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Mitternachtstänzer

Einst, als die Tage noch hell und die Nächte noch lichtlos, undurchdringlich und pechschwarz waren, als kein Gestirn außer der großen Sonne am Himmel prangte und unsere Welt noch eine andere war, stieg der Herr des Totenreichs noch jede Nacht herab um seine Geliebte zu sehen. Dann, wenn sich die finstere Decke der schwarzen Nacht über das Land senkte und alle Menschen furchtsam in ihre Häuser flüchteten, begab diese sich hinaus um auf den Kuppen der wogenden Hügel zu tanzen. Sie hatte keine Angst vor der Nacht, gleich was man über sie munkelte, die Frau wusste es besser. Sie musste sich nicht fürchten, denn auf ihr ruhte ein schützendes, Schwarzes Augenpaar. Nacht für Nacht stieg sie auf die Kuppen der saftig grünen Hügel um dort für ihren Geliebten zu tanzen. Ihr weißes Kleid schien im Dunkel der pechschwarzen Finsternis zu strahlen wie ein helles Licht, ihr langes, Perlmutt-farbenes, langes Haar wirbelte bei jeder Drehung die sie tat um ihren geschmeidigen, schlanken Körper. Blutrote Lippen hoben sich von ihrer Porzellanhaut ab wenn sie bei ihrem Schautanz lächelte und Augen wie Saphire blinkten unter langen, schwarzen Wimpern hervor. Wahrlich, sie war schön und der Totenherr liebte sie über alles. Er liebte seine Frau so sehr, dass er sie ewig auf dieser Welt währen ließ und niemals holen wollte, denn er wollte sie auf ewig in den Hügeln tanzen sehen. Die anderen Menschen hielten sich von ihr fern, niemand wusste, wie alt sie war, denn der Tod weigerte sich, sie zu holen. So tanzte sie Nacht für Nacht ihren immerwährenden Tanz, den, den der Totenherr so liebte. Er schenkte ihr Leben und seine unsterbliche Liebe, so tat es auch sie. Doch nicht der Totenherr allein hatte sein Auge auf die Frau geworfen, nein. Sein Gevatter Schicksal hatte sich ebenfalls in die Frau verliebt. So kam es, dass der Schicksalsherr beschloss, sich des Todes Weib zu Eigen zu machen. Schicksal war hinterhältig und gedachte, des Todes Frau zu verführen. Auf diesen Wunsch hin bediente er sich einer List. Als eines Nachts der Todesherr nicht in den Hügeln erschien, so erschien er an seiner Statt. Er gab sich für den Tod aus, doch die Frau durchschaute seine magere List. Alsbald tauchte der Schicksalsherr erneut in den Hügeln auf und forderte die Frau zum Tanz auf. Doch des Todes Weib weigerte sich mit der Begründung, sie würde nur für ihren Liebsten tanzen. Darauf begann das Schicksal, die Frau mit Gütern zu überhäufen. Gar unsagbar schöne Dinge machte er ihr zum Geschenk, doch auch dies konnte die Frau nicht von ihrer Liebe zum Herrn des schwarzen Reiches abbringen. Neuerdings verwies sie den Herrn des Schicksals und machte sich auf, um in den Hügeln mit ihrem Geliebten zu tanzen. Das Schicksal jedoch plagte sich vor Scham und der Schmach, den Tod mit seiner Frau tanzen zu sehen. Sein wallender, schwarzer Umhang der sich mit dem Weiß ihres Kleides zu einem Muster drehte, Pirouette um Pirouette. Es brachte ihn schier um den Verstand wie seine Augen aus Anthrazit in ihre Saphiraugen blickten. So sann er auf Rache. Wenn er sie nicht sein Eigen nennen konnte, so sollte es auch der Tod nicht können.

 

Viele Nächte breiteten ihre finsteren Decken über das kalte Land doch eines Nachts, als der Herr des Todes nicht in den Hügeln war, suchte das Schicksal die Frau heim. Sie wirbelte so eben in ihrem weißen, prunkvollen Kleid über das sanft wogende Grün der Hügel als sie das Schicksal erblickte. Allem zum Trotz schickte sie ihn fort, doch das Schicksal gedachte nicht, zu gehen. Des Schicksals Herr streckte seine spitzen Klauen nach ihr aus und zog sie zu sich. Alsdann durchbohrte er ihr Herz, welches für den Tod schlug, mit einer gläsernen Klinge. Blut tränkte ihr weißes Gewand und befleckte ihre Porzellanhaut. Das Schicksal jedoch hatte noch nicht genug, nein. Der Schicksalsherr trennte ihr mit seiner Klinge ihr unsägliches Herz aus der Brust und verschlang es, auf das der Tod es nimmer wieder sehen würde. Die Frau lag zu seinen Füßen, das Blut ihres liebenden Herzens tropfte auf ihr Haupt und des Schicksals hämisches Gelächter war das letzte was sie höre, bevor es seine Zähne in ihr Herz schlug und es mit wenigen Bissen verschlang. Als der Tod ins Land zog und erblickte, was geschehen war, übermannte ihn die Wut und er rammte die gläserne Klinge bis zu deren silbernen Schaft in des Schicksals Brust. Wehklagend und röchelnd verging der Herr des Schicksals zu den Füßen des Totenherrn, doch dieser kannte weder Gnade noch Mitleid. Daraufhin verdammte er das Schicksal aus dem Reich der Nacht und zwang es, auf Erden zu verweilen, wo die Menschen es als Sündenbock materten. Der Herr des Todes beugte sich hinab zu seiner Geliebten und erblickte das Loch in ihrer Brust. Pechschwarze Tränen kullerten aus seinen Anthrazitaugen und markerschütternde Schreie hallten durch das Dunkel der Nacht. Aus Gram und Groll ergriff er des gefallenen Schicksals Klinge und rammte sie tief in seine Brust. Er trennte sich sein schwarzes Herz heraus und setzte es, anstatt des ihren, in die Brust seiner Geliebten. Sie sollte nicht ohne Herz in sein Reich ziehen müssen, sie brauchte ein Herz um zu lieben. Seines hatte ihr schon immer gehört, nun war es nur an seinen Platz gewandert. Der Tod hingegen setzte sich ein Herz aus blankem Silber in die Brust um das gähnende  Loch zu füllen, welches die Liebe dort hineingerissen hatte.

So trug er seine Liebe auf seinen schwarzen Händen um sie mit sich in sein Reich zu nehmen. Alsbald wandelte sich ihr Haar in gesponnenes Silber und ihre Haut wurde so glatt und so durchsichtig wie Kristall. Wahrlich, sie war noch schöner geworden, doch seit sie im Reich des Todes weilte, war der Glanz in ihren Saphiraugen erloschen. Auch das Tanzen hatte sie aufgegeben, sie grämte sich und weinte unzählige silbrige Tränen. Der Totenherr ertrug diesen Anblick nicht länger, er konnte nicht zusehen, wie seine Geliebte sich nach ihrer alten Welt sehnte. So fertigte er einen gigantischen Silberspiegel und postierte ihn mitten am pechschwarzen Horizont der Nacht. Er sollte der Frau ermöglichen, auf ihre alte Welt herabzublicken wann immer es ihr beliebte. Fortan saß sie jede Nacht vor dem Silberspiegel und blickte hasserfüllt auf all jene herab, die Glücklich in ihren Hügeln tanzten. Dieser Spiegel war ein eisiges Licht auf die Welt und erhellte nun selbst die finsterste Nacht, doch nicht immer gab sie ihn vollends zu erblicken. Manchmal, so hielt sie ihn halb hinter dem dunklen Vorhang der Nacht versteckt, sodass er anmutete, eine Sichel zu sein. Dies amüsierte sie, denn die Menschen verehrten ihren Spiegel sodann als neues Gestirn. Von Zeit zu Zeit, wenn er in voller Pracht vom Himmel strahlte, so ließ er sich als Pforte öffnen und sie steig herab um auf ihren geliebten Hügeln zu tanzen. Ein ums andere Mal erblickte sie des Schicksals Kummer und erfuhr, dass es die Seelen marterte, die der Todesherr als Strafe nicht in sein Reich ließ. Diese armen Seelen taten ihr so unsagbar leid, dass sie sich besann und bei jedem vollen Mond hinabstieg und die Seelen die der Tod zurückließ mit sich nahm. So nannten sie den Spiegel der Todesbraut, Mond. Sie nannten sie fortan Mondgöttin und ihre Tränen, welche sie auf die Decke der finsteren Nacht geweint hatte, die, die nun wie millionen Kristalle schimmerten, nannten sie Sterne. Je glücklicher sie war, desto heller strahlte sie, wenn sie durch ihren Spiegel blickte und wenn sie einst weinte, so vielen neue Tropfen auf das schwarze Tuch der Nacht. Der Herr des Totenreichs jedoch liebte seine Frau nach wie vor, umso mehr beglückte es ihn, dass seine Liebe nun endlich wieder heiter war. Sein schwarzes Herz hatte wieder begonnen in ihrer Brust zu schlagen und so begann er, seinem Handwerk wieder nachzugehen. Eines schrecklichen Tages jedoch, als die Nacht noch jung war und die Frau noch nicht durch ihren Spiegel blickte wandelte der Herr des schwarzen Reiches auf den Kuppen der Hügel. Die Menschen aber hielten ihn fest und stahlen im sein Silberherz, ohne welches er dazu verdammt war, in der irdischen Welt zu verweilen. Ohne es konnte ihn seine Geliebte nicht erkennen und als sie in jener Nacht durch ihren Spiegel blickte, erkannte sie, was die Menschen ihrem Geliebten angetan hatten. Voller Zorn und bitterer Trauer forderte sie die Menschen auf, ihr ihren Mann wiederzugeben, doch diese wollten nicht hören. Sie richteten ihn als Sterblichen und schlossen ihn tief unter der kalten Erde ein. Die Mondgöttin weinte bitterste Tränen, diese nun aber nicht in Form von Kristallen, nein, diese waren schwarz und kalt wie die stockfinstere Nacht. Erzürnt und von Pein gequält riss sie ihren gigantischen Spiegel vom Himmel und schmetterte ihn auf die Menschen hernieder. Als dieser auf die Erde prallte, zerbarst er in Tausende, glänzende Scherben und riss die Welt und die Menschen in Trümmer. Nun ward an dem Ort nur noch ein unsäglich tiefes, pechschwarzes Loch, wie jenes, das in der Brust ihres Geliebten geklafft hatte, als die Menschen ihm sein Herz stahlen. Sie verfluchte all jene auf Gedeih und Verderb und verbannte alle ihre Seelen in den tiefen Schlund, den ihr Spiegel und das Trümmermeer hinterlassen hatten. Fortan lebte sie allein im Reich des Todes, welches nun leer und von unendlicher Schwärze war, einzig ihre Saphiraugen glommen mahnend und hasserfüllt über dem Grabtuch der Nacht, wenn sie auf die Scherben der Welt hinabblickte und bittere, pechschwarze Tränen des Grams über den Verlust ihres Liebsten weinte. 

Nachtschatten

Vor viel zu langer Zeit, als die Kinder noch Manieren, die Erwachsenen noch Anstand zu haben glaubten und die Menschen sich noch vor Geistern und Dämonen fürchteten, lebte eine Frau, die ein wahrlich tragisches Schicksal ereilen sollte. Sie lebte in einem kleinen, verlorenen Dorf, am Rande eines unbekannten, fernen Landes, wo die Obstbäume blühten, Wiesen grünten und man einander stets freundlich begegnete. Wahrlich, es war ein malerisches Dorf mit gepflasterten Wegen, kleinen Häusern und einem großen, alten Herrenhaus am Rande. In diesem Haus wohnte die junge Frau mit ihrem Mann, den sie vor einiger Zeit geheiratet hatte. Sie war frisch wie der junge Morgen und bildschön, ihr Mann hingegen war so alt wie der Aberglaube selbst und so kalt wie das Eis, das auf den nordischen Meeren schwimmt. Doch er war reich und behandelte sie gut. Er besaß einen kleinen Laden mitten im Dorf, der die köstlichsten, feinsten und teuersten Leckereien herstellte, die man sich nur vorstellen konnte. Wahre Träume, gesponnen aus Zucker, überzogen mit einer Schicht kostbarster Schokolade, garniert mit Karamell, das feiner war als flüssiges Morgenlicht und Früchten aus Ländern die so fern waren, dass man sie nicht einmal in seiner Fantasie hätte erreichen können. Tag ein Tag aus drückten sich die Kinder des Dorfes ihre kleinen Näschen an den blanken Schaufenstern platt und spähten schmachtend ins Innere, wo die Leckereien ruhten und darauf warteten, gekauft und verzehrt zu werden. Der Mann tat nichts lieber, als seiner Frau neue Köstlichkeiten zu kreieren und überhäufte sie mit den himmlischsten Träumen aus süßem Gold. Er hütete die Frau wie seinen Augapfel, so gestatte er ihr lediglich bis in den Hein, der das Haus vom Dorf trennte, zu gehen. Die Frau liebte diesen Ort, sobald der Morgen graute und ihr Mann das Haus verließ, schritt sie mit einem kleinen Korb hinunter in den Garten. Dann fiel das Licht auf ihr goldenes Haar, das schimmerte wie gesponnenes Midsommerlicht und im Wind wallte, der spielerisch daran zog. Er zerrte auch an ihrem prunkvollen Kleid und trug ihre Stimme hinfort, wenn sie ihre Lieder sang. Ihre Augen waren so hell wie der Tag und unendlich wie das Blau des tiefsten Meeres. Wahrlich, sie war bildschön, überdies war sie noch anmutig und nannte das goldene Gemüt eines Engels ihr Eigen. Nichts machte sie trauriger, als an ihrem Fenster zu sitzen und zu sehen wie die Kinder sich nach den Süßigkeiten sehnten, wenn sie vor dem Schaufenster standen und sich ihre Näschen wund drückten. So beschloss sie eines Tages den Kindern ihr Leid zu nehmen und lud sie zu sich in den Garten ein. Von diesem Tage an eilten die Kinder herbei, alsbald sie ihre glockenhelle Stimme vernahmen, die in den Wipfeln der blühenden Kirschbäume ertönte, schöner als der Gesang aller Vögel dieser Welt. Mitten im Hain stand eine kleine Bank, auf einer Lichtung unter einem Kirschbaum, der so groß und alt war, dass er die Geschichten von hunderten von Jahren zu flüstern vermochte. Dann, wenn sie dort saß und sang, wenn das Licht sich in ihrem goldenen Haar fing und Schmetterlinge um ihr engelsgleiches Gesicht tanzten, dann kamen die Kinder und sie zog das kostbare Tuch von ihrem schweren Korb. Die Augen der Kinder wurden groß wie Silberteller als sie erblickten was sich darin befand. Das Tuch verbarg die köstlichsten Süßigkeiten, die sie sich nur vorstellen konnten. Zuckeräpfel, feinste Schokolade, dunkel wie die Nacht oder weiß wie Schnee, Zimtpralinen und Krokant, Schokoladentrüffel, Karamellbonbons und Lutscher, so bunt und süß wie der Regenbogen selbst. Die Frau fand größte Freude daran dem Lachen der Kinder zu lauschen, zumal sie selbst niemals Kinder haben könnte, denn so sehr sie Kinder liebte, so groß war auch die Abneigung ihres Mannes gegen diese. Die Kinder aber liebten die Frau, sie verehrten sie und wichen ihr nicht von der Seite, ja, wie Schatten klebten sie an ihr und überschütteten sie mit Blumen. Jeden Tag leisteten sie ihr Gesellschaft, lauschten ihren Geschichten und Liedern und aßen die Leckereien, die sie ihnen aus ihrem Korb reichte. Selbst die Leute des Dorfes mochten die junge Frau, gleich wenn sie sie nur höchst selten erblickten, auf den Festen, die der Mann gab um seiner Frau eine Freude zu bereiten. Doch wie alles auf dieser Welt, so hatte auch der süße Segen eine Schattenseite. Die Zähne der Kinder wurden schlechter und die Kasse des Zahnarztes klirrte nur so vor Geld. Den Leuten aber mangelte es an ebendiesem und so ließ man Kinder so lange Schmerzen leiden bis ihre Milchzähne ausfielen. Die Frau aber hatte Mitleid und schenkte jedem Kind, das ihr seinen Zahn brachte, ein Silberstück. Denen aber, die ihr ihren letzten Milchzahn brachten schenkte sie gar ein echtes Goldstück. So wuchsen die Nächte aus verstrichenen Tagen und Tage wuchsen aus sterbenden, schattenlosen Nächten. Doch eines Tages, als der Mann das Haus verließ, um auf Reisen zu gehen und die Frau ins Haus sperrte hinterließ er ihr mahnende Worte. Sie solle Zeit seiner Abwesenheit nicht aus den Mauern des Anwesens treten, mit keiner Menschenseele sprechen und auch nicht in den Hain hinab schreiten, ansonsten würde dies bittere Folgen für sie haben. Mit diesen Worten schloss er alle Türen zu, verriegelte die Tore, vergitterte die Fenster und verließ das Dorf. Die Frau weinte bittere Tränen, zu sehr grämte sie sich, zu groß war die Sehnsucht nach der Gesellschaft der Kinder. Mutterseelen allein musste sie in dem leeren Herrenhaus weilen. Der Regen prasselte gegen die blinden Fenster und zog verschwommene Schlieren über die Scheiben. Doch als die Sonne durch das graue Wolkendach brach und die Tränen des Himmels trocknete, bis nur noch Tröpfchen an den Scheiben schimmerten wie Diamanten und das goldene Licht sich in den funkelnden Augen der Frau brach, beschloss diese sich dem Geheiß ihres Mannes zu wiedersetzten. Sie eilte hinab in den finsteren Keller um ihren Korb mit Süßigkeiten für die Kinder zu füllen, legte das samtene Tuch darüber und begab sich zur Stirnwand des Kerkergewölbes. Dort, versteckt hinter zahllosen Truhen lag ein Fenster verborgen. Es war klein und nur durch ein Holzbrett verdeckt, doch die Frau kam mühelos hindurch. Sodann tänzelte sie in den Hain, sang und erzählte den Kindern Geschichten. Die Zeit verstrich, sie schwebte in Glück und Freude. Doch eines Abends, als der Tau wie tausende Perlen aus Glas auf den Spitzen der Gräser ruhte, die untergehende Sonne die Wolken rosa färbte wie Zuckerwatte und der Horizont rot war, wie das Blut eines Drachen, lauschten die Kinder den Erzählungen der Frau, als sich plötzlich ein dunkler Schatten über die anmutige Gestalt der Frau legte. Furcht und Entsetzen verzerrten ihr bildschönes Gesicht, als die Stimme ihres Mannes wie Donner hinter ihr grollte. Zornig funkelte er seine Gemahlin an, packte sie an ihrem dünnen Arm und zog sie mit sich fort, hinauf in das alte Haus, das auf dem Hügel thronte und auf den Hain herabblickte wie eine lauernde Bestie. Sie flehte ihren Mann an, bat und bettelte ihn, doch er wollte nicht hören. Zu erzürnt war er, dass sie sein Gebot missachtet hatte, all ihr Klagen und Bitten war vergebens. Sie war zu schön, ein Jeder hätte sie fortnehmen können, darum war er wiedergekehrt. Die Frau weinte bitterlich, doch der Mann kannte kein Erbarmen. Er zerrte sie hinaus auf den Innenhof, wo er seine Gemahlin mit Petroleum überschüttete. Es tränkte ihr kunstvoll gefertigtes Kleid, bedeckte ihre schimmernde Haut und ihre Haare, haftete an ihrem Gesicht und bedeckte ihren ganzen, zierlichen Körper. Sie zitterte vor Angst wie Espenlaub, weinte noch bitterere Tränen und flehte ihren lieben Mann an, Gnade walten zu lassen. Der Mann aber ergriff eine Fackel und stieß sie in das schreckensblasse Engelsgesicht seiner Frau. Augenblicklich begannen die Flammen an ihrem Antlitz zu nagen, fraßen sich durch ihr Kleid zu ihrem Fleisch, bis hin zu ihrem weißen Gebein. Des Feuers Zungen kannten kein Erbarmen und so wand sie sich in Höllenqualen, brannte lichterloh, wie eine Puppe aus trockenem Gras. Ihre markerschütternden Schreie wurden zu einem gellenden Heulen und der Wind trug ihr Klagen fort, weit bis in die Tiefen des schwarzen Nachthimmels. Dunkle Wolken wallten am Himmel und bald brach eine Flut aus Regen aus ihnen und löschte die Flammen die ihre geliebte Frau zu verschlingen drohten. Doch auch des Himmels bittere Tränen kamen zu spät. Vom einstigen Engelsgesicht der Frau war noch eine gar grausige Maske aus verbranntem Fleisch geblieben, ihre rosige Haut war verkohlt und pechschwarz wie ein Rabenfedersturm. Der knochenweiße Mond blickte herab auf die Gestalt, die sich am nassen Boden wand und verbarg sein Antlitz, als die Frau das Spiegelbild ihres entstellten Gesichtes in einer Pfütze erblickte. Jämmerliches Klagen und Weinen ertönte in dieser Nacht, selbst im Dorf konnte man es hören. Auch der Mann war entsetzt über das, was er seiner Frau angetan hatte, zu sehr ängstigte ihn der Anblick seiner Gemahlin. Ihr verbranntes Fleisch stank schlimmer als verwesende Knochen, ihr Leib zuckte und ihre Meeresaugen funkelten ihn leidvoll und zornig aus ihrem schrecklichen Gesicht entgegen. Dieser Anblick ward so grausam und furchtbar, dass er den Mann um den Verstand brachte. So eilte er hinfort, aus Angst und Abscheu, doch der Regen hatte den Stein mit einen glatten Schicht überzogen und so rutschte er in seiner Hast aus und stürzte über das Geländer des Balkons. Er fiel in die Tiefe und landete auf den Zinnen der Mauer, die das alte Haus umgab. Begleitet vom Schrei eines Raben stürzte er hinab und eine der Zinnen bohrte sich wie ein Speer durch sein kaltes Herz. Dort hing er fortan, als Mahnmal, die Raben kamen und stahlen ihm seine Augen, doch das kümmerte die Frau nichtmehr. Viel zu betrübt war sie um ihr entstelltes Antlitz, nun würden die Kinder sie fürchten. Sie schritt gesenkten Hauptes in den Schutz der Mauern des alten Hauses, wo sie sich eine Maske aus Glas und Flügel aus den Schwanenfedern anfertigen ließ. Von diesem Tage an verbarg sie ihr grausiges Gesicht hinter der Engelsmaske und streifte nicht nur bei Tag, sondern auch Nachts durch den Hain, eingehüllt in einem weißen Umhang, mit den Flügeln auf dem Rücken streifte sie sodann umher. Ihr Wehklagen und ihr Weinen hallten dann bis zu den Ohren der Kinder, die sich furchtsam unter ihren Bettdecken versteckten. Gleich dem Schmerz, der in ihrem Herzen wuchs, wuchs auch Misstrauen und Abscheu in den Herzen der Menschen im Dorf. Doch die Kinder kamen dennoch Tag ein, Tag aus zu ihr, bewunderten ihr makelloses, neues Kristallgesicht, die herrlichen Flügel und wurden nicht müde, um sie herumzutanzen und ihren Geschichten zu lauschen. Die Kinder liebten sie weiterhin, brachten ihr ihre Zähne und schmückten ihren weißen Umhang mit Blumen. Sie fürchteten sich nicht vor ihr, lediglich vor dem Heulen, das des Nachts an ihre Ohren drang, doch sie ahnten nicht, dass es von ihrer lieben Fee kam. Zahnfee oder Fee, so nannten die Kinder die Frau liebevoll, weil sie ihnen Gold und Silber für ihre ausgefallenen Zähne schenkte. Der Süßwarenladen in der Stadt verkam jedoch, denn die Frau wagte sich nicht mehr aus den sicheren Weiten ihres Hains und so begannen die Leute, den Kindern zu verbieten, mit der wunderlichen Frau in Kontakt zu treten. Kein Kind aber scherte sich um dieses Verbot und so schlichen sie eben heimlich zu ihrer weißen Fee. Sie fertigten ihr eine Kette aus Zähnen, welche sie fortan trug, ihr Klirren und Klimpern begleitete sie nun bei jedem Schritt, den sie tat. So brachten die Kinder und ihr Lachen das Glück wieder in das Herz der Frau zurück und sie lebte fortan fröhlich und heiter.

 

Doch eines schicksalhaften Tages verschwand eines der Kinder und ward nicht mehr gesehen. Als die Nacht hereinbrach und ihre finstere Decke über das Land breitete und das Kind allem zum Trotz noch unauffindbar war, wurden die Menschen ungeduldig und Angst gewann die Vorherrschaft über sie. Je höher der Mond stieg, desto höher wuchsen auch die Wut und die Angst der Leute. Ihr Verdacht fiel sogleich auf die Frau, sie bezichtigten sie das Kind versteckt zu haben. So eilten sie mit Fackeln und Mistforken hinauf zum Haus, das bereits verfiel und nur mehr als tote Ruine dort stand, beim Durchqueren des Hains jedoch erklang eine gar schauerliche Hymne aus Trauer und Schmerz. Die Frau sang ihr klagendes Lied über das Leid, das ihr wiedefahren war, doch die Leute vermochten nicht, dies so zu deuten und das Misstrauen nahm überhand über ihren gar allzu begrenzen Verstand. Sie zerrten am Umhang der Frau, doch diese beteuerte ihre Unschuld. Die Leute aber wollten nichts dergleichen hören und rissen ihr die Engelsmaske vom Gesicht, um zu sehen, wer sich dahinter verbarg. Furcht und Schrecken breitete sich auf ihren Gesichtern aus, als sie erblickten, was hinter der Maske verborgen lag. Nun bestand für sie kein Zweifel mehr, dieses Monstrum musste das Kind verschlungen haben. In diesem Glauben drückten sie ihr die Maske wieder auf das grauenhafte Antlitz und schleiften sie fort. Ihr wallender Umhang flatterte im sausenden Wind, ihre weißen Schwanenflügel mussten Federn lassen. Die Frau flehte erneut um Gnade und beteuerte vehement ihre Unschuld, doch die Bewohner des Dorfes wollten nicht hören. Sie zerrten sie zur Lichtung des Hains und schlangen einen Strick über den dicksten Ast des großen Baumes, formten eine Schlinge und legten sie der Frau um den Hals, wobei sie auf die Kette aus Zähnen stießen. Damit war ihr Schicksal besiegelt, sie zogen die Bank hervor und stellten die Frau darauf, wie auf ein Podest. Dann zogen sie die Schlinge stramm und noch bevor die Frau eine einzige Träne vergießen konnte, stießen sie die Bank um und hängten die arme Frau. Mit ihrem letzten Atemzug aber legte sie einen grausigen Fluch auf das Dorf, auf das ihr gematerter Geist wiederkehren und ihre Kinder heimsuchen würde. Dann fiel ihre Engelsmaske mit einem Klirren zu Boden und zerbarst in tausende Scherben. Niemand schenkte der Frau Glauben, doch im selben Moment, als das Klirren der Scherben verklungen war, tauchte das verlorene Kind in der Menge auf, rieb sich verschlafen die Augen und fragte, was geschehen war. Alle Augen richteten sich auf das Kind, dessen Gesicht mit einer Schicht aus Karamell und Schokolade bedeckt war. Den Leuten wurde klar, was sie getan hatten, sie hatten die Fee der Kinder zu Unrecht gehängt. Plötzlich ertönten ein Rascheln wie von tausenden Federn und das Klirren vieler Zähne hinter den Rücken der Leute. Furchtsam drehten sie sich um, doch ihre Augen blickten ins Leere. Die Frau war fort, ebenso wie ihre zerbrochene Maske. Nur der Strick wogte im Wind, die Schlinge gähnte leer wie das zahnlose Maul eines unbekannten Monsters. Dann ertönte ein wispern, welches den Leuten eine Mahnung zuflüsterte. Es zischte ihnen zu, dass die Frau nun ihre Kinder heimsuchen würde, aus Rache würde sie kommen. So geschah es auch. Nacht für Nacht suchte der Geist der Frau nun die Kinder heim und nahm ihre Zähne mit sich, die sie unter ihren Strohkissen für sie bereit legten, zum Dank hinterließ sie ein Silberstück. Doch wehe eines der Kinder öffnete die Augen und blickte sie an. Dann, wenn sie den letzten Zahn holte, und die Kinder zu Erwachsenen wurden, so fiel auch der Schutz von ihnen ab, denn sie hielt sich an ihren Schwur, keinem Kind etwas zu Leide zu tun. Die aber, die es wagten, sie anzusehen, wenn sie ihre kalte Hand unter das Kissen schob, um den Zahn zu holen, dann, wenn ihr gläsernes Engelsgesicht dicht neben dem der Kinder war und ihre Flügel raschelten, denen kratzte sie mit ihren langen Klauen die Augen aus und stahl ihnen ihr Gesicht, wie die Leute ihr das Ihre gestohlen hatten als sie sie hängten. Man konnte selbst entscheiden, was man tat, die die friedlich weiter schlummerten, ließ sie in Ruhe, doch die, die sie ansahen, denen stahl sie ihr Gesicht.

So ruht stets wachsam Kinder, wenn ihr des Nachts das Schlagen von Schwanenfederflügeln vernehmt, das Rascheln der kalten Klauen unter eurem Kissen hört und den Hauch des gläsernen Gesichts der weißen Fee an eurem Spürt und wenn ihr auch noch so große Neugierde verspüren mögt, haltet eure Augen fest verschlossen. Gebt also acht Kinder, wenn sie kommt, verschließt die Augen, denn sonst raubt die weiße Fee euch euer Gesicht. 

Dandelion

Es war nicht schwer Bilder zu malen, die schöner waren, als die Realität. Er jedoch vermochte es, Bilder auf Papier zu zaubern, die tausendmal schöner waren, als jeder Traum, den ich jemals geträumt habe. Seine Bilder waren anders als alle, die ich in meinem ganzen Leben sah. Sie schienen wie Spiegel, in die man blickt und einem anderen Wesen oder gar einer anderen Welt ins Auge sah.

Doch was war es, das seine Bilder so besonders machte? Nun, seine Bilder schienen zu leben.

Ja, er war ein wahrer Meister seines Faches, der beste Maler den es je auf dieser Welt gab und geben wird.

Es waren seine Bilder, die Menschen zu Tränen rührten, seine Kunst und deren Wert, die aus ehrbaren Männern Mördern machte und Liebende in Feinde verwandelte.  Viele töteten, um eines seiner Werke in ihren Besitz zu bringen, nur um festzustellen, dass alles, was man über sie erzählte, eine Lüge war. Lebendige Bilder… dies klang auch viel zu schön, um wahr zu sein, oder?

Nun, es war eben keine Lüge, zumindest nicht ganz. Seine Bilder lebten, sie lebten jedoch nur für den, für den sie geschaffen worden waren. Man munkelte, er sei ein Hexer, ein Magier oder aber ein böser Geist. Gar schrecklichste Geschichten sponnen einen schwarzen Mantel um den Mann, der lebendige Bilder malte. Einige wünschten ihn weit fort, in die Hölle, verfluchten ihn und fürchteten seine Werke ebenso sehr wie ihn selbst. Andere aber verehrten, ja vergötterten ihn, nicht für das was er war, sonder für das, was er zu tun vermochte.

Was er war, das wussten die wenigsten.

 

Ich aber weis, was er war und ich liebte ihn dafür. Verliebt hatte ich mich damals nicht in den berühmten Maler, den Mann mit dem magischen Fingern, nicht in den wohlhabenden Herrn mit den edlen Kleidern nein, ich liebte den Mann hinter den Bildern, lange bevor er zu dem wurde was er war.

Ich liebte nicht seine Bilder sondern einzig und allein ihn selbst.

Ich liebte den Mann, der mit seinen Bildern unsterblich wurde.

Sein Name war Dandelion.

 

Da war es wieder, dieses Kribbeln, dieses Gefühl, als ob eine Kolonie brennender Ameisen durch seine Adern wuseln würde. Er fuhr sich mit der Zunge über die wohlgeformten Lippen, während er die weiße Fläche vor sich musterte. Seine langen, dünnen Finger trommelten auf seine verschränkten Arme und seine Augen starrten auf das Weiß vor ihm, als wollten sie es in Brand stecken. Er hatte vermutlich die dunkelsten Augen dieser Welt, Augen wie aus Ebenholz geschnitzt. Nachdenklich strick er sich das leicht gelockte, rabenschwarze Haar aus der schokoladenbraunen Stirn. Endlich, in seinem Kopf ertönte ein Geräusch, das sich anhörte als würde eine nagelneue Silbermünze auf den Pflasterboden der Stadt fallen. Eilig griff er nach dem Pinsel, tunkte ihn in die Farbe und begann, das zu tun, was er am besten konnte –Er begann zu malen. Klirrende Kälte kroch nun durch seine Adern, dort wo zuvor brennende Ameisen waren, schien nun ein Strom aus eiskaltem Silber zu fließen. Nach und nach wuchs auf dem Weiß eine saftig grüne Landschaft. Hügel erhoben sich aus dem flachen Grün, aus dunklen und hellen Blautönen und einer Prise Indigo entstand ein Himmel, von zwei Monde herab schienen. Der eine war sichelförmig und ähnlich beschaffen wie funkelndes Glas, wie die Knochen einer Fee. Der Andere aber war pechschwarz, wie eine Kugel aus Marmor. Abertausende Sterne sprenkelten den Himmel wie diamantene tränen und das Gras war von einem so saftigem Grün, das selbst das Gras draußen, auf den Hügeln vor seinem Haus vor aussehen ließ, als würde es schon als Stroh aus dem Boden wachsen. Er betrachtete das Bild, doch etwas störte ich, etwas schien zu fehlen. Kurzerhand schwang er den Pinsel und zauberte eine kleine, gelbe Blume  auf einen der Hügel. Wunderbar… Zufrieden mit sich selbst legte er den Pinsel beiseite und betrachtete sein Werk. Er setzte sich auf den Boden um zu warten, bis die Farbe trocken war, dann deckte er es mit einem Tuch zu und trug es in die Stadt.

So wollte er sein Geld verdienen, mit den Bildern, die er malte. Schließlich war es das Einzige, was er wirklich gut konnte, malen.

Als er einen geeigneten Platz am Markt gefunden hatte, fernab von den Fischhändlern und Metzgern, wo es nach Blut und verwesendem –natürlich immer frischem-Fleisch stank , stellte er sein Bild ab und zog das Tuch fort. Da ihm nichts anderes zu tun blieb, setzte er sich hin und schickte seine Ebenholzaugen auf die Reise.  Sie folgten Menschen, bis es ihnen zu langweilig wurden, dann schweiften sie umher und begutachteten die Stände, bis sie etwas Interessanteres fanden, das es sich anzuschauen lohnte. Einige Leute hatten sich um ihn versammelt und musterten sein Bild. Aufgeregt musterte auch er die Leute. Es waren eher einfache Leute, wie man gut an den abgetragenen, ausgewaschenen Kleidern der Frauen mit ihren abgewetzten Schürzen und den löchrigen Strümpfen der Männer erkannte. Von ihnen konnte er sich kaum genug Kupfermünzen für ein halbes Essen erwarten. Kritisch beäugten sie sein Werk. Einige fanden es recht hübsch, sehr gut gemalt, jedoch einfallslos. Andere hielten es schlichtweg für Gekritzel. Dies aber ließ ihn kalt, er fand es sehr gelungen, das allein war es, was zählte. Plötzlich wurde es totenstill in der kleinen Menge. Verwundert suchte er nach Anzeichen für diese Stille, doch er konnte nichts als Erstaunen, Unglauben und sogar Entsetzen auf ihren Gesichtern lesen. Herrje, so schlimm war sein Bild doch nun wirklich nicht. Er wollte sie schon fortscheuchen, als eine Dame in einem Kleid, das trotz des Korsetts aussah als wäre es für ihre doppelte Menge bestimmt gewesen, das Schweigen brach:“Um Himmels Willen! Sie rührt sich! Die Blume tanzt!“, rief sie mit schriller Stimme. Urplötzlich wandelte sich das Schweigen zu einem Gewirr aus tobenden Stimmen. Was wunderten sie sich denn? Die Blume bewegte sich, ja und? Das taten sie doch immer. Jedes seiner Bilder bewegte sich, das war ihm nicht neu. Natürlich war er sich im Klaren darüber, dass Bilder sich nicht bewegten, sie taten es einfach nicht, das hatte schon seine Mutter immer wieder betont. Sie war es auch, die ihm verboten hatte, einen Pinsel in die Hand zu nehmen, er hatte ihr versprechen müssen, sein Teufelswerk, wie sie es nannte, zu lassen, solange sie lebte. Nun, seine Mutter, eine furchtbare Frau, wie er fand, war schon längst tot und begraben, seinen Vater kannte er nicht. Er wollte ihn auch nicht kennen, er war glücklich, mit dem was er hatte. So saß er inmitten der schnatternden Meute und versuchte nachzudenken, als ihn jemand grob mit einem Stock anstieß. „He, du da, junger Mann!“ Erbost folgte er der vergoldeten Spitze des Gehstocks, mit dem er gestoßen wurde bis er in ein faltiges, pergamenthäutiges Gesicht blickte, aus dessen Mitte ihm eine lange, krumme Nase entgegen ragte, die dem Stock, zumindest der Länge nach zu urteilen, Konkurrenz machte. „Hörst du denn schlecht? Der Sir spricht mit dir, Bursche!“, kam es von einem kleinen Mann, der neben dem Stocknasenmann stand. Betont langsam erhob er sich von seinem Sitzplatz und richtete sich zu voller Größe auf. Man konnte über ihn sagen, was man wollte, doch er sah, obwohl er die Kleider eines gewöhnlichen Bürgers trug, aus wie ein Prinz aus einem fernen Land.  Der Stocknasenmann verstummte als er sein diebischstes Lächeln aufsetzte und ihn nach seinem begehr fragte. Der Mann plusterte sich auf und verkündete, dass er ihm einen Gefallen tun wolle und ihm das Farbgewirr mit der Blume für drei halbe Kupfermünzen und einen viertel Silbertaler abnehmen wolle. Stirnrunzeln blickte er den Mann an. Drei halbe Kupfermünzen und einen viertel Silbertaler? Himmel, selbst von den Marktschreiern, Mägden und Bordsteinschwalben hätte er mehr bekommen als von einem Mann, der mit mehr Geld in den Taschen herumlief, als der Rest der Leute um ihn herum in einer Woche verdiente. Das Angebot des feinen Herrn entlockte ihm nicht mehr als ein halbherziges Kichern.

In diesem Moment traf er eine Entscheidung. Er wollte nicht nur für Geld malen, schon gar nicht weil Geld etwas war, von dem reiche Leute mehr hatten, als sie brauchten und der Rest der Gesellschaft brauchte mehr als sie hatten. Nein, der Stocknasenmann würde sein Bild nicht bekommen, nicht für alles Geld, das er hatte. Nun besaß er auch noch die Frechheit, ihn nach dem Preis seines Werkes zu fragen. Was war der Preis für ein lebendiges Bild? „Ich fürchte, es ist unbezahlbar, vor allem für einen Mann wie Euch, guter Sir.“ antwortete er schlicht, wandte sich um und warf das Tuch, auf dem er gesessen hatte, mit einer eleganten Bewegung über das Bild, klemmte sich dieses unter den Arm, lüftete den Hut zum Abschied und ging. Die Menge hinter ihm lachte lauthals während sich der Stocknasenmann über diese Blamage grün und blau ärgerte. Allein die Vorstellung zauberte ihm ein Lächeln aufs Gesicht, das dort blieb, selbst als er die Pforte zu seinem kleinen Häuschen öffnete und eintrat. Die Wände seines Zuhauses schienen fast vollends aus Bildern zu bestehen, so auch die Decken und in manchen Räumen war selbst der Boden ein Gemälde. Andere Räume aber waren ein Gemälde an sich, wie das Wohnzimmer. Statt des kleinen Raumes, der es einmal gewesen war, erstreckten sich nun grüne Hügel und weite Wiesen dort, wo einmal die Wände gewesen waren. Natürlich waren es immer noch Wände, nun schien der Raum aber eine endlose Hügellandschaft zu sein. Das Gras wogte im Wind, änderte seine Farbe mit den Jahreszeiten, wie auch der Himmel und die beiden Monde sich veränderten, wenn es Tag oder Nacht wurde. Er liebte die Nacht und zog die zwei Monde den drei Sonnen vor, was sich in seinen Bildern zeigte. Da der Himmel nun schon blutrot war und die beiden Monde am Horizont auftauchten, beschloss er, sich hinzulegen und auf den nächsten Tag zu warten.

Am nächsten Morgen ging er erneut in die Stadt, um sein Löwenzahnbild zur Schau  zur stellen. So machte er es nun Tag ein, Tag aus und schon bald warteten die Menschen schon auf ihn, um sein Bild zu sehen. Sie begannen auch, mit ihm zu sprechen, einige von ihnen zumindest, andere hielten es offenbar für besser, genügend Abstand zu wahren. Diese Menschen taten ihm irgendwie Leid, denn er malte seine Bilder, um die Freude, die er an ihnen hatte, mit allen zu teilen. Er wollte sie ihn die Welten mitnehmen, die er sah. Dennoch zeigte er vorerst nur das Bild mit dem Löwenzahn und es war ebendieses Bild, welches das Mädchen schon aus der Ferne erblickte, als sie durch die Straßen wanderte. Es war ein Anlass von größter Seltenheit, dass sie sich unbemerkt davon stehlen konnte, um allein ihrer Wege zu gehen. Ihr Vater hielt sie wie einen Vogel im Käfig, behandelte sie wie die Bilder, die er sammelte. Hinter dicken, fensterlosen Wänden, denn sie sind am schönsten, wenn man sie nicht sieht, wie er zu sagen pflegte. Ihr Vater war ein eitler Mann, nie ohne Stock und Diener unterwegs. Er weigerte sich sogar, Augengläser zu tragen, obwohl er diese gar dringendst benötigte. Ja, diesen Morgen hatte er sogar seine Orangenmarmelade auf seine Zeitung geschmiert. Schmunzelnd ging sie auf die Menge zu, die sich vor einem Bild versammelt hatte. Neugierig beäugte auch sie das Wer und musste staunend feststellen, dass die Blume und das Gras bewegte, wenn der Wind durch das Gemälde strich. Tatsächlich, ihr Vater hatte also Recht behalten, es gab ein Gemälde, das lebte! Sie konnte es nicht fassen, voller Staunen trat sie näher an das Bild heran, immer näher, bis eine Stimme sie aus ihrer Trance riss. „Seht Euch vor, dass Ihr nicht hineinfallt, junge Lady“.  Vor lauter Überraschung stolperte sie, verlor das Gleichgewicht und wäre beinahe tatsächlich in das Bild gefallen, wenn zwei starke Arme sie nicht aufgefangen hätten. Verwundert blickte sie in die zwei dunkelsten Augen, die sie je gesehen hatte, die aus dem wohl hübschesten Gesicht leuchteten. Der Eigentümer des Gesichtes grinste sie verschmitzt an. „Ist denn das möglich?“ ,stammelte sie. Der junge Mann aber lachte nur, doch sein Lachen verstummte, als ihr die Kapuze ihres samtenen Umhangs vom Kopf rutschte. Ihr Haar war wie gesponnenes Silber, fast schon so durchscheinend wie der Sichelmond und ihre Haut war von einem samtig zarten Bernsteinton. Doch das wohl schönste an ihrem Gesicht waren ihre Augen, sie sahen aus, wie der Nachthimmel selbst. Fasziniert starrte er sie an und sie starrte zurück, bis sie schließlich fragte, wie er hieße. Er blickte sie fassungslos an. „Ich habe keinen Namen.“, antwortete er. Sie suchte in seinem Gesicht nach einem Anzeichen dafür, dass er log, doch er schien die Wahrheit zu sagen. Ein Mann ohne Namen, der lebendige Bilder malte, sie konnte es nicht fassen. Erneut fiel ihr Blick auf das Bild und sie fragte ihn, ob er es gemalt hätte. Er bejahte und erneut kehrte Schweigen ein. Lange standen sie da, sie betrachtete das Bild es  zeigte einen Löwenzahn, ihre Lieblingsblume., Währenddessen betrachtete er sie.. Die drei Sonnen am Himmel schwanden und bald würden die zwei Monde am Gestirn thronen. Der Markt war schon fast leer, als sie sich endlich vom Bild abwandte, sich  zu ihm umdrehe und ihn ansah. Es war an der Zeit, zu gehen und sie verabschiedete sich. Doch sie würde wiederkommen, ganz bestimmt.

 

So stahl sie sich Tag für Tag davon, um zu dem namenlosen Mann auf den Markt zu gehen und das Löwenzahnbild zu betrachten. Doch sie kam nicht nur wegen dem Bild, sondern wegen ihm. Die Tage vergingen, der Mann wuchs ihr immer mehr ans Herz und eines Tages musste sie verwundert feststellen, dass die der Löwenzahn auf dem Bild nicht mehr gelb war, sondern schon eine Krone aus weißen, sternartigen Gebilden trug. Schon am nächsten Tag jagte ein Windstoß durch das Bild und riss dem Sternkönig seine Krone vom Kopf. Nun war er kahl, ein Stöhnen und Raunen ging durch die Menge, einige Leute warfen noch mehr Münzen auf das Tuch, auf dem der junge Mann sah. Als der Mann sein Bild einpackte, wie er es jeden Abend tat, und die Münzen auflas fragte die junge Frau ihn, ob sie ihn begleiten könne. Er willigte ein und so folgte sie ihm quer über den Marktplatz, durch verwinkelte Gassen, bis sie schließlich am Stadtrand waren und er auf die grünen Hügel zuschritt. Zuvor aber warf er die Münzen in den Hut eines Landstreichers, der vor dem Tor saß und bettelte.

 

Das Haus, das auf einem der Hügel auftauchte war schief, als hätte sich ein Riese dagegen gelehnt, das Dach war mit bunten Ziegeln gedeckt und auch die Wände des Häuschens waren mit bunten Bildern bemalen. Es bot einen Anblick gar wunderlichster Art, doch als sie eintrat, raubte es ihr den Atem. Der Flur war gesäumt von hunderten Bilder verschiedenster Arten, es war, als blickte man in Scherben von Spiegeln, die jeder einer anderen Welt entstammten. Tiere, die sie noch nie zuvor gesehen hatte, tummelten sich in Wäldern aus Pilzen, so groß wie Bäume und so bunt wie Feuerwerke. Sie erblickte Pferde, mit gezwirbelten Hörnern, grinsende Katzen in Anzügen und Fliegende Fische. Sie kam aus dem Staunen nicht mehr heraus und ihr drohten die Augen aus dem Kopf zu fallen, als sie einen Raum betrat, der einzig aus Hügeln, Wiesen und Bäumen zu bestehen schien. In dessen Mitte stand ein buntes Sofa, davor ein kleiner Ofen, dessen Rohr sich in den Himmel bohrte. Am Horizont tauchten bereits die beiden Monde auf und an den Wänden tummelten sich Glühwürmchen. Behutsam versuchte sie, das Gras zu berühren, doch ihre Hand fühlte nur kalten Stein. Schnell zog sie die Hand zurück, sie hatte Angst, das Bild und die Welt hinter ihm zu verwischen und somit zu vernichten. Der junge Mann setzte Tee auf und sie saßen lange auf dem Sofa zwischen den Hügeln. Zeit schien hier nicht zu existieren, die mechanische Uhr auf dem kleinen Tischen erschien ihr wie ein Artefakt aus einer anderen Welt. Erst, als der Morgen graute und der junge Mann sich erhob, um sein Bild auf den Markt zu tragen, fiel auch ihm auf, dass die Blume verdorrt war. Er drehte das Bild um und stellte es in eine Ecke. Als er jedoch die traurige Mine der Frau bemerkte, nahm er ihre Hand und zog sie mit sich in ein leeres, weißes Zimmer. Einzig eine Leinwand und ein Hocker befanden dich dort. Er bot ihr an Platz zu nehmen und begann zu malen. Gebannt starrte sie auf das weiße Bild, auf dem nach und nach  Hügel wuchsen, doch anstatt von Gras, waren sie von tausenden und abertausenden Blumen bedeckt. Der junge Mann lächelte sie an und sie strahlte zurück als sie die Art der Blumen erkannte. Löwenzahn.

Er schenkte ihr das Bild, doch sie bestand darauf, dass er es am Markt zur Schau stellte. Am liebsten wollte sie es mit sich nehmen, doch es würde ohnehin nur hinter den Mauern des Hauses ihres Vaters versauern, niemand würde es jemals sehen und dies könnte sie sich nie verzeihen. Schweren Herzens ließ sie das Bild und den namenlosen Mann zurück, um sich schnell in ihren Gemächern zu verstecken, ehe ihr Vater nach ihr suchen würde.

 

Kaum war sie durch das Fenster geklettert, begann sie, sich umzuziehen als es plötzlich an der Tür klopfte. Wenige Augenblicke später kam ihr Vater herein stolziert, er hatte sogar ein Monokel vor dem Auge klemmen. Stirnrunzelnd musterte sie ihren Vater, er trug sonst nur sein Augenglas, wenn er auf Bildersuche war.  Er hieß sie ohne große Umschweife, sich augenblicklich anzukleiden und scheuchte sogleich drei Zofen zu ihr, die ihr in ihre Kleider helfen sollten. Ihr Silberhaar wurde wie immer unter einer kunstvoll gestickten Haube verborgen, ihr Vater mochte es nicht. Dann wurde sie von seinem Lieblingsdiener an der Hand gepackt und mit zum Markt gezerrt, wie ein räudiger Hund.

Voller Entsetzen wurde ihr klar, was das Ziel ihres Vaters und seiner Gefolgschaft war. Sie wollten zu ihm, den Mann, der lebendige Bilder malte! Ihr war klar, was ihr Vater von ihm wollte, er würde mit Sicherheit das Bild kaufen wollen. Doch er verkaufte seine Bilder nicht. Ehe sie sich versah stand sie schon vor ihm, die Diener ihres Vaters scheuchten das Gesindel, wie er die Menschen, die nicht reich waren, nannte, fort und stellte sich breitbeinig vor den Mann und sein Bild.

Der Mann aber grinste nur verschmitzt, zog den farbbefleckten Hut mit der Feder von Kopf und verbeugte sich betont tief. „Wenn das nicht mein hochverehrter Stocknasenmann ist!“ höhnte er. Nur mit Mühe konnte sie ein Kichern unterdrücken als sie sah, wie die Schamesröte sich mit dem Zorn und der Fassung  einen erbitterten Kampf um die Vorherrschaft auf dem Gesicht ihres Vaters lieferte. Er grinste schelmisch und zwinkerte ihr kaum merklich zu. Schnell verdeckte sie ihr errötendes Gesicht mit dem Fächer. Der junge Mann fragte nach dem Begehr des Stocknasenmannes und dieser verlangte von ihm, dass er ihn malte. Der Mann aber erwiderte, dass er noch nie einen Menschen gemalt hatte. „Nun, wenn du den Wind malen kannst, dann wirst du wohl auch mich malen können!“, fauchte der Mann. Zeitweilen hatten sich die lebendigen Bilder herumgesprochen und man munkelte, dass sie dem jenigen, den die zeigten Unsterblichkeit brachten. Darum also wollte der Stocknasenmann ein Portrait. Was war er doch für ein Narr.

Der Stocknasenmann räusperte sich und fuhr fort. „Was verlangst du für solch ein Bild? Wie viel Geld willst du?“

Der junge Mann schnaubte verächtlich. „Ein lebendiges Bild ist, wie ich schon sagte, nicht mit so etwas banalem wie Geld zu bezahlen. Silbermünzen gibt es wie Sterne am Himmel und jeden Tag werden neue davon geprägt. Ein lebendiges Bild aber ist einzigartig, es ist ein Schatz und nur mit selbigem bezahlbar. Ich will euren größten Schatz, dann male ich euch euer Bild.“ Mit diesen Worten verschränkte er die Arme vor der Brust und blickte den Stocknasenmann herausfordernd an. Dieser schien kurz nachzudenken, seine Stirn legte sich in Falten. Was war sein wertvollster Besitz? Er hatte hunderte Bilder, allesamt ein Vermögen wert, er lebte in einem Haus, das so groß war, dass nicht einmal er selbst alle seine Räume je betreten hatte und er hatte unzählige Truhen voller Gold und Silbermünzen, Juwelen und Rubine. Ja, von alledem hatte er reichlich. Doch er hatte nur eine Tochter! Dies war, sie war sein einzigartigster und somit wertvollster Besitz. Doch was wollte man mit einem Leben, wenn man Unsterblichkeit haben konnte? Selbst wenn es das Leben der eigenen Tochter war, er würde es dem Maler geben.

So willigte er ein und der Maler erklärte sich tatsächlich bereit, ihn zu malen.

 

Es dauerte nicht lange, und der Stocknasenmann starrte seinem Antlitz entgegen, welches mit gleicher Mine zurückstarrte. Der Maler legte seinen Pinsel aus der Hand und begutachtete sein Werk. Er hatte noch nie einen Menschen gemalt, doch das Bild war wie ein Spiegel. Vergnügt und hocherfreut klatschte der Mann in die Hände und verließ das Haus des Malers mit seinem Abbild. Seine Tochter aber ließ er bei dem Maler zurück und fortan lebten sie gemeinsam in dem Bilderhaus. Der Mann malte, Tag aus Tag ein und der Stocknasenmann betrachtete jeden Tag sein Bild, bis er eines Tages schockiert feststellen musste, dass der Maler ihm eine graues Haar gemalt hatte. So eine Frechheit! Dies war absolut inakzeptabel! Er hatte kein einziges graues Haar, und seine Haut hatte auch nicht so viele Falten! Grimmig begab er sich in sein Spiegelzimmer, doch dort bot sich ihm ein gar fürchterlicher Anblick. Er fand etliche graue Haare und seine Haut war faltiger als sein Nachthemd, nachdem er sonntagmorgens aufgestanden war. Schockiert stolperte er zu seinem Bild, riss es von der Wand und musste feststellen, dass es mit jedem Haar, das bei ihm ergraute, immer jünger zu werden schien. Verzweifelt musste der Stocknasenmann feststellen, dass er in rasanter Geschwindigkeit alterte. Dies war Hexerei, ein furchtbarer Betrug!

Doch er hatte zu spät gemerkt, dass das Bild ihm seine Jahre stahl.

Noch bevor seine letzen Flüche und Rufe nach seiner Dienerschaft verklungen waren, hatte er sein Leben ausgehaucht. Als man ihn schließlich fand, war von ihm kaum mehr übrig, als eine verrottete, leblose Hülle und ein Bild. Doch der Mann auf dem Bild war jung und schön, wie es der Stocknasenmann einmal gewesen war.

 

Nie zuvor hatte der Maler etwas schöneres gesehen als die Tochter des Stocknasenmannes, der sie gegen ein Bild eingetauscht hatte. Was war er doch für ein Narr gewesen, kein lebendiges Bild war so schön wie sie. Darum entschloss er sich, sie zu malen.

 

Das Bild, das er schuf war ihr in Schönheit absolut ebenbürtig und übertraf alles, was er jemals gemalt hatte. Auch ihr gefiel das Bild und sie verlangte, dass er seinen Namen darunter setzte. Nun fiel ihr ein, dass er gar keinen Namen hatte und darum gab sie ihm den Namen, den sie ihm insgeheim schon vor langer Zeit gegeben hatte und er setzte ihn lächelnd und voller Stolz unter das Bild seiner Geliebten.

Dandelion.

Niemand hatte sie je besser behandelt, niemand hatte sie jemals mehr geliebt.

Wahrlich, er liebte sie mehr als all seine Bilder und einmal sagte er ihr sogar, dass er sich jeden Finger einzeln abschneiden lassen würde, wenn sie es nur wollte.

 

Er war nicht nur der beste Maler der Welt, nein, zu dieser Zeit war er schlicht und einfach der glücklichste Mann auf der ganzen Welt.

 

Doch dieses Glück währte kaum länger als die Monde am Himmel am Nachthimmel. Die Tage vergingen und wie eine Blume, die vor sich welkte, verlor auch seine Geliebte Tag für Tag, kaum merklich, aber stetig an Schönheit. Sie war wie ein Stein, gegen den die Brandung schlug, mit jedem Tag der verging, wurde sie älter und schwächer. Dandelion aber schien in ihren Augen alterslos  und auch er merkte, von seinem Glück geblendet, kaum, was vor sich ging, bis zu jenem schicksalhaften Tag, an dem seine kleine, glückliche Bilderwelt sich auflöste, wie die Farbe eines Pinsels, den man in Wasser Taucht.

 

Schon die ersten Strahlen der drei goldenen Sonnen offenbarte ihm einen grauenvollen Anblick. Von der Schönheit seiner Liebsten war kaum etwas geblieben, sie selbst war kaum mehr, als ein Schatten ihrer selbst. Es schein, als würde sie unter dem Licht der Sonnen schmelzen wie Wachs im Feuer.

Sie krümmte und wand sich, versuchte sich zu erheben, doch sie war zu schwach. Verzweiflung legte ihre dürren Klauen um das Herz Dandelions als er durch das Haus irrte, auf der Suche nach etwas, das seiner Liebsten helfen konnte. Doch alles war er fand waren Bilder, unzählige Bilder. So irrte er durch seine kleine, gemalte Welt, bis er vor dem mannsgroßen Abbild seiner großen Liebe stand. Es stimmte, es war von Tag zu Tag schöner und lebendiger geworden. Noch keines seiner Bilder war jemals so schön gewesen. Der Wind strich sanft durch die Haare der Frau auf dem Bild, sie wehten ihr in die Stirn und ein Lächeln stahl sich auf ihre vollen Lippen. Sie warf den Kopf zurück um die lästigen Strähnen aus ihrem Antlitz zu vertreiben und winkte ihm zu. Das Licht fing sich in ihren Augen und lies sieheller strahlen als die drei Sonnen am Himmel.

Plötzlich erinnerte er sich wieder, warum er überhaupt hier war. Seine Frau, sie brauchte Hilfe! Er eilte zurück ins Wohnzimmer und zu seiner Erleichterung lag sie noch dort auf dem Sofa. Er musste geträumt haben. Behutsam strich er ihr das fast durchsichtige Silberhaar aus dem Gesicht und erschrak, als er in ihr sterbendes Antlitz blickte. All die Wärme schien aus ihr gewichen zu sein, ihre Haut war kalt und rau, die Augen trüb und leer. Sie schien unter seinen Händen zu zerfallen. Er wollte etwas tun, wollte ihr helfen, doch er konnte nicht. Sie war wie Sand, der ihm durch die Finger rann. Er kniete sich neben sie, weinte, betete und flehte. Vergebens.

Die einzige Stimme die auf sein Flehen antwortete, war die des Todes der, die Sichel geschultert aus dem Nichts getreten war.

Fassungslos starrte Dandelion ihn an, dann begann er, auch den Tod anzuflehen, seine Frau zu retten. Der Tod aber schnaubte nur verächtlich und schüttelte den Kopf. Sein Rabenfederumhang raschelte, als er näher trat und die Hand nach Dandelions Frau ausstreckte.

„Nein!“, flehte er, „Nicht sie, warum sie?!“

„Warum sie? Das wagst du noch zu fragen?! Törichter Narr! Der, der du glaubst, Unsterblichkeit zu schaffen, indem du lebendige Bilder malst! Ich habe von dir gehört und muss sagen, ich bewundere deine Kunst. Doch ihr Menschen, wie närrisch ihr doch seid, zu glauben, mit dem Leben spielen zu können! Unsterblichkeit? Das ich nicht lache! Um ein Leben zu geben, muss man eines nehmen. So lautet das Gesetz der Welt! Will man Unsterblichkeit, muss man sein Leben dafür lassen!

Überdies trägst einzig du allein die Schuld an dem, was ihr widerfährt.“, donnerte der Tod.

„Ich? Aber was habe ich ihr denn getan? Ich liebe sie über alles, sie ist mir das Liebste auf der ganzen Welt! Alles würde ich für sie geben! Selbst mein Leben!“, schluchzte Dandelion.

Die Stimme des Todes klang wie das Tosen eines Sturmes.

„Alles auf dieser Welt hat seinen Preis. DU, mein törichter Freund hast die einzigartige Gabe, lebendige Bilder zu schaffen, etwas, das niemand sonst kann, etwas das keinen Preis vorgegeben hatte. DU allen bestimmtest den Preis für deine Arbeit.“

Verwirrt blickte er in die silbernen Augen des Todes, sie glichen Münzen in denen sich Dandelions leidverzerrtes Gesicht spiegelte.

„Dir ist klar, wovon ich spreche? Nein?“ Der Tod schnippte mit den Klauen, ein leises „kling“ erklang und plötzlich hörte Dandelion seine eigene Stimme. Ein lebendiges Bild ist, wie ich schon sagte, nicht mit so etwas banalem wie Geld zu bezahlen. Silbermünzen gibt es wie Sterne am Himmel und jeden Tag werden neue davon geprägt. Ein lebendiges Bild aber ist einzigartig, es ist ein Schatz und nur mit selbigem bezahlbar. Ich will euren größten Schatz, dann male ich euch euer Bild.“

Plötzlich erinnerte er sich wieder an den Stocknasenmann, der ihm seine Tochter für ein Bild verkauft hatte, von dem er glaubte, unsterblich zu werden.

„Es wird dich überraschen, aber sie war nicht das Wertvollste, das er jemals besaß. Sein größer Schatz war er selbst gewesen.“ Schnurrte der Tod und schnippte erneut mit den Fingern. Dieses Mal erschien ein großer, silberner Spiegel, der das Bild eines jungen Mannes zeigte. Der junge Mann saß auf einem Thron und trommelte unruhig mit den Fingern auf die samtenen Armlehnen. Unter dem Bild lag etwas, das einmal ein Mensch gewesen war. Voller Endsetzen erkannte Dandelion den Stocknasenmann auf dem Bild. Doch was lag darunter? Ihm graute, als es ihm bewusst wurde.

„Es hat ihm die Jahre gestohlen. Es hat sie alle aufgesaugt, alle die er zu dem Zeitpunkt hatte, als du ihn maltest. Nun wird er jünger und jünger, bis er keine Jahre mehr hat, dann altert er wieder und es beginnt von vorne. Sterben kann er jedoch nicht mehr, lebendige Bilder sterben nicht.“

Dandelion konnte des Todes Worte nicht glauben. Man bezahlt jedes Bild mit dem, was man meisten liebt. Darum starb seine Frau! Er hätte sie niemals malen dürfen! Schluchzend flehte er den Tod erneut an, ihn an ihrer statt zu nehmen.

Doch plötzlich ertönte eine andere Stimme, sie war kaum hörbar, dünn wie zerschlissenes Papier.

„Nein“, wisperte sie „Ich könnte es nicht ertragen, zu leben und dich meinetwegen tot zu wissen!“

„Ich kann dich nicht fortlassen, ich kann nicht ohne dich leben! Du warst das Letze, was ich gemalt habe und damit habe ich dein Leben vertan!“

Er stürzte sich zu seiner Geliebten, strich ihr zärtlich über das zerfallende Gesicht.

Sie flüsterte seinen Namen. „Dandelion.“

Nun trat auch der Tod an sie heran, es war an der Zeit zu gehen. „Der Preis muss bezahlt werden.“ zischte er.

„NEIN!“. Er konnte es nicht glauben.

Erneut erklang die Stimme seiner Geliebten.

„Dandelion… Jeden Tag sagtest du mir, wie sehr du mich liebst. Jeden Tag zähltest du tausend Dinge auf, die du tun würdest, um mich nur bei dir zu behalten. Auch ich liebe dich, so sehr. Ich liebe dich für das, was du bist, ganz gleich was aufgrund dessen geschah. Ich habe dich immer geliebt, vom ersten Augenblick an. Ich liebte den namenlosen Maler, der lebendige Bilder malt und ich liebte dich, Dandelion, der mir den Tod brachte.

Mein überalles geliebter Dandelion, wahre Liebe zeichnet sich nicht dadurch aus, was man zu tun bereit ist, um jemanden bei sich zu behalten, nein. Wahre Liebe liegt im bereitsein, jemanden gehen zu lassen, selbst wenn dies noch so schmerzlich sein mag.“

Mit diesen Worten kullerte eine Träne aus ihren Augen, sie drückte seine Hand und er drückte ihre. „Liebst du mich wirklich Dandelion?“

„Ja“, antwortete er und seine Stimme brach. Alsbald dieses letzte Wort über seine Lippen geronnen war, berührte der Tod sie mit seinen Klauen und Dandelions Geliebte zerfiel in seinen eigenen Händen zu Staub. Der Tod breitete seine Arme aus, sein Rabenfederumhang flatterte und plötzlich war der ganze Raum erfüllt von Wind, der den Staub seiner Geliebten forttrug. Schwarzer Rauch kroch aus dem Umhang des Todes und umschlang ihn und zog ihn fort ins Nichts. Dandelion aber blieb allein zurück mit sich und seiner Trauer. Selbst als der schwarze Rauch verschwunden und man die Hügel und Wiesen an den Wänden wieder sah, saß er noch dort und weinte, bis seine Tränen versiegten.

 

Die Trauer legte sich wie ein schwarzer Schleier um ihn, er sah nicht einen Funken Schönheit mehr in seiner Welt. Von nun an brachte er seine Tage damit zu, seine Geliebte zu malen, doch alsbald er den letzen Pinselstrich getan und sein Werkzeug beiseitegelegt hatte, zerfielen sie zu Staub. Mit jedem Bild, das ihm zerfiel starb ein Stück seines Herzens und so kam es, dass er sich eines Tages, nachdem ihm erneut ein Bild, das er von seiner Geliebten gemalt hatte zerfallen war, seinen Pinsel nahm und ihn in sein gebrochenes Herz rammte.

Er vermisste sie so sehr, er wollte lediglich wieder bei ihr sein.

Doch Dandelion starb nicht, warum konnte er nicht sterben?

Erneut vernahm er die Stimme des Todes hinter sich. „ Was bist du nur für ein Narr. Sterben lassen werde ich dich, um dich zu ihr zu bringen. Hörtest du nicht, was ich sagte? Es ist dein eigener Preis, den du bezahlen musst! Ein lebendiges Bild, bezahlt mit deinem wertvollstem Schatz.

Sie ließ ihr Leben für dich, ließ nicht zu, dass du deines gegen ihres tauschst. Du kannst nicht sterben Dandelion, das ist der Preis, mit dem für deine Gabe zahlst. Du malst lebendige Bilder, die, die du in Bilder bannst sterben um in ihnen auf Ewig zu leben. Du hast den Preis für das Bild deiner Geliebten bezahlt, jedoch nicht den für deine Gabe. Sieh mich an, nur der Tod bringt Unsterblichkeit, und selbst dafür muss man sein Leben lassen, Dandelion. „

„Warum kann ich dann nicht sterben?“,schluchze er.

„Wer in dieser Welt hat denn je behauptet, dass du am Leben bist?“, antwortete der Tod und lachte.“ Du, der du lebendige Bilder malst, musst sein, damit sie sein können! Sie sind nichts ohne dich, ebenso wie du nichts ohne sie bist. Jedes Werk, dass du jemals erdachtest und schufst bist du. Ihr seid zwei Seiten ein und derselben Medaille. Tod oder Leben, lebendig oder Tod? Du Narr! Wen kümmert es, was du bist?“ Er blickte Dandelion aus seinen leeren, silbernen Augen an ehe er sich kopfschüttelnd umwand und verschwand.

Dandelion blickte sich um. War er tot oder am Leben? War denn beides, ja, war dies möglich?

Erneut schwappte die Verzweiflung über ihn wie eine eiskalte Welle. Er konnte nicht sterben, warum?

Weil der Tod es nicht will.

Schluchzend setzte er sich auf das Sofa im Wohnzimmer und blickte das Bild seiner Geliebten an. Das schönte Bild, das er jemals gemalt hatte. Das Bild, das ihr das Leben kostete und ihn dazu verdammte, ohne sie zu sein, für immer. Sie war sogar noch schöner geworden und es stimmte, sie wurde mit jedem Tag jünger. Wenn sie nicht mehr jünger werden konnte, würde sie wieder altern, wie es der Tod gesagt hatte. Und so geschah es auch.

Dandelion blieb, wo er war, an der Seite seiner Geliebten, um sie erstreckten sich die endlosen Weiten der gemalten Hügel und Wiesen an den Wänden, über ihm lag der Himmel und von ihm schienen die zwei Monde auf ihn herab.

So saß er nun da, inmitten der unendlichen Hügel und betrachtete das Bild seiner Geliebten.

 

Alles, was mir blieb, ist hier zu sitzen, und zurück zu starren. Nichts wünsche ich mir sehnlicher, als ihn zu berühren, mit ihm zu sprechen, ihn zu umarmen. Doch ich kann nicht, ich bin hier, gefangen um vor mich hin zu altern, nur um dann erneut jünger zu werden und dann wieder zu altern. Ich war schön, unbeschreiblich schön sogar, doch dies war aber auch alles und dies war nicht was ich wollte. Er hatte mich unsterblich gemacht, auch dafür liebte ich ihn. Auch wenn ich mir nichts sehnlicher wünschte, als mit ihm zusammen zu sein. Viel lieber wäre ich mit ihm gestorben, als schön und unsterblich zu sein. Doch auch er war unsterblich, auch wenn sein Wunsch nach dem Tod mit jedem Tag, den er vor mir saß großer wurde, er würde nie in Erfüllung gehen und alles was ich tun konnte, war zuzusehen wie er litt, wie er allein vor meinem Bild saß und bitterlichste Tränen um mich weinte. Auch ich weinte um ihn, meinen geliebten, den Mann, der lebendige Bilder malen konnte, der Mann der Menschen in Bildern unterblich machen konnte. Ich weinte um ebendiesen Mann, dem all dies nichts als Kummer und Gram bereitet hat. Ich beweinte den Mann, der bereit war für mich zu sterben, um ihn, der mich so sehr liebte, dass er mich gehen ließ, weil ich es nicht ertragen hätte, an seiner statt zu leben, ungeachtet dessen, wie viel Schmerz dies über ihn brachte. Selbst heute noch weine ich um den Mann, der mich so sehr liebte, dass er mich unsterblich gemacht hatte, selbst wenn dies ihn den Tod und das Leben auf einmal gekostet hatten.

Manchmal weint er mit mir zusammen, der Mann, der lebendige Bilder malte, der Mann, der einst der glücklichste Mann dieser Welt gewesen war.

Dandelion.

Des Roten Mannes Ruf

Dunkle Wolken zogen über den, vom Blut des sterbenden Tages rot gefärbten Himmel, die Silhouette des Dorfes riss ein schwarzes Loch in den Horizont und die Menschen bereiteten sich auf eine geruhsame Nacht vor. Der Herbst hatte die letzte Wärme des Sommers mit seinem eisigen Regen hinfort gewaschen, die Bäume und Sträucher mit seinem Pinsel rot bemalen und die Nächte ihrer Wärme beraubt.

Alle Menschen hatten sich in ihre Häuser verkrochen, wo sie sicher waren, vor der kalten Nacht und dem, das sie mit sich brachte. Nun, fast ein jeder weilte sicher in seines Hauses Wärme. Einer hingegen schlich, nicht heimlich, doch still und leise durch das erkaltende Land. Kein Laut entrang seinen, zu einem Grinsen verzogenen, Lippen. Lippen, von einem solchen Rot wie gerinnendes Blut. Zähne, so spitz und funkelnd, wie der knochenweiße Mond, schimmerten im fahlen Schein der verendenden Herbstsonne. Auch sein Mantel, seine Stiefel und sein Hut waren vom selben Rot. Pechschwarze Knöpfe zierten den wallenden Mantel, dessen Stehkragen emporragte wie die Dornen einer Rose. Seine spitzen Stiefel glitten lautlos über den feuchten Boden, selbst das Laub wagte es nicht zu rascheln. Wie ein Schatten glitt er durch das Land, suchend. Seine einzigen Begleiter waren sein Schatten und der Leierkasten, den er vor seine Brust geschnallt hatte.

Er war aus Ebenholz gefertigt, Silberbeschläge zierten das dunkle Holz und eine Kurbel ragte wie ein Arm aus einer Seite. Doch er drehte niemals daran, nur dann, wenn es endlich wieder so weit sein würde, würde er daran drehen. Insgeheim fürchtete er diese Melodie, doch er liebte sie auch wie nichts anderes auf dieser Welt. Das letzte Licht der Sonne schwand, der Tag verendete kläglich im Kampf gegen das Anbrechen der Nacht.

 

Bald schon tauchte die silberne Sichel des Mondes auf und grinste auf ihn herab. Auch sein Schatten kam aus seinem Versteck, unter seinen Schuhen, hervor gekrochen. Er mochte das Sonnenlicht nicht, es raubte ihm nur seine Kraft. Für gewöhnlich konnte es ihm nichts anhaben, doch nun war er ausgezehrt und schwach. Darum blieb er gemütlich unter den Schuhen seines Trägers versteckt, bis das kalte Licht des Mondes ihn erneut hervorlockte. Es stand ihm selbstredend frei, wen er zu seinem Träger auserkor, denn er war in der Lage, zu wandern. Doch hatte er sich an einen Träger gebunden, so musste dieser auch seinen Befehlen folgen. Es machte wenig Sinn, sich an einen Baum oder ein Haus zu binden, was für ein Humbug. Leblose Gegenstände waren ihm nur allzu öde geworden. Viel lieber wanderte er mit seinem Herren durch das Land, so sah man auch viel mehr von der Welt. Im schützenden Dunkel der pechschwarzen Nacht wanderten sie nun, weiter und immer weiter, wie sie es immer taten. Der Wind kam hinzu und flüsterte dem Mann im roten Mantel Geschichten ins Ohr, doch alsbald verschwand auch dieser. Langsam aber sicher lichtete sich das Dunkel und als die ersten Strahlen der Sonne durch das Schwarz der Nacht brachen, zeichneten sich die Umrisse eines Dorfes am Horizont ab. Noch lagen sie in weiter Ferne, doch die Stiefel des roten Mannes trugen ihn unermüdlich fort, seinem neuen Ziel entgegen. Sie kannten weder Rast noch Ruh‘ und auch dem Mann waren diese Begriffe fremd. Als Reisender zog er durch das Land, ging wohin der Wind und die Schatten ihn trugen. Er verdiente sein Brot mit seinem Leierkasten und wurde aufgrund dessen vielerorts einen Gaukler geschimpft. Doch es störte ihn nicht weiter. Sein Lächeln erlosch kaum einmal, dafür war es nicht geschaffen worden, nein. Immer bei sich trug er einen Spiegel, in seinem Beutel am Rücken, in dem sich auch andere, nützliche Utensilien verbargen. Ein letzer Windstoß zupfte an der Feder, die an seinem Zylinder befestigt war. Sie war nicht das einzige was ihn zierte, nein, an ihm haftete so einiges. Ein paar Würfel, eine Spielkarte, Münzen, allerlei Schmuck und noch vielerlei mehr zierte den alten Hut. Auch der Leierkasten war mit zahllosen Souvenirs geschmückt. Von ihm baumelten ein Kinderschuh, etliche Püppchen, Modellautos und sogar ein kleiner Stoffbär hafteten an dem Instrument. Sie klimperten und klirrten als der rote Mann das Dörfchen betrat und dieser Klang hallte durch die Gassen und verklang als er sich zwischen den Wänden der Häuser verirrte. Nun war es so weit. Der Mann hob seine Hand, die in einem blütenweißen Handschuh steckte, der ebenso weiß war wie das gerüschte Hemd, welches er unter seinem roten Mantel trug. Auch seine Haut war weiß wie Porzellan, einzig seine Lippen waren rot. Sein Haar war silbern, wie das Antlitz des Mondes wenn er voll am Himmel stand, sein Haar fiel ihm stets ins Gesicht und verdeckte seine Augen. Doch nun schimmerte es in der Sonne wie die Münzen aus der Tasche eines Königs. Er legte seine behandschuhte Hand auf den Leierkasten, mit der anderen ergriff er die Kurbel und begann, sie zu drehen.

Eine wundersame Melodie ertönte, so schön wie der Gesang eines Engels, und so lieblich wie das Lied einer Nymphe. Es konnte einen in seinen Bann ziehen und niemals wieder loslassen, so schön war es. Doch nur wenige erkannten diese Schönheit. Diese Wenigen waren die, die er suchte.

 

Auf den Straßen des Dorfes herrschte reges Treiben, alle wollten zum Markt, solange die Strahlen der Herbstsonne noch warm waren. Auch das Mädchen war auf den Weg zum Markt, erst kürzlich hatte es eine glänzende, silberne Münze von seiner Mutter erhalten und diese wollte das Mädchen nun gegen etwas Süßes eintauschen. Fröhlich summend tänzelte sie, begleitet von dem Tosen des Stimmengewirrs, durch das Meer aus Leibern und Stoff. Sie liebte es, draußen zu sein, zu spüren wie der Wind an ihrem blonden Haar zog, mit dem Stoff ihres Kleidchens spielte und versuchte durch den dicken Stoff ihres blauen Mantels zu dringen um seine Kälte in ihr Herzu zu säen. Wie gerne sie doch in den Eichenhain am Rande des Dorfes ging und dort im hohen Gras verstecken spielte. Ihre liebe Mutter aber sah dies ganz und gar nicht gern, sie hatte ihr verboten das Dorf zu verlassen und alsbald die Nacht ihre Fänge über das Land gleiten ließ, durfte sie das Haus nichtmehr verlassen. Seit einiger Zeit war es den Kindern verboten das Dorf zu verlassen, manche wurden sogar in ihren Kammern eingesperrt wenn die Nacht anbrach. Die Erwachsenen fürchteten sich, denn man munkelte, dass in den umliegenden Orten alle Kinder verschwunden waren. Sie alle hatten nach Einbruch der Dunkelheit ihre Häuser verlassen, keines von ihnen ward seither gesehen worden. „Verschwunden, als hätte sie etwas gefressen!“, hatte die alte Krämerfrau vom Gemüsestand gesagt. Dem Mädchen graute bei der Vorstellung von etwas verspeist zu werden als wäre es eine Kartoffel. Doch ihr wurde Angst und Bange als sich der Gedanke in ihr kleines Köpfchen schlich, dass die Kinder ach von jemanden gefressen worden sein könnten. Jawohl, von einem Menschen. Ein kalter Schauer lief ihr über den Rücken, eilig trippelte sie weiter um diese grässlichen Gedanken aus ihrem Kopf zu verscheuchen. Die zarten Strahlen der Herbstsonne kitzelten ihre rosigen Bäckchen und entlocken ihren Lippen ein Lachen. Nur noch über den halben Marktplatz, dann war sie am Süßigkeitenstand angelangt. Doch, was war das? Aus einer kleinen Gasse zu ihrer Linken tönte eine gar wundervolle Melodie. Neugierig blieb sie stehen und lauschte dem lieblichen Klang. Was für ein Instrument war nur in der Lage solche Töne zu spucken? Verstohlen schielte sie nach links und rechts. Niemand sonst schien diese Töne zu hören. Fragwürdig… Es bedurfte keiner langen Überlegung und sie entschloss sich, fast instinktiv, die Ursache dieser Töne zu suchen. Das Mädchen bog in die Gasse ein und wurde augenblicklich von deren Dunkelheit verschlungen. Hier war es merklich kälter, kein Schatten war zu sehen und auch die Sonne schien hier nicht zu scheinen. Gänsehaut überzog den kleinen Körper des Mädchens mit einer rauen Schicht und die Angst begann in ihr aufzukeimen. Doch dann erklang wieder diese Melodie… Immer schneller wurden ihre Schritte, woher kamen diese Klänge bloß? Wo wanderten sie hin? Flüsternd forderte sie die Klänge auf zu warten, doch sie hörten nicht und ihre Bitte verfing sich in den hohen Wänden der alten Häuser. Langsam begannen ihre Lungen zu brennen, immer schneller rannte sie, immer ferner erklang die Melodie. Dann aber klang sie so nah, sie musste genau hinter dieser Ecke sein! Fluchs eilte sie um die Rundung, doch alles was sie erblickte war eine bröckelige Hauswand. Sie war in eine Sackgasse geraten. Soeben verklang der letzte Ton der Melodie. Nun legte sich eine bleierne Stille über die Gasse, selbst der Marktlärm war nicht zu hören. Einzig ihr Atem und das Hämmern ihres Herzens tönten durch das kleine Areal. Dennoch…irgendetwas oder irgendjemand schien hier zu sein, das konnte sie ganz deutlich spüren. Wahrlich, ein Augenpaar ruhte auf ihr und musterte sie mit aller Sorgfalt. Ein Schatten glitt lautlos aus der Wand hervor. Das Mädchen blickte sich hektisch um, tappte zwei Schritte zurück und prallte gegen etwas. Entsetzt fuhr sie herum und starrte dieses etwas an, gegen das sie geprallt war. Es war kein „es“, es war ein „jemand“. Ein groß gewachsener Mann stand vor ihr, er war fast vollends in einen langen, wallenden roten Mantel gehüllt, ein seltsamer Kragen rahmte seinen Hals. Seine Füße steckten in den absonderlichsten Stiefeln die das Mädchen je gesehen hatten. Sie waren ebenfalls rot, spitz und vorne leicht aufgebogen. Der Mann trug einen Zylinder, an dem allerlei Dinge befestigt waren, dessen Krempe hatte er tief in sein weißes Gesicht gezogen. Das seltsamste aber war der Kasten, den er vor der Brust trug. Es dauerte nicht lange bis der Mann den Kopf hob und das Mädchen fragte, ob es denn seine Zunge verschluckt habe. Erschrocken blickte es den großen Mann an und stotterte eine Antwort. Der Mann aber grinste nur und entblößte dabei eine Reihe spitzer Zähne. Sie sahen irgendwie schrecklich aus, doch der Mann hatte etwas an sich, das das Mädchen faszinierte. Er musste einer dieser Gaukler sein, von denen die Frauen einmal gesprochen hatten. Nun hob der Mann seine Hand und begann, an einer Kurbel zu drehen. Augenblicklich erklangen wieder diese wunderbaren Töne, sie drangen aus diesem merkwürdigen Objekt. Erstaunt blickte das Mädchen den Mann an, der im Kreis tänzelte und summte, während er an dem Kasten kurbelte. Das Mädchen lachte, klatsche in die Hände und drehte sich mit dem Mann im Kreise, doch dabei vergaß es die Zeit…

 

Nach einer Weile unterbrach der Mann sein Spiel und blickte zum Himmel. Offenbar störte ihn etwas, doch als das Mädchen nachfragte grinste er nur und meinte, dass er gehen müsse. Das Mädchen war traurig, es wollte nicht, dass der rote Mann von dannen zog. Doch er drehte ihr den Rücken zu und ehe sie sich versah, war er verschwunden und er hatte die wunderbaren Klänge mit sich genommen. Nun war sie allein in dieser leeren, grauen Gasse. Resigniert setzte sie sich auf den gepflasterten Boden und begann zu schluchzen. Dicke tränen quollen aus ihren wasserblauen Augen, rannen über ihre roten Wangen und tropften auf ihr nachtblaues Mäntelchen. So saß sie nun da, bis eine bittersüße Stimme an ihr Ohr drang, welche sie fragte warum sie denn weinte. Das Mädchen hob den Kopf und vor ihr ragte die Gestalt des roten Mannes empor, der fröhlich auf sie herab lächelte. Er streckte ihr die Hand entgegen, sie ergriff sie und der Mann zog sie wieder auf die Beine, als wäre sie aus Watte. Verblüfft schaute sie ihn an, er aber lächelte immer noch und zog ein rotes Band aus seinem Ärmel, womit er ihre Tränen trocknete. Danach wickelte er es um ihren Arm, band eine Schleife daraus und endlich musste auch sie wieder Lachen. Der Mann bot ihr an, dass sie ihn begleiten könne und sie willigte freudig ein. Gesagt, getan. Schon nach kurzer Zeit des Wanderns erreichten sie den weiß getünchten Zaun, der das Dorf von dem angrenzenden Eichenhain trennte. Hier blieb das Mädchen stehen, doch als der Mann sich nach ihr umdrehte, ergriff sie seine Hand erneut und vergaß all die mahnenden Worte der Eltern. Überglücklich tänzelte sie neben dem Mann her, der an der Kurbel seines Kastens drehte und diese herrlichen Töne erklingen ließ. Lachend und schäkernd tänzelten sie durch den Hain. Der Mantel des roten Mannes wallte und flog, doch bis auf die Melodie des Kastens und seine Worte, verursachte er kein Geräusch. Merkwürdig…

Doch, herrje, was er doch für ein lustiger Mann war! Er kannte so viele Lieder und lustige Scherze, tanzte herum wie ein Faun und wirbelte durch das bunte Laub wie ein Herbststurm. So tollten sie durch den Hain, bis sie auf einer Lichtung ankamen, in deren Mitte eine gigantische, knorrige Eiche thronte. Ihre Äste erstreckten sich so weit in den Himmel, dass sie beinahe die Wolken berührten und ihre Blätter leuchteten in fast demselben rot, wie der Mantel des Mannes. Eine Weile tänzelten sie unter dieser Eiche herum, schäkerten und lachten. Irgendwann fiel ihr auf, dass der Mann keinen Schatten hatte, sie fragte ihn kurzerhand danach und der Mann erwiderte, dass er wohl einen Schatten habe, dieser sich aber nur versteckte. Sie lachte vergnügt und dachte sich nichts dabei. Doch plötzlich wurde es merklich kühler und das Mädchen richtete ihren Blick zum Himmel. Die Nacht streckte bereits ihre Fänge nach ihr aus und die Sonne war schon fast vollkommen hinter den Bergen versunken. Der Mann beendete seinen Tanz und stand nun stocksteif da. Auch er schien sich zu verändern. Das Mädchen blickte den Mann an, welcher nun seinen Zylinder richtete, wobei dessen Schmuck klimperte. Ein Windstoß sauste durch den finsteren Hain und strich das silberne Haar des Mannes aus dessen Gesicht. Ein grellrotes Augenpaar blickte in das wasserblaue des Mädchens. Das Lächeln des Mannes hatte nun etwas trauriges, ja fast bedauerndes an sich. Furchtsam fragte das Mädchen was der Mann habe, und er fragte sie, ob sie denn Angst hatte. Trotzig verneinte sie. Darauf lachte der Mann wieder, doch nun war es ein grimmiges Lachen. Die Melodie des Kastens wurde leiser und tiefer, er stimmte einen Singsang an, der sich mit seinem Lachen mischte. Er senkte seine tiefe Stimme und flüsterte: „Dummes Kind, so dummes Kind. Dumm, dumm, dumm. So furchtbar schrecklich dumm. Oh dummes Kind, so dummes Kind, so lauf doch, lauf doch heim geschwind!“. Ein finsteres Lachen entrang seiner Kehle, die Melodie wurde noch düsterer und sein Blick war kalt wie Eis. Das Mädchen aber blieb, vor Schreck oder aus Trotz, wer weiß. Ein Rascheln erklang und sie sah sich um. Die Melodie wurde immer leiser und als sie sich wieder umdrehte, war der rote Mann fort, verschwunden. Auch die Melodie war verklungen. Sie drehte sich um und begann nach dem Mann zu suchen, doch es war vergebens. Wieder erklang ein Rascheln, dieses Mal etwas weiter hinter ihr. Eine leise Melodie war zu hören, jemand summte. Sie drehte sich nach dem Geräusch um, in der Erwartung den roten Mann zu sehen und lachte. Doch das Lachen blieb ihr im Halse stecken, als sie sich umdrehte und einen schwarzen Mann erblickte. Dunkel und bedrohlich ragte er vor ihr in den Nachthimmel, pechschwarz und doch nur schemenhaft erkennbar, fast so als wäre er ein… Ihr Stockte der Atem als der summende, schwarze Mann einen Schritt auf sie zu trat, er grinste und lange, knochenweiße Fangzähne ragten aus seinem Schlund hervor. Noch bevor sich das Mädchen umdrehen und fortlaufen, oder gar schreien konnte, stürzte sich der Schatten des roten Mannes auf sie und schlug seine langen, rasiermesserscharfen Klingenzähne in die Kehle des Mädchens. Ein gurgelnder Laut erklang, gefolgt von einem Schmatzend und Saugen. Sie wehrte sich noch wenige Sekunden mit aller Kraft, doch dann erschlaffte ihr Körper und der Schatten ließ von ihr ab. Genüsslich leckte er sich die Lippen, dann grub er seine Klauen in ihre kleine Brust, brach das Gerüst aus weißen Rippen und riss das kleine Herz heraus und verschlang es. Stück für Stück fraß er von dem Kind, selbst Haut und Haar schlang der Schatten in sich hinein, bis bei Anbruch des Tages nichts mehr von ihr geblieben war, bis auf eine Münze und das rote Band, mit dem der rote Mann die Beute kennzeichnete, die er für seinen Schatten fing. Zufrieden wisperte er seine ruf und sein Herr kam herbei. Aus dem Dunkel der Büsche schälte sich der rote Mann und der Schatten kehrte erneut in sein Versteck unter den roten Schuhen zurück. Der rote Mann aber hob das Band und sie silberne Münze vom laubbedeckten Boden und steckte es ein, die Münze aber befestigte er wie die anderen Souvenirs an seinem Kasten. Die Nacht schwand dahin und der Mann schaute zum Himmel, der sich langsam rot färbte. „Rot, rot, der Tod malt alles Rot. Rot wie Blut, rot wie Blut, rot, rot, rot. Des Todes Tinte malt alles rot.“ wisperte er und seine roten Lippen formten ein breites Grinsen. Der Schatten unter seinen Füßen zischte, der Wind ließ das Laub zittern und rüttelte am Zylinder des roten Mannes. „Rot, rot, des Todes Tine malt alles rot….“ Summte er und ein Lachen entrang seiner Kehle. Er begann erneut an der Kurbel zu drehen und die finstere, bittersüße Melodie erklang zum Singsang des Mannes. Auch der Wind begleitete ihn mit seinem Zischen, als er wieder weiter wanderte, fort, wohin der Wind ihn trug. Fort, suchend. Der Schatten begleitete ihn ebenfalls auf seiner Reise, denn er war hungrig…

Hinter Farbe Und Papier

An einem Ort, der sich in unendlichen Weiten, zwischen sanften Hügeln und smaragdfarbenen Wäldern fand, stand einst ein strahlend weiser Palast.

Er thronte auf einer Klippe, unter dem steilen Grat preschten Wellen aus kristallblauem Wasser gegen den Stein und wuschen alles fort, was nur in ihre eisigen Fänge geriet und jeden Abend, wenn die Sonne vom blutenden Zenit wich und in ebendiesen Fluten ertrank, blickte die Tochter des Schlossherren auf diesen Ozean voller Träume herab und sehnte sich nach seinen unendlichen Weiten.

Jeden Abend glitten ihre funkelnden Smaragdaugen über die Welt, um zu sehen, was sich wohl getan hatte, seitdem sie das letzte Mal ihren Blick hatte schweifen lassen.

Sie liebte die Freiheit, die Weiten der Welt und alles Unbekannte, wahrlich sie liebte es fast so sehr wie ihr Vater sie liebte. Darum ließ er sie ziehen, Tag ein Tag aus zog das Mädchen mit ihm umher, um die Welt zu erkunden.

 

Sie sah so vieles, von den goldenen Hügeln in den Steppen fern ab des Meeres, über die kargen Steppen der kupfernen Wiesen, den weisen Bergen mit ihren Eisspitzen, bis hin zu den grünen Smaragdwäldern, die auch das Schloss umgaben. Doch am meisten liebte sie das Meer und sein flüstern. Welche Geschichten es ihr wohl zuflüsterte? Manchmal wünschte sie sich sie könnte sie verstehen und manchmal glaubte sie es zu können. Das Flüstern und Rauschen des Meeres ist der Klang der Stimmen derer, die in seinen Fluten ihr Leben ließen. Manchmal war es ein leises Flüstern, manchmal aber ein gar grausiges, ohrenbetäubendes Tosen. Dies hatte ihr geliebter Vater erzählt und daran glaubte das Mädchen, selbst als viele Sonnen im Meer ertrunken und aus dem kleinen Mädchen eine junge Frau geworden war, glaubte sie noch fest an die Worte ihres geliebten Vaters.

 

Doch von dem kleinen Mädchen war kaum mehr übrig als blasse Erinnerung, denn nun war sie groß und wunderschön geworden. Wie Smaragde leuchteten ihre Augen aus dem Gesicht, Haar, wie gesponnenes Kupfer floss in Strömen über ihren schlanken Körper. Oh wie sehr sie ihrer Mutter glich. Mit jedem Tag der verstrich wurde sie ihr ähnlicher und mir jedem Blick, den ihr Vater auf sie richtete, bohrte sich ein neuer Dolch in sein schmerzendes Herz. Welch grausam Strafe dies doch war, ließ man ihm eine Tochter, als Abbild seiner geliebten Frau. Zwar liebte er auch sie, doch sie vermochte es nicht seine Frau zu ersetzten. Gram trübte sein Antlitz und er sehnte sich so sehr nach seiner Frau, dass es ihn gar krank machte. Hinzu kamen Sorgen, denn seit ewigen Zeiten beutelten Not und Armut das Reich und die wenigen, die alles hatten, schürten den Hass der vielen, die sich nichts teilten, um zu überleben.

 

Doch dies lag in weitester Ferne seines Interesses, er hatte mehr als genug, doch nicht das was er wollte. So sehr er seine Tochter als Kind geliebt hatte, so sehr wuchs sein Hass auf sie mit jedem Tag den sie älter wurde. Zwar sah er sie nur abends, denn des Tages streifte sie umher, doch wenn er sie erblickte, nahmen der Schmerz und der Hass die Überhand. Ihre Mutter, seine geliebte Frau, hatte ihr Leben gelassen, um ihr ihres zu schenken. Sie war das Einzige was ihm von seiner  geliebten Frau geblieben war, doch er wollte sie nicht mehr, er ertrug sie nicht. So brach der Tag an, an dem sie vor ihm stand und ihm ihr schönstes Lächeln schenkte. Es war der Tag an dem sie ihrer Mutter bis aufs Haar glich. Nun war es um den Vater geschehen, seine Augen voller Tränen, das Herz voller Hass und Gram beschloss er, dass es an der Zeit war sie von sich zu weisen. Doch allem zum Trotz brachte er es nicht übers Herz sie zu töten.

 

So fragte er seinen Freund um Rat und dieser riet ihm sie doch zu verheiraten, da dies auch ihm einen ordentlichen Profit bringen würde. Wahrlich, die Schönheit seiner Tochter war Gold wert. Also schickte er seine Diener aus, um den wohlhabendsten Mann zu finden, und diesem die Tochter anzupreisen.

Es dauerte kaum lange bis ein Mann in goldenen Kleidern am Hof des Vaters erschien und seine Tochter wollte. Als Geschenk brachte er ihm ein Bild seiner Tochter gerahmt in purem Gold, mit Augen aus Smaragden. Er glaubte seine Frau vor sich zu sehen und geblendet von dem Ebenbild und dem Gold schickte er nach seiner Tochter und der Mann nahm diese mit sich.

Der Vater aber wusste nicht um den Schmerz und das Leid seiner Tochter, denn diese wollte nicht fort, wollte nicht verstehen warum er sie von sich gab. Doch er sah ihre Tränen nicht, hörte keinen ihrer Schreie und auch nicht ihr Flehen, er hatte sich in das goldgefasste Abbild seiner Frau verliebt, die der Mann ihm zum Tausch gegen seine bildschöne Tochter gegeben hatte.

 

Der Mann aber zog die junge Frau fort, es half kein Bitten und Flehen, unerbittlich schleifte er sie mit sich in sein Schloss. Inmitten undurchdringlicher Wälder lebte sie nun, gefangen in einer Festung aus goldenem Stein mit Türen, so hoch, dass sie sich in das Antlitz des Himmels zu bohren schienen. Erst ließ er sie ziehen, wie sie wollte, überhäufte sie mit den prunkvollsten Gaben und sorgte dafür, dass es ihr an nichts fehlte. Doch die junge Frau wollte keine Schätze, alle Reichtümer der Welt waren ihr egal, sie wollte zurück zu ihrem geliebten Vater und dem Meer. Eines Tages versuchte sie zu fliehen, doch ihr neuer Mann sperrte sie voller Zorn in eine Kammer des höchsten dieser goldenen Türme.

 

Dieser Raum hatte keine Fenster, einzig eine kleine Tür, durch die ihr Mann ab und an trat um sie hervor zu holen, wenn er Besuch geladen hatte, oder sie auf seinen Festen herzeigen wollte. Wie eine Puppe fühlte sie sich inmitten all dieser Leute, die sie bewunderten, mit ihr Tanzten und sie in die schönsten Kleider steckten. Sie fühlte sich nicht allzu einsam, wenn sie da waren, doch alsbald der letzte Gast verschwunden war stieß der Mann sie erneut zurück in die Kammer des Turmes und die Einsamkeit brach über die Frau herein wie eine Welle des Kristallmeeres, das sie so sehr vermisste. Ihr fehlte sein Flüstern, sein Glitzern und Funkeln und die Geschichten die ihr Vater ihr erzählte als sie klein gewesen war. Doch dies war alles lange vergangen, zu Staub auf dem Antlitz der Jahre geworden die sie nun in ihrem Herzen trug. Einzig die Erinnerung war da, doch selbst sie vermochte es nicht sie über ihre Einsamkeit hinweg zu trösten. Jeden Tag wanderte sie in ihrer Turmkammer umher, doch eines Nachts erklang ein Flüstern, wie sie es noch nie zuvor vernommen hatte. Erst mutete es an als würde das Meer nach ihr rufen, doch dann merkte sie, dass die Stimme aus den Steinen zu kommen schien. Behutsam und von Neugierde getrieben stieg sie aus ihrem prunkvollem Bett und wanderte der Stimme nach. Sie schien hinter dem schweren, goldenen Spiegel heraus zu flüstern. Behutsam schob sie den Spiegel beiseite und eine kleine, unscheinbare Tür kam zum Vorschein. Das Flüstern der Stimme wurde lauter und nun vernahm sie erst ihren vollen, tiefen Klang. Faszination und Neugierde weckten das Verlangen hinter die Türe zu blicken. Die junge Frau drehte an dem Knauf und wieder all ihrer Erwartungen sprang die Tür mit einem leisen Klicken und Knarzen auf. Sie hob den Saum ihres Kleides, das beinahe vom selben dunklen Smaragdgrün wie ihre Augen waren, bückte sich und schritt über die Schwelle, hinein in einen winzigen, kargen, fensterlosen Raum. Die Stimme hatte an Körper gewonnen, doch die Frau erblickte niemanden dem sie gehören konnte, der Raum war leer. Sie wandte sich um und ihr Blick fiel auf ein großes Bild, das die Lichtung eines grünen Waldes zeigte. Vorsichtig trat die Frau an das Bild heran, die Stimme klang nun voll und nahe. Sie erzählte eine Geschichte. Behutsam strich sie mit ihren schlanken, weißen Fingern über das Gemälde. Doch ihre Finger glitten nicht über raues Leinen, sondern über grünen Efeu und knorrige Baumstämme. Erschrocken zog sie die Hand zurück, voller Unglauben trat sie noch näher an das Bild und streckte die Hand danach aus. Doch ihre Finger griffen ins Leere, sie wankte, stolperte über den Saum ihres prächtigen Kleides und stürzte, stürzte hinein in das Bild!

 

Grünes Gras kitzelte sanft ihre rosigen Wangen, ein Windhauch zerrte an Strähnen ihres kupfernen Haares und spielte mit ihrem wallenden Kleid. Die Stimme war nun lauter und klarer als zuvor. Erschrocken schlug sie die Augen auf und blickte in das Gesicht eines jungen Mannes, der vor ihr stand und sie besorgt anblickte. Er streckte ihr seine Hand entgegen um ihr aufzuhelfen, doch sie schreckte zurück, unfähig zu glauben was passiert war. War sie in ein Bild gefallen? So schien es, doch es konnte nicht sein! Sie rief sich selbst zur Ordnung und rappelte sich unter dem besorgten Blick des Mannes auf. Er fragte sie nach ihrem Namen, doch sie war unfähig zu sprechen. Ihre Augen hafteten an dem Mann, ihre Ohren hingen am Klang seiner Stimme. Seine Augen waren vom selben, dunklen Blau wie der Nachthimmel über ihnen, ebenso sein Gewand war aus blauer Seide, verziert mit goldenen Elementen. In seinen Augen glitzerten silbrige Lichter, wie Splitter von Sternen. Goldenes Haar war zu einem Zopf zusammengefasst und schimmerte im Mondlicht. Der Mond, wie lange hatte sie ihn nicht gesehen! Sie blickte um sich und der Mann griff ihre Hand und bot ihr an, ihr seine Welt zu zeigen.

So führte er sie durch das Blätterdach, bis die Sonne durch die Kronen der Bäume brach. Sie musste fort, zurück! Voller Kummer klagte sie dem Mann ihr Leid und dieser schickte sie zurück in ihre Welt, mit dem Trost des Wiederkommens.

 

Doch sie wollte nicht fort, sie wollte der Stimme des Mannes lauschen, die so klang wie die ihres geliebten Meeres, aber als sie die Augen aufschlug fand sie sich erneut in dem leeren Raum hinter dem Spiegel. Schnell schlüpfte sie durch die Tür und schob das goldene Stück erneut davor um sie zu verbergen. Plötzlich wurde das klappern von schweren Stiefeln auf der Treppe laut, kaum einen Augenblick später wurde die reich verzierte Tür zu ihrer Kammer aufgestoßen und ihr Mann trat in den Raum. Mit ihm kamen die Diener, die Kleider und Stoffe schleppten. Es würde wieder ein Fest geben. Sie wich zurück als ihr Gemahl auf sie zukam und sie an sich zog, voller Ekel wand sie sich, doch es gab kein Entrinnen aus seinen grässlichen Klauen. Mit einem Mal aber wurde er stumm. Verwunderung erfüllte den Raum, Angst breitete sich in den Augen der Frau aus, als ihr Gemahl ein kleines Efeublatt aus ihrem kupfernen Haar zog und es zornig zwischen seinen wulstigen Fingern zermalmte. Zornig fragte er wo sie gewesen sei, doch als sie beteuerte das Schloss niemals verlassen zu haben, glaubte er ihr nicht. Voller Zorn stieß er sie gegen den Spiegel. Er zerbarst und eine messerscharfe Scherbe bohrten sich wie ein glänzender Dolch in das bildschöne Gesicht seiner Frau. Sie heulte auf vor Schmerz, doch ihr Gemahl beachtete sie nicht, er hieß die Diener sie anzukleiden und in den Saal zu geleiten. Warmes Blut floss über ihre Wange, sie wimmerte und presste die Hände auf das schmerzende Gesicht, doch die Diener taten wie ihnen geheißen und kleideten die Frau in ein prächtiges, meeresblaues Kleid. Immer noch floss Blut aus ihrer Wunde, die sich quer über ihre Wange zog und rote Blumen erblühten auf dem meeresblauen Stoff, mit jedem Tropfen Blut der ihn benetzte erblühte eine weitere. Die Diener zerrten die schluchzende Frau in den Saal, ihr Gemahl saß auf seinem goldenen Thron und blickte grimmig auf sie herab. Unzählige Menschen tummelten sich im großen Feststahl, sie alle starrten sie an, doch dieses Mal erfüllte nicht Neid oder Bewunderung ihre Blicke nein, ihre Augen waren voller Furcht. Ein Raunen ging um, Finger wurden gehoben und zeigten auf die Frau, auf den langen, blutig roten Schnitt auf ihren blassen Wangen, der ihr Gesicht entzwei teilte. Er zog sich von der linken Hälfte ihres schmalen Kinns, bis hin zur rechten Augenbraue. Tränen glitzerten in ihren Smaragdaugen und erneut tropfte Blut von ihrem Kinn auf das wunderschöne Kleid, einzelne Tropfen hatten sich in ihrem, mit Perlen geschmückten Kupferhaar verfangen und schimmerten wie Rubine im gleißenden Licht der Sonne, die durch die goldgefassten Fenster fiel. Das Raunen wuchs zu einem Meer aus Stimmen, Laute des Mitleids und des Tadels mischten sich in das Tosen von Flüchen und Gelächter. Selbst diese Wunde konnte ihr ihre Schönheit nicht vollends rauben, doch die Menschen in dem Raum zeterten und stichelten.

 

Sie war die Puppe ihres Gemahls gewesen, unbeschreiblich schön, so schön, dass sie nur hervorgeholt wurde um gezeigt und danach erneut in ihren Schrank zurück gesperrt zu werden, doch nun war das Püppchen kaputt! Welch ein Jammer. Das grobschlächtige, pockennarbige Gesicht ihres Mannes wurde puterrot, Zorn funkelte in seinen Augen, wie Scham und Schmerz in den Augen seiner jungen Frau. Brüllend hieß er seine Diener, sie fort zu sperren,  fort zurück in ihre Kammer.

 

So sperrte er sie ein, verbarg ihr Gesicht vor der Welt. Die Zeit verstrich, das Blut hatte aufgehört zu fließen und eine lange, dicke Narbe begann auf ihrem Gesicht zu wachsen. Weinend saß sie in dieser Nacht in ihrer Kammer, bis eine alt bekannte Stimme nach ihr rief und fragte warum sie weinte. Da kam ihr das Bild in den Sinn und sie schob den zerborstenen Spiegel bei Seite und begab sich erneut zu dem Bild. Sie Streckte die Hand aus und der Mann im Bild holte sie zu sich. Kummervoll betrachtete er ihr Gesicht, lauschte ihrer Geschichte und drückte sie tröstend an sich. Sie war immer noch bildschön, selbst wenn eine Narbe ihr Gesicht teilen würde. Er strich ihr über die Wangen und erzählte ihr Geschichten, bis sie in seinen Armen einschlummerte. Wenn sie bei ihm war, war all ihr Schmerz und Kummer vergessen, keinen Gedanken verlor sie an ihren grausamen Gemahl und die Wunde in ihrem Gesicht. Sie schlief und träumte, von dem Mann mit den Mondaugen, dessen Stimme wie das Flüstern des Meeres klang. Hier war sie glücklich, hier war sie frei. Doch alsbald sie an der Seite des Mannes mit den Mondaugen erwachte, erfüllte sie auch die Furcht, denn sie wusste nicht wie lange sie bei ihm gewesen war. Voller Kummer schickte er sie zurück in ihre Welt, zurück zu ihrem grausamen Gemahl, doch sie versprach ihm zurückzukehren.

 

Sehnsucht beutelte ihrer beider Herzen, doch es dauerte nicht lange bis das Misstrauen, das im Herzen des Gemahls spross, ihn in den Turm trieb und was musste er entdeckten? Das Kleid seiner Frau war befleckt mit Erde. Doch wie sollte braune Erde ihr Kleid benetzen, wo sie doch gefangen war, in einem fensterlosen Turm, der fast bis in die Wolken reichte? Wütend fragte er sie ob sie draußen gewesen sei und wie sie dorthin gekommen wäre. Die Frau aber antwortete wahrheitsgemäß, dass sie den Trum niemals verlassen hatte und der Fleck von den Dienern käme, die mit ihren schmutzigen Schuhen zu ihr kamen und ihr ihre Mahlzeiten brachten. So hieß der Mann die Diener all ihre Schuhe zu verbrennen und diese mussten fortan, ob Sommer oder Winter, barfuß die steinernen Treppen des Turmes erklimmen, um der Frau Mahlzeiten und Kleider zu bringen, was Hass in ihnen keimen ließ. Aus Rache spuckten sie auf das Mahl der Frau, streuten ihr giftige Beeren über den Nachtisch und brachten ihr schlechten Wein. Die Frau aber wusste welche Beeren giftig waren, der Mann mit den Mondaugen hatte es ihr erklärt und so mied sie gewisse Mahlzeiten.

Ihre List war schlau gewesen, jeden Tag begab sie sich zu dem Mann in das Bild und selbst die Narbe die nun auf ihrem Gesicht gewachsen war, konnte ihr Glück nicht trüben.

 

Doch eines Tages, als der Mann mit den Mondaugen sie ans Meer mitnahm, durchnässte sie ihr Kleid und es vermochte nicht zu trocknen, bis ihr Gemahl sie besuchte. Sie versteckte das tropfnasse Kleid über dem Himmel ihres Bettes, doch als ihr Gemahl sich auf das Bett setzte, tropfte ein einzelner Tropfen salzigen Wassers auf sein Gesicht. Er stieg auf das Bett und die Frau beobachtete mit Schrecken wie er das tropfnasse Kleid hervorzog. Seine grobe Hand donnerte mit voller Wucht in ihr schönes Gesicht, wimmernd erklärte sie ihm, dass es ihr gar bitterlich leid tat, aber die Diener hätten ihr, anstatt sie zu Baden, einen Eimer Wasser übergegossen, weil sie ihretwegen barfuß gehen mussten. Ihr Gemahl schlug sie ein weiteres Mal, brüllte ihr Warnungen zu, sie solle sich unterstehen ihn anzulügen und zog Grimmig von dannen. Fortan überwachte er die Gänge seiner Diener, aus Angst vor Flecken erhielt die Frau nur noch einen Kelch Wasser und ein Stück Brot.

Mit wachsender Vorsicht besuchte sie ihren Liebsten, den Mann mit den Mondaugen und ihre einst so schönen Besuche wurden von der Furcht entdeckt zu werden überschattet. Doch bald vergaß die Frau dies alles, zu groß waren die Sehnsucht und die Freude des Wiedersehens. Leichtsinn wurde zu ihrem Begleiter und dieser sollte schon bald bittere Tränen fordern, denn das Misstrauen ihres grausamen Gemahls wuchs stetig und als die Diener ihm berichteten, dass sie seine Frau des Öfteren nicht in ihrer Kammer auffanden, schlich er sich eines unglückseligen Tages hoch in den Turm und musste mit ansehen, wie seine Frau hinter dem zerborstenen Spiegel verschwand. Zornig polterte er ihr hinterer und traute seinen Augen kaum, als er sie in ein Bild fallen sah. Grimmig wartete er bis tief in die Nacht, mit einer Fackel in der Hand, bis seine Frau zurückkehren würde. Eifersucht und Hass marterten sein Herz, als er sah, wie sie in dem Bild mit einem Mann umherzog, lachend, glücklich und bildschön. Er ballte die Hände zu Fäusten, Hass loderte in ihm und als die Frau dann endlich aus dem Gemälde stieg, entlud sich alles auf sie.

 

Voller Schrecken weiteten sich ihre Smaragdaugen als sie ihren Gemahl vor sich stehen sah. Eine Fackel brannte in seiner Hand, Hass und Zorn schienen in seinen Augen zu brennen. Er brüllte und stieß sie bei Seite, weinend flehte sie ihn um Gnade an doch, er hatte es nicht auf sie abgesehen, nein. Er zerrte sie an den Haaren mit sich, und stieß sie zu Boden, um sie an der Wand gegenüber dem Bild, in Ketten zu legen. Der Mann mit den Mondaugen blickte voller Entsetzen und Furcht auf seine Geliebte und den Mann mit der Fackel. Angst spiegelte sich in seinen Augen, seine Stimme flüsterte, rief nach ihr doch ihr Klang verwandelte sich von dem zarten Meeresrauschen in ein Zischen, als ihr Gemahl die Fackel auf das Bild schleuderte. Dieses fing Feuer, doch es brannte nicht nur außen, nein, auch in der Welt hinter dem Bild loderten die Flammen und fraßen sich durch alles. Wimmernd und schreiend wand sie sich, zerrte an ihren Ketten und streckte die Hand nach ihrem Liebsten aus. Sie flehte um Hilfe, doch ihr Gemahl stapfte grimmig grinsend von dannen und versperrte die Tür hinter sich. Nun war die Frau allein und musste mit ansehen, wie ihr Geliebter in seiner Welt verbrannte. Voller Verzweiflung streckte sie die Arme nach ihm aus und auch er tat es ihr gleich, doch sie erreichte ihn nicht und die Flammen fraßen sich unerbittlich durch das Bild und seine Welt. Das klägliche Zischen seiner Stimme verklang, das Bild war fast vollends verbrannt und das letzte, was die Frau von ihrem Geliebten sah, war seine brennende Gestalt, die ihre Hände nach ihr rang, verzweifelt in den Flammen um ihr Leben kämpfte und der Schmerz in den seinen Augen. Wie er sie angesehen hatte, sie hatte ihn geliebt und hatte ihm nicht helfen können, hatte mit ansehen müssen, wie er und seine Welt starben. Ihre Augen drohten in Tränen zu ertrinken, sie wünschte sich, dass das Feuer auch sie verschlingen würde, doch alsbald das Bild verbannt war, erlosch das Feuer. Von ihrem Geliebten und seinem Bild war nur noch ein pechschwarzes Loch inmitten eines von Glut glimmenden Rahmens geblieben. Schluchzend betrachtete sie das Loch, doch dies war nicht das einzige, das Feuer hatte auch ein glimmendes Loch in ihrem Herzen hinterlassen. So verweilte sie, starrte das Loch an, das einst ein Bild gewesen war, hinter dem eine Welt gelegen hatte in der ihr Geliebter gelebt hatte. Wie gerne sie ihm in den Tod folgen würde, doch ihre schweren Ketten banden sie auf ewig an diese Welt.

 

Hinter jedem Bild liegt eine Welt. Ihre war so eben verbrannt, doch auch die Welt, in der sie lebte, war nicht mehr, als die Welt hinter einem Bild.

Denn hinter Bildern schlummern Welten, Bilder sind lediglich die Fenster, durch die wir hinein blicken können.

Sie war in eine solche Welt gefallen, eine Welt in einem Bild und hatte sich dort verliebt, in den Mann mit den Mondaugen.

 

Lange Zeit war verstrichen, viele, unendlich viele Jahre und fern ab des goldenen Schlosses im Wald, in einem Schloss auf einer Klippe über dem Meer, saß ein alter, schwacher Mann auf seinem verrottenden Thron. Das Weiß der Wände war längt vergilbt, verblichen waren alle Bilder, verfallen die Mauern, hinfort gewaschen vom Wasser des Meeres. Doch inmitten all dessen saß der Mann auf seinem Thron und betrachtete sein geliebtes Bild, auf dem seine Frau zu sehen war, so wunderschön wie am ersten Tag. Der Mond schien herab und als sein silberner Schein auf das Gemälde fiel, erblickte der Mann eine lange, dicke Narbe auf dem makellosen Gesicht. Die glücklich strahlenden Smaragdaugen wandelten sich in tränenschimmerdne, von Trauer dunkle Augen und der Mann erkannte, dass es sich bei dem Gemälde seiner Frau um ein Abbild seiner Tochter handelte. Die prächtigen Armbänder hatten sich zu Ketten gewandelt, ihr Antlitz war eine Maske aus Kummer und Schmerz. Mit einem Mal kehrte die Erinnerung an seine geliebte Tochter zurück, die er aus Hass verkauft hatte, für ein Gemälde seiner Frau, das in Wahrheit das Abbild seiner Tochter war.

 

Kummer und Pein durchbohrten sein sterbendes Herz, wie vom Donner gerührt wich er zurück, als er in die schmerzerfüllten Augen seiner Tochter blickte, die ihn anzustarren schien. Dieser Schmerz in ihren Augen! Dieser unendliche Kummer! Wie hatte er sie nur von sich geben können, wie! Sein Herz war entzwei gerissen worden und er kippte sterbend von seinem verrottenden Thron. Einzig das Bild seiner Tochter, das er für das Bild seiner geliebten Frau gehalten hatte, stand noch dort, und sie schien aus dem Bild auf ihn herabzublicken, doch in Wahrheit saß sie angekettet in ihrer Kammer, im höchsten der goldenen Türme und blickte in den leeren Rahmen, in dem einst das Bild ihres Liebsten gewesen war.

So saß sie da und dachte an die Welt hinter dem Bild und den Mann, dessen Stimme wie das Flüstern des Meeres klang, ihren Liebsten-

Den Mann mit den Mondaugen.

Von zwei Himmeln und einem roten Meer

Vor vielen Jahren, zu schön und zu lange vergangen, stand einst eine kleine Stadt aus Anthrazit auf einer Insel inmitten eines Meeres, das so blau und klar war wie flüssiger Kristall. Große Türme ragten in den Himmel empor, so hoch als wollten sie das Herz der Sonne durchbohren, sie alle waren glänzend schwarz. Nur wenn der Mond sein weißes Antlitz zeigte, wandelten sich die schwarzen Türme zu silbern scheinenden Gebäuden, denn nur der Mond vermochte es das wahre Gesicht der Welt zu zeigen. Auch das Meer wurde dann silbern, leuchtend und schön, wie es nur bei Nacht sein konnte. Selbst die Menschen legten ihre schwarze, undurchdringliche Haut aus Anthrazit ab und entblößten ihre verwundbare weiße Hülle.

 

Darum verabscheuten die Menschen das Dunkel der Nacht und versteckten sich zeitweilen in ihren Silbertürmen, bis das Licht der Sonne die Welt erneut in ihren falschen Schein bettete. Dann kamen sie wieder hervor, trugen stolz ihre glänzende Haut aus schwarzem Stein zur Schau und weideten sich an ihrem eigenen Großmut. Am Tage waren ihre Augen weiß wie Bergkristall, des Nachts waren sie tiefschwarz, wie es ihre Haut am Tage war. Weiß, glänzend und pupillenlos. Makellos, wie sie es nannten. Die schwarze Stadt erfreute sich niemals über Besucher, auch ohne hohe Mauern traute sich kein Mensch in ihre Nähe. Zu seltsam waren die Leute in der Stadt am kristallblauen Meer.

 

Doch in dieser Stadt aus schwarzem Stein lebten nicht nur Menschen, die vor Selbstsucht, Eitelkeit und Großmut nur so strotzen, nein, in dieser Stadt lebte auch ein Mädchen, das gar allzu anders war als jeder andere Mensch. Zwar war auch ihre Haut aus pechschwarzem, glänzendem Anthrazit, doch ihre Augen waren nicht weiß und leer, nein, sie waren strahlend blau, wie die Tiefen des saphirfarbenen Ozeans. Sie war nicht selbstsüchtig oder gar eitel, nein. Das Mädchen war eine Randerscheinung dieser Stadt, sie war anders und darum allein. Die Leute hatten sie für nicht gut genug befunden, ihre Haut war zu uneben, sie hatte Risse und oh, ihre Augen! Was waren sie nur furchtbar anders als die der anderen! So wurde sie verstoßen und lebte allein in einem Silberturm am Rande der Stadt. Tag für Tag wanderte sie entlang des schwarzen Strandes und beobachtete die Menschen beim Fischen. Wie schön es doch aussah, wenn sie mit ihren Anthrazitschiffen hinausfuhren um die Seidennetze auszuwerfen um zu fischen. Sie brauchten viele Fische, denn hier gab es kaum etwas anderes.  Auf der Insel befanden sich nur die Stadt und die Menschen, mehr nicht. Die Insel selbst war geformt wie ein Berg, an dem die schwarze Stadt empor kletterte. Wie das Haus einer Meeresschnecke sah dies aus, wie das Mädchen fand. Sie liebte es am Strand dahinzuwandern und den Schiffen zuzusehen. Niemals wünschte sie sich, dass sie sinken würden, auch wenn sie noch so furchtbare Dinge zu ihr sagten. Denn dann würden die Menschen untergehen, kaum einer von ihnen konnte Schwimmen. Anders als die Kreaturen, wegen denen das Mädchen an den Strand kam. In den Büchern der alten Bibliothek, die im Höchsten Turm in der Mitte der Stadt lag, wurde von Menschen aus Glas mit Fischschwänzen erzählt, die in den Kristallmeeren hausen sollten. Sie wünschte sich so sehr eines Tages eine solche Kreatur anzutreffen, doch bisweilen hatte sie noch nie eine gesehen.

 

So verstrich die Zeit, aus Tagen wuchsen Wochen und aus Wochen und Monaten wuchsen Jahre. Die Leute auf der Insel lebten in Saus und Braus, denn das Meer gab ihnen mehr als sie brauchten. Es gab ihnen Fische, um zu essen, Perlen, um ihre schwarzen Häuser zu schmücken und es bot ihnen Schutz, vor denen, die auf dem Festland lebten. Nach außen schienen sie stark und unbezwingbar, doch insgeheim fürchteten sie die anderen Menschen, wie sie die Nacht fürchteten. Jemand könnte hinter ihr Geheimnis kommen, jemand könnte erfahren, dass hinter den schwarzen Fassaden silberne Türme und schwaches, weiches, nur allzu verwundbares Fleisch lag. Tag für Tag lebten die Menschen, als gäbe es kein Morgen, fingen mehr Fische als sie essen konnten, was übrig blieb wurde ins Meer geworfen. So häuften sich die Berge aus totem Fleisch, bis die Flut sie fort spülte.

 

Einst hatte die Stadt an der Küste gelegen, eine Hafenstadt, belebt und beliebt. Doch dann entdeckten die Menschen das Geheimnis von Silber und Anthrazit. Noch in diesen Tagen erzählt man sich die Legende des Seemannes, der von der Hafenstadt aus die Meere bereiste und eines Tages die Göttin der Meere selbst fing. Es war ein wunderschöner Tag gewesen, das Meer hatte in den schönsten saphirtönen geleuchtet und das Licht der Sonne war heller gewesen als jemals zuvor. In einer kleinen Bucht, auf einer Insel, fernab des Festlandes hatte eine Frau gelebt. Doch der Seemann hatte seinen Augen nicht getraut, als er sie sah, ihre Haut war glänzend schwarz und kalt wie die See. Ihre Augen waren von einem so stechenden Blau wie die Tiefen des Saphirmeeres und sie war schön gewesen! So unsagbar schön… Die Frau aber lag gefangen in einem Netz, und konnte sich nicht befreien. So flehte sie den Mann an ihr zu helfen. Der Mann forderte eine Belohnung, im Austausch gegen ihre Freiheit sollte sie ihm und den Bewohnern seiner Stadt auch so wunderbare Haut geben. Nach langem hin und her willigte die Frau ein und gab dem Mann, was er verlangte. Doch dann wandte sie sich ab und flüchtete, hinfort in die Tiefen des Kristallmeeres und ward nie mehr gesehen.

Fortan waren alle Menschen in der Stadt schwarz und glänzend wie Anthrazit, mit Augen so weiß und leer wie der Mond. Aus Angst, dass andere ihre Schönheit stehlen könnten, zogen die Menschen fort legten die Stadt in Schutt und Asche und Bauten sich eine neue Stadt auf der Insel, auf der die Frau gerettet worden war. Erneut errichteten sie Türme, doch dieses Mal nicht aus gewöhnlichem Sandstein, nein, sie bauten gewaltige Türme aus Anthrazit und so wurde die schwarze Stadt geboren. Doch wie erschraken die Menschen, als die erste Nacht hereinbrach und sie ihr wahres Gesicht erblickten, so schwach und verwundbar! Sie beschlossen, sich des Nachts niemals nach draußen zu begeben und diese Seite ihrer Selbst zu verbergen. Niemand sprach jemals über die Nacht und so hofften sie dieses Geheimnis zu wahren.

 

Doch je mehr Zeit verstrich, desto weniger Fische wurden gefangen und bald schon erblickte man die ersten fremden Schiffe am Horizont. Eines Tages aber kehrten die Fischer der schwarzen Stadt mit leeren netzen zurück. Sie hatten alles aufgebraucht, keine Fische waren mehr da um gefangen zu werden, keine Perlen mehr um die Hälse der Frauen zu schmücken. Alles war fort und dann kamen sie, die anderen Menschen. Auch sie brauchten Fische um zu überleben und so zogen sie mit ihren Schiffen aus um den Ursprung der Misere zu ergründen. Furcht überkam die Menschen in der schwarzen Stadt und so sah man keinen anderen Ausweg als die anzuflehen, die ihnen all ihre Pracht verschafft hatte.

So zogen sie alle an den Strand um die Göttin des Meeres selbst um Hilfe zu bitten. Der Seemann von einst trat vor, er glich seinem vergangenen Ich bis aufs Haar, jung und schön. Doch dies war er nur bei Tage, wahrlich bei Tage waren sie unsterblich, doch bei Nacht holte sie der Tod, wenn sie ihre Häuser verließen.

Zu dieser Zeit, wenn der Tag und die Nacht sich überschneiden, in diesen Kostbaren Minuten des Zwielichts, tauchte endlich die Frau von einst auf und funkelte die Menschen aus ihren blauen Kristallaugen an. Ihre Stimme donnerte über die Bitten der Menschen hinweg als sie ihre Forderungen stellte. Sie war bereit den Menschen Schutz vor ihren Ängsten zu gewähren und schuf ihnen eine Kugel aus Glas, mit einem Ebenbild der schwarzen Stadt darin. Ihr Preis war jedoch etwas, das niemand der Menschen bereit war herzugeben. Die Göttin forderte ein Leben für das aller und so hieß sie die Menschen einen zu wählen, der zurückbleiben sollte um das Leid und die Strafe zu tragen, das sie alle verdienten. Ein raunen glitt durch die Menge, sie allen waren einer Meinung wer zurückbleiben sollte. So wurde es entschieden und die Meeresgöttin nahm die Menschen fort, mit dem letzten Strahl der untergehenden Sonne waren sie alle verschwunden, einzig das Mädchen mit den Rissen in der schwarzen Haut und den Meeresblauen Augen stand noch am Strand, die Gischt schwämmte den schwarzen Sand von ihren Füßen als sie mit ihren traurigen Augen ins Antlitz des knochenweißen Mondes blickte.

 

So stand sie da, Tränen, so glänzend wie Kristall tropfen aus ihren einzigartigen Augen und benetzen den schwarzen Sand. Auch bei Nacht war sie anders, ihre Haut war nicht weiß und weich, sie war speigelglatt und durchsichtig, wie Glas.

Plötzlich vernahm sie eine helle Stimme und als sie sich umdrehte erblickte sie eine Frau aus Glas mit einem Fischschwanz anstelle von Beinen in der Brandung. Auch ihre Augen waren blau wie die Tiefe selbst, ihre Haut glänzte wie Kristall im Mondenschein und auch die Schuppen ihres Schwanzes schienen aus Kristall zu sein. Das Mädchen trat näher und die Frau aus Glas schenkte ihr ein wunderschönes Lächeln. Ihre Glockenhelle Stimme tönte wie eine Melodie im Wind, als sie das Mädchen tröstete und sagte, dass sie nicht traurig sein solle. Das Mädchen aber klagte über Einsamkeit und schüttete der Frau aus Glas ihr Herz aus. Diese erbarmte sich und versprach sie jede Nacht zu besuchen und so geschah es auch.

 

Zeitweilen lebten die Menschen nun in ihrer neuen schwarzen Stadt in der Glaskugel am Meeresgrund. Hier hatten sie alles, was ihr bodenloses Herz begehrte, doch das war ihnen noch lange nicht genug. Es dauerte nicht sonderlich lange bis sie herausfanden, dass sie bei Tage die Fähigkeiten der schwarzen Frau teilten und sich in den Tiefen des Ozeans frei bewegen konnten ohne zu ersticken. Des Nachts aber verstecken sie sich in ihren schwarzen Türmen, bis das glänzende Licht der Sonne sie am Morgen herauslockte und sie sich erneut ihres wunderbaren Lebens erfreuten. Mehr denn je verprassten sie was das Meer ihnen gab, was sie nicht bekamen stahlen sie sich aus den Tiefen, obgleich sie es brauchten oder nicht. So rodeten sie den Meeresgrund ab, er wurde leerer und leerer und mit jedem Tag wuchs der Zorn der Meeresgöttin. Doch sie konnte nichts gegen die schwarzen Menschen tun, sie hatte sie erschaffen, sie glichen ihr zu sehr.

 

Voller Gram und Zorn, über die Maßlosigkeit dieser Kreaturen, tobte sie am schwarzen Strand auf der Insel, von der all das Unglück gekommen war und so eilte das Mädchen mit der gläsernen Haut und den blauen Augen aus Saphir zu ihr um sie zu trösten. Das Mädchen fragte die Frau warum sie nichts unternehmen könne, wenn sie doch eine Göttin war. Da füllten sich die blauen Augen der Frau mit Tränen und sie erzählte dem Mädchen ihre Geschichte.

 

Vor vielen, vielen langen Jahren war sie eine wunderschöne Frau gewesen, die Frau eines Seemanns, wie sie sagte. Sie hatte ihn geliebt, doch eines Tages war er auf einen Schatz gestoßen, der von einem wunderlichen alten Weib mit pechschwarzer Haut aus Stein bewacht wurde, das ihn nur gegen einen Preis freigab. So verkaufte der Mann die Schönheit seiner Frau für den Schatz und die Frau verwandelte sich in ein Wesen mir Haut aus Anthrazit und Augen aus Saphiren, das auf ewig dazu verdammt war in dieser Pracht zu verweilen. Fortan war die Frau dazu verdammt als ewiges Wesen in den Meeren zu wandeln, doch sie konnte ihren Fluch mit Leuten teilen. Wer würde dies schon wollen? Nie hätte sie gedacht, dass jemand so sein wollen würde, bis sie den selbstsüchtigen Seemann getroffen hatte.

Wie sie so über ihr Leid klagte, dachte das Mädchen nach. Die Menschen in der schwarzen Stadt waren doch nicht unsterblich, nur bei Tage waren sie das. Bei Nacht verließ sie all ihre Stärke und Pracht und sie wurden zu schwachen, weichen Wesen die starben alsbald sie den Schutz ihrer schwarzen Mauern verließen. Doch dies war ein Geheimnis, und wer es jemals jemanden erzählen sollte würde im Schein des Mondes in die Tiefen des Ozeans geschickt werden. Wer aber würde sie nun töten? Sie alle waren fort und hatten sie in Gram und Einsamkeit zurückgelassen. Zudem war es gar grässlich zuzusehen wie die arme, verfluchte Frau sich vor Zorn und Gram über die Machtlosigkeit über ihre Schöpfung im schwarzen Sand wand. Auch im Herzen des Mädchens spross der Zorn über die Menschen, über die Jahre ihres Daseins als Außenseiter war er gewachsen und nun, als sie dastand, Seite an Seite mit der verfluchten Frau mit der sie ihre Unsterblichkeit teilte, beschloss sie ihr zu helfen. Auch sie konnte nicht sterben, das wusste sie, denn als sie eines Nachts als kleines Kind hinausgegangen war um den Mond zu sehen, war ihr ihre Haut durchsichtig und Makellos geworden, anders als bei allen anderen, die spröde und weiß wurden. Auch ihre Augen waren blau geblieben und nicht schwarz wie Pech geworden. Ihre eigene Mutter war es gewesen die zu ihr geeilt war um sie in den Schutz der schwarzen Türme zurück zu holen, doch alsbald sie die schützenden Mauern verlassen hatte, wurde sie schwächer und schwächer. Sie hatte zu den ältesten der Stadt gehört, ihre Haut war spröde und knochenweiß geworden. Risse zogen sich durch ihr Gesicht als sie das Mädchen aus ihren pechschwarzen Augen angeblickt hatte bevor sie in tausende Stücke zersprungen war.

 

Das Mädchen beschloss der Frau aus Glas das Geheimnis der Menschen zu verraten und als diese das hörte, wandelte sich all ihr Gram in blanken Hass und ihr Zorn flammte erneut auf. Die Frau war dem Mädchen so unendlich dankbar, dass sie ihr eine Belohnung versprach, doch das Mädchen lehnte ab. So schrie die Frau voller Zorn in die finstere Nacht und aus dem glasklaren Ozean erhoben sich Wellen, so hoch wie die Türme der Stadt. Dann stieg sie hinab in die Tiefe und lies das Mädchen zurück. Gespannt blickte es in das Meer aus Kristall und wartete im Schein des Mondes.

 

Die Kuppel aus Glas glänze im Mondschein, die Türme der Stadt waren silbern geworden, das Mädchen hatte Recht behalten. Die Frau grinste, lange, dolchartige Zähne lugten aus ihren gläsernen Lippen hervor. Der Zorn ließ ihre Augen glühen, ja, sie glühten so hell wie der Hass auf ihre vermessene Schöpfung. Mit einem Mal wuchs sie in die Höhe, bis sie größer war als die Kuppel selbst. Ihr Schatten umhüllte die Silbertürme und verbreitete unendliche Kälte. Mit einem Schlag ihrer gewaltigen durchscheinenden Hand zerschmetterte sie die Kuppel und sie zersprang in aber Millionen kleine Splitter. Die Menschen winselten und kreischten vor Angst und Schmerz als das kalte, kristallklare Wasser in ihre Lungen drang und sie bersten ließ. Die alten sprangen in Stücke, als das Mondlicht auf sie fiel, die jüngeren versuchten zu fliehen, doch die Göttin zog sie wieder hinab in die Tiefe und riss sie in Stücke, verschlang einige von ihnen, zerriss den Rest und sah den anderen zu, wie sie elendig erstickten. So wütete sie, bis der Mond hinterm Horizont versank und nur noch Trümmer der schwarzen Stadt übrig waren. Das Meer spülte die Reste der Menschen fort und die Frau schrumpfte wieder zu ihrer eigentlichen Größe. Ihr gläserner Körper wurde wieder schwarz wie Anthrazit und ihr gläserner Fischschwanz verschwand und an dessen Stellen kehrten ihre Beine zurück. Niemals wieder würde sie einem Menschen etwas schenken, denn Menschen waren selbstsüchtig, schwach und gierig. Alle Menschen waren im Grunde so. Zufrieden zog sie fort, dorthin, wo das Meer am tiefsten war und dort würde sie bleiben, denn dort existierte weder Gut noch Böse. An diesem Ort währte ewige Dunkelheit, dort konnte sie schlafen, bis in alle Ewigkeit ohne jemals wieder Unheil anzurichten.

 

Das Mädchen stand im schwarzen Sand, der Mond schien hell von Himmel, doch das kristallklare Meer hatte sich rot gefärbt. Rot wie Blut. Die Gischt benetzte ihre Füße und hinterließ rote schlieren auf ihren gläsernen Füßen. Das Meer hatte sie alle ausgespuckt, selbst die eisigen Tiefen wollten die Menschen nicht bei sich haben. Der Strand der Insel war gesäumt von Teilen der Menschen. So viele leblose, geschundene, zerstückelte Körper türmten sich rund um das Mädchen, das auf das weite Meer hinausblickte, welches immer mehr Teile und Trümmer der Schwarzen Stadt und deren Bewohner ausspuckte. Ihr Blut hatte das Meer rot gefärbt und es blieb auch rot, egal wie viele Tage und Nächte auch verstrichen. Selbst im Licht der Sonne wich es nicht, auch dann war es glänzend rot. Die schwarze Stadt verfiel, des Tages schienen die schwarzen Türme  heil, doch der Mond enthüllte nun keine prachtvollen Silbertürme mehr, nein, denn wo einst die silbertürme gewesen waren, erblickte man nun Ruinen. Die Nacht enthüllt stets das Wahre Antlitz der Welt. Das Mädchen aber blieb wie es war, bei Tage pechschwarz, bei Nacht glasklar.

 

Jede Nacht stand sie am Strand, wo das rote Wasser ihre Füße umspülte, blickte mit ihren blauen Augen auf das weite Meer hinaus und wartete bis die Frau aus Glas sie wieder Besuchen kommen würde. Doch die Frau kam nicht, niemals wieder und so blieb das Mädchen allein zurück, inmitten eines Meeres aus dem Blut ihrer Leute, bei Tage in einer prächtigen, schwarzen Stadt, des Nachts in Ruinen aus Silbertürmen und blickte auf das Meer, das einst kristallblau gewesen war, wie ihre Augen. Das Rauschen des Meeres trug die stummen Schreie derer, die ertrunken waren, an ihre Ohren und so stand sie da und lauschte den lautlosen Klagen, dem Klang des Meeres aus Blut und wartete, bereit, in ihrer eigenen Stille zu ertrinken.

Eines Kästchens Klang

 

Die Zeit eilte vorbei, so schnell, dass sie diese Vergangenheit  in unseren Augen wie eine verschwommene Erinnerung verblassen und uns ihre Ereignisse vergessen ließ, als wären sie nicht mehr gewesen, als Sand im Wind. Ja, wie der Wind den Sand forttrug, so trägt er auch diese Erinnerung fort, eine Erinnerung an eine, nur allzu düstere Zeit. Unsere Erde war grau, trist und fade, wie der Himmel es ist, wenn es tagelang  regnet. In der Tat zogen täglich graue Wolken über den grauen Himmel, sie schoben sich vor die Sonne, welche nur blass und fahl hinter ihnen hervor glomm, wie erlöschende Glut. Stille hatte unsere Welt verschlungen, die Menschen waren wortkarg, lediglich die Geräusche ihrer Handlungen drangen an ihre Ohren. So ward manchmal das Rascheln von Papier, das Plätschern von Wasser oder das Pfeifen des Teekessels das Einzige, was man hörte. Diese halblaute Melodie des Alltags war stets die Selbe, Tag ein, Tag aus erklang ihr schnöder Rhythmus, mischte sich in den grauen Hintergrund des grauen Alltags und verschmolz mit ihm in eine fade Monotonie sondergleichen. Zu dieser, wahrlich schrecklichen öden, traurigen Zeit, lebte ein Mann mit seiner Frau und seiner Tochter.

 

Auch sie fristeten ihr Dasein in dieser klanglosen Welt, der Vater, war dem Trott des immer gleichen, farblosen Lebens verfallen. Obgleich er als Händler durch alle Orte dieser Welt zog, sah er dort nichts als das, was er immer sah: Graue, starre Gesichter von Leuten, in ebenso farblosen, steifen Kleider, Blumen, welche noch niemals Farbe gesehen hatten und Kinder, deren Lachen so hohl und leer war, wie ein  Baumstamm, den man ausgehöhlt hatte. Das Mädchen war, wie auch die Mutter, stets fröhlich und fidel. Denn sie hatte etwas, das sie von allen anderen unterschied, sie besaß etwas, das ihrer Tochter und auch ihr selbst Freude bereitete und ihre Welt mit den buntesten Farben füllte. Die Frau besaß eine gar so wunderbare Stimme, die selbst des Himmels Chor vor Neid erblassten ließ. Jedes Mal, wenn das Mädchen sie darum bat, begann sie, mit ihrer glockenhellen, süßen Stimme zu singen und dieser Stimme Klang ließ die Erde beben, die Luft wabern und zauberte die prächtigsten Farben an die tristen Wände. Diese Stimme malte die Kronen der Bäume grün, die Blumen bunt und riss das Grau am Himmel in Stücke, sodass die Sonne in einem türkisen Meer zwischen Wolken baden konnte.

Das Mädchen, damals war es so winzig klein, nicht größer als eine Puppe, lauschte den Liedern seiner Mutter, klatsche in seine kleinen Händchen und lachte. Darauf hob die Mutter das Mädchen hoch, wie leicht es doch war, kaum größer und schwerer als ein Mehlsack, und tanze mit ihm durch den bunten Garten. Wann immer sie sang, waren sie alle glücklich, der Mann tat nichts lieber, als seiner Frau zuzuhören. während er seine kleine Tochter im Arm hielt. Wahrlich, die Frau brachte Farbe in die leere Welt, solange sie sang, so waren sie die glücklichsten Menschen auf dieser Welt. Der Rest der Welt aber blieb trostlos grau und ertrank in Trauer. Doch dies störte den Mann nicht, denn er war glücklich, solange die glockenhelle Stimme seiner Frau durch den kleinen Garten schallte.

 

So verstrichen die Tage, unzählig viele und an jedem einzelnen dieser Tage sang die Mutter ihr Lied. Doch an einem dieser Tage, trug sich etwas gar Fürchterliches zu, der Mann kehrte so eben von einer seiner Reisen heim und fand das Haus in ungewohnter Stille vor. Kein Laut erklang in dem alten Gemäuer, kein Licht drang durch die schweren Vorhänge, die Räume waren kalt und desolat. Unruhe keimte im Herzen des Mannes auf, das drückende Gefühl von drohendem Unheil ruhte so schwer auf ihm wie der graue Himmel über der Welt. An jenem Tag erschien er noch um einiges grauer geworden zu sein, selbst der zarte Schimmer der Sonne war verschwunden. Kummervoll schritt er durch den Garten, die langen Flure und die leeren Räume, auf der Suche nach seinem Weib und seiner Tochter. Plötzlich hallte das Weinen eines Kindes durch den Gang, so leise, kläglich und jämmerlich. Der Mann eilte zu der Tür, am Ende des langen Ganges und schob sie auf. Nahezu lautlos glitt die schwere Holztür auf und offenbarte ihm den Blick auf das Gemach seiner Frau. Das Zimmer war mit dem kostbarsten Möbeln bestückt, ein nahezu gigantisches Fenster nahm fast die gesamte Wand ein und in der Mitte des Raumes, auf einer Erhöhung, thronte ein großes, kunstvoll verziertes Bett auch Ebenholz, mit geschwungenen Beinen und einem Himmel aus Seide. Dort lag seine Gemahlin, in dem Bett, welches sie sich seither teilten.

Doch etwas war anders als sonst, die Frau schien nur weniger geworden zu sein, dahin geschmolzen in der schalen Welt. Dunkle Ringe umrahmten ihre sonst so strahlenden Augen, doch auch der Glanz war ebenfalls fort. Schatten lagen auf ihrem Gesicht wie ein Leichentuch, ihre Haut war nicht grau wie sonst, sie war weiß und schien zu zerfallen, wie ein Stück Papier. Sie blickte ihn aus ihren glanzlosen Augen an und ihre farblosen Lippen verzogen sich zu einem schwachen Lächeln. Das Weinen des Kindes riss den Mann aus seiner Starre, er umrundete das Bett und schritt zu dem kleinen Bettchen, welches durch eine Holzumzäunung geschützt war. Schnitzereien zierten jede einzelne Strebe und Säule des Gebildes und in dessen Mitte, auf der weichen Matratze saß das Mädchen und weinte. Er hob seine Tochter behutsam hoch und begab sich mit ihr zum Bett seiner Frau. Beim, Anblick ihrer Tochter lächelte sie erneut. Das Mädchen streckte die Arme nach seiner Mutter aus, welche die Geste erwidern und ihr Kind in die Arme schließen wollte, doch ihre Hände waren bleischwer und schienen am Laken festgenäht worden zu sein. Von Sorge fast krank rief der Mann den Arzt des Dorfes herbei, dieser aber konnte nichts für die Frau tun. In seiner Verzweiflung bot er ihm all sein Geld und seine Schätze, wenn er nur versuchen würde, seine liebe Gattin zu heilen. Doch alle Mühe war vergebens.

Der Tag erstarb und die Nacht legte ihn schwarzes Tuch über die farblose Welt, alles fiel in einen tiefen Schlaf. Auch der Mann und seine Familie schliefen tief und fest. Als der Mond am nächsten Morgen klammheimlich hinter der dicken Decke aus grauen Wolken die Plätze tauschte, erwachte die Welt langsam aus ihrem faden, traumlosen Schlaf. Der begann wie immer, jeder stand auf um seinen Pflichten nachzugehen, nun, an jenem Tage blieb eine Person zurück. Die Frau lag noch so da, wie sie am Tage zuvor dagelegen hatte. Farblos, glanzlos, kraftlos…Tot. Mit dem ersten Strahl der Sonne der sich in den Wolken verlor, hauchte sie ihren letzten Atem gen Himmel. Ihre Augen brachen und ihre vollen Lippen schlossen sich, für immer. Nie mehr würde ihre wunderbare Stimme das Haus mit Farben füllen, nie wieder würde sie das Leben bunt malen. Ihre Lippen sollten verschlossen bleiben. Eine Flut aus bitteren Tränen drohte den Mann hinfort zu spülen, Kummer und Schmerz sprengten sein Herz schier in tausend Scherben und er drohte, in der Stille zu vergehen. Auch das Mädchen, welches nun schon älter war, ward gezeichnet von Gram. Sie war zwar noch immer jung, doch weh! Das Mädchen war alt genug um zu verstehen, alt genug um zu wissen, zu spüren, dass es seine liebe Mutter für immer verloren hatte. Aus Angst verweilte sie in Stille, selbst an jenem jammervollen Tage, an dem sie ihre Mutter zu Grabe trugen, sagte sie kein Wort. Der Mann hatte seine liebste Gemahlin in ihre Hölzerne Schlafstatt betten lassen, der Pfarrer war gekommen und ein Loch ward im Garten, unter der großen Eiche ausgehoben worden. Wie das Maul eines Ungeheuers klaffte es im Boden, als hätte es Hunger und könne es nicht erwarten, sie alle z verschlingen. Der Segen des Pfarrers waren die einzigen Worte fielen, ansonsten war das Donnern der Erde, die auf die hinab in die Tiefe prasselte, das einzige Geräusch das erklang.

Niemand außer dem Mann, dem Pfarrer und dem Mädchen war anwesend und bald schon verließ der Pfarrer diesen trostlosen Fleck Erde. Nun standen nur noch der Mann in seinem grauen Anzug und das Mädchen in ihrem weißen Kleidchen dort. Das Mädchen weinte, stille, glanzlose Tränen, der Mann aber weinte nicht. Seine Tränen waren bereits versiegt, er hatte keine mehr, die er vergießen könnte. Seine Tochter nahm er kaum wahr, seine Gedanken drehten sich einzig um seine tote Frau. Seine geliebte, verschiedene Frau. Er hätte nicht fortgehen dürfen, dann wäre sie nicht krank geworden… Vorwürfe türmten sich meterhoch in seinem Kopf auf, immer höher wurde diese Mauer in seinem Kopf, bis sie schließlich so hoch gewachsen war, dass sie ihm den Blick auf den Himmel versperrte und seine Welt in Dunkelheit hüllte.

Fortan lebte er nur vor sich hin, blind für sich selbst und den Rest der Welt. Selbst seine Tochter schien er vergessen zu haben. Das Mädchen verkam nahezu in Einsamkeit, Kummer und Stille, seit dem Tod seiner Mutter sprach es kein einziges Wort mehr. Es erschien ihr falsch, zumal ihr Vater selbst nur dann Sprach, wenn es um seine Geschäfte ging. Sie aber war allein, wenn ihr Vater verreiste um Handel zu treiben, blieb sie zurück , Mutterseelen allein, lediglich die alte Frau, die ihr das Essen kochte und für sie Sorgte blieb bei ihr. Die Zeit verstrich und eines Tages, als der Mann wieder auf Reisen und die alte Dame ins Dorf zum Einkaufen gegangen war, saß das Mädchen im Gras unter der alten Eiche und blickte in den leeren Himmel. Fad, farblos, wie eine graue Grütze waberte er dort oben vor sich hin. Das Mädchen seufzte, oh wie oft ihre liebe Mutter doch über den Himmel gesungen hatte! Gedankenverloren saß sie dort, traurig und einsam, verloren im Meer der Stille. Mittlerweile war sie nicht mehr so klein, doch richtig groß war sie auch nicht. Oft fragte sie sich, was sie eigentlich war. Sie fragte sich, ob sie denn Böses getan hatte, anders konnte sie sich nicht erklären, warum ihr Vater nicht mehr mit ihr sprach.  Sie sann lange darüber nach, doch niemals fand sie eine Antwort. Aus ihrem Trübsinn und Verdruss heraus begann sie leise zu summen. Sie summte irgendeine Melodie, denn an die, die ihre Mutter gesummt hatte, konnte sie sich nicht mehr entsinnen. Aus ihrem Summen wurde nach und nach ein Singen und der Wind trug den Klang ihrer zarten Stimme in die Ferne. Er trug ihn an das Ohr ihres Vaters, der voller Schwermut von einer seiner Reisen zurückgekehrt war und so eben den Weg zu dem alten Haus hinauf wanderte.

Der Mann stutze, was war dies für eine herrliche Stimme? Verdutzt schloss er die Augen, er war sich sicher, dass er träumte. Als er sie jedoch wieder öffnete, war der Weg vor ihm plötzlich nicht mehr grau, sondern Zinnoberrot, das Gras war grün und die Blumen, sonst so grau und tot, waren bunt und wippten im Wind zum Takt der heiteren Melodie. Er ließ seine Koffer stehen und folgte der lieblichen Stimme bis in den Garten, hinter dem Haus. Die gelbe Sonne strahlte vom Himmel, welcher in einem so herrlichen Blau glänzte, dass man denken mochte, das Meer hätte sich auf den Horizont verirrt. Inmitten all jener Pracht saß das Mädchen, ihr Kleid leuchtete ebenfalls in allen nur erdenklichen Farben und ihre Augen strahlten so hell, dass selbst die Sonne am Himmel dagegen wirkte, wie eine kleines Kerzenflämmchen im Septemberwind. Dem Mann raubte es fast den Atem, als er seine Tochter erkannte. All die Jahre hatte er sie nicht wahrgenommen, sie verkommen lassen wie eine Puppe, die man in den Schrank stellt und sie dort vergisst. Als sie ihn erblickte verstummte sie augenblicklich und starrte ihn an. Wie hatte er sie nur so behandeln können? Sie war doch alles, was ihm von seiner Frau geblieben war! Mit tränennassen Augen eilte er zu seinem kleinen Mädchen und schloss sie so fest in seine Arme, als wolle er sie niemals wieder loslassen. Wehmütig musste er feststellen, dass sie gar nicht mehr so klein war wie einst. Fortan tat er alles, um sie glücklich zu machen. Sie war sein ein und alles, er konnte es nicht ertragen, wenn sie sich grämte. Sie hatte eine noch schönere Stimme als ihre liebe Mutter und mit jedem Tag, den sie älter wurde, wurde auch ihre Stimme reifer und schöner. Sie füllte seine Welt erneut mit Farbe, gab seinem Dasein Sinn, riss die Mauer ein, die in seinem Inneren gewachsen war und brachte wieder Licht in seine Welt. Das alte Haus war nun wieder voller bunter Farben, denn das Mädchen sang und summte den lieben, langen Tag.

Von diesem Tage an lebten sie glücklich und zufrieden auf ihrem eigenen, bunten Fleck Erde, inmitten der restlichen, grauen, kalten Welt.

 

Doch ihr Glück sollte nicht lange währen, denn an einem regnerischen Tag, als das Mädchen, wieder sang und das Haus wie der Regenbogen strahlte, suchte die alte Dame das Gemäuer auf um nach dem Rechten zu sehen. Was sie erblickte, war so schön und bunt, dass sie ihren Augen nicht traute, doch sie trogen sie nicht, nicht an jenem Tag. Die herrliche Stimme des Mädchens klang zu ihr heraus und sie presste ihr runzeliges Gesicht gegen eines der farbenfrohen Fenster. Wie wunderschön dieser Anblick doch war!

Neid und Eifersucht wallten in ihrem vertrockneten, grauen Herzen auf. Warum teilten diese Leute die Farben nicht mit ihnen, ja warum hielten sie diesen Schatz gar geheim? Das Mädchen, diese kleine Hexe konnte mit ihrer lieblichen Stimme Farben in diese graue, leere Welt zaubern, in der selbst die Vögel stumm blieben und sie wagte es, ihnen diese Gabe vorzenthalten? Sie verkamen in der Monotonie des tristen Graus und dieses kleine Gör tanze in einem Kleid, das heller schillerte als die Flügel eines Engels. Sogleich eilte sie hinab ins Dorf um den Leuten von ihrer Entdeckung zu berichten doch diese zweifelten schlichtweg an ihrem Verstand.

Die Dame aber ließ sich nichts sagen und forderte die Menschen auf, sich selbst von der Wahrheit hinter ihren Worten zu überzeugen. Schlussendlich siegte die Neugierde und die Leute taten, wie ihnen geheißen. Auch sie waren erst überwältigt von all dieser Pracht, niemand hatte zuvor Farben gesehen. Diese Begeisterung

wurde jedoch wie schon zuvor bei der alten Dame, von Neid und Habgier niedergerungen und so beschlossen sie, dass sie diese Farben stehlen würden. Doch wie? Niemand kam an das Mädchen heran, dessen Zunge diese Worte formte, die die Farben herbei lockten. So beschlossen sie, die alte Dame vorzuschicken, die der Mann zu ihr schickte, wenn er auf Reisen ging. Schon am nächsten Tag stieg die alte Dame den Weg zu dem alten Haus hinauf, um dem Mädchen die Farben zu rauben. Es war bereits Nacht geworden und das Mädchen schlief als die Frau in das Gemach des Mädchens schlich und prüfte, ob sie auch wirklich schlief. Als sie sich dessen sicher war, steckte sie ihr ihre langen, knochigen Finger in den Mund und zog ihre Zunge hervor. Mit einem flinken Bewegung holte sie den Dolch unter ihrer Schürze hervor, doch das Mädchen war bereits wach geworden, zappelte, schlug um sich und versuchte zu schreien. Ihre Augen weiteten sich vor Schreck und Schmerz, als die Frau den Dolch hob und ihr die Zunge heraustrennte. Ihr Mund füllte sich mit Blut, jegliche Schmerzlaute wurden zu einem ersticken Gurgeln. Die Dame lachte und eilte ins Dorf zurück, das Mädchen überließ sie dem Schicksal. Es würde ohnehin verbluten. Doch das Schicksal meinte es gut mit dem beklagenswerten Mädchen und es blieb am Leben.

Die Menschen im Dorf begutachteten zeitweilen die Zunge des Kindes, doch was sie auch taten, sie fanden nicht heraus, wie man damit diese wundervollen Farben hervorlocken konnte. So überkam sie der Zorn und man klagte die alte Dame an, gelogen zu haben und obwohl sie die Farben mit eigenen Augen gesehen hatten, schimpften sie die Frau eine Hexe und schlugen sie auf der Stelle tot.

 

Als der Mann voller Freude von seiner Reise heimkehrte, und seine Tochter so voller Kummer vorfand, fragte er sie, nach dem Geschehenen, doch das Mädchen sprach kein Wort. Ihre Lippen blieben verschlossen, nicht einmal ein Zucken der Mundwinkel war zu sehen. So grämte sich auch der Mann, er litt selbst fürchterlich unter dem Schmerz seiner geliebten Tochter. Doch auch er konnte nichts für sie tun und so wurde die Welt wieder grau und leer. Viele Tage starben und der Mann war wieder fortgegangen, um Handel zu treiben. Doch dieses Mal fand er etwas Besonderes, eine kleine, wundervoll verzierte Kiste, die sich ebenso wenig öffnen ließ, wie die Lippen seiner Tochter. Kurzerhand kaufte er das Kistchen und brachte sie seinem Kind. Das Mädchen fragte sich, was sie mit einer Kiste sollte, die sich nicht öffnen ließ und begutachtete sie genauestens. Als sie auf ihr herumdrückte und sie auf dem Boden drehte, sprang plötzlich ein Dorn aus einer der Seiten und das Mädchen zog ihn heraus, bis er wie ein Arm an der Seite der Kiste herausragte. Neugierig begann das Mädchen, daran zu drehen und wie aus heiterem Himmel, drang eine atemberaubende Melodie aus dem Kästchen. Das Mädchen stutze und die Melodie verklang. Hurtig drehte sie weiter und der Deckel des Kistchens begann sich langsam, begleitet vom Klang der Melodie zu öffnen. Die Lippen des Mädchens formten ein Lächeln als sie die kleine Statuette erblickte, die der offene Deckel der Schatulle enthüllte. Solange sie an der Kurbel drehte, spielte das Kästchen sein Lied und die Tänzerin, die dort drinnen wohnte, drehte sich zum Klang des Liedchens. Auch das Mädchen begann zu tanzen und drehte sich mit dem Kistchen in den Händen. Wie der Wind wirbelte sie durch den Raum, der nun wieder schillernd und bunt war. Wie gerne hätte sie das ihrem lieben Vater gezeigt, doch dieser war erneut seiner Pflicht wegen verreist. Ob er am Meer war? Oder in den Bergen? Von nun an war das Mädchen nicht mehr einsam, wenn ihr Vater fort war. Dieses wundersame Kästchen brachte Farben und verscheuchte ihre Angst, wenn es für sie sang. Jede Nacht drehte sie an der Kurbel, wenn die Angst vor der alten Dame sie wieder plagte und um den Schlaf brachte. Sogar der weiße Mond war bunt wenn das Kistchen seine Melodie sang. Viele Male hatte sie überlegt, ihrem Vater mitzuteilen, was ihr wiederfahren war doch wie konnte sie? Sie hatte ihre Stimme verloren, sie konnte nicht mehr sprechen. Schreiben konnte sie auch nicht. So hatte sie es aufgegeben, sie wollte ihren lieben Vater ohnehin nicht noch mehr Gram bereiten. Eines Nachts, als das Mädchen wieder der Melodie des Kästchens lauschte, spazierte der Pfarrer so eben durch das Dorf, sein Blick fiel hinauf zum Himmel und er erschrak gar fürchterlich als den Mond erblickte. Er war Bunt! Ach der sonst schwarze Himmel war dunkelblau und gelbe Flecken leuchteten vom Himmelszelt. Er rief die Leute herbei und sie wussten sogleich, wer dafür verantwortlich war. Eilends hetzten sie zu dem alten Haus, welches schon von weitem zu erblicken war, denn es schillerte in den schönsten Farben. Die Dorfbewohner waren erzürnt, die Alte hatte sie hinters Licht geführt! Nicht die Zunge des Mädchens zauberte, das Mädchen war eine Hexe und hatte sie betrogen. Hinter den bunten Fenstern erklang eine zauberhafte Melodie, die nicht von dieser Welt zu sein schien. Aus Eifersucht, Zorn und Neid holten die Menschen Fackeln herbei und setzten das Haus in Brand. Rote und orange Flammenzungen fraßen sich durch die hölzernen Balken und Wände. Das Mädchen saß in ihrem Bett als das Feuer sie erreichte. Selbst vor ihr machten sie nicht halt, schwarzer Qualm begleitete sie und bedeckte den Boden, die Flammen fraßen ihre Decke, ihr Himmelbettchen und die Vorhänge. Verzweifelt versuchte das Mädchen, um Hilfe zu schreien, doch man hatte ihr die Stimme geraubt. Das rote Meer hatte bereits die Tür gefressen und lag nun undurchdringlich vor ihr, versperrte ihr jeden Fluchtweg und fraß sich schon in ihren Nachtrock. In ihrer Angst ergriff sie das Kästchen und drehte an der Kurbel. Die Melodie schallte durch den Raum und die Tänzerin drehte sich. Auch das Mädchen drehte sich im Takt zum Lied des Kistchens. Tanzte und summte bis die Flammen sie fraßen. Das Feuer fraß alles, begleitet vom Klang des Liedchens nagte es das Haus bis auf die Grundmauern nieder, selbst am nächsten Tage wütete es noch. Der Mann sah dies voller Entsetzen und versuchte, seine Tochter in dem Flammenmeer zu finden. Doch schon als er in seiner Verzweiflung versuchte, das Haus zu betreten, schlug ihm eine Flammenwand entgegen und stahl im das Augenlicht. Langsam verblasste die Welt vor seinen verbrannten Augen, die Flammen wurden grau und erloschen nach und nach. Tränen quollen aus seinen schmerzenden Augen, er hatte nun auch seine geliebte Tochter verloren!. Sie hatte alle Farben mit sich genommen, alles war grau und als die Flammen erstarben, war auch vom Haus nichts mehr übrig. Die Umgebung verschwamm immer mehr, wurde dunkler und schließlich schwarz. So stand er dort, vor den Resten seines Hauses, doch er sah sie nicht. Seine Tochter war fort, tot. Sie hatte alles mitgenommen, alle Farben nur ihn hatte sie zurück gelassen, allein. In seinen Ohren klang ganz leise, kaum hörbar, eine Melodie, ansonsten war alles leer, verlassen und dunkel. Er war allein und ertrank in der Schwärze und der Stille, nur eine wundersame Melodie klang leise in seinem Herzen.

Silbergrau

Zwischen himmelhohen Häusertürmen, Palästen aus Glas , Beton und Stahl lebte ein Mädchen, das wohl kleinste Geschöpf in einer Welt, die den Großen gehörte. All der Rummel und das rege Treiben, das Chaos und der Lärm, die Menschenmassen und Maschinenmengen, all das drohte das Mädchen zu erdrücken. Nein, die Stadt war ein Ort an, dem es sich gar nicht wohl fühlte.

 

Doch die lebte hier, zusammen mit ihrer Mutter, die sie jedoch nur noch selten sah, sie arbeitete sehr viel und sehr lange, das pflegte sie zumindest stets zu sagen. Dem Mädchen war es  egal, es mochte ihren Vater ohnehin viel lieber. Jawohl, das Mädchen liebte ihn auch jetzt noch, wo er doch schon längst fort war, im Himmel, wie sie glaubte. An manchen Tagen wünschte sie sich nichts mehr, als bei ihm zu sein.

 

Dieser Tag war ein solcher.

Der Himmel war grau und so furchtbar leer, die Menschen auf den Straßen schienen noch viel hektischer als gewöhnlich zu sein, selbst ihre Mutter war noch weitaus ungeduldiger, abweisender und aufbrausender als üblich. Niemand schien sie zu bemerken, es war, als wäre sie überhaupt nicht da. Das Mädchen fürchtete, in der Menschenmasse zu ertrinken und klammerte sich noch fester an die Hand seiner Mutter, die es unerbittlich und immer schneller mit sich zerrte.

"Aber wohin gehen wir denn nun, Mama?", fragte das Mädchen zum aber millionsten Mal.

"Fort. Und jetzt komm endlich, ich habe es eilig!", keifte die Frau, die das Kind mit sich schliff wie einen Sack Kartoffeln.

 

Das Mädchen gehorchte und bemühte sich, schnell zu gehen, doch sie war erschöpft, verwirrt und hatte alle Mühe, ihren kleinen aber zum bersten vollen Rucksack zu tragen. Ihr hellbraunes Haar war zu zwei Zöpfen gebunden, die wippten und schaukelten und ihr jedes Mal aufs Neue ins Gesichts klatschten wenn sie sich umsah. Gerade hatte sie ein anderes Kind entdeckt, es hielt einen riesengroßen Lutscher in Händen und saß auf den Schultern eines fröhlich pfeifenden Mannes. Der Blick  des Mädchens war an der riesigen, klebrig-köstlichen Leckerei hängen geblieben, wurde jedoch jäh zurück ins gegenwärtige Geschehen gerissen als die Frau das kleine Mädchen unsanft in ein rostiges, altes Auto beförderte. Die Tür knarze und quietschte als sie vor den Augen des Mädchens zuschlug wie ein Gefängnisgitter.

Das Mädchen schluckte, und starrte aus dem Fenster. Wohin es wohl ging? Wie gerne würde sie ihre Mutter fragen, doch sie wusste, dass sie so wenige Fragen wie möglich stellen durfte. Ihre Mutter konnte so etwas nicht ausstehen, schon gar nicht beim Autofahren. Darum blickte sie lieber aus dem Fenster und beobachtete, wie die gläsernen Häusertürme langsam verschwanden und kleineren Gebäuden wichen, welche ebenfalls nach einer Weile verschwanden. Bald schon hatten sie die Stadt hinter sich gelassen und das Grau des Betons war dem braun von stillen Feldern und kahlen Bäumen gewichen.  Es war Winter und bald würde es zu schneien beginnen. Das Mädchen mochte Schnee, sehr gern sogar, doch in den grauen Tiefen der ruhelosen Stadt wurde er schon nach kürzester Zeit zu matschigem, schmutzig grauen Brei.  Dies jedoch wiederfuhr fast allem und jedem dort. Die Stadt war ein furchtbarer Ort, sie verwandelte alles in eine graue Masse, sei es nun alles Schöne oder all das Glück, das in den Menschen wohnte. Das Mädchen glaubte sogar, dass die Stadt Menschen fraß. Wahrlich, das tat sie, denn manchmal verschwanden Menschen, einfach so und kehrten niemals wieder zurück.

 

Das Rattern und Klapppern des Wagens riss sie aus ihren Gedanken, als ihre Mutter das Auto auf einen kleinen, holprigen Weg zwischen den Bäumen lenkte. Im Frühling oder Sommer bot dieser Weg sicher einen herrlichen Anblick, doch nun, da nahezu alle Bäume, bis auf ein paar Nadelbäume ihre Blätter verloren hatten, wirkte es beinahe so, als streckten die knorrigen Holzgesellen ihre langen, dürren Äste nach ihr aus.

 

Vom anderen Fenster aus, sah das Mädchen Rauch aufsteigen.  Ein feiner Hauch schlängelte sich zum Himmel empor. Sie blickte ihm nach und musste feststellen, dass auch der Himmel hier anders war. Zwar waren auch hier Spuren von Grau zu erkennen, doch es handelte sich um Wolken auf einem sonst eisblauem Himmel. Dann endlich sah sie die Quelle des Rauches: Ein kleines, schiefes Häuschen stand inmitten eines kleinen Gartens, umwuchert von Bäumen wie eine alte Dame, die sich auf ihren Gehstock stützt. Es war so schräg und seltsam schief, dass man glauben möchte, es würde schon seit Ewigkeiten dort stehen und Wind und Wetter trotzen. Der Rauch quoll aus einem steinernen Schornstein, der aus dem tief überhängenden Dach ragte. Es sieht aus wie ein Hexenhaus, dachte das Mädchen bei sich.

Voller Schrecken musste sie feststellen, dass ihre Mutter  hier angehalten hatte und bereits ausgestiegen war. Der Motor seufzte und ratterte immer noch kläglich.

Die Tür wurde aufgerissen und ihre Mutter pflückte das Mädchen vom Rücksitz wie eine überreife Tomate und zerrte sie an der Hand zu einer hölzernen, blauen Tür mit einem runden Fensterchen darin. Auf das Klopfen der Mutter hin öffnete eine alte, runzelige Frau mit wirrem, selber grauem Haar die Tür. Sie stütze sich auf einen knorrigen Stock, was ihr noch viel mehr das Aussehen einer Hexe verlieh.

"Soso, du bist letzten Endes also doch noch gekommen.", krächzte sie und lächelte breit, wobei sie ihre makellos weißen dritten Zähne präsentierte. Der Blick ihrer hellen, kristallblauen Augen fiel auf das Mädchen.

"Was willst du hier?", fragte sie stirnrunzelnd. Ihre Augen fixierten die Mutter des Mädchens. Diese aber sagte nichts. Sie wirkte angespannt, ihre Finger bohrten sich schmerzhaft in die Schulter des Kindes und ihre Kiefer mahlten. War sie zornig? Das Mädchen wusste es nicht. Langsam bekam sie es mit der Angst zu tun. Was um alles in der Welt geschah hier nur?

"Mama...", ihre Stimme war kaum mehr als ein Flüstern, ein Hauch im eisigen Wind.

Ihre Mutter aber sah sie nicht. Es war wie immer. Anstatt ihre Tochter anzusehen bohrten sich ihre Augen in die der alten Frau. Dann ging alles so unfassbar schnell, dass das Mädchen kaum in der Lage war, zu begreifen, was geschah.

"Geh, sie darf bleiben. Aber geh!", brummte die Alte und in ihrer Stimme lag ein seltsamer Klang.

"Sei artig, hörst du?", zum ersten Mal an diesem Tag wandte sich die Mutter ihrer Tochter zu. Diese aber blickte sie nur an. In ihren Augen standen tausend Fragen, Zweifel und Furcht.

"Mama..."

"Sei artig und lerne brav! Versprochen? Du wirst es gut haben...", dann versagte ihr die Stimme, sie wandte sich ab und ging fort.

Ohne ein weiteres Wort des Abschieds stieg sie in den Wagen und brauste davon. Zurück ließ sie ein ratloses, verwirrtes Mädchen und eine alte Frau, die dem Auto mit traurigen Augen hinterher blickte.

Die alte Frau seufzte und gebot dem Mädchen einzutreten, doch das Mädchen weigerte sich.

"Ich darf nicht zu fremden ins Haus.", erklärte sie kleinlaut.

Darauf brach lächelte die alte Frau. "Ich bin doch keine Fremde. Ich bin deine Großmutter."

Verblüfft und verwirrt zugleich trat das Kind über die Schwelle der blauen Tür und gelangte so in eine vollgeräumte, gemütliche kleine Küche. In der Ecke böllerte en Kachelofen, in der anderen Stand ein alter Holzherd. Die Mitte des Raumes wurde von einem Holztisch eingenommen und auf dem dunklen Holzboden vor dem Eingang lag ein bunter, abgewetzter Teppich. Es duftete köstlich nach Gewürzen und am Herd blubberte es in einem Topf.

"Setz dich Liebes, es gibt sicher einiges, das du mich fragen möchtest.", sprach die Frau lächelnd. Sie hatte Recht,  es gab tatsächlich vieles, das das Mädchen sie gerne fragen würde.

 

Während das Mädchen den köstlichen Eintopf aß, den ihre Großmutter ihr aufgetischt hatte, erzählte diese ihr alles, was sie wissen wollte und dass sie von nun an bei ihr leben würde.

"Mama kommt doch wieder, oder etwa nicht?", fragte das Mädchen.

Die Großmutter seufzte und blickte sie lange an. "Jeder kommt irgendwann von dort zurück, wohin er gegangen ist.", erklärte sie, doch ihr Blick sagte etwas gänzlich anderes.

Das Mädchen schluckte ihren Eintopf hinunter. "Ich bin übrigens Sophie", erklärte sie mit all der Tapferkeit, die sie aufbringen konnte.

"Ich weiß.", erwiderte die alte und lächelte ihr Großmutterlächeln. Auch Sophie musste lächeln, zum ersten Mal seit langem.

 

Am nächsten Morgen sah die Welt schon anders aus und während der nächsten Tage und Wochen war Sohpie's Welt eine gänzlich andere geworden.  Sie hatte sich schnell an ihr neues Zuhause gewöhnt, es war zwar klein, steckte aber voller geheimnisvoller Ecken und Winkel. Das Mobiliar war s kunterbunt und alt wie die Großmutter selbst und es gab stets etwas neues zu entdecken. Es war als würde sie in einem richtigen kleinen Hexenhaus leben, nur dass die Hexe ganz und gar nicht böse war. Jawohl, ihre Großmutter war eine freundliche alte Dame, etwas schrullig und manchmal auch streng, aber das machte Sophie nichts aus. Im Gegenteil, sie mochte ihre Großmutter sehr, sie konnte die besten Geschichten erzählen und kannte so viele davon, dass nicht einmal sie selbst diese zu zählen vermochte. Das war auch gut so, denn außer ihrer Großmutter und Sophie selbst gab es hier keine Menschenseele. In einiger Entfernung lag ein Dorf und die Kinder kamen oftmals zum Spielen in den angrenzenden Wald, doch es waren grässliche Kinder, damit hatte ihre Großmutter Recht. Sie wollten nie mit Sophie spielen, weil sie noch so jung war und außerdem war sie ein Mädchen und große Jungs spielen nun mal nicht mit kleinen Mädchen, das wusste doch jeder.

So kam es, dass Sophie sich hier noch viel einsamer zu fühlen begann als jemals zuvor. Ihre Großmutter tat ihr Bestes um sie aufzuheitern, doch auch sie konnte nicht viel tun.

 

Doch dann, an einem klirrend kalten Dezembermorgen blickte Sophie aus dem Fensterchen ihres Dachzimmers und konnte ihren Augen nicht trauen:

Die Welt war weiß geworden.

Rasch zog sie sich an und stürmte ohne Frühstück aus dem Haus. Ihre kleinen Füße hinterließen Spuren im tiefen Schnee, wohin sie auch blickte, alles war weiß und glitzerte.

Es schien als hätte jemand über Nacht eine Decke aus Wolken und unzähligen Diamanten über die Welt gebreitet. Selbst die Bäume trugen weiße Hauben und das kleine Häuschen sah aus, als würde es sogleich unter der Last des Schnees einbrechen.

 

"Oma, woher kommt all der Schnee?", fragte Sophie die alte Frau, als diese gerade die Küche fegte. Sie blickte von ihrer Arbeit auf und musterte Sophie, die über und über mit Schnee bedeckt war.

"Himmel, Kindchen, setzt dich vor den Ofen bevor du dich noch erkältest!" Mit diesen Worten packte die Großmutter Sophie in eine dicke, selbst gehäkelte Decke aus bunten Kacheln, drückte ihr eine Tasse heißen Tee in die Hand und platzierte sie vor dem Ofen.

Dann setzte sie sich ebenfalls in ihren Sessel, nahm ihr Strickzeug zur Hand und begann zu erzählen:

"Also, der Schnee kommt aus dem hohen Norden, von einem Ort, der stets in klirrender Kälte weilt. Dieser Ort ist stets weiß, begraben unter einer Decke aus Schnee und Eis, es ist ein wunderschöner Ort an dem jedoch keine Menschenseele lebt.  Jedoch leben dort die Nordnymphen. Sie sind es, die auf Geheiß ihrer silbergrauen Königin auf den eisigen Nordwinden reiten und den Schnee zu uns bringen. Sie tragen ihn über Meilen weit und streuen dann unendlich viele, klitzekleine Kristalle auf die Welt herab, bis sie ebenso weiß strahlt und schimmert wie der Palast ihrer Königin im ewigen Eis."

 

Sophie staunte. Es zwar nur eine Geschichte, doch wer wusste schon, ob sie wahr war oder nicht? Sie glaubte an die Nordnymphen und die klirrend kalten Eiswinde, immerhin konnte sie sie spüren und des Nachts hörte sie sogar ihr Heulen, wenn sie um das Haus jagten und durch die Ritzen im Dach pfiffen.

 

So wunderschön der Schnee auch war, selbst er vermochte es nicht, Sophie zu trösten. Mit jedem Tag wuchs ihre Traurigkeit und Einsamkeit ein Stückchen mehr und sie wünschte sich nichts sehnlicher als einen Freund.

 

Eines Tages, als Sophie durch den Wald spazierte erblickte sie eine seltsame Gestalt, die einsam und alleine im Schnee stand. Neugierig näherte sie sich dem komischen Kauz. Nanu, was war das? Es war ein Mann aus Schnee! Er war so groß wie sie selbst und bestand aus drei Kugeln. Auf seinem Kopf trug er einen schwarzen Zylinder und seine Nase war lang und orange- eine Möhre!

"Du bist ja ein Schneemann!", lachte Sophie.

Auch der Schneemann lachte sie mit seinem Mund aus Kohlen an. Aber etwas trauriges lag in seinen Zügen.

"Was hast du denn?", fragte Sophie und musterte ihn gründlich.

"Oh, natürlich! Du bist ja gar kein richtiger Schneemann! Dir fehlen noch Kohlenköpfe, Arme und ein Schal!"

Sophie sprach mit dem Geschöpf aus Schnee als wäre es ein lebendiges Wesen und ihr kam es vor, als würde der Schneemann ihr bestätigend zunicken. Konnten Schneemänner denn überhaupt nicken? Sophie wusste es nicht. Doch sie wusste eins: Er brauchte Arme, Knöpfe und einen Schal um ein richtiger Schneemann zu sein.

Also stürmte sie nach Hause um ein paar Kohlen aus der Kiste neben dem Kamin zu stibitzen, schnappte sich einen Schal und sammelte unterwegs noch zwei Äste ein ehe zurück zu ihrem neuen Gefährten stapfte. Wenig später steckte sie ihm die Äste als Arme an und befestigte die Kohleknöpfe an seinem Körper. Dann schlang sie ihm den langen, roten Schal um den Hals und musterte ihn von neuem.

"Jetzt bist du ein richtiger Schneemann!", verkündete sie voller Stolz.

Der Schneemann aber blieb stumm, so stumm wie Schneemänner eben sind. Das einzige, das zu hören war, war das wispern des eisigen Windes, der durch die Schneebedeckten Bäume brauste.

"Das ist der klirrend kalte Nordwind auf dem die Nordnymphen reiten." , erklärte Sophie dem Schneemann.

"Sie bringen uns den Schnee, weißt du? Natürlich weißt du das, du bist schließlich aus Schnee. Das heißt... Du bist aus dem Norden! Wie ist es da, hast du jemals die silbergraue Königin gesehen?", fragte sie den Schneemann, doch dieser blieb Stumm. Er blickte sie lediglich aus seinen unendlich tiefen, schwarzen Kohleaugen an, fast so als ob er ihr gerne antworten würde.

Sophie aber kümmerte es nicht, ob er ihr antwortete oder nicht. Sie hatte jemanden gefunden, der ihr zuhörte und mit dem sie sprechen konnte. Jemand, der dies tat und der nicht ihre Großmutter war. Ihre Großmutter war sehr liebenswert und freundlich, doch das sind Großmütter fast immer. Sie liebte sie über alles doch nun hatte sie gefunden, was sie sich immer schon gewünscht hatte: Einen Freund.

Zwar bestand er nur aus Kälte und Kohlen, hatte Astarme eine Karottennase und trug einen roten Schal, doch das machte ihr nicht aus. Sie hatte endlich einen Freund gefunden und er war ein richtiger, echter Schneemann!

 

Von diesem Tage an besuchte Sophie ihren Freund jeden Tag und erzählte ihm alle Geschichten die sie kannte. Sie erfand sogar selbst einige und mit der Zeit kam es ihr so vor, als würde der Schneemann schon auf sie warten, wenn sie ihn besuchte und sich vor ihm in den Schnee setzte. Manchmal spazierte sie auch um ihn herum oder machte Schneeengel, zeigte ihm Bilder, die sie für ihn gemalt hatte oder brachte ihm einige Kekse, die ihre Großmutter gebacken hatte.

Der Großmutter hingegen war es ein Rätsel, wohin all die Kekse verschwanden und sie wunderte sich auch über den Verbleib ihres roten Lieblingsschals.

 

Eines Abends, fragte Sophie ihre Großmutter, ob ein Schneemann eigentlich lebendig sei.

"Nun...", sagte die Großmutter, "Auch leblose Dinge können lebendig sein, solange sie jemanden haben, für den sie leben. "

"Wirklich!?" Sophie's Augen strahlten.

"Aber natürlich, Kindchen. Warum fragst du?", antwortete die Großmutter.

"Weißt du, ich habe einen Freund gefunden.", erklärte Sophie.

"Das ist schön, Liebes, das ist schön....", darauf schlummerte die Großmutter ein und auch Sophie war todmüde und begab sich ins Bett.

 

Sie verbrachte jeden Tag draußen bei ihrem Schneemann und jeder Tag verging wie im Flug. Wahrlich, die Zeit flog dahin wie die Eiswinde selbst und bald schon wurden die Winde schwächer und die Sonne wärmer: Der Frühling stand vor der Tür und eines Tages wurde Sophie etwas grausiges Bewusst: Die Sonne würde ihren Freund vernichten, zum Schmelzen bringen würde sie ihn und dann wäre er fort, für immer fort!

"Großmutter, Großmutter!", verzweifelt  stolperte Sophie ins Haus.

"Großmutter, was kann ich gegen den Frühling tun?"

Ihre Großmutter blickte sie verwirrt an. "Du lieber Himmel, was hast du gegen den Frühling? Du kannst nichts tun..."

"Aber warum denn nicht? Er macht, dass der Schnee schmilzt!"

Die Großmutter nickte. " Das ist nun mal der Lauf der Welt, Liebes."

"Das ist nicht fair!", wütend stürmte Sophie hinauf in ihr Dachzimmer und lies ihre Großmutter in der Küche zurück.

 

In dieser Nacht fand Sophie keinen Schlaf. Sie musste doch etwas unternehmen können, um ihren Freund zu retten, er war einzige den die hatte! Das Haus knarze und Seufze und draußen heulten die Eiswinde. Sie waren schwächer, aber immer noch gut hörbar. Aber natürlich! Die Eiswinde! Dort, wo sie herkamen, lebten die Nordnymphen und ihre silbergraue Königin, die Herrin des Winters. Sie würde Sophie sicher helfen können, ihren Freund zu retten und Sophie wusste genau, was sie tun musste: Sie würde in den hohen Norden reisen und die Hilfe der Herrin des Winters erbitten. Noch in derselben Nacht packte sie ihren kleinen Rucksack und brach auf.

 

Die Kälte der Nacht nagte an ihren Knochen und der Schnee knirschte unter ihren Schuhen als Sophie durch den Wald  stapfte. Der Schnee glitzerte im Licht des Mondes noch viel schöner als in der Sonne und die Welt schien aus Silber gemacht zu sein. Bitterkaltem Silber.

Ihr Atem schwebte in Wölkchen vor ihrem Mund, ihre Nase und ihre Wangen waren rot und ihre Zehen schon taub gefroren. In dieser Nacht schien der Frühling noch unendlich fern zu sein, doch der Gedanke, dass er bald kommen würde trieb Sophie vorwärts. Sie wusste nicht wohin sie ging, oder wie lange sie schon dahinwanderte, doch sie würde nicht aufgeben.

Nach einer schier endlos langen Weile musste Sophie sich eingestehen, dass sie nicht mehr wusste, wo sie war und wohin sie gehen sollte. Der Mond war verschwunden, es war dunkel und kalt. Überall lauerten Schatten und der Wind heulte furchterregend. Sie hatte sich verlaufen und war mutterseelenallein. Würde sie jemals den Palast der silbergrauen Königin finden? Sie wusste es nicht. Was, wenn nicht? Dann musste ihr Freund sterben, schmelzen würde er und er würde unwiederbringlich fort sein, auf ewig.

Schon der bloße Gedanke daran schmerzte Sophie. Sie war verzweifelt und hoffnungslos verloren und in all ihrer Verzweiflung und Hilflosigkeit begann sie zu weinen und zu klagen. Wahrlich, sie weinte so bitterlich, dass sich die Eiswinde erbarmten und die Nordnymphen ihren Ritt unterbrachen um zu sehen, woher dieses grauenvolle Wehklagen stammte.

So fanden sie das kleine Mädchen, das halb erfroren im  tiefen Wald saß und weinte. Sie fragten es, was sie hier tat, allein im Wald im kalten Schnee und Sophie erklärte ihnen, wen sie suchte und aus welchem Grund sie das tat. Hauchzarte Wesen waren das, diese Nordnymphen. Wunderschöne Geister aus eisigem Hauch, die glänzten wie der Schnee.  Sie hatten Mitleid mit dem armen Mädchen und nahmen sie mit. Auf den Eiswnden ritten sie mit ihr hinauf in den hohen Norden, zum Palast der silbergrauen Königin.  An der Schwelle setzten sie sie ab und Sophie war wieder allein. Doch sie hatte ihr Ziel erreicht: Vor ihr ragten die silbrig weißen Kristallspitzen der Eistürme empor und bohrten sich in einen sternenklaren Himmel. Hier war es noch viel, viel kälter als Sophie es sich vorgestellt hatte.

Sie fasste all ihren Mut zusammen und klopfte an die hohe Pforte aus Eis. Einige Augenblicke lang blieb es still, selbst die Eiswinde hatten ihr Heulen unterbrochen und schienen zu lauschen. Dann aber öffnete sich die Pforte mit sanftem Klirren und eine große Gestalt in einem silbrig-schimmernden Umhang trat hervor.  Auf ihrer Brust ruhte ein kleines, silbergraues Herz, das im Mondlicht schimmerte. Es war das selbe Herz, das alle Nordnymphen bei sich trugen.  Jedes lebendige Geschöpf des Winters erhielt ein solches Herz von der Königen, genau so hatten es die Nordnymphen der kleinen Sophie während ihrer Reise erzählt.

Sophie stockte der Atem. Sie zweifelte keine Sekunde daran, dass sie die Königin der Nordnymphen vor sich hatte. Die Haut der Gestalt war von so zartem weiß wie der Schnee selbst und ihre langen Haare glänzen so silbrig wie die Eisblumen, die der Frost an die Fenster malte. Die Herrin des Winters blickte das kleine Mädchen auf ihrer voller Verwunderung aus ihren silbernen Augen an. Sie funkelten wie Sterne als sie Sophie nach ihrem Begehr fragte. Ihre Stimme klang wie das feine, süße Klimpern von Eiszapfen, wenn diese aneinander stießen.

Sophie erklärte der silbergrauen Königin ihren Wunsch. Diese aber blickte sie nur traurig an und sagte, dass selbst sie es nicht vermochte, einen Schneemann nicht zum Leben zu erwecken.

Doch als sie in Sophies traurige Augen blickte, versprach sie ihr, dass sie etwas unternehmen würde, um ihren Freund zu retten. Mit diesem Versprechen  trugen die Eiswinde Sophie zurück nach Hause.

 

Als Sophie am nächsten Morgen zu ihrem Schneemann ging, musste sie feststellen, dass er nicht lebendig geworden war. Im Gegenteil, er sah eingefallen und krank aus. Ja, fast so, als wäre alles Leben aus ihm gewichen. Sein Zylinder saß schrecklich schief und drohte ihm von Kopf zu fallen.

Er bot einen wahrhaftig kläglichen Anblick, der selbst den Nordnymphen das Herz schmelzen lassen würde.

Tiefe Trauer übermannte Sophie. Sie war gescheitert und selbst die silbergraue Königin, die Herrin des Winters selbst hatte versagt. Sie umarmte ihren Freund, ihren Schneemann und bitterste, heiße Tränen kullerten über ihre roten Wangen. Sie weinte und schluchzte, fühlte sich als könnte sie gar nicht mehr aufhören. Als würde sie auf ewig traurig sein. Und mit ihrer Hoffnung schmolz der Schnee dahin, ihr Freund zerfloss in ihren Armen, rann hinfort unter ihren heißen Tränen.

"Liebe Sophie, warum weinst du denn?", eine Stimme, so flüsternd wie die Eiswinde erklang und Sophie blickte auf. Ihr Freund, der Schneemann, war verschwunden. An seiner Statt saß ein kleiner rundlicher Junge mit schneeweißer Haut, kohleschwarzen Augen und einem roten Schal vor ihr im Schnee und blickte sie verwundert an.

Fassungslos starrte sie den Jungen an.

"Was starrst du denn so? Erkennst du mich nicht mehr?", fragte der Junge und grinste.

Dann erst begriff Sophie, was geschehen war. Ihr Freund lebte! Er war lebendig! Zwar er nun kein echter Schneemann mehr, dafür jedoch ein richtiger, echter Junge!

Sie konnte ihr Glück kaum fassen und obendrein konnte sie es kaum erwarten, all das ihrer Großmutter zu erzählen.

Nun hatte sie einen Freund, den ihr niemand mehr nehmen konnte, selbst der Frühling nicht.

Freudenstrahlend machten sich die beiden auf zum Haus der Großmutter, welche aus dem Staunen nicht herauskam.

Von diesem Tage an lebte Sophie mit ihrem Freund im Haus ihrer Großmutter. Noch am selben Abend fragte sie ihn, wie es überhaupt möglich gewesen war, dass er lebendig werden hatte können. "Ganz einfach. Darum, schau!",mit diesen Worten grinste er und streckte Sophie seine Hand entgegen.

 Dort lag, klein und glänzend, ein silbergraues Herz.

Ein solches, wie es jedes Geschöpf des Winters von der Königin der Nordnymphen erhielt, wenn es von jemandem geliebt wurde.

 

Blutweiß & Knochenrot

Dort, wo ewiges Weiß herrscht, weit fort, wo der Frost das Land unter seinen glitzernden Decke aus samtigem Weiß begräbt, lag ein kleiner Ort, den die Zeit selbst vergessen zu haben schien. Weiße Hügel wogten über weiße Wiesen, weiße Wälder durchzogen weiße Täler und inmitten eines dieser weißen Wälder, stand ein ebenso weißes Haus aus Porzellan. Zwiebelförmige Dächer mit gezwirbelten Spitzen ragen hoch in den Alabasterhimmel, Türme, so hoch als wollten sie Löcher in den Horizont stechen, ragten aus dem weißen Grund und eine Kuppel aus feinstem Kristall, der in der Sonne schimmerte wie flüssiges Glas, thronte über dem Mittelschiff des Palastes aus Porzellan. Dort, auf den Hügeln, hoch über der Bucht des Gläsernen Meeres lag er, still verlassen und von aller Welt vergessen. Der Palast aus Porzellan. Wahrlich, niemand hatte je so ein herrliches Monument erblickt, himmelsgleich war seine Schönheit, doch sie blieb jedem verwehrt. In diesem Wunderwerk aus weißer Pracht wohnte ein reicher Handelsmann mit seiner Tochter. Abgeschieden von der Welt lebten sie hier, mutterseelenallein, vergessen von allen, vom Leben ja sogar die Zeit schien sie in diesem ewigen weiß verloren zu haben. Einzig die Nacht brachte finstere Schwärze und breitete ihre dunkle Decke über der kleinen, weißen Welt aus. Der Mond zeigte dann sein kaltes Gesicht, das selbst die Alabasterbäume um den Porzellanpalast grau erschienen ließ. Selbst er hatte Mitleid mit dem kleinen Mädchen, das dort aufwuchs, allein. Einzig eine alte Dame war dort, um auf es Acht zu geben.

Doch dem war nicht immer so. Viele Jahre war es her, doch damals lebte der Mann mit seiner Frau und seiner Tochter in einer kleinen Stadt, fern ab dieses Ortes. Sie waren glücklich und fristeten ein gar wundervolles Dasein in Einklang und Freude. Nun, wie des Schicksals grausem Spiel es will, währte dieser Frieden nicht lange und eine Welle aus Krankheit und Tod überrollte den Ort und riss die Frau des Händlers mit sich, hinab in das schwarze Reich. Die Seele der Frau aber war rein und so gewährte der Tod ihr einen letzten Wunsch. Selbstredend tat die Frau einen solchen kund und der Herr des schwarzen Reiches ließ ihre Seele ziehen, dorthin, wo sie zu ziehen wünschte, wann immer es ihr beliebte. Die Frau zahlte ihren Preis und suchte sodann nach einem Ort, an den ihre Seele ziehen konnte.

Der Tod aber mahnte sie, denn sie konnte nur einen Ort wählen, an dem ihre Seele auf ewig weilen musste und ewig war wahrlich eine lange, lange Zeit. Doch egal wie viel Zeit verstrich, die Frau fand keinen Ort, an dem sie bleiben wollte, denn ihre Seele sehnte sich nach ihren Lieben. So besann sich der schwarze Fürst und bannte die Frau erneut in eine Gestalt, steckte sie in ein Behältnis und warf sie zurück in die Welt der Lebenden.

 

Der Mann aber blieb von den Mühen seiner Frau unbehelligt, denn er weilte mit seiner liebsten Tochter weiter in der weißen Welt. Aus Gram und Kummer über das Scheiden seiner geliebten Frau zog er mit seiner Tochter fort. Niemals wollte er sie verlieren, nie sollte sie mit Krankheit, Kummer oder gar dem Tod in Berührung kommen, nein. Dies war des Mannes größte Angst und so baute er ihr, auf einem Hügel über einem weißen Strand einen weißen Palast aus Porzellan, wo sie fortan aufwuchs. Er selbst hielt es dort keines Weges aus und so suchte er eine alte Frau auf, die ihm gegen einen Preis anbot, über sein liebstes Kind zu wachen, alsbald er sich auf Reisen begab. Sie war zwar alt, doch der Mann konnte unmöglich schätzen wie alt sie wirklich war, ihre Augen jedoch waren wachsam, wissend und hatten wahrlich schon mehr gesehen, als sie anmuten ließen. Sie waren weiß, wie die Welt selbst und schienen vollkommen aus Bergkristall.  Ihr Gewand war ebenfalls weiß und ihre linke Hand steckte in einem samtenen Handschuh. Der Frau aber legte er mehrerlei Ordern auf. Sie sollte über das Kind wachen, ob Tag oder Nacht, gleich wann. Überdies sollte sie das Kind hüten und pflegen, als wäre es aus Glas.

 

An letzter und wohl wichtigster Stelle, aber hieß er sie, das Kind im Hause zu halten, gleich was es kosten wolle. Mit erhobenem Finger und strengem Blick mahnte er sie als er den Porzellanpalast verließ, dass sie das Mädchen niemals fort lassen sollte, glich was dort kam. Auch wenn es noch betteln und flehen sollte, niemals durfte sie in weiße Welt hinaus, denn diese Welt hatte schon ihre geliebte Mutter aus dem Leben gerissen.

Die Frau aber zweifelte an der Order des Mannes, doch der Mann trug ihr auf, das Kind hörig zu machen, gleich welcher Strafe es auch bedurfte. Seufzend sah die alte Frau ihm aus ihren weißen Augen nach wie er fort zog und seine Tochter zurück ließ, eingesperrt in einem Palast aus Porzellan.

 

Die Tage zogen über die weiße Welt hinweg und das Mädchen wuchs in seinem Porzellanpalast heran, beobachtet und bewacht von der Frau mit den weißen Augen, die alles sahen. Das Mädchen war nicht unglücklich, nein, sie mochte den Palast und tat nichts lieber, als den ganzen Tag über durch die zahllosen Räume zu streunen, immer auf der Suche, nach etwas, das sie noch nicht gesehen hatte. Und wahrlich, davon bot der Palast zuhauf. Er hatte mehr Räume und versteckte Kammern als jedes Schloss dieser Welt, zudem schlängelten sich Gänge durch den Untergrund, die zu versteckten Bibliotheken führten, oder in neue Türme mündeten, in denen man die herrlichsten Schätze finden konnte. Am liebsten jedoch saß sie in der großen Halle, über der die Kristallkuppel prangte. Herrliche Blumen aus Mondstein und weißem Achat türmten sich in diesem Raum, Efeu aus Elfenbein rankte sich über die Rippen der Kristallkuppel und Blüten aus Bergkristall und Diamanten säumten den Boden aus blank poliertem Glas. Kein einziges Fädelchen einer richtigen Pflanze befand sich in diesem Porzellanpalast, kein Hauch einer Farbe ward weit und breit zu sehen, nein. Die Welt des Mädchens war weiß. Die Dame nähte ihr sie prächtigsten Kleider aus den edelsten Stoffen, und es trug Schmuck aus Diamanten und Kristall, doch Farben kannte es nicht. Selbst die Haut des Mädchens war weiß, wie auch ihre Haare und die Welt rings um sie herum. Einzig die Augen des Mädchens waren anders. Sie waren von einem prachtvollen Goldton, mit honiggelben Sprenkeln und goldenen Ringen.

Die alte Dame beneidete sie um diese prächtigen Augen, zumal sie das einzig färbige in dieser weißen Welt waren.

 

Auf das Geheiß des Mannes sorgte sie dafür, dass das Mädchen nie in den Spiegel sah, damit es seine Augen nicht erblickte und nicht fragen konnte, ob es denn auch andere Farben gäbe. Farben bringen Unheil, so pflegte der Mann zu sagen. Seine Frau hatte Farben geliebt, vor allem Rot. Aufgrund dessen verbannte der Mann alle Farben aus der Welt seiner Tochter, doch für sie gewann all dies nur an Normalität, denn alles andere war ihr gänzlich unbekannt. Das Mädchen kannte nur das Innere des weißen Palastes, Fenster gab es keine. Einzig die zahllosen Bücher waren ihre Pforten in die andere Welt, die dort draußen war. Doch selbst dessen war sich das Mädchen nicht sicher, denn die Frau sagte, dass nicht alles, was in Büchern stand, der Wahrheit entsprach.

 

Die Zeit verstrich und das Mädchen wurde größer und mit  ihr wuchs auch die Neugierde und die Langeweile, die sich allmählich in ihr breit machte. Sie kannte den weißen Palast in und auswendig, wusste wo jeder Gang hinführte, was in jedem Buch stand und was sich hinter den Türen verbarg, ja selbst die Anzahl der Blüten in der gläsernen Halle kannte sie! Auch ihr Interesse für Bücher wuchs, obgleich sie sie schon kannte, sie verschlang sie immer wieder aufs Neue, so angetan war sie von den Welten, in die sie sie zu entführen vermochten. Rastlos huschten ihre goldenen Augen über die Seiten und verschlangen die blass grauen Buchstaben, die auf den weißen Seiten kaum zu lesen waren. Mit wachsender Sorge musste die Dame zusehen, wie das Mädchen immer öfter versuchte, einen Ausweg aus dem Palast aus Porzellan zu finden. Doch es gab nur einen Ausgang und dies war die Pforte aus Alabaster, die man nur durch einen Tunnel, tief unter dem Gewölbe des Plastes erreichen konnte. Es existierte nur ein Schlüssel zu diesem Tor, doch die Frau hütete ihn wie einen ihrer weißen Augäpfel und hielt ihn versteckt, in einer kleinen Schatulle neben ihrem Bett. Doch nur des Nachts war er dort, bei Tage trug sie ihn mit sich, aus Angst, dass das Mädchen ihn entdecken könnte.

 

Das Mädchen aber war nicht dumm und so trug es sich zu, dass es die Dame einmal beobachtete, wie sie in die Gewölbe hinab steig und zum Tor schritt. Sie lauerte ihr auf und sah, wie die Alte sich vor dem zu Bett gehen, den Schlüssel abnahm und ihn in der Schatulle versteckte. Alsdann als sie schlief, schlich das Mädchen in das Gemach der Dame und holte den Schlüssen aus seinem Versteck. An dessen Stelle legte sie einen anderen, den sie aus den Schatzkammern geholt hatte.

 

Schnell raffte sie den Saum ihres Kleides und trippelte zu dem Tor hinab, die Schritte ihrer weißen Schuhe hallten durch den Gang, von dessen Decke weiße Steine hingen, die aussahen wie Eiszapfen, die sich jeden Moment von der Decke lösen konnten und auf jeden hernieder prasseln konnten, wie ein Regen von Dolchen aus Kristall und weißem Glas. Tatsächlich, in diesen Gängen war es kalt, der Atem des Mädchens formte kleine Wölkchen. Endlich erreichte sie die weiße, von Schnörkeln und Mustern durchzogene Pforte und steckte den Schlüssel in das Schloss. Mit einem Klirren wie von tausenden Gläsern schwangen die Flügel der Pforte auf und gleißendes Licht flutete das Gewölbe. Mit zusammengekniffenen Augen trat das Mädchen ins Freie, weißer Sand knirschte unter ihren Schuhen, ihre goldenen Augen leuchteten im gleißenden Licht das von Himmel auf die weiße Welt schien und sie ausleuchtete, wie eine Bühne. Fasziniert trat das Mädchen weiter in diese neue, weiße Welt hinaus, bis das klare Wasser des Meeres ihre Schuhe durchnässte. Erschrocken blieb sie stehen und blickte auf ihre Füße hinab. Flüssiges Glas schwemmte den Sand fort und bildete weiße Schaumkronen, die auf den Fluten tanzten. Das Licht brach sich in diesem prachtvollen Meer aus Glas, brachte es zum Leuchten und tauchte das Porzellangesicht und die goldenen Augen des Mädchens in einen funkelnden Schein. Lachend ging sie weiter in das schäumende Nass, bis eine kleine, weiße Kassette ihre Aufmerksamkeit auf sich zog. Einsam und allein lag sie dort im weißen Sand, bedeckt von kleinen Tröpfchen aus diesem flüssigem Glas. Schnell nahm sie es an sich und versteckte es unter dem Saum ihres Kleides. Doch langsam packte sie die Angst, sie wusste nicht, wie lange sie schon fort war, die alte Dame könnte sie jeder Zeit finden! In Windeseile stürmte sie zurück, legte den Schlüssel an seinen Platz und versteckte sich in ihrem Zimmer. Dort holte sie auch die kleine Kassette hervor und begutachtete sie.

Gebannt betrachtete sie die vielen Muster und Verzierungen aus Perlen und fragte sich, was wohl darin sein könnte. Welches Geheimnis barg dieses Kästchen aus der Welt dort draußen wohl? Barg es Schätze, Gold oder Juwelen? Möglicher Weise steckte auch etwas ganz anderes darin, doch was nur, was?

Lange rätselte sie, doch dann überwältigte die Müdigkeit das Mädchen und es fiel in einen tiefen Schlaf.

 

Des Mondes Gesicht prangte am schwarzen Himmel und blickte hinab auf den Porzellanpalast, in dem das Mädchen schlief, die Schatulle in seinen kleinen, weißen Händen haltend. Plötzlich aber tat sich deren Deckel auf und eine kleine Gestalt in einem weißen Kleid stieg aus dem Kästchen hervor. Ihr Körper war weiß, ebenso wie ihr Kleid, welches in einen buschigen Tüllrock mündete doch ihr Korsett hatte wahrlich fragwürdige Form. Ja, es mutete  fast so an, als hätte es die Form einer Violine. Haare, so rot wie Bäche aus gerinnendem Blut bedeckten die zierlichen Schultern der Frau. Sie war klein, ja fast winzig und ähnelte einer Puppe aus Porzellan. Lächelnd betrachtete die weiße Frau das Kind, setze sich auf die Kante der Schatulle und zog einen weißen, kunstvoll gefertigten Bogen unter dem Saum ihres Kleides hervor und begann, auf ihrem Violinenkörper zu spielen.

 

Das Mädchen erwachte und erblickte die Violinenfrau die dort auf der Schatulle saß und ihre Beine über den Rand baumeln ließ, während sie die schönste Melodie spielte, die das Kind je gehört hatte. Die weiße Frau lächelte und in ihrer glänzenden Haut spiegelte sich das Gesicht des Kindes. Vollkommen verzückt betrachtete sie die Violinspielerin die lächelnd ihre Melodie spielte. Die ganze Nacht spielte sie für das Kind, bis das Antlitz des Mondes vom Himmel verschwand, dann rief der schwarze Herr sie zurück in die Kiste, wo sie verweilte, bis erneut die Nacht hereinbrach.

 

Am folgenden Tage aber schritt die Alte hinab in die gläsernen Gewölbe, um vor der Ankunft des Herren  durch das Tor zu schreiten und nach dem Rechten zu sehen. Doch weh, was mussten ihre weißen Augen erblicken? Kleine Pfützen lagen am Boden wie flüssige Spiegel und das Portal war nicht gar geschlossen, nein, es stand offen. Es bedurfte nicht vieler Überlegungen, die Frau ahnte sogleich, dass dieses dumme Kind in seiner Neugierde hinaus gegangen war. Hinaus! Hinaus in die Welt, von der es ihr verboten war, sie zu betreten! Überdies sollte SIE dafür sorgen, dass sie es nicht tat. SIE würde den Groll des Herren tragen müssen und wahrlich, der Herr war nur allzu grausam. Voller Zorn stürmte sie hinauf in die Gemächer des Kindes, um es zu Schelten, für das, was es getan hatte. Doch das Mädchen verleugnete sein Tun und die Alte ward gar rasend vor Zorn. Weinend und schluchzend beteuerte sie ihre Unschuld, versuchte sich zu rechtfertigen, ja gar herauszureden!  Das Gör verleugnete ihre Taten! Glaubte es denn, sie sei dumm? Im roten Schleier der Wut erklangen die Worte des Mannes erneut in ihren Ohren und sie besann sich auf ihre Ordern.  Strafe, jawohl sie würde das Kind bestrafen! Für seinen Ungehorsam, für den Mangel an Respekt vor ihr und für die Frechheit, sie angelogen zu haben. Doch vor allem dafür, dass sie für die Fehler des Mädchens teuer bezahlen müssen würde.

Sie hoffte nur, den Mann milde stimmen zu können, doch war dies möglich?

 

Mit einem Mal drang ein Rufen an ihre Ohren, der Mann war heimgekehrt. Schnell sperrte sie das Kind in die Gemächer, doch der Mann wusste bereits, was von statten gegangen war. Er hatte die Pfützen gesehen, das offene Tor und er wusste, was geschehen war. Die Frau hatte ihre Plichten missachtet. Voller Wut blickte der Mann sie an und entlud seinen ganzen Groll mit einem Schlag. Alles Bitten und Betteln war vergebens, er zog seinen Dolch und trennte der Alten zwei Finger von der Hand, als Strafe, dass sie seine Ordern  nicht eingehalten hatte.

Zum ersten Mal seit seinem Bau erblickte der weiße Palast eine Farbe. Rot.

Rot, es quoll aus den Fingerstümpfen der alten und färbte den Boden. Eilig griff sie in ihre Tasche, und setze sich zwei Finger aus Glas in die Lücken, die der Mann geschnitten hatte. Nun waren sie wieder weiß, rein, wie sie es sein sollten.

Doch der Zorn in ihrer Seele wallte auf und färbte ihre Sicht rot.

 

 

Eilends suchte er seine Tochter auf, so viele Jahre waren verstrichen, ohne dass er sie gesehen hatte.  Das Mädchen aber erkannte ihren Vater nicht. Voller Furcht starrte sie ihn an wie einen Fremden, zu lange war er fort gewesen.

Dicke Tränen kullerten aus ihren goldenen Augen, die so sehr denen ihrer Mutter glichen. Einzig das Rot ihrer Haare fehlte, ansonsten glich sie seiner Frau. Ihm zersprang das Herz, als er sie so sah, trauernd, keine Erinnerung an ihn war ihr geblieben.  Seine einzige Tochter hatte ihn vergessen! Wie sie ihn ansah, welch klagende Worte ihre Lippen formten, welch tiefes Meer aus tränen, in dem ihre goldenen Augen ertranken. Voller Gram zog er fort, er konnte dies nicht ertragen.

So verließ er den Porzellanpalast und ließ seine weinende Tochter, die ihn nicht mehr erkannte, mit der zornigen alten Dame zurück.

 

Erneut begab sich dir alte Dame hinauf zu dem Kind, dieses Mal kannte sie Halten mehr. Sie zerrte sie mit sich, hinab in die Halle und zog ihre weißen Handschuhe, die mit roten Flecken besudelt waren, von ihren schmerzenden Händen. Das Mädchen flehte um Gnade, doch die Frau kannte kein Erbarmen. Ihretwegen trug sie nun zwei Finger aus Glas, nur weil dieses dumme Gör fortgelaufen war, um die Welt zu sehen! Hasserfüllt starrte sie in die wunderschönen, goldenen Augen des Kindes, die in einer Flut aus Tränen zu ertrinken drohten und Bohrte ihre gläsernen Finger hinein. Das Mädchen Schrie und Jaulte wie ein Schlosshund, doch die Frau kannte keine Gnade. Sie schälte ihr die Augen aus den Höhlen, band ihr ein weißes Tuch über die Löcher und ließ sie dort liegen. Rote Bäche quollen aus den schwarzen höhlen ihrer Augen, rannen über ihre weißen Wangen und färbten alles rot, was weiß gewesen war. Rote Blüten sprossen auf den weißen Fließen, rote Fäden spannen Muster auf ihr weißes Kleid. Doch das Mädchen sah all dies nicht, unter Qualen wand sie sich während unter ihr ein Meer aus Rot seine Kreise zog.

Nun war ihre Welt schwarz, finster uns pechschwarz.

 

Mit einem gehässigen Grinsen zog die Dame von dannen, keinen Augenblick länger wollte sie hier weilen. Die goldenen Augen des Kindes hielt sie in ihren Händen, ihre gläsernen Finger umfassten ihre Kostbare Beute. Sie waren so viel schöner als die Ihren. Ein fairer Preis für ihre Finger, deren Verlust sie dem Gör zu verdanken hatte. Grimmig zog sie fort, doch als sie durch die gläsernen Gänge schritt, brach ein Zapfenförmiger Kristall von der Decke und durchbohrte die Frau mit den weißen Augen. Die goldenen Augen des Mädchens kullerten aus ihren gläsernen Fingern und rollten fort. Dort lag sie nun, ihr kaltes Herz durchbohrt mit einem Kristall, in mitten eines roten Meeres.

 

Das Mädchen aber weilte in einem Meer aus Schwärze, klagend tastete sie sich durch den Porzellanpalast, auf der Suche nach dem fremden Mann oder sonst jemandem, der ihr zu helfen vermochte. Doch dort war niemand mehr. Sie war allein, mutterseelenallein. So brach sie weinend in der Halle zusammen, der Mond blickte durch die Kuppel aus Kristall.

 

Plötzlich drang ein schlurfen und klimpern an ihre Ohren. Voller Angst blickte das Mädchen sich um, in der Vermutung, die Alte könnte kommen. Doch sie würde niemals wieder kommen. Niemand würde jemals wieder kommen. In der Ferne wurde das Klimpern zu einer altbekannten Melodie. Die Violinenfrau wer aus ihrer Schatulle gestiegen und spielte erneut für das Kind. Es rappelte sich auf und machte sich tastend auf die Suche nach der Frau und ihrer Schatulle.

 

Die Violinenfrau spielte und spielte, doch das Mädchen kam nicht. Langsam erlosch das Lächeln auf ihren Lippen. Hatte sie sie denn vergessen? Gefiel ihr ihre Melodie nicht? Sie wandte ihr Gesicht gen Himmel, doch sie konnte den Mond nicht sehen, eine Decke aus Alabaster versperrte ihr sie Sicht. Seufzend spielte sie weiter, Nacht für Nacht, doch ihre einst so fröhliche Melodie wurde stetig trauriger und trauriger. Dennoch spielte sie weiter, in der Hoffnung, ihr liebes kleines Mädchen würde kommen und ihrem Spiel lauschen.

 

 

Doch das Mädchen kam nicht. Nacht um Nacht irrte sie durch den Porzellanpalast, auf der Suche nach dem Ursprung der Melodie, auf der Suche nach der Violinenfrau. So sehr sie sich auch abmühte, ihre Welt war schwarz geworden und sie konnte nichts sehen, außer dieser Schwärze. So verklang die Melodie am Tage und des Nachts irrte das Mädchen durch die Mauern ihres weißen Palastes, auf der Suche nach der weißen Violinenfrau, deren Melodie durch den Porzellanpalast hallte, begleitet von dem Tapsen ihrer Schritte.

 

Eines Nachts aber verhallten diese Schritte, doch die Melodie der Violinenfrau tönte immer noch durch die weißen Mauern, denn sie wartete, dass des Mädchens Schritte sie zu ihr führten, selbst als sie lange verhallt waren.

Zurück blieben nur die Violinenfrau und ihre Melodie, die wartete und wartete, vergessen und verloren hinter den Mauern des Porzellanpalastes.

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Tag der Veröffentlichung: 24.08.2014

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