon meine Beute. Allerdings hatte ich nicht mit dem gerechnet, was ich dann sah. Sie saß nicht auf einem Baum, sondern in einem Versteck am Boden und sie war nicht alleine.

“Stopp Edward!”, dachte ich schnell, nachdem ich meinen Schild weggedrückt hatte. “Unsere Beute hat Junge. Die können wir nicht jagen.”
»Na die ist aber früh dran«, meinte er. »Pumas können zwar das ganze Jahr über Junge bekommen, aber die meisten kommen im Frühjahr oder Sommer zu Welt.«
»Komm Edward, lass uns etwas Anderes suchen.«
»Natürlich Liebste. Aber es würde mich doch sehr wundern, wenn es nicht in einem benachbarten Revier einen Kater geben müsste.«

Wir machten uns weiter auf die Suche und witterten bald darauf eine andere Fährte. Diesmal jedoch ohne Grund, die Jagd abzubrechen. Edward hatte ihn schnell gepackt und zu Boden gedrückt. Dann genossen wir unsere Beute und wie immer hatte das seinen ganz besonderen Reiz. Ich war so aufgewühlt, nachdem wir getrunken hatten. Es war wieder so berauschend.

»Noch ein kleines Wettrennen, Liebste?«, sagte Edward mit seinem verführerischen Lächeln auf dem Gesicht.
»Und wenn ich gar nicht vor dir wegrennen will?«, meinte ich keck.
»Wie wäre es mit einem Anreiz?«
»Jetzt bin ich aber neugierig.«
»Siehst du dort an der Hügelkette die Lichtung mit der großen Tanne? Wer zuerst dort ist, bekommt den anderen zur Beute.«
»Ach komm schon, Edward. Da habe ich doch keine Chance. Selbst wenn du mir zehn Sekunden Vorsprung gibst.«
»Wie wäre es dann mit 15?«

15 Sekunden? Sollte ich jetzt beleidigt sein? So schnell war er nun auch wieder nicht. Oder wollte er vielleicht sogar lieber meine Beute sein? Die noch so frischen Erinnerungen an Chicago lösten augenblicklich ein Kribbeln in mir aus und ich war augenblicklich voller Vorfreude.

»o.k. 15 Sekunden. Und nicht schummeln.«
»Das würde ich niemals tun. Unter keinen Umständen!«

Ich lächelte ihn an, gab ihm als Startsignal einen Kuss auf die Wange und rannte sofort auf direktem Weg auf das Ziel zu. Meine Route war alles andere als einfach, doch das würde ja auch für Edward gelten, wenn er so wie ich ständig um die Bäume herum rennen, über Felsvorsprünge klettern und Gräben überspringen müsste, dann würde sich sein Geschwindigkeitsvorteil nicht so deutlich auswirken können. Ich hatte wirklich eine sehr gute Chance. Das Ziel war zwar weit weg, doch ich war optimistisch. An einem Strauch zerriss ich mir in der Eile das T-Shirt.

“Na toll!”, dachte ich. “Jetzt gewinne ich vielleicht und habe trotzdem zerrissene Klamotten.”

Nach 75 Sekunden war ich dem Ziel schon sehr nah und noch immer keine Spur von Edward hinter mir. Ich rannte zur Tanne und schlug mit der Hand gegen den Stamm.

»Erster!«, gab ich kichernd von mir.
»Falsch!«, hörte ich plötzlich Edwards Stimme über mir.

Ich blickte nach oben und sah ihn, auf einem Ast stehend, mit einem breiten Grinsen.

»Wie hast du das gemacht? Ich hätte dich doch bemerken müssen. Das gibt es doch gar nicht. Bis du vielleicht Edward Zwillingsbruder, von dem ich nichts weiß?«
»Ha!«, rief er lachend aus. »Der war gut. … Nein Liebste, ich habe dich fast fair geschlagen.«
»Fast fair? Was hast du angestellt?«
»Also ich habe dir die vereinbarten 15 Sekunden Vorsprung gelassen, aber ich bin nicht wie du querfeldein gerannt, sondern habe einen kleinen Umweg genommen. Ich kenne da nämlich einen Pfad, auf dem ich mit vollem Tempo rennen kann.«
»Das ist unfair. Du hast gemogelt«, gab ich schmollend zurück.
»Nicht gemogelt. Nur eine Jagdlist angewandt.«

“Na prima! Er ist schneller, stärker und jetzt auch noch listiger”, dachte ich.

Edward sprang herunter und landete ganz dicht vor mir. Sofort stieg mir sein Duft in die Nase.

“Und das ist auch unfair”, fügte ich noch zu meinen Gedanken hinzu.

Ich ging zwei Schritte zurück und lehnte mich mit dem Rücken an die riesige Tanne. Edward folgte mir, als würde er den Abstand um keinen Preis verringern wollen. Ich versuchte immer noch zu schmollen, war dabei aber nicht wirklich überzeugend. Wie sollte ich das auch können, mit seinem herrlichen Duft in der Nase.

»Also wenn du es wirklich als unfair empfindest, dann gilt die Wette natürlich nicht«, sagte er mit seiner unglaublich verführerischen Samtstimme und brachte meine Knie zum wackeln.

Na ja, es war ein bisschen unfair gewesen, aber Wettschulden sind schließlich Ehrenschulden. Also streckte ich wortlos mit gesenktem Kopf meine Arme über Kreuz nach vorne, als ob ich mir Handschellen anlegen lassen wollte.

Er griff nach meinen Handgelenken und zog sie langsam nach oben. Kurz darauf verlor ich den Boden unter meinen Füßen. Er drückte meine Hände und den vorderen Teil meiner Unterarme kraftvoll in den Baumstamm hinein.

Der große Druck war im ersten Moment etwas schmerzhaft, doch ich wollte mir nichts anmerken lassen. Außerdem war es ja nicht so schlimm. Das Holz knirschte laut unter dem Druck und erinnerte mich erneut an das Erlebnis in dem Hotel in Chicago. Würden meine Beine nicht in der Luft baumeln, wäre es jetzt vorbei gewesen, mit der Stabilität meiner Knie.

Langsam lösten sich seine Hände von meinen Handgelenken und ich grub meine Finger tief in das Holz, um mich festhalten zu können. Dann strich er mit den Fingerspitzen sanft über die Innenseite meiner Arme herunter und hinterließ dabei eine prickelnde Spur. Ich spürte seinen Atem auf meinem Gesicht und atmete selbst schneller. Als nächstes verspürte ich einen Ruck und hörte ein reißendes Geräusch. Ich blickte auf und sah, wie er die Fetzen meiner Kleidung achtlos zur Seite warf. Warum nur konnte er nicht einmal behutsam mit meinen Sachen umgehen? Ich würde schon wieder mit Alice und Rosalie shoppen gehen müssen.

Ich schaute ihn an, um ihn zur Rede zu stellen, doch ich kam nicht dazu. In dem Moment, als mein Blick auf den Seinen traf, war es um mich geschehen. Mein Mund ging auf, doch kein Ton kam heraus. Seine Augen waren direkt auf der Höhe meiner Augen und funkelten mich animalisch an. Ich ertrank in dem tiefen goldbraunen Ozean seiner Iris und schnappte unwillkürlich nach Luft. Was wollte ich ihm gerade eben noch sagen? Seine Lippen berührten sanft mein Gesicht, glitten über die Wange und das Kinn, spielten kurz an der Unter- und Oberlippe meines noch immer geöffneten Mundes und streichelten dann auch die andere Seite meines Gesichts.

Ich wusste nicht mehr, was ich gerade noch sagen wollte, nur, was ich jetzt sagen wollte, doch meine Stimme hatte den Dienst eingestellt. Ich versuchte mich auf meinen Schild zu konzentrieren und dachte intensiv “hol dir deine Beute, Tiger”, doch als sich dann seine Lippen gierig auf meinen Mund pressten, seine Zunge energisch Einlass begehrte und seine Hände über meinen Körper glitten, war es vorbei mit meiner Konzentrationsfähigkeit. Oh ja, ich liebte dieses Spiel in all seinen Variationen, die wir bisher ausprobiert hatten. Ich genoss es, gab mich seinen stürmischen Liebkosungen hin und wurde ein weiteres Mal mit einem unbeschreiblichen Glücksgefühl beschenkt.


Nach unserem Liebesspiel erwies sich Edward wieder ganz als Gentleman. Er rannte blitzschnell zum Auto, um mir den Koffer mit der Ersatzkleidung zu holen. Das war mir auch sehr recht, denn ich wäre nur äußerst ungern Jacob nackt über den Weg gelaufen. In der Zwischenzeit bearbeitete ich das Loch in dem Stamm der Tanne, damit es nicht mehr ganz so nach Handabdrücken aussah. Vielleicht würde sich ein Vogel ja über diesen Nistplatz freuen.

Edward brauchte fast zehn Minuten. Wir waren ziemlich weit weg von unserem Parkplatz. Dann gab er mir den Koffer und sah mir lächelnd beim Anziehen zu.

»Du kannst ja schon mal die Überreste einsammeln«, forderte ich ihn grinsen auf, mich nicht so anzustarren, wobei mir das alles andere als unangenehm war.

Anschließend rannten wir zusammen zurück.

Edward hatte schnell Renesmee und Jacob geortet. Zuerst rannten wir aber zum Auto, um den Koffer zu verstauen und dann zu den anderen beiden.

»Momma?«, begrüßte mich Renesmee. »Wo wart ihr so lange? … Und warum hast du etwas Anderes an?«
Ich wusste gar nicht, dass Wölfe so unverschämt grinsen konnten.
»Also erst einmal haben wir ziemlich lange gebraucht, um einen Puma zu finden und dann hatte ich … einen kleinen Jagdunfall … den meine Kleidung leider nicht überlebt hat.«
Renesmee grinste frech.
»Oh Momma. Ich dachte, das kannst du inzwischen besser.«
»Also was ich auf jeden Fall besser kann, ist dich durchkitzeln«, sagte ich und jagte ihr hinterher.

Nach einer Kitzelorgie machten wir uns wieder vergnügt auf den Heimweg. Etwas überrascht stellte ich fest, dass Alice und Rosalie vor der Garage auf uns warteten. Beide wirkten ungeduldig und voller Vorfreude. Edward saß grinsend neben mir. Natürlich wusste er, was die beiden vorhatten und sein Grinsen verriet mir, dass es offensichtlich mit mir zu tun hatte.

»Du kannst gleich sitzen bleiben«, meinte Edward noch immer grinsend, stieg mit Jacob und Renesmee aus und hielt die Türen gleich für die zwei Damen auf.
»Hallo Bella«, begrüßte mich Alice und setzte sich auf die Rückbank schräg hinter mich. »Du glaubst gar nicht wie sehr ich mich vorhin gefreut habe, als ich plötzlich eine Vision von einem Shopping-Ausflug bekam. Du hättest mir ja ruhig vorher Bescheid geben können, dass du mit uns einkaufen gehen willst.«

Ach, wollte ich das? Nun ja, eine kleine Aufstockung meines Kleidervorrates kann ja nicht schaden.

Rosalie löste Edward auf dem Fahrersitz ab und schon ging es los Richtung Seattle.

»Na, Schwesterchen? Einen schönen Jagdausflug gehabt?«, fragte sie mich mit einem schelmischen Lächeln auf dem Gesicht.
»Danke, ich kann nicht klagen.«
»Na das will ich doch hoffen, so wie dein Kleiderbestand darunter zu leiden hat.«
»Das … passiert halt machen mal.«
»Manchmal?«
»Ach komm schon Rose. Du erwartest jetzt nicht wirklich, dass ich Details ausplaudere, oder?«
Sie lachte und grinste breit.
»Würde mich jedenfalls wundern, wenn du es tätest.«
»Rose!«, meldete sich plötzlich Alice zu Wort. »Hör auf die arme Bella zu quälen.«
»Ich quäle sie doch gar nicht. Ich will nur als große Schwester ein paar gut gemeinte Tipps geben.«
»Gut gemeinte Tipps?«, fragte ich spontan und ärgerte mich gleich darauf, dass ich das tatsächlich gefragt hatte.
»Sieht du Alice, sie interessiert sich dafür.«
Oh, Oh, mir schwante Übles.
»Rose, übertreibe es aber nicht«, ermahnte sie Alice.
»Na gut, nur einen Tipp. Bella! Spiel dein Spiel vor dem Essen, nicht danach.«
»Hä?«
Sie seufzte kurz und kicherte dann leicht.
»Ehrlich, Schwesterchen, es gibt nichts …. Besseres als einen ausgehungerten Vampir.«

Am liebsten hätte ich mir die Ohren zugehalten und laut “La, La, La” gerufen, aber das war mir dann doch zu kindisch.

»Ich werde es mir merken. Danke für den Tipp.«
»Glaub mir Bella«, setzte sie nach. »Ich hatte einmal Emmett bei der Jagd davon abgehalten, einen Bären zu erlegen, nachdem er schon fast zwei Wochen nichts mehr getrunken hatte. Er ist fast ausgerastet, als ich ihn vor die Wahl gestellt hatte, dass er jetzt mich oder den Bären haben könnte. Das war echt … Wahnsinn.«
»Aha? … Dann hat er sich wohl für dich entschieden.«

Sie lachte laut und dann grinste sie so unverschämt breit und hatte einen Glanz in den Augen, dass ich nicht anders konnte, als ihr jedes Wort zu glauben.

»Oh ja, und danach hat er gebettelt, dass er trotzdem noch den Bären haben darf.«
»Durfte er?«
»Natürlich nicht. Deal ist Deal. Erst am nächsten Tag durfte er trinken.«
»Und das hat er mit sich machen lassen?«
»Ich kann sehr überzeugend sein.«

“Ob sie dieses schamlose Grinsen jemals wieder abstellen wird?”, fragte ich mich.


Die Fahrt nach Seattle schien mir dank unseres “interessanten” Gesprächsthemas länger zu dauern als normal. Mit gewisser Erleichterung stieg ich aus dem Auto aus. Eine Erleichterung, die aber ein jähes Ende fand, als ich feststellen musste, dass der Geist unseres Gesprächs sich auch auf den Einkaufsbummel übertragen hatte.

Seufzend fügte ich mich in mein Schicksal. Nun ja, Edward wird sich vermutlich über meine Einkäufe freuen. Ob er das schon vorher geahnt hatte und deshalb so breit grinste? Jedenfalls war diese Art des Shoppings mit meinen beiden Schwestern ein besonderes Erlebnis.

Rosalie in Dessous vor einem Spiegel zu sehen, wie sie sich selbst kritisch musterte, würde bei vermutlich 95% der weiblichen Weltbevölkerung sofort einen Minderwertigkeitskomplex auslösen. Ich selbst war noch unentschlossen, ob ich mich dazuzählen wollte oder nicht. Im Grunde war ich nämlich sehr zufrieden mit dem, was mein Spiegelbild zeigte. Alice wiederum hatte eine unglaublich süße Ausstrahlung, bei allem was sie anprobierte. Sie und Rosalie waren so unterschiedlich und doch war jede auf ihre eigene Art einfach umwerfend. Ich beschloss, mich selbst irgendwo dazwischen einzuordnen.

Plötzlich hatte ich einen witzigen Gedanken.
»He Rose«, sprach ich sie grinsend an. »Wenn Emmett so verrückt nach dir und Bären ist, warum ziehst du dann nicht lieber ein Bärenkostüm an?«
Überrascht sah sie mir in die Augen, doch schnell zauberte sich wieder ein Lächeln auf ihr Gesicht.
»Das ist ja mal eine ausgefallene Idee.«
»Ähm, Rose, das war ein Scherz.«
»Nein«, sagte sie und schüttelte dabei energisch den Kopf. »Das war ein genialer Einfall. … Wo bekomme ich denn eine Bärenkostüm her?«

Oh man, was hatte ich den jetzt wieder angerichtet? Zum Glück hatte ich noch einen anderen Gedanken, mit dem ich das Thema wieder wechseln konnte.

»Du Rose? Was ich dich mal fragen wollte. Mein Dad hatte mir Ohrringe zu Weihnachten geschenkt. Können wir überhaupt Ohrringe tragen?«

Rose grinste mich an zu schob ihre blonde Haarpracht mit der Hand nach hinten und zeigte mir ihr Ohr. Ich bemerkte, dass am Ohrläppchen einige kleine silbrige Punkte zu sehen waren, doch ich verstand nicht, was sie bedeuteten. Ich sah jedenfalls keine Löcher.

»Also wir können Ohrringe tragen, aber es ist nicht wirklich angenehm. Andererseits muss man manchmal für die Mode einfach Opfer bringen. Du brauchst auf jeden Fall sehr stabile Ohrstecker, dann musst du dein Ohrläppchen mit deinem Gift einreiben und es etwas einwirken lassen. Als nächstes musst du auch den Ohrstecker mit deinem Gift benetzen und ihn dann mit einem kräftigen Ruck durch das Ohrläppchen stoßen. Ich habe eine Menge Ohrringe kaputt gemacht, bis ich das konnte. Jedenfalls brennt das dann die ganze Zeit, so lange du den Ohrring drin lässt und danach bleibt dir ein kleiner silberner Punkt am Ohr erhalten.«
»Oh man. Ich glaube nicht, dass ich das tun will«, sagte ich leicht geschockt.
»Na ja, manchmal sind Ohrringe einfach ein unverzichtbares Accessoire. Wenn du dich irgendwann einmal so richtig für Mode interessierst, wirst du das vermutlich auch mal ausprobieren.«
»Aha!? Mal sehen. Alice? Hast du das auch schon mal gemacht?«
Sie grinste mich an und zeigte mir dann eines ihrer Ohren, welches noch mehr silbrige Punkte aufwies als das von Rosalie.
»Ihr seid ja verrückt!«, sagte ich kopfschüttelnd und meine verrückten Schwestern lachten ein gespielt wahnsinniges Lachen.

Dann bemerkte ich plötzlich, dass Alice irgendwie durch ihr Spiegelbild hindurch zu sehen schien.

»Na das ist aber eine Überraschung«, sagte sie einen Augenblick später.
»Alice, alles klar?«
»Wie? … ach so, ja, ja, … es ist nur … wir bekommen noch mal Besuch.«
»Wer ist es denn diesmal?«, frage ich unsicher mit böser Vorahnung.
»Es sind Benjamin und Tia.«
»Was? Hat sich das Gerücht denn bis nach Ägypten ausgebreitet?«
»Weiß ich nicht, Bella, aber es ist etwas anders. Ich sehe, dass die beiden bei uns bleiben.«
»Wie lange denn?«
»Das sehe ich nicht, nur dass sie erst einmal bei uns bleiben werden.«
»Und wann kommen sie?«
»In ein paar Tagen. Am 05. März.«

Was hatte das denn nun zu bedeuten? Warum kamen Sie zu uns. War es einfach nur ein Besuch? Das wäre sicherlich sehr schön. Ich mochte die beiden und freute mich eigentlich auf ihr Kommen. Sie waren uns damals eine so große Hilfe gewesen. Sie hielten angesichts der Volturi zu uns. Nicht so wie die anderen zwei Mitglieder ihre Zirkels. Natürlich machte ich denen keine Vorwürfe. Sie waren immerhin als Zeugen geblieben und erst gegangen, nachdem sie ihre Aussage gemacht hatten. Mehr konnte man von keinem erwarten. Trotzdem waren Benjamin und Tia bereit gewesen, mit uns zu kämpfen und meine Tochter zu retten. Dafür hatte ich ihnen auf ewig einen Platz in meinem Herzen reserviert.

»Von mir aus können sie bleiben, so lange sie wollen«, sagte ich abschließend.

Unser Einkaufsbummel führte uns dann zum Glück noch in ein paar Läden, in denen ich eine Auswahl Jeans und T-Shirts erstehen konnte. Auch Rose kaufte sich eine neue Jeans, die ihre tollen Beine noch besser zur Geltung brachte, falls das überhaupt möglich war. Danach gingen wir auch noch in einem Geschäft für Kostüme vorbei und sie fand doch tatsächlich eine Bärenverkleidung.

»Danke für den tollen Tipp, Bella. Das wird Emmett gefallen.«
»Gern geschehen«, antwortete ich leicht verlegen.
»Sollen wir für dich vielleicht nach einem Pumakostüm suchen?«
»Oh nein! Auf keinen Fall.«

Wieder lachten meine Schwestern so laut und fröhlich, dass kein Glockenspiel schöner und klarer klingen könnte.


Nachdem wir Spätabends wieder zu Hause angekommen waren, informierten wir die Anderen über Alice’ Vision. Renesmee war wohl schon im Bett und ich war ein bisschen enttäuscht, dass ich heute keinen Gute-Nacht-Gruß von ihr bekommen hatte. Edward war sicherlich bei ihr, doch würde er über unsere Gedanken schon erfahren haben, welcher Besuch uns ins Haus stand. Wir redeten noch kurz über die möglichen Hintergründe, beendeten aber das nutzlose Anstellen von Vermutungen recht bald und ich verabschiedete mich, um zu Edward zu gehen.

»Ich bin ja mal gespannt, was Benjamin und Tia hier wollen. Das kommt so unerwartet«, sagte mein Liebster, der auf dem Bett saß und in einem Buch las.
»Ja, ich auch«, gab ich nur kurz zur Antwort.

Dann verstaute ich meine Einkäufe im Kleiderschrank und kam noch mal mit einem Stapel verschlossener Schachteln zu ihm.

»Hey Schatz, ich hab hier was für dich. Such eine aus.«
»Was ist denn drin?«
»Das wirst du dann schon sehen.«
Er erwiderte mein erwartungsvolles Lächeln und tippte auf einen Karton.
»Und Liebling? Wenn es dir irgendwie möglich ist, dann halte deine Hände im Zaum und reiß nicht alles gleich wieder kaputt.«
»Hände im Zaum halten«, wiederholte er. »Versprochen.«

Ich ging wieder in meine Garderobe, drückte den Schild weg und ließ ihm durch meine Augen beim Anziehen zusehen. Es war ein aufregendes kleines Spiel, das mir einen kribbelnden Schauer durch den Körper jagte. Diesmal stellte ich mich allerdings nicht vor einen Spiegel, denn ich wollte, dass er es gleich mit eigenen Augen an mir sehen konnte. Also ging ich wieder zu ihm und genoss es seinen funkelnden Blick förmlich auf meinem Körper zu spüren.

Ich hielt es keine Sekunde länger aus und ging gleich zu ihm, damit er mich umarmen konnte, doch er tat es nicht. Er behielt die Hände hinter dem Rücken. Offensichtlich wollte er sein Versprechen halten. Stattdessen wanderten seine Lippen und seine Zunge über meinen Haut und ließen mich wieder und wieder vor Erregung erschaudern.

Vorsichtig ließ er seine Zähne am Rand meines BHs entlang gleiten. Dann machte er eine überraschende kurze Kopfbewegung und schon lag das hübsche Kleidungsstück zerrissen am Boden.

“So ein verrückter Kerl”, dachte ich schmunzelnd. “Jetzt hat er mich schon wieder reingelegt.”

Er hatte meine Gedanken gehört und lächelte mich einfach umwerfend schief an. In dem Moment konnte ich nicht mehr anders, als ihn sofort auf Bett zu drücken und stürmisch zu küssen. Endlich ließ er mich auch seine Hände spüren und ich schmolz in seiner sinnlichen Umarmung wie Butter in der Sonne dahin.

Es war so wundervoll. Mir war im Grunde egal, wie viele meiner Kleidungsstücke noch seiner Leidenschaft zum Opfer fallen würden. Ich war einfach nur verrückt nach ihm und er schenkte mir so unendlich viel Liebe und Zärtlichkeit.


Später in der Nacht hörten wir plötzlich vom Haupthaus her das Zerbersten einer Fensterscheibe und ich sprang auf.

»Was war das?«, fragte ich und blickte zu Edward, der nicht aufgesprungen war, sondern sich grinsend zurücklehnte.
»Das war ein Bär, der auf der Flucht vor Emmett durch ein Fenster gesprungen ist. Ein verdammt hübscher und schneller Bär.«
Ich musste kichern und legte mich wieder zu ihm.
»Das war eine echt süße Idee von dir, Liebste. Rose ist überglücklich und Emmett … nun ja, ist Emmett.«

Dann umarmte er mich wieder innig, küsste mich liebevoll und wir machten da weiter, wo wir aufgehört hatten.

Kapitel 16 - Ein schwerer Gang

Die nächsten Tage verliefen sehr harmonisch. Renesmee hatte anfangs noch ein wenig Magenknurren, doch ihr Körper hatte sich schnell wieder an die Umstellung gewöhnt. Sie wirkte ausgesprochen glücklich, was sich auf die gesamte Familie übertrug. Sie legte auch sehr viel Wert darauf, ihren versäumten Unterricht mit Edward und mir nachzuholen. Stundenlang saßen wir zusammen auf der Couch oder machten es uns im Bett gemütlich, um uns gegenseitig vorzulesen und zu diskutieren. Es war sehr schön, wieder so viel Zeit mit ihr zu verbringen. Der Einzige, der weniger begeistert davon war, war Jacob. Aber wie hätte er Renesmee den Wunsch abschlagen können, jetzt erst mal wieder mehr Zeit mit ihrem Daddy und mir zu verbringen?

Natürlich war auch die zerbrochene Fensterscheibe in Rosalies und Emmetts Schlafzimmer eine Zeit lang ein Thema und da Rose ihr Bärenkostüm wieder zusammennähte, bat Esme eindringlich darum, die neue Fensterscheibe doch bitte nach Möglichkeit zu schonen. Die beiden nahmen allerdings alle Anspielungen mit Humor und schienen nicht im geringsten peinlich berührt zu sein. Relativ häufig bat mich Edward auch, Emmett vor ihm abzuschirmen. Seine Gedanken kreisten ständig um das Erlebnis. Er grinste mich regelmäßig an und bedankte sich mehr als einmal dafür, dass ich Rosalie auf diese Idee gebracht hatte.


Am 5. März war es dann so weit. Carlisle hatte früher Feierabend gemacht, um den Grund für unseren Besuch gleich aus erster Hand zu erfahren. Bis zum späten Nachmittag rechneten wir mit ihrer Ankunft. Gespannt lauschten wir auf Geräusche von draußen, die ihr Kommen ankündigen würden. Dann war es soweit und wir alle gingen hinaus, um sie zu begrüßen. Wie alle Besucher, wurden auch Benjamin und Tia von einer Gruppe Wölfe eskortiert. Der Unterschied war nur, dass es den beiden nichts auszumachen schien.

»Hallo Carlisle. Also ehrlich, bei solch einem Sicherheitsdienst kann euch sicherlich gar nichts mehr überraschen.«

Seth gab ein zustimmendes bellendes Geräusch von sich. Ich erkannte ihn sofort, genau so wie Leah, Quil und Embry. Nur die zwei kleineren Wölfe waren mir nicht bekannt.

»Ja, wir sind sehr froh und dankbar dafür, dass sie uns so gut unterstützen«, bestätigte Carlisle. »Aber bitte, kommt doch herein.«
»Gerne Carlisle … und danke euch Wölfen, dass ihr uns hierher eskortiert habt.«
»Noch ein bellendes Geräusch von Seth und dann ein leises Knurren von Leah, das vor allem die beiden Jüngeren zusammenzucken lies. Dann lief sie davon und alle anderen folgten ihr auf den Fuß. Jacob musste mächtig stolz darauf sein, was für eine Disziplin unter seiner Stellvertreterin herrschte.

Wir begrüßten einander alle freudig, nahmen uns in die Arme und führten sie ins Haus. Es dauerte auch nicht lange, bis Renesmee auf Tias Arm saß.

»Es ist ja unglaublich, wie groß du in einem Jahr geworden bist«, sagte sie zu ihr.

Dann legte Renesmee ihre Hand an Tias Wange und ließ sie leicht vibrieren.

»Wow! Benni, dass muss du dir zeigen lassen. Das ist unglaublich.«

Tia war geradezu begeistert von der Kostprobe von Renesmees verbessertem Talent und auch Benjamin bekam große Augen.

Nach ein paar weiteren Vorführungen lud Carlisle dann alle ein, uns am Esstisch zu versammeln. Renesmee setzte sich auf meinen Schoß.

»Nun, meine Freunde, verratet uns doch bitte, was der Grund für die freudige Überraschung eures Besuchs ist.«
»Also ganz so freudig ist der Grund wahrlich nicht, Carlisle«, antwortete Benjamin. »In gewisser Weise sind wir auf der Flucht vor den Volturi und hoffen auf euren Schutz.«

Uns allen stockte der Atem und instinktiv schloss ich Renesmee fester in die Arme.
»Was ist passiert?«, wollte Carlisle wissen.
»Ich weiß es nicht genau. Amun und Kebi meinten, dass Aro seine Wachen schicken würden, um mich zu holen. Sie waren sehr überzeugend und sagten, dass Aro mich wegen meiner Gabe unbedingt haben wollte.«
»Davon habe ich aber nichts gesehen«, informierte uns Alice. »Ich überwache Aros Entscheidungen seit Monaten. Das hätte ich doch sehen müssen.«
Schweigen war im Raum. Ein neues Mysterium.
»Was ist mit Amun und Kebi. Warum sind sie denn nicht mitgekommen?«, fragte Carlisle nach.
»Das weiß ich auch nicht. Sie sahen dafür wohl keine Notwendigkeit, obwohl sie mir auch sehr besorgt zu sein schienen.«
»Vielleicht wollen sie auch nur ein Weilchen alleine sein, nachdem sie so lange getrennt waren«, führte Tia lächelnd an.
»Ja vielleicht. Kebi war ja ziemlich lange weg.«

Benjamin wirkte sehr nachdenklich und plötzlich hörte ich Edward neben mir, wie er scharf Luft einzog. Ich sah ihn an und bemerkte, wie er auf Benjamin fixiert war und große Augen bekam.

»Das glaube ich jetzt nicht!«, rief Edward aus und alle blickten ihn an. »Erinnere dich bitte noch mal ganz genau daran, als du sie wieder gesehen hast.«
Benjamin sah ihn unsicher an, doch dann stöberte er in seinen Erinnerungen.
»Das ist sie!«, rief Edward aus.
»Natürlich ist sie das«, gab Benjamin zur Antwort.
Edward wandte sich an uns alle.
»Versteht ihr nicht? Das ist sie. Das ist die Frau, die ich in den Gedanken von Brian und Dylan gesehen habe. Kebi ist unsere Intrigantin!«
»Was?«, fuhr es Esme über die Lippen und sie hielt sich vor Schreck die Hand vor den Mund.
»Bist du dir sicher, mein Sohn?«, wollte Carlisle wissen.
»Absolut!«, antwortete Edward. »Die selbe Kleidung. Die selben Augen. Kein Zweifel.«
»Wovon redet ihr überhaupt?«, wollte Benjamin wissen und wirkte sehr ungeduldig.

Auch Tia bekam große Augen und schien sehr besorgt zu sein. Also erzählten ihnen Carlisle ganz genau, was sich bei uns in dem vergangenen halben Jahr zugetragen hatte.

Nachdem Carlisle seine Ausführungen beendet hatte, waren Benjamin und Tia sichtlich geschockt.

»Das kann doch nicht sein«, sagte Tia. »Das passt doch gar nicht zu ihr.«
»Warum nur sollte sie so etwas tun?«, ergänzte Benjamin.
»Das wüssten wir auch gerne«, meinte Carlisle. »Ist euch denn nichts merkwürdiges an den beiden aufgefallen?«

Sie schienen angestrengt nachzudenken. Schließlich fing Tia an zu erzählen.

»Es hatte mich schon sehr gewundert, dass Kebi so lange fort war. Normalerweise trennen sich Amun und Kebi praktisch nie. Erst war Amun ein paar Tage unterwegs und kurz nachdem er wiederkam, verließ uns Kebi und kehrte erst vor wenigen Tagen wieder zurück. Sie war knapp acht Monate weg und gab uns keine Erklärung.«
»Wisst ihr wo Amun war?«, wollte Jasper wissen.
»Ja sicher«, sagte Benjamin. »Er besuchte die Volturi. Aro hatte darauf bestanden, dass er ihn besuchen kommt und ihr könnt euch vorstellen, dass er sehr große Angst vor diesem Besuch hatte, nachdem was bei euch los war.«
»Dann steckt also doch Aro dahinter!«, zischte Rosalie.
»Nein, das kann nicht sein«, meinte Alice. »Das ergibt keinen Sinn.«

»Vielleicht war es gar nicht Aro«, sagte Benjamin nachdenklich. »An dem Tag, als Kebi wieder zurück kam, hörte ich Teile ihrer Unterhaltung. Sie sind normalerweise sehr leise, so dass wir sie nicht hören können, aber an dem Tag konnte ich ein paar Bruchstücke aufschnappen. Ich hörte Amun sagen “Was können wir nur tun?” und später von Kebi “Ich habe alles versucht, ich weiß nicht weiter” und das Letzte, das ich gehört hatte, war Amun, wie er sagte “Athenodora wird uns das nie verzeihen.” Am nächsten morgen dann sagten uns die beiden, dass sie erfahren hätten, dass Aro mich “zwangsrekrutieren” will und dass ich mich mit Tia in Sicherheit bringen soll. Ihr ward unsere einzige Hoffnung, wo wir sicher sein könnten und deshalb sind wir zu euch gekommen.«

Tia bestätigte jede Aussage von Benjamin mit einem Kopfnicken und auch Edward lies keinen Zweifel daran, dass unsere Freunde aufrichtig und ehrlich zu uns waren.

»Wer ist Athenodora?«, fragte ich unsicher.

Ich glaubte zwar, dass der Name irgendwie zu den Volturi gehören würde, konnte ihn aber nicht richtig zuordnen.

»Das, meine Liebe, ist Caius Ehefrau«, klärte mich Carlisle auf.
»Was weißt du über sie?«, wollte Jasper wissen.
Carlisle seufzte.
»Sie ist in vielerlei Hinsicht ihrem Mann sehr ähnlich. Aufbrausend, gerissen und sie steht Caius absolut loyal zur Seite. Sie würde alles für ihn tun. Außerdem ist sie die Cousine von Aros Ehefrau Sulpicia.«

Jasper dachte eine Weile nach und Edward schien sehr fasziniert davon zu sein. Ich bemerkte mehrmals, wie er leicht nickte.

»Ja, das denke ich auch, Jazz«, sagte Edward plötzlich und alle Augen richteten sich auf Jasper, der und daraufhin seine Gedanken mitteilte.

»Wenn wir davon ausgehen müssen, dass Athenodora Amun unter Druck gesetzt hat und er dann Kebi damit beauftragt hat, dann ist klar, dass Athenodora hinter allem steckt, was uns widerfahren ist. Sie hat keine Details geplant, sondern einfach nur den Anstoß geben. Sie muss vermutet haben, dass Alice sie überwachen könnte, aber sehr sicher gewesen sein, dass Alice nicht Amun verdächtigen würden. Sehr gerissen, um Alice zu täuschen.«
»Aber was hat sie denn nur davon?«, fragte ich ratlos mit einem Hauch Verzweiflung.
»Sie selbst sicherlich gar nichts. Ihr ging es um Caius. Sie weiß besser als jeder Andere, wie sehr Caius damals gegen den Rückzug war. Caius hasst die Wölfe und uns, weil wir sie beschützen, oder besser noch, weil wir uns gegenseitig beschützen. So wie Kebi gehandelt hatte, sollte sie wohl einen Keil zwischen uns und die Wölfe treiben. Das Kind, die Gruppe Neugeborene, die Gerüchte, die so viele Nomaden zu uns geführt haben. Das waren Versuche, Konflikte zwischen uns und den Quileute zu provozieren. Damit die Wölfe wütend auf uns werden, sich gegen uns stellen und uns zwingen wegzugehen, weil wir den Ärger für sie anziehen würden. Wenn ihr das gelungen wäre. Wenn wir unser Bündnis beendet hätten, dann wäre Caius sicherlich mit Aros Erlaubnis hierher zurückgekommen, um die Quileute auszuradieren, damit die Wölfe keine Bedrohung mehr sind. Ohne Bellas Schild, hätten sie mit Janes und Alecs Gaben leichtes Spiel gehabt.«
»Aber sie hätten doch einfach warten können, bis wir weggezogen sind«, meinte Rosalie.
»Das glaube ich nicht«, antwortete Jasper. »Solange wir ein Bündnis mit den Wölfen haben, wären wir garantiert zu ihnen geeilt, wenn ein Angriff gedroht hätte. Niemals hätten wir unsere Verbündeten im Stich gelassen. Zuerst musste sie also unser Bündnis zerstören.«

War das des Rätsels Lösung? Alles nur, weil Caius die Wölfe hasste? Weil er Rache wollte? Weil er sie für etwas hielt, das sie nicht waren? Sie waren keine Werwölfe. Sie waren Gestaltwandler. Es gab überhaupt keinen Grund, dass er sie so hasste.

»Und was machen wir jetzt?«, wollte ich wissen.
»Nun da wir die Hintergründe kennen«, fuhr Carlisle fort, »sollte ich vielleicht doch zu Aro gehen und ihn darüber informieren.«
»Carlisle, nicht schon wieder«, knurrte Jasper. »Es hat sich nichts daran geändert, dass du das nicht darfst. Caius mag nur auf Rache gegen die Wölfe aus sein, aber Aro will einige von uns rekrutieren. Er will Alice, Bella und jetzt auch Benjamin. Egal ob das eine Finte von Amun und Kebi war oder nicht. Sein Talent ist einzigartig. Er wird es wollen. Aufgrund der Tatsache, dass er jetzt auch bei uns ist, wird es für dich noch aussichtsloser, als es vorher schon war. Ich beschwöre dich Carlisle. Du darfst nicht gehen. Du bist zu wichtig. Du bist das Bindeglied dieser Familie und sehr bedeutsam für das Bündnis mit den Quileute. Niemals würden die Volturi dich wieder gehen lassen und wir wären extrem geschwächt. Sie würde dich als Druckmittel gegen uns benutzen. Carlisle, bitte, das würde alles zerstören. Es gibt keine Hoffnung, auf ein glückliches Ende, wenn du gehst. Nur Gewissheit, dass es unser aller Untergang wird.«

Edward nickte zustimmend und erneut musste sich Carlisle geschlagen geben, doch hatte er noch eine Idee.

»Wir könnten ihm doch vielleicht eine Botschaft schicken. Aro muss von der Intrige aus seinem Haus erfahren.«
»Und was soll das bringen?«, fragte Jasper, doch die Frage war wohl eher rhetorisch und er erwartete keine Antwort. »Vielleicht weiß er es dann. Na und? Dann könnte er immer noch behaupten, die Botschaft wäre eine weiterer Versuch von uns, die Volturi herauszufordern. Seine Anhänger würden ihm glauben. Es nützt uns nichts, Carlisle.«

Carlisle nickte und beließ es damit dabei. Im Augenblick wusste er keinen Rat.

»Aber was wird jetzt aus Amun und Kebi?«, fragte Tia besorgt.
»Oh nein!«, rief Alice aus.
Ihrem Gesicht war deutlich anzusehen, dass sie eine Vision hatte. Eine unangenehme Vision. Auch Edwards Gesicht zeigte das gleiche Leid.
»Was siehst du, Schatz?«, fragte Esme besorgt.
»Es … tut mir so leid … aber … sie werden sterben.«
»Was! Aber warum?«, schrie Benjamin entsetzt.
»Ich habe gerade Athenodora überprüft. Sie hat ihre persönliche Leibwache geschickt, um Amun und Kebi umzubringen. Sie will ihr Geheimnis hüten.«
»Aber vielleicht können sie sich ja retten«, wimmerte Tia.
»Nein, können sie nicht. Es tut mir so leid. Ich habe auch in die Zukunft von Amun und Kebi geblickt. In zwei Stunden sind sie tot. Sie sind zwar auf der Flucht, aber sie sind zu ungeschickt. Die Wachen brauchen noch nicht mal einen Tracker, um sie zu finden. Es gibt keine Hoffnung für sie. Wir können nichts tun.«

Alle waren entsetzt über diese Neuigkeit. Benjamin und Tia waren die Trauer und die Verzweiflung deutlich anzusehen. Sie taten mir so leid. Esme war aufgestanden, um den beiden Trost zu spenden und auch Renesmee ergriff Tias Hand, aber nur, um sie zu halten, nicht um ihr etwas zu schicken. Sie wusste wohl, dass das jetzt nicht der richtige Moment dafür war.

Amun und Kebi waren zwei Schachfiguren, die nun in diesem Intrigenspiel geopfert wurden. Es war so schrecklich. Konnten wir denn gar nichts tun? Wann würde das jemals enden? Wann würden die Volturi endlich bereit sein, uns und die Wölfe in Ruhe zu lassen? Wir bedrohten sie doch nicht. Wir verteidigten doch nur unsere Heimat und unsere Familien. Was war daran denn so falsch, dass die Volturi das nicht akzeptieren konnten? War ihnen das denn nicht bewusst? Carlisle meinte doch, dass Aro im Grund kein so schlechtes Wesen war. Er lebte doch eine Zeit lang bei ihnen und bezeichnete Aro früher als seinen Freund. Wie passte das dann zusammen? Wusste Aro einfach nicht, wie friedliebend wir waren? Dass selbst die Wölfe der Quileute sich nur verteidigten, so, wie sie es seit Jahrhunderten machten. Nur zum Schutz der Menschen, die sie liebten?

Ich stand auf und ging zur Tür.
»Bella, wo willst du hin?«, fragte mich Edward.
»Ich will zu Jacob. Er muss das alles erfahren. Er und Sam müssen wissen, dass das alles eine Intrige war, um uns auseinander zu bringen.«

Edward nickte und ich rannte zu Jacob. Ich hoffte, dass er zu Hause bei seinem Vater war oder dass mir einer der Wölfe über den Weg lief, um mir zu sagen, wo ich ihn finden konnte.

Auf dem Weg in sein Dorf begegnete mir jedoch niemand. Die Patrouillen waren alle im äußeren Bereich unseres Gebietes unterwegs, um mögliche Nomaden frühzeitig abfangen zu können. Hier im Inneren war keiner von ihnen. Ich kam zum Haus der Blacks. Es sah immer noch genauso aus, wie früher. Ich erinnerte mich an die vielen Stunden, die ich mit Jacob in der Garage verbracht hatte. An den Tag, als er sich hier vor mir zum ersten Mal in einen Wolf verwandelt hatte. Viele Erinnerungen waren mit diesem Ort verbunden. Schöne, wie schmerzliche.

Ich klopfte an die Haustür und Jacob öffnete sie in gebückter Haltung. Er war einfach viel zu groß für dieses Haus.
»Bella? Was machst du hier? Ist etwas mit Nessie?«
»Nein Jake, alles in Ordnung. Das heißt, fast alles. Wir haben Neuigkeiten und die wollte ich dir gleich berichten, damit du und Sam und alle aus dem Ältestenrat Bescheid wissen. Gehen wir ein Stück?«

Er nickte und kam heraus. Wie immer hatte er nur eine Hose an und ich fragte mich, ob er überhaupt noch Oberbekleidung in seinem Schrank hatte. Ich konnte mich nicht daran erinnern, wann er zum letzten Mal ein T-Shirt oder einen Pullover getragen hatte. Doch, an Weihnachten, aber das schien gerade ewig her zu sein.

Wir gingen zum Strand und spazierten wie in alten Zeiten. Ich erzählte ihm alles über die Intrige, was dahinter steckte, was sie bezweckte und was ich darüber dachte.

»Das ist einfach unglaublich, Bella. Vielleicht hätten wir sie damals angreifen sollen, als wir die Gelegenheit hatten.«

Als er das sagte, bemerkte ich, wie er versuchte, ein Zittern in seinem Körper zu unterdrücken. Ein untrügliches Zeichen, dass er extrem wütend war.

»Nein Jacob. Das darfst du nicht denken. Es hätte viele Tote gegeben. Das wollen wir doch nicht. Wir wollen Leben und unsere Lieben beschützt wissen.«
»Und weiter? Was würdest du denn jetzt am liebsten tun, wenn nicht den Kerlen den Kopf abreißen?«
»Mit ihnen reden natürlich. Sie müssen doch davon überzeugt werden können, dass wir ihnen nichts Böses wollen. Wir verteidigen uns doch nur. Niemals würde ich die Volturi angreifen. Wenn ich doch nur mit Aro, Markus und Caius sprechen könnte, um es ihnen zu erklären.«
»Du bist ja wahnsinnig. Wenn die dich in die Finger kriegen, kommst du da nicht mehr lebend raus.«
»Ich weiß nicht, Jake. Ich mag vielleicht eine wichtige Figur sein, die euch vor den Gaben von Jane, Alec und Chelsea schützen kann, aber ich bin doch keine Kriegerin. Ich will doch nur Frieden.«
»Oh Bella, was glaubst du denn, was passieren wird, wenn sie dich töten oder gefangen halten? Dann wird der gesamte Cullen-Clan ausrasten. Dann werden sie erst recht alle Verbündeten um sich scharen, um die Volturi für dieses Verbrechen zur Rechenschaft zu ziehen und wir würden sie unterstützen. Das wäre ich dir schuldig.«
»Ach Jacob. Das will ich doch gar nicht. Was hätte ich davon, wenn ich gerächt würde? Das würde ich nie wollen. Ich würde wollen, dass es dann endlich ein Ende hätte. Wenn ich nicht mehr wäre, hätte Aro keinen Grund mehr, euch zu bedrängen. Wenn er durch mich wüsste, dass Alice Gabe eine große Schwachstelle hat, würde er sein Interesse an ihr verlieren. Dann hätte vielleicht alles ein Ende und du, Renesmee und die anderen, ihr könntet in Frieden leben.«
»Du glaubst das wirklich, oder?«
»Absolut Jake. Egal ob ich sie überzeugen könnte oder sterben müsste. Dann würde es bestimmt enden.«
»Aber warum willst du das denn riskieren? Solange wir zusammenhalten, sind wir doch mehr als stark genug, um uns zu verteidigen.«
»Und was ist das für ein Leben? Immer Angst haben zu müssen, dass sie angreifen könnten oder sich eine neue Gemeinheit ausdenken? Sollen wir warten, bis es zu einem Krieg kommt und auf beiden Seiten viele sterben? Glaubst du, das ist das Leben, dass ich mir für meine Tochter wünsche? Würdest du dich nicht dafür opfern, dass sie ein besseres Leben hätte?«
»Natürlich würde ich das.«
»Siehst du, ich auch.«
»Dann … solltest du es vielleicht versuchen.«

Jetzt war ich überrascht. Ich hatte mich so in Rage geredet und natürlich auch jedes Wort so gemeint, wie ich es gesagt hatte, aber niemals hätte ich damit gerechnet, dass mir Jacob zustimmen könnte. Was hatte das jetzt zu bedeuten? Sollte ich wirklich nach Italien reisen und die Volturi aufsuchen? Würde Alice mich dabei nicht sofort sehen und aufhalten?

»Ich wüsste nicht, wie ich das anstellen könnte, Jacob. Wenn ich versuchen würde, nach Volterra zu reisen, würde Alice meine Entscheidung sofort sehen. Die anderen würden das niemals zulassen.«
»Aber mich kann deine Alice nicht sehen, oder?«
»Ja, das weißt du doch, aber was hat das mit mir zu tun?«
»Dann hätte ich da eine Idee. Ich verwandle mich, du springst auf meinen Rücken und dann … lass dich überraschen. … Ach ja, schirme mich auch gleich ab.«

Kaum gesagt, eilte er hinter ein Gebüsch, verwandelte sich und kam zurück. Ich stieg auf seinen Rücken, schlang die Arme um seinen Hals und konzentrierte mich auf meinen Schild. Dann rannte er los und ich schloss die Augen, damit ich keinen Ahnung hatte, wohin er rennen würde. Auf keinen Fall wollte ich das Risiko eingehen, etwas zu wissen und vielleicht unbewusst etwas zu entscheiden, das Alice sehen könnte. Ich hoffte sehr, dass sie mich so nah an Jacob überhaupt nicht sehen konnte und dass sie nicht die leiseste Ahnung hatte, was er mit mir vorhatte.

Wer weiß, vielleicht würde er mich auch tatsächlich davon abhalten wollen, nach Italien zu reisen. Ich konnte mir nicht sicher sein und das war gut so. Solange ich im ungewissen bliebe, würde Alice nichts sehen können. Also machte ich keine Pläne, sondern überließ das Jacob. Ich lauschte einfach seinem gleichmäßigen Atem, dem Rhythmus seiner kräftigen Schritte und dem hämmernden Herzschlag in seiner Brust.


Nach wenigen Minuten verlangsamte er sein Tempo und blieb dann ganz stehen. Er gab mir einen kleinen Stoß mit dem Hinterkopf und ich blickte auf. Was ich sah, war allerdings nicht das, was ich erwartet hatte. Das wollte ich ganz und gar nicht sehen. Er hatte mich nach Hause gebracht. Direkt neben unser kleines Häuschen.

»Toll, Jake. Du bist mir ja einen große Hilfe«, motzte ich ihn an.

Er knurrte leise, dann drehte er mir den Rücken zu und verwandelte sich zurück.

»Bella!«, zischte er leise durch die Zähne, den Kopf seitlich zu mir gewandt. »Bist du wohl still! Du brauchst Geld, Papiere und vor allem Winterkleidung, damit du nicht so auffällst. Also geh da jetzt rein, sei leise und beeile dich. Ich will nicht riskieren, dass jemand unsere Fährte aufspürt, weil wir zu lange brauchen. Also los jetzt!«
»Ja Chef.«

Meine Güte, konnte der einen Befehlston aufsetzen. Er ging inzwischen wohl ziemlich in seiner Leitwolf-Rolle auf. Natürlich war ich jetzt vor allem sauer auf mich selbst, weil ich dachte, er würde mir nicht helfen, aber dass er so mit mir reden würde, damit hatte ich nicht gerechnet. Also ging ich schnell hinein, schnappte meine Papiere, mein Handy, meine Kreditkarten und vorsichtshalber noch ein Bündel Bargeld, verstaute alles in den Taschen einer dicken Winterjacke mit weiter Kapuze, zog mir noch Handschuhe und einen Schal an und ging so schnell und geräuschlos wie nur möglich zu ihm zurück. Dann legte ich mich auf seinen Rücken und er machte sich auf den Weg. Zunächst lief er noch recht langsam und sehr auf Geräuschlosigkeit bedacht, doch kaum wähnte er sich außer Hörweite, rannte er los.

Wieder schloss ich die Augen und versuchte einfach nur auf seinen Rhythmus zu achten. Ich wollte nicht riskieren, über irgendwelche Entscheidungen nachzudenken. Ich hatte ja auch wirklich keine Ahnung, was er vorhatte und ich entschied lediglich, ihm alles zu überlassen. Vielleicht rannte er nach Kanada oder in Richtung Mexiko. Vielleicht auch quer durch die Staaten zur Ostküste. Ich beließ es einfach dabei, dass ich es nicht wusste.

Ich spürte wie der Wind an meiner Kleidung zerrte. Wie schnell er wohl war? Ich riskierte einen Blick auf den Boden, der unter uns hinweg flog. Wow, war er schnell. Er war mindestens so schnell wie ich, wenn ich in vollem Tempo rannte und er hatte ja auch noch mich auf dem Rücken. Edward würde er aber sicherlich nicht abhängen können.

Edward. Ach, warum musste ich nur jetzt an ihn denken? Ich vermisste ihn jetzt schon und ich wusste nicht, ob ich ihn jemals wieder sehen würde. Ich hoffte sehr, dass er für Renesmee stark sein würde. Auch sie vermisste ich schrecklich, doch wusste ich genau, dass ich alles nur für sie tat. Das war jede Qual wert und nur diese Überzeugung ermöglichte es mir, das Loch in meiner Brust, das wieder aufzubrechen drohte, zusammenzuhalten.

Jacob rannte unaufhörlich in vollem Tempo weiter. Ich versuchte an gar nichts zu denken und mich einfach nur auf Belanglosigkeiten zu konzentrieren. Es ging ganz gut. Dann stoppte Jake wieder. Wie lange waren wir gerannt? Doch nicht mal eine Stunde. Warum hielt er denn an?

Wieder gab er mir einen Stups mit dem Hinterkopf und ich blickte auf. Wir waren in der Nähe des Seattle-Flughafens. Ich erkannte ihn sofort.

“Oh man, ist ihm denn nichts Besseres eingefallen?”, dachte ich. “Wenn sie das merken, sind sie doch gleich hier.”

»Jacob, ist das dein Ernst?«

Ich stieg von seinem Rücken herunter und er drehte sich weg, um sich zu verwandeln. Dann zog er schnell seinen Shorts an. Schnell, aber nicht schnell genug, als dass ich nicht einen weiteren Blick auf seine muskulöse nackte Rückseite hätte werfen können. Er war zweifellos sehr attraktiv, auch wenn ich mich nicht auf diese Weise zu ihm hingezogen fühlte, doch insgeheim musste ich kurz darüber nachdenken, wie Renesmee ihn wohl sehen würde, wenn sie erst einmal in dem entsprechenden Alter war. Ob sie sich dann auch körperlich zu ihm hingezogen fühlen würde? Ein Teil von mir wünschte sich das für die beiden, doch ein anderer Teil, der jetzt viel stärker war, wollte auf keinen Fall auch nur noch eine Sekunde länger darüber nachdenken.

»Hör zu, Bella. Alles ist geplant. Ich hatte unterwegs Kontakt zu Sam. Er hat über das Internet einen Flug für dich reserviert. Du musst das Ticket nur abholen und bezahlen. In einer halben Stunde geht dein Flug. Wenn die Anderen noch nichts bemerkt haben, können sie dich unmöglich einholen.

»Das hast du toll hingekriegt, Jake. Danke.«

Ich umarmte ihn und drückte mich kurz an seinen nackte und verschwitzte Brust. Erinnerungen blitzten in mir auf. Bilder des einen richtigen Kusses, den ich ihm gegeben hatte, als wir von Victorias Armee angegriffen wurden. Es waren Bilder aus einem anderen Leben. Erinnerungen an Gefühle, die es auf beiden Seiten nun nicht mehr gab. Jetzt war es eine Umarmung, die nur Ausdruck unserer tiefen freundschaftlichen Verbundenheit war.

»Gern geschehen. Aber jetzt hör zu. Lass dein Handy ausgeschaltet. Ich bin mir sicher, sie werden versuchen dich darüber zu orten. Im Augenblick weißt du ja noch nicht, wo dein Flug hin geht und dabei solltest du es auch nach Möglichkeit belassen, um sie so lange wie möglich im Ungewissen zu halten.«
»Das werde ich dir nie vergessen, Jake.«
»Wir werden sehen, Bella. Gute Reise und jetzt beeile dich.«

Kaum hatte er ausgesprochen, drehte er sich auch schon wieder weg, zog die Shorts aus und verwandelte sich wieder. Er blickte noch kurz zurück und dann rannte er davon.

Was meinte er wohl mit “wir werden sehen”? War es kein Flug nach Italien? Würde er mich an der Nase herum führen, um mit meiner Familie eine andere Lösung zu suchen? Würde er mich vielleicht doch lieber in Sicherheit wissen? Ich war verwirrt, doch auch fest entschlossen ihm zu vertrauen, wohin auch immer mich das Flugzeug bringen würde.

Ich rannte zum Flughafen. Da es inzwischen dunkel war, konnte ich die Strecke schnell und unbemerkt zurücklegen. Im Gebäude dann versuchte ich mit schneller menschlicher Geschwindigkeit weiterzulaufen und dabei abgehetzt auszusehen. Ich holte das reservierte Ticket ab und war heilfroh, dass ich es einfach bezahlen und in Empfang nehmen konnte, ohne dass der Zielflughafen erwähnt wurde. Dann hetzte ich zum Check In und zu meinem Flugzeug.

Sam hatte 1. Klasse gebucht. Ein weiterer Vorteil. Ich musste nicht auf dem Ticket nachsehen, wo mein Platz war, sondern wurde dorthin geleitet. Ich bat auch gleich um ein paar Ohrstöpsel und eine dicke Decke, die ich mir über den Kopf zog. Ich hielt zusätzlich die Hände auf die Ohren und summte vor mich hin. Auf jeden Fall wollte ich vermeiden, dass ich eine Durchsage über den Flug und den Zielflughafen hören konnte.

Der Ritt auf Jacobs Rücken hatte dafür gesorgt, dass an meiner Kleidung immer noch sein unangenehmer Duft haftete. Eine zusätzliche Ablenkung für meine Sinne, die mir im Augenblick sehr willkommen war. Ich erschrak kurz, als ich trotzdem die Sprechanlage angehen hörte und verstärkte den Druck auf meinen Ohren und das Summen. Es funktionierte und ich war deswegen sehr erleichtert. Bald darauf setzte sich das Flugzeug in Bewegung.

Was sollte ich jetzt machen? Ich saß zusammengekauert in meinem Sessel und hatte die Knie angezogen. Immer und immer wieder kamen Edward und Renesmee, aber auch die anderen, in meine Gedanken zurück. Hatte ich überhaupt eine Chance, sie wieder zu sehen? Würden sie sehr leiden, wenn ich sterben müsste? Edward bestimmt. Daran bestand kein Zweifel. Er würde selbst den Tod suchen. Aber die anderen? Wenn sie alle gerettet wären und meine Tochter ein glückliches Leben vor sich hätte, dann war es das doch wert, oder? Rose und Emmett würden sich wie Eltern um sie kümmern. Carlisle und Esme würden immer für sie da sein. Alice, Jasper und vor allem Jacob würden alles tun, um sie zu beschützen.

Ich versuchte, mir schöne Erinnerung ins Bewusstsein zu rufen, doch wurde dabei immer trauriger. Ich spürte wieder das Loch in meiner Brust wachsen und kauerte mich noch mehr zusammen. Ab und zu bemerkte ich, wie ich leise schluchzte.


Nach einigen Stunden Flug hörte ich eine Durchsage, wonach wir in Kürze in Philadelphia zur Zwischenlandung ansetzten würden. Verdammt. Ich hatte nicht darauf geachtet, dass ich das nicht hören wollte. Jetzt wusste ich, wo ich war und mehr noch. Von Seattle aus zum Zwischenstopp in Philadelphia zu landen, lies nur einen Schluss zu. Ich war auf dem Weg nach Europa. Jacob hatte den direkten Weg gewählt. Die schnellste Möglichkeit, an mein Ziel zu gelangen.

Jetzt stand meine Entscheidung fest. Ich würde die Volturi aufsuchen und mein Leben im Tausch dafür anbieten, dass meine Familie und meine Freunde in Frieden und Freiheit leben könnten. Ein guter Deal, wenn es nur nicht so weh tun würde, doch es gab keine Alternative. Niemals könnte ich den Volturi dienen und meine Gabe verwenden, um Angreifer zu schützen. Und wenn er mir mit dem Leid meiner Lieben drohen würde, könnte ich mich sicherlich wieder in mein dunkles Versteck flüchten und dort auf den Tod warten. Das wäre dann keine Flucht, sondern die einzige Möglichkeit, meiner Existenz selbst ein Ende zu setzen. Ich seufzte und kämpfte weiter gegen die Trauer an.


Nachdem wir gelandet waren, spürte ich eine sanfte Berührung an der Schulter.

»Miss? Wir haben hier zwei Stunden Aufenthalt, möchten Sie sich vielleicht etwas die Beine vertreten?«
Es war einen Stewardess, die mich angesprochen hatte.
»Nein danke«, gab ich schluchzend von mir.
»Geht es ihnen nicht gut? Brauchen sie vielleicht einen Arzt?«, fragte sie besorgt.
»Nein, mir fehlt nichts«, gab ich zur Antwort, was sie mir vielleicht geglaubt hätte, wenn ich meine Stimme besser unter Kontrolle bekommen könnte.
»Kann ich irgendetwas für sie tun?«
Ich schüttelte den Kopf, doch dann kam mir doch etwas in den Sinn.
»Ist es vielleicht erlaubt, ein Handy zu benutzen?«, fragte ich mit zittriger Stimme.
»Es tut mir leid, aber die Fluggesellschaft erlaubt keine Handy-Gespräche während des Fluges«, sagte sie mitleidig.

Zur Bestätigung schluchzte ich nur und zog die Decke wieder über den Kopf. Ich hätte so gerne noch mal mit Edward gesprochen. Ihn ein letztes Mal gehört.

»Ähm Miss? Ich denke, wir können da vielleicht eine Ausnahme machen. Schließlich fliegen wir im Moment ja nicht.«
»Danke«, sagte ich und kramte nach meinem Telefon, während die Stewardess den Raum verließ.
Ich blickte mich kurz um. Ich war alleine.

Kaum hatte ich es eingeschaltet, kam auch schon der Hinweis, dass ich 25 Anrufe in Abwesenheit hatte.

“Oh Edward”, dachte ich bei mir und da klingelte auch schon das Handy.

Es war Alice und ich ging ran.
»Alice?«
»Oh Gott, Bella. Was tust du nur?«
»Hast du sie am Telefon?« hörte ich Edward im Hintergrund.
Seine Stimme war so aufgeregt.
»Gib sie mir.«
»Edward. Warte…«
»Bella? Liebste? Bist du das?«

Da war sie. Edwards Engelsstimme, die ich unbedingt noch mal hören wollte.
»Ja Edward«, schluchzte ich.
»Oh Bella, tu das nicht. Hörst du? Komm sofort zurück.«
»Ich kann nicht Edward. Es muss sein.«
»Nein muss es nicht, Bella. Das kannst du nicht machen. Das kannst du mir nicht antun.«
Seine Stimme überschlug sich geradezu vor Besorgnis, Trauer und Verzweiflung.
»Es tut mir leid Edward. Ich muss es versuchen. Für unsere Tochter, für die Familie, für alle.«
»Verdammt Edward. Gib mir mein Telefon zurück. Lass mich mit ihr reden.«

Alice hatte sich das Telefon zurückgeholt.
»Bella. Was hast du vor?«
»Siehst du das nicht?«, gab ich mit noch immer zittriger Stimme zurück.
»Doch, aber ich glaube es nicht. Das kann doch nicht dein Ernst sein.«
»Was siehst du, Alice?«
»Was ich sehe? Ich sehe dass du zu den Volturi gehst.«
»Und weiter?«
»Nichts weiter. Ich weiß nicht, was dort mit dir passiert.«
»Das ist gut«, stellte ich mit einem hauch von Zuversicht in der Stimme fest.
»Was soll daran denn gut sein?«
»Na, dann habe ich eine Chance.«
»Oh Bella, du bis ja wahnsinnig. Das kannst du nicht riskieren. Bitte Schwester, komm zu uns zurück. Wir finden einen andere Lösung. Wir alle wollen dich zurück haben. Du musst doch nicht…«

Ich legte auf und schaltete das Handy aus. Ich konnte die Trauer und die Verzweiflung nicht mehr ertragen. Warum nur konnten sie nicht verstehen, dass ich das alles für sie tat? Ich machte das noch nicht, weil ich keine Lust mehr hatte zu leben. Ich machte das, damit sie alle eine Chance auf eine besser Zukunft hatten. So wie es war, bevor ich in ihr Leben trat. Ich hatte ihnen doch alles kaputt gemacht. Nur durch mich, waren sie in das Fadenkreuz der Volturi geraten. Nur meinetwegen war die Bedrohung allgegenwärtig. Nur ich konnte es wieder gut machen und wenn ich dafür sterben müsste.

“Wenigstens”, dachte ich bei mir, “sind sie alle noch zu Hause.”
Keiner folgte mir. Sie würden mich nicht aufhalten können und ich hatte die Chance, mein Ziel zu erreichen.

Ich vergrub mich wieder unter meiner Decke. Draußen ging die Sonne auf und ich wollte auf keinen Fall Aufmerksamkeit erregen. Das hätte mir gerade noch gefehlt, dass ich auf dem Weg zu den Volturi auch noch auffällig geworden wäre. Das hätte alles zu Nichte gemacht.

Aus einer Tasche zog ich mein Ticket hervor. Jetzt, da alle Bescheid wussten, spielte es keine Rolle mehr, ob ich alles wusste oder nicht. Mein Flug ging nach Rom. Planmäßig Ankunft um 17.00 Uhr Ortszeit. Florenz wäre mir lieber gewesen, doch vermutlich gab es keinen schnelleren oder direkteren Flug nach Italien. Rom war zwar weiter von Volterra entfernt als Florenz, aber die kurze Flugdauer würde das sicherlich mehr als ausgleichen. Nach der Ankunft würde ich mir einfach ein Taxi nehmen.

“Hoffentlich ist es nicht sonnig”, dachte ich mir, obwohl ich in Bezug auf Italien nicht wirklich große Hoffnung hatte, dass das Wetter anders wäre.

Ich wollte mich, wenn möglich, nicht noch ein paar Stunden am Flughafen herumdrücken müssen, sondern das alles so schnell wie möglich hinter mich bringen.


Das Flugzeug füllte sich wieder und der zweite Teil der Reise begann. Viele hatten die Fensterläden geöffnet und von Süden her fiel grelles Licht in die Kabine. Ich vergrub mich die ganze Zeit unter meiner Decke. Die Stewardess kam ein paar Mal zu mir, um mich zu fragen, ob sie etwas für mich tun könnte, doch ich lehnte immer nur ab.

Aufgrund der Trauer in meiner Stimme würde sie bestimmt vermuten, dass ich Liebeskummer oder ähnliches hatte. In gewisser Weise traf das auch ziemlich genau zu, nur mit dem Unterschied, dass ihre Vorstellung sicherlich nicht die Möglichkeit beinhaltete, dass ich schon in wenigen Stunden in einem alten Gemäuer von Vampiren getötet werden könnte.

Der Flug endete recht pünktlich und ich warf einen vorsichtigen Blick aus dem Fenster. Mist! Das Wetter war schön. Ein paar Wolken vielleicht, aber nichts, das die Sonne aufhalten würde. Ob ich wohl noch ein Weilchen hier im Flugzeug bleiben könnte? Die Kabine leerte sich und natürlich kam die Stewardess wieder zu mir.

»Miss, wir sind angekommen. Kann ich vielleicht doch noch etwas für sie tun?«
»Geben sie mir nur einen Moment, bitte.«
»Natürlich Miss, ich warte vor der Tür.«

Ich vergewisserte mich dass ich alleine war und warf einen weiteren vorsichtigen Blick durch das Fenster. Wenigsten sah es kalt aus. Es würde also nicht allzu sehr auffallen, wenn ich mich fest in meine Jacke einpacken würde. Also raffte ich mich auf, verbarg meine Haut so gut es ging und verließ den Raum. Die Stewardess griff nach meinem Arm, als ob sie glaubte, dass sie mich stützen müsste.

»Danke, es geht schon«, sagte ich mit unverändert trauriger Stimme.

Sie sagte nichts, sondern lächelte nur mitfühlend. Dann verließ ich als letzter Passagier das Flugzeug.

Ich achtete darauf, mein Gesicht immer von der Sonne weg zu halten. Ich zog die Kapuze tief herunter und versuchte mit dem Schal möglichst alles zu verbergen. Drinnen löste ich meine Verkleidung, um nicht allzu auffällig zu wirken, wobei ich immer besorgt war, dass von irgendwo her eine Lichtreflektion mein Gesicht treffen könnte. Ich sah mich um. Vor dem Flughafen waren einige Taxistände und glücklicher Weise waren die meisten im Schatten. Würde ich es riskieren können? Ich entschied mich dafür, eilte zu einem Taxi, zog die Kapuze wieder tief ins Gesicht und stieg ein.

Der Taxifahrer schaute überrascht zu mir. Er hatte mich wohl nicht kommen sehen. Ich kramte 500 Dollar aus meiner Tasche und streckte sie ihm hin.

»Volterra, presto!«

Ich hoffte, dass mein schwaches italienisch ausreichen würde, um ihm klar zu machen, dass ich es eilig hatte. Offensichtlich verstand er und war durch die Scheine auch hoch motiviert.

Die Fahrt dauerte gut zwei Stunden. Da wir in nördlicher Richtung unterwegs waren, hatte ich wenig Probleme mit der Sonne. Ich setzte mich aber vorsichtshalber so, dass mich der Fahrer im Rückspiegel nicht sehen konnte. Meine größte Sorge galt allerdings den entgegenkommenden Fahrzeugen, in deren Scheiben sich das Sonnenlicht spiegelte. Somit war ich kaum in der Lage, mich “normal” zu verhalten. Ich rutschte so tief hinunter, wie es gerade noch menschlich wirkte und tat so, als wäre ich sehr müde.

Bei der Ankunft stellte ich erleichtert fest, dass die Sonne nun endlich untergegangen war. Ich ließ mich noch ins Zentrum fahren und verabschiedete mich von dem Fahrer, der äußerst zufrieden mit seinen heutigen Einnahmen zu sein schien. Dann machte ich mich auf den Weg zum Hauptquartier der Volturi. Ich überquerte den großen Platz, über den ich schon einmal gerannt war. Meine Erinnerungen daran waren zwar menschliche, aber sie waren stark. Sie bewahrten ein wichtiges Ereignis in meinem Leben. Ich erinnerte mich an den Tag, an dem ich Edward von seinem Selbstmord abhalten konnte. Wie absurd, wo doch mein jetziges Unterfangen dem seinen von damals so ähnlich war. Ich wusste noch, wo wir danach beim letzten Mal das Gebäude verlassen hatten und wählte diesen Weg hinein.

An der Rezeption war ein junger Mann. Ich fragte mich, ob die Frau, die bei meinem letzten Besuch hier war, nur gerade frei hatte, oder ob sie es geschafft hatte, ihr Ziel zu erreichen. Die Möglichkeit, dass sie “der Nachtisch” geworden war, wollte ich nicht wirklich in Erwägung ziehen, auch wenn ich das ungute Gefühl hatte, dass genau das der Fall war.

»Buona Sera Signora«, begrüßte er mich.
»Guten Abend. Ich möchte Aro sprechen«, sagte ich ganz direkt.
»Verzeihung Signora, ich verstehe nicht?«

Er sprach mit erheblich italienischem Akzent, doch ich war mir sicher, dass er meine Worte verstanden hatte.

»Lassen sie Aro wissen, dass Bella Cullen hier ist. Er wird nicht wollen, dass sie mich warten lassen.«
»Si, Signora, un momento per favore.«

Er schien sehr nervös zu sein und griff zum Telefonhörer. Er sprach sehr schnell. Außer meinem Namen und “Aro” konnte ich nichts verstehen. Wenn ich in diesem Leben noch mal die Zeit dafür bekommen würde, dann wüsste ich schon mal, welche Fremdsprache ich erlernen wollte.

»Bitte, nehmen sie Platz«, sagte er mit seinem italienischen Akzent und wies mir die Sitzgruppe zu, auf der ich schon einmal gesessen war.

Damals allerdings als Mensch und nach meinem Besuch bei Aro und in den Armen von Edward. Erneut verkrampfte ich mich innerlich, um dem Loch in mir keine Chance zu geben. Es war ohnehin zwecklos. Ich war nun in der Höhle des Löwen. Der Würfel war gefallen. Jetzt würde sich alles entscheiden.

Kurz darauf öffnete sich die Tür von einem Fahrstuhl. Heraus kamen Jane und Felix. beide sahen mich ungläubig mit großen Augen an. Ohne zu zögern ging ich auf die beiden zu.

»Ich nehme an, ihr geleitet mich zum Hohen Rat?«

Die beiden nickten nur und machten zwischen sich eine Gasse frei. Ich schritt hindurch und betrat den Fahrstuhl.

Der Weg zur Ratskammer schien sich kein bisschen verändert zu haben. Meine Erinnerungen an das letzte Mal, als ich hier war, waren zwar menschlich und ich hatte damals anderes im Sinn, als mir die Architektur einzuprägen, doch konnte ich mich an vieles erinnern und nun nichts Neues feststellen.

Sie führten mich zu dem Raum, in dem ich schon einmal gewesen war, öffneten die großen Schwingtüren und ließen mich eintreten.

»Was für eine schöne Überraschung!«, rief Aro freudig aus und klatschte dabei in die Hände.

Sein Lächeln wirkte merkwürdig echt. Selbst Markus schien überrascht und interessiert. Caius Gesicht war allerdings eher ungläubig. Er konnte mit meinem Erscheinen nichts anfangen und es sich noch weniger erklären. Das traf sicherlich auch auf die anderen zu, aber sie ließen es sich nicht so deutlich anmerken.

»Ich grüße euch«, sprach ich alle drei an und versuchte eine feste Stimme zu behalten.

Aro kam auf mich zu, schaute mit seinen milchig trüben Augen in meine und ergriff meine Hand. Ich ließ ihn gewähren. Seine papierartige Haut hatte noch immer etwas Sonderbares an sich.

»Da ist sie wieder. Das größte Mysterium meines Lebens. … Wie ich an deinen Augen erkennen kann, hast du offensichtlich keine Probleme mit der vegetarischen Ernährung.«

Sein Lächeln war immer noch vorhanden, doch nun ein wenig enttäuschter, doch war ich mir sicher, dass er vor Neugierde brannte.

»Mein liebes Kind«, sprach er weiter, noch immer meine Hand haltend. »Welchem Umstand verdanken wir diese außerordentliche Freude deines Besuchs?«

Was sollte ich nun sagen? Ich hätte mich besser auf dieses Gespräch vorbereiten sollen, statt mich der Trauer darüber hinzugeben, dass ich meine Familie wohl nie wieder sehen würde.

»Ich bin gekommen, weil ich die Hoffnung hege, dass wir die Konflikte zwischen den Volturi und meiner Familie ausräumen können. Ich wünsche mir nichts mehr, als einen dauerhaften Frieden und freundschaftlichen Umgang miteinander.«
»Oh! … Frieden … und Freundschaft.«

Aro löste sich von mir und ging ein paar Schritte. Er redete, als ob er über die Worte nachdenken müsste, doch nahm ich ihm das nicht wirklich ab.

»Ein wenig … überraschend, findet ihr nicht?«

Er sprach dabei Markus und Caius an, die stumm nickten und aufmerksam dem Gespräch lauschten.

»Sage mir, Bella. Wie sollte ich dir Glauben schenken, wenn doch überall solch üble Gerüchte im Umlauf sind? Gerüchte, dass ihr eine Armee aufbaut, um uns zu stürzen?«
»An diesen Gerüchten ist kein wahres Wort«, gab ich zurück, noch immer um eine ruhig Stimme bemüht.
»So, so … und das sollen wir so einfach glauben?«
»Ja.«
»Ha! So direkt … wie erfrischend … jedoch, wenig überzeugend mein Kind.«
»Bitte, Aro, diese Gerüchte wurden gestreut, um die Gräben zwischen uns noch tiefer werden zu lassen. Ihr dürft ihnen keinen Glauben schenken.«
»Aha! … Wie interessant … und du weißt sicherlich auch, wer diese Gerüchte gestreut hat, oder?«

Sein Lächeln ließ mich vermuten, dass er vom Gegenteil ausging.
»Leider ja.«
Er wirkte überrascht.
»Leider?«
»Ich wünschte, es wäre nicht so.«
»Also jetzt bin ich aber neugierig, mein Kind. Von wem stammen die Gerüchte denn?«

Ich atmete tief durch und dann sagte ich es einfach.
»Wir wissen, das Athenodora der Ursprung ist.«

»Wie kannst du es wagen!«, brüllte mich Caius an und kam wütend auf mich zu. »Du kommst hier her und beschuldigst meine Frau der Verbrechen, die ihr begangen habt? Das wirst du bereuen!«
»Ich bitte dich, Bruder. Beruhige dich. Das lässt sich doch ganz leicht aufklären. Demetri? Würdest du bitte Athenodora zu uns bringen.«
»Das ist nicht dein Ernst, Aro«, brüllte Caius ihn jetzt an. »Du verdächtigst meine Frau?«
»Aber nicht doch. Ich möchte lediglich beweisen, dass alles erfunden ist. Diese Unterstellung ist einfach lächerlich und so leicht aus der Welt zu schaffen.«

Caius beruhigte sich etwas, was mich wiederum beunruhigte. War es denn möglich, dass er überhaupt nichts von dem Machenschaften seiner Frau wusste? Hatten wir vielleicht falsche Informationen bekommen oder falsche Schlüsse gezogen? Hatte Kebis Intrige und die Erwähnung Athenodoras Namens vielleicht gar keinen Zusammenhang? Wenn dem so wäre, dann war das Spiel jetzt aus und ich hatte uns alle ins Verderben gestürzt.

Es dauerte einige Minuten, in denen kein Wort gewechselt wurde, bis Demetri mit Athenodora erschien. Minuten in denen ich von allen Seiten argwöhnisch beobachtet wurde und in denen meine Zuversicht schwand. Jedoch bekam sie neue Nahrung, als ich Athenodoras Gesicht erblickte, als sie mich sah.

»Schön, dass du gekommen bist, meine Liebe«, begrüßte Aro sie, ging auf sie zu und Streckte die Hände nach ihr aus, doch sie zog ihre Hände hinter ihren Rücken.
»Was hat das zu bedeuten, meine Gemahlin?«, sprach Caius sie an, nachdem er ihre Reaktion bemerkt hatte.
»Gib mir deine Hand, meine Liebe«, sagte Aro zu ihr, mit einem Lächeln, das nun weitaus weniger freundlich wirkte.
»Bitte Caius. Lass nicht zu, dass er mich dazu zwingt.«
»Ich glaube es nicht«, sagte Caius fassungslos. »Dann .. ist es war? Du steckst dahinter?«
»Ich habe es für dich getan, Liebster. Ich wollte, dass du deine Rache bekommst, dass du den nötigen Grund erhältst, um diese Werwölfe zu vernichten.«

Ein Stein fiel mir vom Herzen. Sie hatte gestanden, alle hatten es gehört und neue Hoffnung keimte in mir auf. Aro atmete tief durch und seufzte schwer.

»Tza, tza, tza. Was hast du dir nur dabei gedacht…«

Er fragte sie nicht wirklich und sie antwortete nicht. Es war wohl eher eine Feststellung von Aro, die dazu diente, Zeit zum Nachdenken zu gewinnen. Schließlich wandte er sich wieder an mich.

»Eine überraschende Wendung, mein liebes Kind, … doch ändert es nichts daran, dass ihr und die Werwölfe gemeinsame Sache gegen uns macht. … Oder willst du bestreiten, dass ihr euch mit ihnen verbündet habt?«
»Nein, Aro. Ich bin nicht hier, um zu lügen. Ich bin offen und ehrlich. Ja, wir sind mit den Wölfen verbündet, doch diese Bündnis dient dem friedlichen Miteinander und der Verteidigung. Wir wollen doch nur in Frieden leben. Könnt ihr das nicht verstehen? Könnt ihr uns das nicht gewähren? Die Wölfe sind keine Werwölfe, wie ihr sie nennt. Es sind Menschen, mit der Fähigkeit, die Gestalt zu verändern. Eine Fähigkeit, die sie nur dazu nutzen, ihre Heimat und ihre Familien zu beschützen. Sie sind keine grausamen Monster. Sie sind mitfühlende Wesen und zu bedingungsloser Liebe fähig. Sie nennen es Prägung und ich kenne vier von ihnen, die so stark lieben.«

»Genug von diesem Schwachsinn!«, schrie Caius erneut. »Es sind Werwölfe und keine harmlosen Schoßhündchen.«
»Aber Caius«, sprach ich ihn an. »Ihr habt sie doch gesehen. Hätten Werwölfe so ruhig bleiben können, angesichts eurer Anwesenheit? Hätten Werwölfe es zugelassen, dass ihr euch friedlich zurückzieht? Sie wollen keinen Krieg mit euch, glaubt mir doch.«
»Niemals!«, brüllte er. »Diese Bedrohung muss beseitigt werden!«

»Beruhige dich Bruder.«
Aro war zu ihm getreten und legte die Hand auf seine Schulter. Athenodora, die neben Caius stand, zog das Genick ein und versteckte sich halb hinter seinem Rücken. Dann wandte sich Aro wieder an mich.

»Nun Bella, das sind schöne Worte, aber wie sollte ich dir glauben können? Ausgerechnet dir, wo du doch die Einzige bist, die die Wahrheit vor mir verbergen kann?«
»Ich will nichts vor dir verbergen, Aro«, sagte ich und streckte ihm die Hand entgegen. »Überzeuge dich selbst.«
»Ich schätze es nicht, wenn man sich über mich lustig macht«, sagte er mit einem bitteren Lächeln auf den Lippen.
»Das tue ich nicht. Ich habe meinen Schild soweit unter Kontrolle, dass ich ihn von mir wegschieben kann. Dann kannst du deine Gabe einsetzen und dich selbst davon überzeugen, dass ich dir nichts vormache. Bitte komm.«

Aro beäugte mich kritisch und prüfend, doch schnell gewann die Neugierde die Oberhand und er kam auf mich zu.

»Was für ein Talent«, sagte er und setzte wieder sein halb ehrliches Lächeln auf.

Kurz bevor er meine Hand ergriff, durchzuckte mich ein gewaltiger Schmerz. Es war, als ob mein ganzer Körper brennen würde. Eine Qual, wie ich sie seit dem Tag meiner Verwandlung nicht mehr verspürt hatte. Ich verlor die Kontrolle über meinen Schild und er rauschte zurück. Der Schmerz erhielt augenblicklich keinen Nachschub mehr, doch das Echo war noch deutlich zu spüren. Ich blickte um mich und stellte fest, dass ich am Boden lag. Aro stand vor mir und sein Blick wechselte gerade von mir zu Jane.

»Wie kannst du es wagen! Hier in meiner Halle! Ohne meine Erlaubnis!«

Seine Stimme war aggressiv. Ich folgte seinem Blick und sah Jane an. Ihr Grinsen wich dem Entsetzen, dass sich nun auf ihrem Gesicht breit machte.

»Meister, ich…«, stammelte Jane.
»Schweig! … Alec nimm ihr die Sinne.«

Die Szenerie war grotesk. Aro wollte Janes ungehorsam bestrafen und ihren Bruder dazu zwingen, sie in ein dunkles Loch zu sperren. Eine doppelte Strafe. Eine Strafe für beide. Auch wenn sie keinen Schmerz erleiden würde, empfand ich es doch als grausam. Ich bemerkte auch Chelseas konzentrierten Blick auf die beiden und vermutete, dass sie ihre Beziehung schwächen wollte, damit Alec dem Befehl folge leistete.

»Bitte nicht«, keuchte ich und versuchte mich wieder aufzuraffen.

Ich spürte den Schmerz noch in meinen Gliedern und bewegte mich langsam. Überrascht blickten mich alle an.

»Du willst, dass sie ungeschoren davon kommt?«, fragte Aro verwirrt.
»Ja, ich habe kein Verlangen nach Rache.«

Meine Stimme war immer noch etwas atemlos, wurde aber allmählich wieder fester.

»Außerdem, habe ich ein gewisses Verständnis dafür.«
»Du hast “Verständnis” dafür?«, fragte Aro jetzt noch verwirrter.
»Nun, ich weiß, dass Jane schon seit langem darauf brennt, ihre Gabe an mir wirken zu sehen. Da ihr das bisher noch nicht gelungen ist, kann ich verstehen, dass sie der Versuchung nicht widerstehen konnte.«
Ich blickte zu ihr und auch sie sah mich ungläubig an.
»Außerdem war es eine … “interessante” Erfahrung.«

Nun schüttelte Aro lächelnd den Kopf.

»Und wie soll es nun weitergehen?«, fragte er mit einem belustigten Tonfall.
»Ich hoffe, dass ihr der eine Erfolg genug war«, sagte ich zu Aro, wobei ich immer noch Jane ansah.
Dann wandte ich meinem Blick wieder zu ihm.
»Und dass sie dich nun einen Blick in meine Erinnerungen werfen lässt.«

Erneute streckte ich ihm meine Hand entgegen und drückte meinen Schild weg. Es war diesmal anstrengender, weil mich der Schmerz Kraft gekostet hatte, aber es gelang mir.

Aro ergriff meine Hand. Augenblicklich hatte ich das Gefühl, dass mein ganzes Leben in Zeitraffer vor meinem inneren Auge vorbeirauschen würde, ohne dass ich etwas hätte erkennen können und dann war es auch schon vorbei.

»Beeindruckend, wahrlich beeindruckend. So viel Mitgefühl, Liebe, Opferbereitschaft. … Aber…«

Sein Blick richtete sich plötzlich wieder auf Athenodora und sein Antlitz verfinsterte sich. Zorn schien in ihm aufzusteigen. Er war auch so schon furchterregend genug, wenn er sein aufgesetztes freundliches Gesicht zeigte, aber bei diesem Anblick lief mir ein Schauer über den Rücken.

»Du hast Amun für deine Intrige benutzt? Meinen alten Freund? Du hast ihn abgefangen und unter Druck gesetzt, als er meiner Einladung gefolgt ist? Und du hast ihn und seine Frau töten lassen? Das wirst du mir büßen! Jane, du hast meine Erlaubnis deine Gabe aufs äußerste an ihr anzuwenden.«
»Nein!«, kam ein jammernder Schrei aus Athenodoras Brust und augenblicklich war sie wie erstarrt.

Die Qual war für alle deutlich sichtbar. Ihr Gesicht war verzerrt von den unbeschreiblichen Schmerzen, die auch ich gerade erlitten hatte.

»Hör sofort auf!«, schrie Caius und stürmte auf Jane los, doch Alec zog sie zur Seite und Caius rannte an beiden vorbei und fiel orientierungslos mit leerem Blick zu Boden.

Mir war klar, dass Alec ihn neutralisiert haben musste. Ich konnte das nicht länger mit ansehen. Ich nahm Athenodora und Caius unter meinen Schild.

»Stopp!«, rief ich. »Hört auf!«

Meine Stimme schien zu vibrieren. Athenodora blickte mich mit noch immer schmerzverzerrtem aber auch dankbaren Gesicht an. Nur einen Moment später waren wieder alle Augen auf mich gerichtet. Caius Blick war verwirrt. Jane und Alec offensichtlich wütend. Markus schien überrascht und Aro eher verärgert. Die übrigen waren anscheinend nur interessiert, was als nächstes kommen würde.

»Es ist nicht sehr klug, meine Autorität zu untergraben«, zischte mich Aro an.
»Vergib mir, Aro. Bitte, aber wann hat all das Leiden ein Ende?«
»Du beschützt sie?«, sagte er noch immer verärgert. »Du beschützt die Frau, die einen Krieg zwischen euch und uns provozieren wollte? Du beschützt den Mann, der deine geliebten Wölfe vernichtet sehen will? Warum tust du das?«
»Warum? Weil ich das alles nicht will! Wann hört das auf? Wem nützt all dieses Leid? Es muss ein Ende haben, Aro. Bitte. Ich bitte euch alle. Lasst es enden. Caius. Wozu dieser Hass auf die Wölfe? Sie wollen dir doch nichts tun. Bitte, Caius, löse dich doch von dem Groll gegen sie. Marcus. Ich bitte dich. Du siehst die Bande der Liebe. Du hast sie doch sicherlich auch bei meiner Familie und bei den Quileute gesehen. Ich flehe dich an, hab Mitleid. Aro, wir achten dich. Wir wissen, dass die Volturi wichtig sind. Wir wollen keinen Krieg gegen euch führen. Kannst du das nicht sehen? Gib dem Frieden und der Freundschaft doch eine Chance und blicke gnädig auf uns.«

Caius hatte sich inzwischen wieder aufgerichtet und ging zurück zu seiner Frau um ihr aufzuhelfen. Er würdigte mich dabei keines weiteren Blickes. Aro seufzte schwer und dann entspannte sich sein Mine.

»Oh ja, mein Kind, oh ja. Ich weiß eine Menge über dich und deine Familie und deine Freunde. Du hast auf alle so einen gütigen Blick. Siehst in jedem vor allem das Gute. Selbst in mir.«

Bei dem letzten Satz lächelte er wieder so wie bei unserer Begrüßung. Es schien ein ernst gemeintes Lächeln zu sein.

»So eine gute Seele. So selbstlos. Was für eine Seltenheit. … Ich muss zugeben, dass ich neidisch auf Carlisle bin. Er hat die größten Talente der letzten 100 Jahre um sich versammelt. Edward, Alice, dich und jetzt auch Benjamin. Doch ich sehe auch, dass nicht er euch um sich schart, um eure Gaben zu nutzen, sondern dass ihr euch um ihn schart, um seine Güte zu erfahren und seinen Rat zu suchen. Ihr akzeptiert seine Führung, obwohl er sich seiner Rolle noch nicht einmal so richtig bewusst zu sein scheint. Außerdem nimmt er wohl jeden auf, der zu ihm kommt und seine Lebensweise pflegen will. Auch diese nutzlose Rosalie und diesen Emmett. Das ist wirklich bemerkenswert.«

Ich mochte es nicht, wie er über Rosalie und Emmett sprach, doch auf keinen Fall wollte ich riskieren, dass seine positive Haltung sich ändern könnte.

»Ich danke dir, Aro, dass du meine Familie und meine Freunde jetzt so sehen kannst, wie sie sind. Sie wollen euch nichts böses. Ich bitte euch, lasst sie in Frieden leben. Gewährt mir diese Bitte und dann verfahrt mit mir, wie ihr es für richtig haltet.«
»Hast du es denn so eilig zu sterben, mein Kind?«

Aros Stimme hatte sogar einen Hauch von Mitgefühl. Ich war überrascht und schöpfte ein wenig Hoffnung, dass er meinen Vorschlag akzeptieren könnte.

»Aro, du weißt, warum ich gekommen bin. Ich habe es jetzt oft genug gesagt. Das Einzige, das ich euch als Gegenleistung anbieten kann, ist mein Tod. Wenn ihr meine Gabe als solch große Bedrohung anseht, das meine Familie und meine Freunde deswegen nicht in Frieden und Freiheit leben dürfen, dann vernichtet diese Bedrohung. Ich bin bereit, dafür zu sterben.«

Aro lief nachdenklich auf und ab und dann sprach er wieder zu mir.

»Ja, … Ja, … Das bist du wohl. Ich würde dich natürlich viel lieber als Teil unseres Zirkels betrachten, aber das wird ja leider nicht möglich sein. Also dein Leben im Tausch gegen den Frieden und die Freiheit deiner Familie und der Wölfe?«

Ich nickte, ließ mich auf die Knie sinken, beugte den Kopf und schloss die Augen. Jetzt war alles gesagt.

»Dann sollten wir das Angebot annehmen«, hörte ich Caius Stimme und seine Schritte, die näher kamen.

Er rief nach Felix und Demetri. Die beiden traten blitzschnell an meine Seite. Jeder stellte einen Fuß auf eine meiner Waden. Dann ergriff jeder mit einer Hand einen meiner Arme und zog ihn nach hinten. Die andere Hand legten sie jeweils auf meine Schulter. Es schmerzte sehr. Ich spürte, wie durch die Spannung ihres harten Griffs meine Schultern anfingen aufzureißen. Dann, einen Augenblick später, hörte ich ein metallisches klicken und ein rauschen.

Ich wusste was das war. Ich hatte das schon einmal gehört. Es musst der verzierte Stab sein, diese merkwürdige Waffe, mit der er Irina vor unseren Augen verbrannt hatte. So würde also mein Tod aussehen. Ich war etwas erleichtert, es würde zumindest schnell gehen und natürlich hoffte ich auch, dass Edward die gleiche Gnade erfahren würde, wenn er sich nicht mit meinem Tod abfinden konnte und mir folgen wollte. Ich würde auf ihn auf der anderen Seite warten. So lange wie es eben dauerte.

Als nächstes spürte ich, wie die Wärme immer näher zu mir kam und gleichzeitig ein merkwürdiges Gefühl einer örtlichen Betäubung auf der Zunge. Das war Alecs Fähigkeit, die auf mein Schild traf. Er wollte mir wohl das Leid ersparen. Das war nett von ihm.

»Lass es sein, Alec«, sagte ich leise und gequält.

Die Schmerzen in meinen Schultern ließen nicht zu, dass ich mit fester Stimme reden konnte.

»Es ist gut, wie es ist.«

Und dann wurde es sehr heiß vor meinem Gesicht.

...

»Ist es das, was wir sind, meine Brüder?«, hörte ich plötzlich Aro fragen. »Wir wundern uns, warum sich die großen Talente dieser Zeit um Carlisle versammeln und sehen nicht einmal mehr, was wir tun? Eine junge Vampirfrau kommt zu uns, um Gnade für ihre Familie und ihre Freunde zu erflehen. Sie bittet nur um Frieden und bietet Freundschaft an. Sie hat uns nie ein Leid zugefügt, doch wir trachten ihr nach dem Leben, weil sie eine Gefahr sein könnte. Eine Gefahr, die sie niemals sein will, wie ich weiß. Caius? Du hast gezögert. Willst du sie wirklich töten?«
»Sie ist eine zu große Gefahr, Aro. Wie können wir sie am Leben lassen?«
»Ist sie das? Hat nicht jeder von uns die Fähigkeit, eine Gefahr für die anderen zu sein? Hat deine Frau das nicht gerade bewiesen? Hast du schon vergessen, wie sich dieses Mädchen hier verhalten hat, um sie und auch dich zu schützen, obwohl sie wusste, dass sie meinen Zorn auf sich ziehen würde? Komm Caius. Lass uns nicht überstürzt handeln. Lass uns Rat halten und dann entscheiden. Sie wird nicht weglaufen. Was bedeuten schon ein paar Minuten mehr oder weniger.«

Was hatte das zu bedeuten? Würden sie einen Rückzieher machen? Sie hatten mir doch versprochen, dass sie meine Familie und meine Freunde in Ruhe lassen würden, wenn ich tot wäre. Das können sie doch nicht ändern wollen. Ich blickte nicht auf sondern hörte nur zu. Meinen Kopf zu heben war mir ohnehin kaum möglich. Wenn ich das versuchte, zog der Schmerz in meinen Schulter augenblicklich stärker an. Ich ließ ihn also lieber hängen und verließ mich auf meine Ohren.

Ihre Schritte entfernten sich etwas und ich hörte auch weitere Schritte, die vermutlich von Marcus stammten. Dann blieben sie stehen.

»Bella?«, hörte ich Aro mit einer leicht genervten, wenn auch amüsierten Stimme sagen. »Würdest du jetzt bitte deinen Schild von Caius nehmen?«

Oh!? Das war mir gar nicht bewusst. Ich hatte ihn und Athenodora ja noch immer abgeschirmt.

»Verzeih mir bitte, das war keine Absicht. Ich löse ihn sofort.«

Ich konzentrierte mich auf meinen Schild und zog ihn von Caius zurück. Athenodora ließ ich noch darunter. Es konnte ja nichts schaden, auch wenn es nicht mehr lange dauern würde.

Sie redeten schnell und leise. Außerdem schien es mir eine fremde Sprache zu sein. Kaum verwunderlich, wo sie doch alle über dreitausend Jahre alt waren. Vermutlich war es keine fremde, sondern einfach nur eine sehr alte Sprache, die heute außer ihnen keiner mehr sprechen konnte. Sehr praktisch, für eine geheime Konferenz, selbst wenn sie in der Öffentlichkeit stattfand.


Die Unterredung dauerte lange. Er hatte von ein paar Minuten gesprochen, doch es schienen inzwischen ein paar Stunden vergangen zu sein. Ich kniete unverändert im harten Griff meiner Bewacher, mit gesenktem Kopf und geschlossenen Augen, vor den Stufen der Empore, auf der sie ihren Rat abhielten und wartete auf das Urteil. Ein paar mal waren mir veränderte Tonlagen aufgefallen. Mal wütend zischend, mal mitfühlend sanft, doch meistens war der Ton einfach irgendwie geschäftsmäßig. Ein Austausch von Informationen.

Dann hörte ich wieder Schritte die sich mir näherten.
»Nun Bella, wir sind zu einer Entscheidung gelangt.«
Ich rührte mich nicht. Wie sollte ich auch.
»Wir wollen dein Angebot nicht annehmen.«
»Was?«, fuhr es mir aus dem Mund und ich blickte erschrocken auf, um Aro anzusehen, was den Schmerz in meinen Schulter kurz explodieren ließ.

Aro sah es wohl in meinem Gesicht und wies Felix und Demetri an, den Griff zu lösen. Ich verschränkte die Arme vor meinem Körper und meine Schultern brannten, als sich die Risse endlich wieder schließen durften, doch nun konnte ich meinen Kopf heben und ihn ansehen. Er hatte wieder dieses Lächeln aufgesetzt, das ich doch als ehrlich gedeutet hatte. Wie konnte ich mich nur so täuschen.

»Das könnt ihr doch nicht machen. Bitte Aro. Wir haben doch eine Vereinbarung. Was kann ich denn sonst tun, damit ihr meiner Familie Frieden gewährt?«
»Nun, zunächst könntest du einmal aufstehen.«

Ich blickte ihn ungläubig an. Was sollte dieses grausame Spiel? Ich überlegte kurz, ob ich mich trotzig verhalten sollte, um ihn zu provozieren, doch das war sinnlos. Also stand ich auf und sah ihn fragend an.

»Mein liebes Kind. Wir wollen dich nicht töten. Es ist ein anderer Preis erforderlich.«
»Aber ich kann euch nicht dienen, das könnt ihr doch nicht verlangen. Ich bitte euch…«
»Aber, aber, mein Kind. Willst du nicht erst mal hören, um was es dabei geht?«

Ich war verwirrt und nickte nur. Aro lächelte unverändert weiter. Markus schien auf ungewöhnliche Weise an dem Geschehen interessiert zu sein und Caius eher etwas verärgert, wenn auch beherrscht.

»Nun, als ich deine Gedanken aufgenommen hatte, bemerkte ich etwas, das ich als größere Bedrohung empfunden habe, als dich, liebes Kind.«

Was könnte er in meinen Gedanken denn gesehen haben? Wer könnte ihn denn bedrohen, wenn er nicht von mir geschützt würde? War es das militärische Genie von Jasper oder fürchtete er Edwards Rache? Das konnte ich mir nicht vorstellen.

»Ich hatte bemerkt«, fuhr er fort, »dass du die Hoffnung hegst, dass deine Tochter selbst einmal ein Kind empfangen könnte, was Carlisle wohl für möglich hält.«

“Nein! Warum nur gerät meine Renesmee schon wieder in sein Fadenkreuz? Das darf nicht wahr sein!”, schoss es mir durch die Gedanken und augenblicklich überschwemmte mich eine Welle der Verzweiflung, die in meinem Innern pulsierte.

»Aber Aro. Meine Tochter ist doch keine Bedrohung für euch. Das kann nicht dein Ernst sein«, sagte ich flehend mit zittriger Stimme.
»Lass mich ausreden, Bella. … Sie alleine ist keine Bedrohung, aber ich habe auch sehen müssen, dass dieser eine Wolfsmann auf dein Kind “geprägt” wurde, wie ihr es nennt ... und das ist eine Bedrohung.«
Was meinte er damit? Warum sollte die Liebe von Jacob zu meiner Kleinen eine Bedrohung sein?
»Ich verstehe nicht, Aro.«
»Dann will ich es dir erklären. Wenn deine Tochter von diesem Wolfsmann ein Kind empfangen wurde, dann könnte daraus eine weit aus gefährlichere Spezies entstehen. Ein Wolf mit den Fähigkeiten eines Vampirs, vielleicht sogar mit einer Gabe. Das können wir unmöglich zulassen. Diese Abscheulichkeit darf es niemals geben.«

Caius nickte energisch bei diesen Worten und auch Marcus zeigte seinen Zustimmung. Hier waren sich alle absolut einig.

Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Ich wusste ja noch nicht einmal genau, was er wollte. Würde er meine Renesmee töten wollen, weil eine geringe Wahrscheinlichkeit bestand, dass sie von Jacob schwanger werden könnte? War seine Furcht davor so groß?

»Nein! Bitte Aro. Tu meiner Tochter nichts. Wir wissen doch gar nicht, ob das überhaupt möglich ist.«
»Ja, das stimmt, aber wir wollen es auch nicht herausfinden, nicht war? Nun hör mir gut zu. Wir gewähren euch den Frieden, um den du uns gebeten hast. Wir gewähren auch den Quileute die Freiheit, ihre Heimat zu verteidigen. Sie dürfen sich auf der Olympic-Halbinsel frei bewegen und kein Vampir darf ohne ihre Erlaubnis das Land betreten. So werden wir es verkünden. Doch wir stellen auch Bedingungen dafür. Erstens: Deine Familie darf von ihrem friedlichen Pfand nicht abweichen. Das wird euch aber sicherlich nicht schwer fallen. Zweitens: Keiner der Quileute verlässt jemals in Wolfsgestalt ihr Gebiet oder verwandelt sich außerhalb in einen Wolf. Egal ob absichtlich oder unabsichtlich. Wenn das passiert, ist unser Friede mit ihnen beendet. Drittens: Die Beziehung zwischen diesem Wolfsmann und deiner Tochter muss enden und zwar jetzt sofort und für alle Zeit. Wir werden nicht zusehen, wie sie “experimentieren”. Du weißt, dass du und alle anderen sie im Zweifelsfall beschützen würden. Das würde den Krieg bedeuten, den ihr nicht wollt.«

Das war die Bedingung? Jacob musste sich von Renesmee trennen? Wie sollte ich ihm das nur beibringen. Wie sollte er das aushalten können? Das wäre sein Todesurteil. Ein schrecklicheres Leid, als ich ihm jemals hätte zufügen können, als er noch mich liebte. Wieder stieg die Trauer und die Verzweiflung in mir auf und ich musste schluchzen.

»Bitte, muss das sein? Wenn Jacob versprechen würde, dass er …«
»Nein!«, brüllte Caius. »Keine Ausnahme! Aro, es darf keine Ausnahmen geben. Da mache ich nicht mit.«
»Beruhige dich Bruder. Wir sehen das alle gleich. Es muss so sein, wie wir es beschlossen haben. Keine Ausnahmen.«
Dann wandte sich Aro wieder mir zu.
»Bella, Bella. Ich sehe es deinem Gesicht an. Du würdest lieber sterben, als diesem Wolfsmann ein Leid zuzufügen, doch diese Wahl stellt sich dir nicht. Es gibt keine Ausnahme und keine Alternative. Es muss so sein oder es kann keinen Frieden geben. Wir können diese Bedrohung nicht ignorieren. Niemals. Wenn du uns nicht dein Wort gibst, dass diese Bedingungen eingehalten werden, können wir dich, deine Familie und die Wölfe nicht in Frieden leben lassen. Das ist ausgeschlossen.«

Warum nur? Warum war das der einzige Weg? Renesmee würde ihn vermissen, doch dafür dürfte sie so leben können, wie ich es mir für sie erwünscht hatte. Aber Jacob? Was würde er tun? Könnte er auf sie verzichten, wenn es der einzige Weg wäre, sie zu schützen? Würde er sich selbst etwas antun? Er hatte sich mehr als einmal als der beste Freund erwiesen, den ich mir wünschen konnte. Ohne ihn wäre ich noch nicht einmal hier, wo eine glückliche Zukunft für meine Tochter so greifbar nah war. Doch er müsste den Preis dafür zahlen. Er alleine für Renesmee, für mich, für alle.

Meine Trauer überwältigte mich und ich ließ es zu. Ich sank auf die Knie und schluchzte laut. Es war mir egal, dass alle meine Trauer sehen konnten.

»So viel Mitgefühl. So viel Liebe. Was für ein außergewöhnliches Wesen«, hörte ich Aro sanft sprechen. »Ich bedaure dein Leid, doch es gibt keinen andern Weg.«

Ja, das war mir nun klar. Solange sich die Volturi bedroht fühlen mussten, war ein Frieden undenkbar. Es musste sein. Auch wenn es mir das stumme Herz brach, ich musste Jacob dazu bringen, die Bedingungen anzunehmen. Das Leben und das Glück meiner Tochter und aller anderen hingen davon ab. Er würde sich fügen. Ich kannte ihn gut genug um zu wissen, dass er sein Glück dafür opfern würde, dass Renesmee ein sicheres Leben haben könnte. Ich klammerte mich an diesen Gedanken, an eine glückliche Zukunft meiner Tochter und beruhigte mich allmählich wieder.

»Nun meine Liebe?«, sprach mich Aro wieder an. »Haben wir dein Wort?«

Ich schaute ihn an und nickte nur. So sehr mir Jacob deswegen leid tat, es musste einfach sein.

»Auch wenn ich dir glaube«, fuhr er fort, »so würde ich doch gerne eine Bestätigung sehen.«

Ich wusste, was er meinte. Ich reichte ihm meine Hand und drückte meinen Schild weg. Der Einsatz seiner Gabe fühlte sich wie beim ersten Mal an.

»Gut. Dann wäre das geklärt. Ich würde dich ja noch zum Essen bei uns einladen, doch ich weiß, dass du das ablehnen würdest. Du willst sicherlich schnellstmöglich nach Hause. Ich werde ein Ticket für dich buchen lassen und einen Fahrer anweisen, dich zum Flughafen nach Florenz zu bringen.«
»Ich danke euch, für euer freundliches Entgegenkommen. Carlisle hatte sich nicht getäuscht, in seiner unermüdlichen Hoffnung, eine friedliche Lösung zu finden. Habt vielen Dank dafür. Das werde ich euch nie vergessen.«
Aro lächelte mich wieder ehrlich an.
»Oh, bitte richte Carlisle meine besten Grüße aus. Ich hoffe sehr, dass wir uns wieder als die Freunde erwiesen haben, die er in uns früher gesehen hatte und ich wünsche mir, dass er uns einmal wieder besuchen kommt. Und dich würden wir natürlich auch gerne bald wieder sehen. Sagen wir, so in zehn Jahren?«
»Natürlich Aro.«

Bald? In zehn Jahren? Es klang schon merkwürdig, aber wenn man dreitausend Jahre gelebt hatte, war eine Dekade vermutlich kein langer Zeitraum, doch für mich war es das. In zehn Jahren, würde Renesmee längst erwachsen sein und hoffentlich das glückliche Leben führen, das nun ermöglicht wurde. Erleichterung und Zuversicht machten sich in mir breit.

»Jane, Alec? Bitte begleitet unseren Gast wieder nach oben.«

Die beiden sahen sich überrascht an, fügten sich aber sofort Aros Anweisungen. Sie wollten wohl nicht noch einmal seinen Zorn auf sich ziehen. Ich folgte ihnen den Weg zurück, den ich gekommen war. Ich hatte nicht erwartet, diese Gänge noch mal sehen zu dürfen. Dieses Gebäude noch mal verlassen zu dürfen. Meinen Edward und meine Renesmee wieder sehen zu dürfen. Mit jeden Schritt wuchs die Freude in mir. Ich hatte es tatsächlich geschafft. Ja, ich musste noch eine schwere Aufgabe erledigen, doch es war geschafft.

Jane und Alec begleiteten mich wortlos und führten mich zur Rezeption.

»Ich danke euch und ich hoffe, dass wir einander nun mit anderen Augen sehen können.«

Mit diesen Worten verabschiedete ich mich von den beiden. Sie erwiderten nichts, sondern nickten nur leicht mit den Köpfen. Ihre Mienen verrieten mir jedoch nichts darüber, was in ihnen vorging. Sie würden es sicherlich erst einmal verarbeiten müssen. Vielen würde es jetzt wohl so gehen.


Nach wenigen Minuten wurde ich auch schon von dem Chauffeur abgeholt und zum Flughafen gebracht. Es war tiefe Nacht. Eine Turmuhr zeigte fünf Minuten nach drei Uhr an. Ja, die Beratung hatte wirklich viele Stunden gedauert und ich fuhr mir mit den Händen über die Schultern, als ich mich an den schmerzhaften Griff erinnerte. Doch was waren schon diese harten Stunden angesichts der neu gewonnenen Ewigkeit vor mir?

Ich holte mein Handy heraus und schaltete es wieder ein. Natürlich klingelte es sofort.
»Alice?«, meldete ich mich.
»Oh Bella! Du lebst. Das ist ja unglaublich. Wie hast du das nur geschafft? Ich habe in den letzten Stunden so oft deine schwankende Zukunft zwischen Leben und Tod gesehen. So oft sah es ganz schrecklich und düster aus, doch du bist tatsächlich noch am Leben. Es ist so wundervoll.«
»Ja, Alice. Ich freue mich auch dich zu hören«, antwortete ich kichernd.
Ich war ja so erleichtert. Eine tonnenschwere Last war von mir abgefallen.
»Dann warte erst mal ab, wie sehr du dich gleich freuen wirst«, sagte sie schmunzelnd.
»Momma?«
»Sternchen, Liebling. Ist das schön deine Stimme zu hören.«
Ich schluchzte vor Freude.
»Bist du traurig, Momma?«
»Nein Liebling, ganz im Gegenteil. Ich bin überglücklich.«
»Bist du sicher? Du hörst dich aber nicht so an.«
»Tut mir leid, Schatz«, sagte ich und versuchte meine Stimme zu beruhigen. »Jetzt besser?«
»Etwas.«
»Oh Sternchen. Geht es dir gut?«
»Ja, Momma. Jetzt ja, aber hier haben sich alle schreckliche Sorgen um dich gemacht. Ich hatte Angst, dass du nicht wieder kommst. Keiner hat daran geglaubt. Es war alles … so traurig.«
»Oh das tut mir so leid. … Ich mache es wieder gut. Ich komme bald zurück und dann gehe ich nie wieder weg. Versprochen.«
»Das ist gut, Momma. Dann bis bald. Ich gebe dir jetzt mal Daddy. Hab’ dich lieb, Momma.«
»Ich dich auch, Schatz.«

»Bella, Liebste, Ich kann es kaum fassen. Du lebst?«
Seine Stimme vibrierte vor Aufregung und Freude.
»Ja Edward, es ist geschafft. Ich komme nach Hause. Ich hab dich ja so vermisst.« Wieder fing ich an lauter zu schluchzen.
»Oh Liebste. Du musst mir alles erzählen, hörst du? Leg ja nicht noch mal auf. Versprich es mir.«
»Ich verspreche es«, schluchzte ich und dann fing ich an zu erzählen.

Ich war froh, dass ich in einer Limousine mit abgetrennter Fahrgastzelle saß, so dass mich der Chauffeur nicht hören konnte. Ich berichtete Edward von Jacobs Hilfe, was ihn kurz knurren ließ, doch er versprach mir, nicht böse auf ihn zu sein. Jacob würde auch so mehr leiden müssen, als Edward sich im Moment vorstellen konnte, doch das konnte ich noch nicht erzählen. Dann beschrieb ich meinen Flug, wie ich nach Volterra gelangt war und wie ich hier empfangen wurde. Ich erzählte von meiner Unterredung und davon, dass ich ein Friedensabkommen ausgehandelt hätte. Er wollte natürlich Details wissen, doch die wollte ich ihm noch nicht nennen. Es sollten alle gemeinsam erfahren.

Am Flughafen holte ich dann meine Rückflugtickets ab, die bereits bezahlt waren. Dann wartete ich bis zum Abflug, der für 6 Uhr 30 angesetzt war. Die ganze Zeit telefonierte ich mit Edward, bis mein Akku leer war. Ich checkte so früh wie möglich ein, um noch vor Sonnenaufgang an meinem Platz unter einer Decke Schutz zu finden.


Bei einem Zwischenstopp in Amsterdam musste ich umsteigen. Das war eine heikle Phase, doch zum Glück wunderte sich wegen der Kälte niemand über meine Totalvermummung. Auf dem Rückweg machte ich mir natürlich Gedanken darüber, wie ich es Jacob schonend beibringen könnte, doch ich wusste nicht ansatzweise, wie das gehen sollte. Jedenfalls wollte ich es nicht lange hinauszögern.

Durch die Zeitverschiebung kam ich gegen Mittag in Seattle an und wurde von der gesamten Familie in Empfang genommen. Auch Benjamin und Tia waren dabei. Viele Passanten blieben stehen und starrten uns an. Vermutlich konnten sie einfach nicht glauben, wie viel Schönheit und Freude hier versammelt war. Als ich endlich meine Renesmee wieder an mich drücken konnte und Edward seinen Arm um mich legte, da war meine Welt wieder in Ordnung. Nur ein Gesicht vermisste ich.

»Wo ist Jacob? Wollte er nicht mitkommen?«
»Er hat es vorgezogen, bei sich zu Hause zu warten«, antwortete Edward und ich sah ihn kritisch an. »Ehrlich Bella, ich habe ihm gesagt, dass du dich darüber freuen würdest, wenn er mit zum Flughafen käme, doch er wollte nicht. Er meinte, dass das ein Moment für die Familie sei. Er würde dich später begrüßen.«

Ich war gleichzeitig erleichtert und traurig. Wie gerne hätte ich ihn gleich begrüßt und ihm noch mal für seine Hilfe gedankt, doch wie ungern hätte ich ihm jetzt sofort von den Bedingungen des Friedens erzählt.

Viele Umarmungen und Küsse später waren wir auf dem Heimweg. Unterwegs lenkte ich mich von meiner unangenehmen Aufgabe, Jacob informieren zu müssen, dadurch ab, dass ich mich ganz auf meine Renesmee konzentrierte, mich mit ihr unterhielt und natürlich auch reichlich herumalberte. Jedes einzelne Lachen erwärmte mein Herz und verschloss das Loch in meiner Brust endgültig. Edward schien es dabei ähnlich zu gehen.

Zuhause angekommen, warteten alle gespannt auf meinen Bericht oder besser gesagt auf das, was ich noch nicht erzählt hatte. Natürlich hatten sie alle mein Telefonat mit Edward mit angehört und alle Informationen aufgesaugt. Aber sie wussten ja auch, dass ich noch nicht alles erzählt hatte. Das wollte ich zu ihrer Enttäuschung auch immer noch nicht machen. Mir war es wichtig, dass es alle zusammen erfahren würden. Ein gemeinsames Treffen, an dem ich meine Familie und den Ältestenrat der Quileute mit allen Wölfen informieren konnte. Nur Jacob wollte ich vorher alleine sprechen. Auch wenn sie nicht wussten warum, gewährten sie mir diese Bitte und ließen mich allein zu Jake gehen.

Kaum war ich bei ihm angekommen, da stürmte er auch schon freudig heraus und umarmte mich innig. Seine Freude bekam aber einen herben Dämpfer, als er deutlich aus meinem Gesicht ablesen konnte, dass mich etwas bedrückte. Ich bat ihn um einen Spaziergang am Strand und er war natürlich einverstanden.

»Jacob, ich weiß nicht, wie ich es dir sagen soll.«
»Sag es einfach, Bella.«
»Ich habe wirklich alles versucht, das musst du mir glauben. Ich habe mein Leben angeboten, doch sie wollten etwas Anderes.«
»Bella. Bist du verrückt. Was könnte wertvoller sein, als dein Leben?«
»Dein Glück, Jacob.«

Er sah mich mit großen Augen an. Zweifelte er an meinem Verstand? Ich meinte das wirklich so, wie ich es gesagt hatte.

»Sie haben mir keine Wahl gelassen, … es tut mir leid.«
»Jetzt sag es endlich.«
»Jake. Sie haben mir Frieden angeboten. Sie werden Renesmee in Ruhe lassen, sie werden meine Familie in Ruhe lassen und sie werden die Quileute in Ruhe lassen.«
»Das ist großartig!«, jubelte er, doch dann bemerkte er wieder mein bedrücktes Gesicht und ergänzte noch: »Aber es gibt wohl einen Haken, was?«
»Ja den gibt es«, schluchzte ich.
Es war einfach zu schrecklich, ihm das sagen zu müssen.

Er nahm mich in den Arm und wir standen ein paar Minuten fast regungslos da. Das Rauschen des Meeres hatte ein beruhigende Wirkung auf mich. Das und natürlich sein regelmäßiger Herzschlag.

»Jacob, zwei Bedingungen sind denke ich leicht zu erfüllen. Das Einfachste für uns ist, dass wir uns wie bisher friedlich verhalten sollen. Für die Wölfe der Quileute bedeutete der Friede, dass sie die Olympic-Halbinsel nicht verlassen dürfen.«
»Also das ist wohl ein Opfer, das wir für die Sicherheit unserer Familien bringen können. Aber jetzt erzähl mir endlich, was die schwierigen Bedingungen sind.«
»Es ist nur noch eine«, schluchzte ich wieder. »Es tut mir so leid. Ich konnte sie einfach nicht davon abbringen.«
»Jetzt sag es schon«, brummte er ungeduldig.

Ich versuchte mich noch mal zu beruhigen, was mir halbwegs gelang.

»Jacob. Sie sehen in deiner Verbindung zu Renesmee eine so große Bedrohung, dass sie lieber einen Krieg mit uns führen, als das zuzulassen.«
»Ich … verstehe … nicht«, stotterte er.
»Du musst dich von Renesmee fernhalten, Jake.«
»Aber warum denn?«, sagte er leicht panisch.
»Sie fürchten, dass du und Renesmee irgendwann ein Kind zeugen könnten. Das wollen sie um jeden Preis verhindern. Sie sind nicht bereit, auch nur das geringste Risiko einzugehen.«
»Ein Kind?«, fragte er ungläubig.
»Ich weiß, das ist jetzt absurd, aber sie wird erwachsen werden und du wirst sie dann als Frau wahrnehmen, das weißt du.«
»Aber das ist doch noch lange hin. Dann habe ich doch noch Zeit, oder?«
Ich schüttelte den Kopf.
»Nein Jacob. Sie fordern, dass ihr euch sofort trennt. Sie wollen jegliche Gefahr von vornherein ausschließen. … Es tut mir so leid. Ich weiß nicht was ich noch sagen soll. Das ist der Preis, den sie fordern, damit meine Familie und dein Volk in Frieden leben können.«

Er schwieg einige Minuten. Sein Gesicht wechselte von Trauer zu Wut zu Verzweiflung zu Resignation. Schließlich brach er das Schweigen.

»Dann habe ich wohl keine Wahl. Ich kann dieses Friedensangebot nicht gefährden. Renesmees Sicherheit und die von euch und meinen Leuten ist wichtiger.«
»Es tut mir so leid, Jake. Es sieht so aus, als würde ich dir nur Unglück bringen.«
»Ach Bella. Du kannst echt nichts dafür. Ich bin wohl der Punchingball des Schicksals.«

Er lachte schwach. Natürlich versuchte er seine Trauer zu überspielen, doch mir konnte er nichts vormachen. Ich kannte ihn zu gut.

Wir gingen zusammen noch eine Weile am Strand spazieren.

»Hast du es den anderen schon erzählt?«
»Nein, ich wollte, dass du es zuerst erfährst. Danach würde ich es gerne dem Ältestenrat, allen Wölfen und meiner Familie zusammen erzählen. Ich möchte, dass es alle gleichzeitig erfahren.«
»Gut, dann werde ich ihnen Bescheid geben, dass wir uns zu einem Treffen versammeln.«
»Jacob? Was willst du jetzt machen?«
»Ich weiß es nicht Bella. Ich muss mir darüber erst im Klaren werden. Gib mir etwas Zeit.«

Ich nickte und dann verabschiedete er sich. Wir verabredeten uns für ein Treffen am Abend und ich ging wieder nach Hause.


Kaum, dass ich durch die Haustür gekommen war, schloss mich Edward auch schon in die Arme.
»Jetzt lasse ich dich nie wieder weggehen«, sagte er mit seiner sanften Engelsstimme.

Ich drückte mich fest an ihn und dann küssten wir uns liebevoll und zärtlich. Alle wirkten so froh und glücklich, dabei wussten sie noch nicht einmal, dass ich tatsächlich einen Frieden für uns ausgehandelt hatte. Allerdings kannten sie den Preis dafür auch noch nicht. Den Preis, den vor allem Jacob bezahlen musste. Ich hoffte so sehr, dass er es ertragen konnte, dass er trotzdem die Chance auf ein schönes Leben haben würde. Und natürlich hoffte ich auch, dass meine kleine Sonne darunter nicht zu sehr leiden würden.

Am Abend dann gingen wir alle zusammen zur Versammlung. Ein großes Lagerfeuer war entfacht worden und die Ältesten saßen nahe den Flammen, um sich warm zu halten. Den Wölfen und uns machte die Kälte natürlich nichts aus. Es war eine gesellige Runde, in der viel geredet und gelacht wurde, obwohl die Anspannung spürbar war. Anspannung, wegen der Neuigkeiten, die sie gleich hören würden, aber auch wegen der Nähe zwischen Wölfen und Vampiren. Jetzt wollten jedoch alle vor allem wissen, warum ich um dieses Treffen gebeten hatte. Schließlich rief Billy Black die Anwesenden zur Ruhe.

»Bella«, sagte er mit ruhiger doch eindringlicher Stimme. »Jacob sagte mir, du hast wichtige Neuigkeiten für uns. Gute Neuigkeiten. Nun, wir sind alle hier versammelt um dich anzuhören. Erzähle uns bitte, was du zu berichten hast.«

Ich stand auf und trat vor den Rat.

»Gerne Billy. Danke, dass ich vor euch sprechen darf. Wie ihr wisst, leben wir alle hier seit gut einem Jahr unter der ständigen Bedrohung der Volturi, des mächtigsten Vampirzirkels der Welt und es ist meine Schuld, dass es so ist.«
»Bella…«, sprach mich Edward mit seine beschwichtigenden Stimme an, doch ich hob die Hand und signalisierte ihm, dass ich darüber jetzt wirklich nicht diskutieren wollte.
»Es liegt an mir«, bestätigte ich noch mal, »und ich bedaure es zutiefst. Seit ich hierher gekommen bin, habe ich viel Leid über euer Volk gebracht. Meinetwegen, wäre beinahe euer Vertrag mit den Cullens beendet worden. Meinetwegen, hatte Victoria eine Neugeborenenarmee in eure Heimat geführt. Meinetwegen kamen die Volturi mit ihrer Armee hierher. Meinetwegen kamen in den letzten Jahren so viele Vampire in euer Gebiet, dass jeder eures Volkes, der das Gen besitzt, nun auch das Fieber erlitten hat. Es tut mir sehr leid und wenn ich es könnte, würde ich das alles ungeschehen machen, doch das liegt nicht in meiner Macht. Es gab für mich nur eines, das ich versuchen konnte, um die Bedrohung eurer Leben zu beenden und das habe ich gestern getan.«

Alle Blicke waren nun gebannt auf mich gerichtet. Die meisten meiner Familie, aber auch viele der Wölfe, schauten mich mit Unverständnis an. Sie konnten wohl einfach nicht verstehen, warum ich die Schuld für das alles auf mich nahm. Ich kannte diese Blicke und seufzte leicht. Dann fuhr ich fort.

»Ich weiß, dass die Volturi in euch eine Bedrohung sehen. Sie hielten euch für Werwölfe und hassten euch deshalb. Vor allem aber ward ihr gefährlich für sie, weil ihr durch meine Gabe etwas Schutz erhaltet, doch niemals würde das ausreichen, um alle im Ernstfall retten zu können. Vermutlich noch nicht einmal, um den Sieg erringen zu können. Deshalb ging ich zu den Volturi, und bot ihnen mein Leben an, im Tausch für die Freiheit eures Volkes und meiner Familie.«

Ein Raunen ging durch die Runde. Es wurde überall getuschelt, geflüstert und es wurden ungläubige Blicke gewechselt. Nach einer Minute rief Billy wieder alle zur Ordnung und das Gemurmel verstummte.

»Wie ihr seht, lebe ich noch. Sie waren gnädig zu mir und haben mir meine Bitte dennoch erfüllt, wenn auch unter Bedingungen. Ich bitte euch, hört mir aufmerksam zu. Die Volturi werden uns keine zweite Chance geben, wenn die Bedingungen missachtet werden. Die Volturi akzeptieren, dass euer Volk hier seine Heimat hat und dass eure Wölfe diese Heimat verteidigen. Sie gestehen euch zu, dass die gesamte Olympic-Halbinsel euch gehört und dass kein Vampir mehr euer Gebiet ohne eure Erlaubnis betreten darf. Dies werden sie so in der Vampirwelt verbreiten.«

Wieder brach Unruhe aus, diesmal allerdings mit viel Freude und Begeisterung. Erneut rief Billy sie zur Ruhe und sprach mich an.

»Du sagtest etwas von Bedingungen, Bella.«
»Ja, sie stellen Bedingungen. Sie fordern von den Wölfen, dass keiner das Gebiet, das sie euch zugestehen, in Wolfsgestalt verlässt oder sich außerhalb eures Gebietes in einen Wolf verwandelt. Es spielt dabei keine Rolle, ob es vorsätzlich oder versehentlich geschieht. Ich denke, es geht ihnen nur darum, dass sie sicher gehen wollen, dass keiner von euch sie jemals angreifen wird. Nur so können sie in euch keine Bedrohung mehr sehen. Doch wenn ihr Wölfe außerhalb eurer Heimat gesehen werdet oder ihr dort gar einen Vampir angreift, endet der Friede mit euch unwiederbringlich.«

Erneut brach Gemurmel aus und Billy seufzte genervt. Dann wandte er sich an die übrigen Mitglieder des Rates und redete mit ihnen. Es dauerte nur wenige Minuten, bis er wieder das Wort ergriff.

»Nun!«, hob er mit seiner Ehrfurcht gebietenden Stimme an, die sofort alles Gerede verstummen ließ. »Wenn das die Bedingung für die Sicherheit unserer Familien ist, dann werden wir sie akzeptieren und beachten. Wir werden das Wissen an die künftigen Generationen weitergeben. Sam, Jacob. Ihr beide solltet euren Rudeln klare, eindeutige und unbrechbare Befehle erteilen, dass diese Bedingung auch nicht aus Versehen verletzt werden kann.«

Sam und Jacob nickten zur Bestätigung.
»Und die weiteren Bedingungen?«, fragte er mich.
»Für meine Familie gilt, dass wir von unserem friedlichen Pfad nicht abweichen dürfen. Sie wollen damit sicherstellen, dass wir keine Widerstandsbewegung gegen sie anführen, was für mich ohnehin außer Frage steht.«

Meine Familie wirkte sehr glücklich über diese Bedingung. Nur Emmett verzog etwas das Gesicht, doch es schien mir eher als Scherz gemeint zu sein.

»Ist das alles, was sie von uns fordern?«, fragte Jasper ungläubig.
»Ja Jasper. Solange wir das friedliche Leben führen, um das ich gebeten haben, werden sie es uns gewähren, doch sie werden den Frieden sofort beenden, wenn wir anders handeln.«
»Gibt es noch weitere Bedingungen?«, wollte Carlisle wissen.
»Ja. Eine noch«, gab ich zur Antwort.
»Lass mich das übernehmen, Bella.«
Jacob hatte sich erhoben und trat zu mir.
»Bitte, setze dich zu Nessie.«

Natürlich. Er wollte, dass ich meine Tochter trösten würde, wenn sie unter dem, was jetzt kam, leiden würde. Ich hatte einen Kloß im Hals und konnte nur nicken. Dann setzte ich mich wieder auf meinen Platz und nahm Renesmee auf meinen Schoß, um sie fest in meine Arme zu schließen.

»Die letzte Bedingung betrifft mich«, setzte er an, »oder besser gesagt, meine Prägung auf Nessie. Bella hat es mir vorab gesagt, damit ich mich darauf vorbereiten konnte. Die Volturi fürchten das, was aus einer Beziehung zwischen mir und ihr entstehen könnte. Sie fürchten ein Kind, das die Fähigkeiten der Wölfe und der Vampire vereinen könnte. Deshalb fordern sie, dass ich mich ab sofort und für immer von ihr fern halte.«
Beim letzten Satz brach seine Stimme ab.
»Nein!«, rief Renesmee verzweifelt auf meinem Schoß. »Du bist doch mein Freund. Ich will nicht, dass du weg bist.«
Sie wollte von mir herunterhüpfen und zu ihm rennen, doch ich hielt sie fest.
»Lass mich los, Momma. Ich will zu meinem Jacob.«

Tränen liefen über ihr Gesicht, als sie versuchte, sich aus meiner Umarmung zu befreien. Sie drückte kräftig mit beiden Händen gegen meine Arme, die sie fest umschlossen hielten, doch ich konnte sie nicht los lassen. Auch Jacob hatte Tränen im Gesicht.

»Bitte Bella«, sagte Jacob mit zittriger Stimme. »Eine Umarmung zum Abschied werden sie mir doch gestatten, oder?«

Durfte ich das zulassen? Nein, so grausam konnten die Volturi nicht sein, dass sie einen Abschiedsgruß missbilligen würden. Ich nickte und ließ Renesmee los. Sofort rannte sie zu ihm und sprang ihm laut heulend um den Hals. Fast allen in der Runde standen nun Tränen in den Augen oder sie schauten beschämt zu Boden oder in das Feuer, das leise knisterte.

»Jacob. Du darf nicht von mir weg gehen«, sagte mein kleiner Engel mit so trauriger Stimme, dass auch ich ein Schluchzen nicht mehr unterdrücken konnte.
»Ach Nessie, mein Liebling. Wenn das der Preis dafür ist, dass du, deine Mom und dein Dad, deinen ganze Familie und mein ganzen Volk in Frieden leben können, dann haben wir keine Wahl.«
»Aber das ist so unfair«, schluchzte sie.
»Ich weiß, Süße. Es gefällt mir genauso wenig wie dir, aber es muss eben sein. Ich werde dich so vermissen.«

Er drückte sie fest an sich und ließ seinen Tränen freien Lauf. Renesmee weinte und schluchzte ohne Unterlass. Es war wohl das Traurigste, das ich jemals gesehen hatte.

»Sei tapfer, kleiner Halbvampir. Ich werde immer an dich denken, wenn ich einen Wapiti jagen werde.«
»Ich … werde … nie wieder … einen Wapiti … jagen. Nicht ohne dich«, schluchzte sie und die Worte kamen nur stotternd über ihre Lippen.
»Sag das nicht. Das will ich nicht. Du magst sie doch so sehr. Denk lieber an die schönen Dinge, wenn du eines erlegst. Versprich es mir. Ich werde es auch so machen.«

Sie brauchte einen Moment, um ihre Stimme wieder zu beruhigen.
»Also gut, aber ich werde nie wieder einen Wolf jagen.«
Jacob zog sie von seiner Schulter nach vorne, schaute ihr in das verweinte Gesicht und lächelte sie leicht an.
»Du hast einen Wolf gejagt?«
Sie nickte und weitere Tränen kullerten über ihre Wangen.
»Ja, aber ich mache es nie wieder.«
Dann umarmten sie sich erneut und es dauerte ein Weile, bis sie sich etwas beruhigten.

Kurze Zeit später stand Carlisle auf und ging zu ihnen. Er legte die Hand auf Jacobs Schulter und sprach ihn an.
»Du bist wie Renesmee ein Teil meiner Familie. Ich betrachte dich als einen meiner Söhne. Es schmerzt mich sehr, euch beide so leiden zu sehen, doch vielleicht gibt es auch Hoffnung. Wenn die Volturi Angst davor haben, dass Renesmee ein Kind von dir empfangen könnte, dann muss eure Trennung nicht für immer sein. Die Möglichkeit, dass sie Kinder bekommen kann, wenn sie ausgewachsen ist und sich ihr Körper nicht mehr verändert, ist verschwindend gering. Wenn es soweit ist, werde ich sie genauestens untersuchen und wenn sich bestätigt, was ich glaube, dann gibt es keinen Grund mehr, warum ihr getrennt sein solltet. Dann werde ich selbst zu den Volturi gehen und Aro davon überzeugen. Bitte, mein Sohn. Verliere nicht die Hoffnung. In spätestens sechs Jahren wissen wir Bescheid. Was sind schon sechs Jahre im Vergleich zu einem ganzen Leben?«

Jacob nickte ihm dankbar zu. Dann kniete er sich hin, setzte Renesmee auf den Boden und gab ihr einen Kuss auf die Stirn.

»Geh jetzt zu deiner Mom, Kleines. … Und vergiss mich nicht.«
»Niemals!«, schluchzte sie und klammerte sich noch mal an ihn.
»Bitte Liebling, geh jetzt zu deiner Mom«, sagte er noch mal mit zittriger Stimme, löste sich aus ihrer Umarmung und stand auf.

Renesmee rannte zu mir und sprang mir um den Hals, noch immer unaufhörlich schluchzend und wieder einmal beneidete ich sie um die Tränen, die ich jetzt auch so gerne vergießen würde.

Jacob rief sein Rudel zusammen. Ich konnte hören, wie er ihnen sagte, dass sie vielleicht besser in Sams Rudel wechseln sollten, da er keine andere Wahl hätte, als seine Trauer mit ihnen zu teilen, wenn er ein Wolf war, doch Leah lehnte das kategorisch ab. Sie streichelte ihm sanft über die Schulter, umarmte ihn tröstend und versprach ihm, immer für ihn da zu sein. Ich war froh, dass Jacob so eine Freundin hatte, mit der er seinen Gedanken teilen konnte. Auch die anderen seines Rudels folgten ihrem Beispiel.

»Bella?«, sprach mich Carlisle an, der zu mir gekommen war. »Ich weiß, dass die Trauer im Augenblick alles andere überlagert, doch ich muss dir einfach sagen, wie stolz ich auf dich bin. Du hast mehr erreicht, als ich zu hoffen wagte. Du musst Aro mächtig beeindruckt haben.«
»Vermutlich, Carlisle. Doch ich konnte diese letzte Bedingung nicht verhindern.«
»Gräme dich nicht deswegen, liebe Tochter. Es gibt Hoffnung.«

Ja, die gab es wohl. Es würde sechs Jahre dauern, bis wir mehr wussten, doch die Hoffnung würde weiterleben. Ich seufzte leicht und streichelte weiter über Renesmees Haar und Rücken. Sie lag noch immer schluchzend in meinen Arm, doch sie beruhigte sich langsam.

»Ach Carlisle? Aro hat mich gebeten dir seine besten Grüße auszurichten. Er hofft, dass du nun vielleicht wieder den alten Freund in ihm sehen kannst und dass du ihn besuchen kommst.«
»Ja, das werde ich. Allein schon deshalb, weil es gut wäre, wenn er durch mich sehen könnte, was hier und heute passiert ist. … Du hast es tatsächlich geschafft, Bella. Du hast unser aller Schicksal zum Guten gewendet. Ich kann dir gar nicht sagen, wie dankbar ich dir bin.«

Ja, es sah so aus, als würde alles gut werden. Renesmee würde mit der Zeit darüber hinweg kommen. Zumindest hoffte ich das. Sie hatte nun einen Freund verloren, der ihr sehr wichtig war, doch ein Leben gewonnen, von dem sie noch nichts wusste. Jacob hatte viel mehr verloren. Er hatte nun keine andere Wahl, als sich an die Hoffnung zu klammern, dass er in sechs Jahren wieder bei ihr sein durfte. Das war die tragische Seite unserer neuen Chance, doch auf der glücklichen Seite stand das Volk der Quileute und meine Familie, die nun wieder in Sicherheit waren und das Leben führen konnten, das ich mir so sehr für sie wünschte.

Ich seufzte und tröstete weiter meine Tochter. Nach einer Weile schlief sie an meiner Schulter ein. Die Trauer verflog allmählich aus der Runde und es wurde angesichts des Friedens, der uns nun bevor stand, ein zunehmend fröhlicher Abend. Das erste gemeinsame Fest der Cullens und der Quileute.

Dann verabschiedete ich mich mit Edward von den anderen, um Renesmee zu Bett zu bringen. Ich blieb noch einen Moment bei ihr, bis ich mich dann endlich von ihr lösen konnte und mich in Edwards Arme auf das Bett legte und meine Gedanken sortierte.

Edward bat mich, meine Erinnerungen an das Erlebnis bei den Volturi mit ihm zu teilen. Ich zögerte erst, doch dann tat ich es. Es war ein Abschluss. Mir wurde bewusst, dass es trotz der Trauer ein guter Start in eine neue Zukunft war und morgen würde der erste Tag unseres neuen Lebens beginnen.

Nachwort

Hallo liebe Leserin / lieber Leser. Wenn du hier angekommen bist, dann hast du wohl tatsächlich mein erstes Buch bis zum Ende durchgelesen. Das freut mich sehr und ich hoffe, du hast beim Lesen mit den Cullens gehofft, gebangt, gelacht und gelitten, wie ich, als ich es geschrieben habe. Abschließend würde ich mich freuen, von dir einen Kommentar zu erhalten, wie dir das Buch insgesamt gefallen hat.

Danke schon mal im voraus für deine Rückmeldung.

Eine Fortsetzung habe ich bereits geschrieben. Sie trägt den Titel “Bis(s) zum neuen Leben” und wurde aus der Sicht der dann körperlich 15-jährigen Renesmee geschrieben. In mindestens dem Alter sollten du auch sein, wenn du es lesen möchtest. Wenn du also neugierig bist, wie die Cullens ihr Leben neu organisiert haben und wie Nessie mit der Trennung klarkommt, dann würde ich mich freuen, wenn du dich auch für dieses Buch interessierst.

Liebe Grüße
Chris

Impressum

Texte: siehe "Vorwort"
Bildmaterialien: Das Cover hat die BookRix-Userin "lostinlove" für mich erstellt.
Tag der Veröffentlichung: 01.09.2010

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Ich widme dieses Buch Anja, der Liebe meines Lebens. Sie ist meine Bella und ich hoffe, den Rest der Ewigkeit mit ihr verbringen zu dürfen.

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