My Life with Harold George Porter
Ich will Ihnen etwas erzählen, nicht nur irgendetwas, nein, sondern eine Geschichte. Eine Geschichte scheint nichts besonderes zu sein, zumindest nicht auf den ersten Blick. Warum auch, Geschichten gibt es wie Sand am Meer. Dies mag schon stimmen, doch die Geschichte, von der ich spreche, ist etwas besonderes. Nicht, weil sie besonders einzigartig, furchterregend oder etwas dergleichen ist, sondern weil sie von einem ganz besonderen Mann handelt. Es ist eine schöne, seltsame und vielleicht sogar traurige Geschichte, doch sie ist vor allem eins: seine Geschichte. Nun ja, zu einem gewissen, kleinen Teil ist sie auch die meine.Wo waren wir? Ach ja richtig, die Geschichte. Sie handelt von einem etwas wunderlichen Mann, der mir jedoch lieber war, als jeder andere Mensch auf der ganzen Welt. Er war ein Mann, der alles zu wissen und immer Recht zu haben schien und damit meine ich nicht Recht haben im Sinne wie es meine Großmutter immer hatte, nein. Sie hatte immer Recht, wissen Sie, egal was geschah, selbst sie, oder vor allem dann, wenn sie nicht Recht hatte, hatte sie Recht. Er aber schien Recht mit allen zu haben, was er sagte, gleich was geschah, es entwickelte sich immer so, wie er es gesagt hatte. Also hatte er wirklich immer Recht, irgendwie.Oh, und er war klug, ausgesprochen klug. Ich wage sogar zu behaupten, dass er fast alles wusste. Zumindest schien es mir so, denn, egal was ich fragte, er hatte immer eine Antwort auf meine Fragen und glauben Sie mir, ich hatte wahnsinnig viele davon.Wissen Sie, was mit Abstand das faszinierendste an ihm war? Seine Geschichten, oh ja ich liebe seine Geschichten… Er war ein Mann, der aus dem wirrsten Knäuel aus verworrenen Worten einen faden drehen, und daraus eine Geschichte spinnen konnte. Damit verdiente er sein Geld, er war Autor, müssen Sie wissen und in seinem Kopf schien es mehr Welten, Geschichten und Geschöpfe wunderlichster Art zu geben als Menschen auf der Welt.Der Name dieses Mannes war Harold George Porter. jedoch weiß ich über seine Kindheit nur so viel, wie er mir daraus erzählt hat…Harry wurde am 6. Tag des Monats April geboren und wuchs in einem kleinen Dorf auf… und damit beginnt seine Geschichte, wie er sie mir erzählte.Harry ging zur Schule, wie jeder andere kleine Junge auch. Ja, im Großen und Ganzen schien er wie jeder andere kleine Junge zu sein. Doch es gab auch einige Dinge, in denen er sich von anderen unterschied. Zum Beispiel mochten ihn die anderen Kinder nicht, doch dies machte ihm überhaupt nicht das Geringste aus, denn er mochte die anderen Kinder noch viel weniger. Generell konnte man behaupten, dass Harry schon als Kind recht wenig mit Menschen anfangen konnte, vor allem mit seinen Altersgenossen, sie widerten ihn am allermeisten an. Er konnte es einfach nicht verstehen, wie sie so achtlos ja nahezu hirnlos, ohne Sinn und Verstand einfach vor sich hin leben konnten, ohne je einen Gedanken daran zu verschwenden, dass all die Dinge, die sie anfassten, winzigste Kreaturen beherbergten die sie, wenn sie nur wollten, auf der Stelle töten oder mit einem furchtbarem Virus belegen konnten. Gut, er war etwas vorsichtig im Bezug auf Bakterien, doch das war nicht das einzige, weswegen ihn seine Mitschüler nur allzu gerne in die Schuleigene Mülltonne steckten. Harry war davon überzeugt, dass es Dinge gab, die man nicht sehen konnte, die aber dennoch da waren und er war sich sicher, dass sie ihm ganz und gar nicht freundlich gesinnt waren. Darum trug er schon als Kind immer seinen Dimmer. Oh, ein Dimmer ist ein gläserner Anhänger in der Form eines gebrochenen Stücks eines dreidimensionalen Detroits.Nun ja, wie dem auch sei, wenn er sich nicht gerade mit tödlichen Alltagskeimen oder den Hänseleien anderer Kinder herumschlug, seine Strümpfe aus Toiletten oder gar Teichen fischte oder sich neue Welten ausdachte, vergrub er sich auf nimmerkommraus in Büchern. Er liebte es, zu lesen und er tat es scheinbar immerzu, selbst als Kind schon. Vielleicht ist seine Liebe zu Büchern auch der Grund, warum er sie selbst schreibt, so genau weiß ich es selbst nicht, doch er liebte Bücher und die Welten, die in ihnen schlummerten abgöttisch. So ist es auch kaum verwunderlich, dass ich ihn genauso kennen gelernt hatte: mit einem Buch in der Hand. Ja, das war da erste Bild, welches sich von ihm in meinen Kopf brannte: ein groß gewachsener Mann mit dunklem, wirren Haarschopf der im Hausmantel die Tür geöffnet hatte, in der Hand ein Buch und auf den geschwungenen Lippen den Ausdruck eines leisen Vorwurfs, ihn beim Lesen ebendieses Buches gestört zu haben.Es scheint, als wären wir nun an der Stelle angekommen, an der seine Geschichte begonnen hat, mit meiner zu verschmelzen und somit zu der unseren wurde. Doch lassen Sie mich von vorne beginnen, mit dem Moment, als ich ihn zum ersten Mal sah.
Die Welt war grau. Am Himmel hingen dunkle Wolken, die selbst das spärlichste Licht der Sonne schluckten und die Welt in düsteres Zwielicht hüllten. Aus diesen Wolken ergoss sich Regen, so stark, dass es schien, als würde er in silbergrauen Fäden auf die Erde herabhängen um sie an den Himmel zu binden. Überall waren Pfützen in die ich sonst mit nur allzu großer Freude gesprungen wäre, so jedoch nicht heute, nein. Heute war alles anders, heute freute ich mich nicht einmal über den Regen, den ich sonst so liebte. Heute waren die Tropfen keine Perlen, sie schimmerten nicht und hatten all ihren Glanz verloren. Die Pfützen waren auch keine Seen oder Spiegel, durch die man in andere Welten blicken konnte nein, heute regnete es einfach nur. Der Mann der mich an der Hand hinter sich her zerrte machte sich auch nicht sonderlich große Mühe, den Schirm zu halten, dass ich nicht nass wurde, er hatte nur ein Ziel und das war, mich möglichst schnell dorthin zu bringen wo ich von nun an bleiben sollte. Kurzum, er wollte mich loswerden, wie jeder Andere auch bei dem ich bisher war. Achja, ich hatte keine Eltern, dies wäre vielleicht erwähnenswert und wanderte darum von einem sich einen Dreck scherenden Verwandten zum nächsten. Ich hatte schon viel gesehen und erlebt in diesem halben Jahr nach dem Tod meiner Eltern, ich war zehn Jahre alt und nicht gerade das Kind, das man sich wünschen würde. Ich war… nunja, etwas anders. Meine Großtante gab mich fort, weil ich ihr Haus abfackeln wollte, wie sie es ausgedrückt hatte. Es lag nicht in meiner Absicht ihr Haus in Brand zu stecken, ich hatte lediglich versuchen wollen, einen Heißluftballon zu bauen, in klein selbstverständlich, und ihn mittels Kerzenantrieb im Wohnzimmer ihrer Villa zu starten. Ich hatte die Anleitung dazu aus einem Buch in der Bibliothek und da es mich schon immer faszinierte, wie diese riesigen Ballons flogen, wollte ich so einen auch für mich basteln. Dabei stürzte er eben ab und das gute Sofa fing Feuer, meine Güte, bei fünf Wohnzimmern machte es kaum etwas, wenn eines etwas angekokelt war. Ja, ich mochte es, Dinge zu entdecken und zu erforschen, obendrein dann, wenn ich die Ideen dazu aus Büchern hatte.
Dies war jedoch das Schlimmste, das ich angestellt hatte, der Rest meiner Verwandtschaft hatte mich schlicht und ergreifend abgeschoben, weil ich nicht in ihr perfektes Familienbild gepasst hatte. Ich hatte es nie sonderlich mit anderen Leuten, schon gar nicht wenn sie so scheinheilig waren wie die Familie meiner Tante, die mich laufend in die Kirche geschleppt und dann abgegeben hatte, weil ich sie darauf hinwies, dass ich mit Gott und seinen Freunden nicht so viel anfangen konnte. So war ich dann bei meinem Onkel und seiner Frau gelandet, einem Haufen Heuchler, die mich rasch wieder loswurden, da ich auf einer Nachmittäglichen Veranstaltung meiner Tante das äußerte, was ich vor dem Essen von ihr über eine der Anwesenden gehört hatte. Es war nicht meine Schuld gewesen, die Dame fragte mich, was meine Tante so über sie erzählte und ich hatte ihr die Wahrheit gesagt und ihr somit mitgeteilt, dass sie eine unfähige, scheinheilige Frau war, die mehr als nur ein Kissen unter ihrer Decke hatte, was auch immer dies bedeuten mochte. Ich war dazu erzogen worden, die Wahrheit zu sagen, was sollte ich denn machen? Zuvor hatte meine Großmutter mich zu einer anderen Tante gesteckt, da ich mich weigerte meine Haare hochzustecken, mir Strümpfe anzuziehen und sowieso viel lieber in Hosen herumlaufen würde als in diesen lächerlichen Rüschenkleidern. Aber meine Tante fand, dass Kleider viel besser zu Mädchen passten als Hosen und wenn man sie nur richtig verzierte, dann sah selbst ich in ihnen aus wie eine Prinzessin.
Tja, da ging ich nun, in meinem dunkelblauen Kleid und weißen Strümpfen, mit hübsch polierten, schwarzen Lackschuhen und meinem Köfferchen in der Hand. Über meinem Kopf schwebte der Schirm des Mannes, der mich zu dem letzen Mann auf der Welt brachte, bei dem ich womöglich bleiben konnte. Irgendwie war ich schon gespannt, wie er so war, immerhin würde ich bei ihm bleiben, oder zumindest hoffte ich das. Umso nervöser wurde ich, als wir endlich die lange Einfahrt des Hauses hinter uns gelassen hatten und vor einer Tür standen. Das Schellen der Türklingel riss ein Loch in die Monotonie des Prasselns des Regens. Danach schloss sich das Loch jedoch wieder und das Trommeln gewann Überhand. Nichts in dem Haus regte sich und der Mann klingelte erneut. Er blickte mich grimmig an und begann, nach dem dritten Klingeln auch noch etwas genervt an die Tür zu hämmern. Plötzlich tat sich ein Spalt in der Tür auf, ein kleines, rundes Fensterchen in der Tür wurde geöffnet und zwei Augen spähten heraus. „Ja?“, knurrte eine Stimme.
„Einen wunderschönen guten Tag, ich bin hier, um das Kind zu bringen.“, tönte der Mann neben mir und schob mich unsanft nach vorne.
Das Fenster schloss sich und wenige Augenblicke später schwang die Tür auf, auf der Schwelle stand ein Mann der in einen dunklen Hausmantel gehüllt war. Sein kastanienbraunes Haar wirkte etwas zerzaust, aber nicht gänzlich unordentlich.. Seine grauen Augen streiften den Mann mit einem abschätzigen Blick. In seiner Hand hielt er ein dickes Buch. „Das sehe ich. Was soll ich damit?“, Murrte er und schürzte seine schmalen, geschwungenen Lippen.
„Sie sollten es bei sich aufnehmen und erziehen, oder ins Waisenhaus stecken sollte es Probleme machen, Sie sind der Letze, der auf der Namensliste ihrer Eltern steht.“, ratterte der Mann seine übliche Rede herunter, nur faselte er dieses Mal etwas von einer Liste, nichts von wegen letzter Anverwandte oder so. Neugierig blickte zu dem Mann mit dem dicken Buch hoch, der den anderen Mann so dermaßen perplex musterte, dass ich schon dachte, wir hätten uns in der Tür geirrt. Dieses Haus stand zu weit weg und zu allein am Ende eines Waldweges, wir hatten uns sicher verfahren.
„Sie ist die Tochter von Mr. Atchinson, Sie wissen schon.“, flüsterte der Mann mit einem Nicken in meine Richtung. Ich war schon wieder drei Schritte zurück, hinter seinen Rücken getreten und versteckte mich hinter seinem langen Regenmantel. Nun trat ein Funkeln in die Augen des Mannes mit dem Buch. Ich hatte nicht geringste Ahnung, was er mit meinem Vater zu tun hatte, immerhin hatte ich ihn noch nie in meinem Leben gesehen, doch der Name meines Vaters schien bei ihm ein Licht aufgehen zu lassen. Mit schräg gelegtem Kopf musterte er mich, zum ersten Mal blickte er mich direkt an. Seine Augen schienen durch mich durchsehen zu können, was mir unheimlich war. Schützend drückte ich mein Buch mit einer Hand an mich und stellte den Koffer vor mir ab, um auch die andere um mein Buch zu schlingen. Wie ich Schild hielt ich es vor mich. Der Mann sah das Buch und ich hätte schwören können, dass seine Mundwinkel zuckten, für einen kurzen Moment. Der Mann im Regenmantel räusperte sich. „Sie kann also bleiben?“ Gespannt starrte ich den Mann mit dem Buch an. Seine Mine war wieder wie aus Stein als er den Mann im Regenmantel anblickte und nickte. „Sehr gut, ausgezeichnet!“, feixte dieser, drückte ihm meinen kleinen Koffer in die Hand, schob mich rasch über die Schwelle und streckte ihm die andere Hand entgegen. Anstatt eines Händeschüttelns warf ihm der Mann mit dem Buch jedoch nur einen eisigen Blick zu und wenige Augenblicke später küsste er fast das Äußere seiner Haustüre. Ich hörte ihn noch murren während er beleidigt von dannen zog, doch seine Stimme schien aus einer anderen Welt zu kommen. In stand in einem kleinen Vorzimmer mit Kleiderständern und Schränken und blickte den Mann etwas ängstlich an. Was ich nun tun sollte, wusste ich nicht. „Gib mir deinen Mantel und geh nach Drinnen, du tropfst auf den Teppich.“, sagte er nüchtern. Ich tat wie geheißen und folgte ihm in eine große Halle, deren schwarzer Marmorfußboden glänzte wie der Nachthimmel. Ich blickte hoch zur Decke und musste feststellen, dass es keine gab. Anstatt auf einer weißen oder verzierten Decke blickte ich hinauf in den Himmel. An den Wänden befanden sich Regale, bis oben voll mit seltsamen Gegenständen und Büchern. Der Mann führte mich in eine Küche, wo er Tee aufsetzte und mich aufforderte mich zu setzen. Wenig später saßen wir uns in der Küche gegenüber und tranken Tee. Ich wusste nicht was ich tun oder sagen sollte, der Mann schweig und musterte entweder mich oder starrte gedankenverloren in die Luft oder in seine Tasse Tee. So verstrich die Zeit bis plötzlich ein Geräusch die Stille um uns entzweite. Verwundert blickte der auf die Ursache des Geräusches –mich. Mein Magen hatte begonnen zu knurren. Augenblicklich schoss mir die Röte in die Wangen und ich hielt mir den Bauch.“Dein Magen verursacht Laute wie das Mahlwerk einer Mühle.“, stellte er nüchtern fest. Das stimmte. Ich hatte noch nie darüber nachgedacht, aber es hörte sich doch tatsächlich so an. „Mal sehen…“, er legte den Kopf zur Seite. „Du hast Hunger.“
Ich nickte. „Also gut… Dann wirst du wohl oder übel etwas essen müssen.“
Er rückte seinen Stuhl zurück, erhob sich und schritt auf einen Raum, der wohl die Vorratskammer war, zu. Rascheln und Knistern ertönte, dann kam er plötzlich wieder aus der Kammer hervor- mit leeren Händen – und blickte mich unschlüssig an. „Du bist ja noch ein Kind!“
Wieder nickte ich.
„Was essen Kinder?“
Verwundert starrte ich ihn an. Was Kinder aßen? Das selbe wie andere Menschen auch! Das konnte ich ihm doch so nicht sagen, oder doch? War das unhöflich? Irgendwie war er unheimlich.
Ich entschloss mich, ihn einfach nur anzustarren und er starrte zurück.
„Nun gut… Irgendetwas musst du ja essen. Also?“
Er hob die Augenbrauen und seine grauen Augen musterten mich fordern und fragend. Wieder schienen sie mich zu durchdringen. Ich schluckte.
„B-Brot.“
„Wie bitte? Ach ja, Brot… Kinder essen Brot? Hm…“ Er drehte sich um und verschwand in der Kammer, kehrte doch aber tatsächlich mit einem Laib Brot zurück.
Für gewöhnlich mochte ich Brot zum Abendessen nicht sonderlich, besonders nicht ohne alles. Viel Butter und Marmelade musste schon drauf sein oder wenigstens Honig.
„Was noch außer Bort? Mal sehen…“
„Hast du Marmelade?“
„Wie? Was? Marmelade? Was soll ich denn mit sowas?“
Er hatte keine Marmelade? Nun war ich mir sicher, dieser Mann war merkwürdig.
„Essen, Marmelade isst man.“
„Selbstverständlich isst man Marmelade! Doch sowas isst man nicht, es ist viel zu süß!“ Er blickte mich streng an, dann aber wurde sein Blick heller. „Natürlich! Kinder mögen süße Sachen! Warte.“ Er drehte sich um und war erneut verschwunden. Ich starrte ihm hinterher. Als er wieder aus der Speisekammer trat, hielt er ein Glas empor. Es schimmerte in einem dunklen Goldton.
„Ist das ausreichend?“
Honig, er hatte Honig! Wenigstens etwas. Meine Augen leuchteten, was ihm selbstverständlich nicht entging. Er stellte ein Brett mit dem Laib Brot, ein Messer, einen Teller und einen Löffel für den Honig vor mich hin und setzte sich an den Tisch. Vorsichtig versuchte ich, mit dem Messer eine Scheibe Brot abzuschneiden, was sich als kompliziertes Unterfangen erwies.
„Um Himmels Willen, du wirst dir ja noch die Finger abschneiden!“ Schnell nahm er mir Messer und Brot aus den Händen und schnitt eine Scheibe ab. Dann reichte er mir ein stumpfes Messer, damit ich mir die Butter und den Honig aufs Brot schmieren konnte. Mit einer Mischung aus Unbehagen und restentsetzten beobachtete er mich dabei.
„Ich hätte es wissen müssen, du bist ein Kind. Kindern gibt man keine Messer, sie schneiden sich oder andere, sie tun sich weh und dann heulen sie.“ Er seufzte.
„Ich heule nie!“, warf ich empört und kauend dazwischen. Nun ja, ich heulte fast nie, sagen wir es so.
Er sah mich entsetzt an. „Schluss, hör auf damit!“
„Womit?“, fragte ich, immer noch kauend.
„Mit vollem Mund zu sprechen, damit, deinen Essensbrei über meinen Tisch zu spucken!“
Oha, das hatte ich ganz vergessen, man durfte mit vollem Mund nicht sprechen, eine Dame tat so etwas nicht. Tja, ich war eben keine Dame.
„Herrje, worauf habe ich mich nur eingelassen. Ist denn das zu fassen? Nein…“, murmelte er.
Ich schluckte meinen Honigbrotbrei hinunter. „Es tut mir leid.“, schuldbewusst starrte ich den Tisch an.
Der Mann hob den Kopf und blickte mich an, als hätte er vergessen, dass ich da war. Er seufzte.
„Ist schon gut. Weißt du, ich mag keine Kinder. Sie sind laut, sie wissen nichts oder nicht viel, sind unhöflich, rüpelhaft, ja manchmal nicht einmal stubenrein…“ Ich musste kichern.
„Was ist daran bitte amüsant? Mit Kindern konnte ich nie etwas anfangen, noch viel weniger als mit anderen Menschen“ Erwachsene sind schon schlimm genug, aber Kinder…. Aber nein, du kannst ja nichts dafür.“
„Ich… Ich bin nicht unhöflich und auch nicht dumm, dazu bin ich auch noch leise und stubenrein bin ich sowieso schon fast ewig.“
Er zog die Augenbrauen hoch, der Hauch eines Lächelns breitete sich auf seinen Lippen aus.
„Soso… Dafür bist du hungriger als eine Heuschrecke!“, stichelte er und deutete auf meinen restlos leer geputzten Teller.
„Ich wachse noch, ich brauche Essen! Außerdem braucht mein Hirn Stoff zum Denken.“ erwiderte ich beleidigt. Nun Lächelte er doch tatsächlich, griff nach dem Brot und schnitt mir noch eine ordentliche Scheibe ab, die ich dann sogleich ebenso dick mit Butter und Honig bestrich.
Er erhob sich um noch einen Kessel Tee aufzusetzen und fragte mich, ob ich auch noch etwas wollte. Scheußliches Gebräu, bloß nicht. „Nein Danke.“
Er runzelte die Stirn und blickte in meine halbvolle Tasse. „Du magst keinen Earl Grey?“
Ich schüttelte den Kopf.
Er kratzte sich am Kinn. „Verstehe… was magst du dann? Was trinken Kinder?“
„Was hast du als Kind gerne getrunken?“
„Tee oder Wasser und man Antwortet auf Fragen, bevor man Gegenfragen stellt.“
Tee…Wasser… Ich verzog die Lippen. „ Tut mir Leid. ich hab nicht nachgedacht.“
„Schon gut. Nun?“
„Hm…hast du Saft?“
„Himmel nein, was soll ich denn mit sowas?!“
Damit hätte ich rechnen sollen, aber einen Versuch war es wert gewesen.
„Hast du Kakao?“
Er setzte gerade dazu an, sich zu wiederholen.
„Oder Milch?“
„Milch…Ja Milch habe ich.“
Gott sein Dank. Er stellte eine Flasche auf den Tisch.
„Willst du sie warm?“
Ich nickte eifrig. Warme Milch war das Beste am Abend. Wenn es keinen Kakao gab. „Hast du Kekse?“, fragte ich vorsichtig als er mir eine Tasse mit warmer Milch reichte. Wieder verschwand er in der Speisekammer.
„Kekse, Kekse…Irgend sowas, was um alles in der Welt…Kinder…. Wo hab ich es denn…?“ Gespannt lauschte ich seinem Gemurmel bis er schließlich triumphierend mit einer Schachtel herauskam. Sie war schön verziert und aus Blech, zweifelsohne eine Keksdose. Er stellte sie mir hin und beobachtete mich wie ein Kind einen Käfer beobachtete. Neugierig, abschätzend. In diesem Moment war es mir allerdings egal, ich hatte Milch, Kekse und zwei Honigbrote gegessen und es hatte besser geschmeckt als all das hochgelobte Essen, was man mir zuvor vorgesetzt hatte. Und ich mochte den Mann, irgendwie. Als ich fertig und ziemlich müde war lehnte ich mich gähnen zurück.
„Danke Mr. ..? Oh, ich weiß doch gar nicht wie Sie heißen?“
„Ich weiß auch nicht, wie du heißt, zumindest nicht mit Vornamen.“
„Ich bin Elizabeth Atchinson. “
„Ich weiß.“, antwortete er „ Mein Name ist Harold, Harold George Porter.“
Er wusste wer ich bin? Gut, der Regenmantelmann hatte es ihm gesagt, aber offenbar schien dieser Mann auch meinen Vater gekannt zu haben… Vermutlich sind wir irgendwie verwandt. Beinahe hätte ich vergessen zu antworten, noch immer starrte ich den Mann, der nun für mich zu Harry geworden war, an und er musterte mich über den Rand seiner Teetasse hinweg wartend.
„Danke M-Mr. Porter.“, quetschte ich schließlich mühevoll hervor.
„Nenn mich Harry.“, sagte er und musterte mich schmunzelnd. „Mr. Porter nennen mich nur Leute, die ich nicht ausstehen kann“
„Aber fast jeder nennt dich Mr. Porter, so redet man mit Erwachsenen!“
„Eben.“ Er sah mich mit schräg gelegtem Kopf an.
„So, und nun suchen wir ein Zimmer, in dem du schlafen kannst.“
Darauf erhob er sich, nahm meinen Koffer und ich folgte ihm durch ein Haus voller seltsamer Artefakte und alter Möbel. Ich hatte nicht die geringste Ahnung wer dieser Mann war, oder inwiefern wir verwandt waren, was er mit meiner Familie zu hatte, geschweige denn, wo genau sich das Haus befand durch das ich gerade schritt, doch eines stand fest: Meine Zeit hier versprach interessant zu werden, was überwiegend an dem Mann namens Harold George Porter lag, wer auch immer er war.
Ich blickte mich um. Die Wände meines neuen Zimmers waren mit ausgebleichter, blaugrüner Tapete bedeckt, auf der sich ein dezentes Blumenmuster zeigte. An der Kopfseite des Zimmers befand sich ein großes Fenster, unter welchem ein Bett stand. Bis auf einige Regale, ein Nachtschränkchen und eine weitere Tür war der Raum bis auf eine Lampe leer. Man hätte meinen können, der Raum sei altmodisch eingerichtet, doch er passte zum Stil des restlichen Hauses und ich fand ihn irgendwie schick, zumal Blau meine Lieblingsfarbe war. Harry stellte meinen Koffer neben dem Bett ab und deutete auf die Tür im Raum, die ebenfalls blau gestrichen war. „Das da ist deins. Selbstverständlich kannst du es benutzen wann immer du willst, aber putzen musst du es selbst!“
Stirnrunzelnd bedankte ich mich nochmals und mit einem Blick auf seine Uhr meinte er, dass es jetzt wohl besser wäre, gute Nacht zu sagen. Darauf verschwand er, was ich als Aufforderung, mich umzusehen wahrnahm. Sofort riss ich die blaue Tür um zu sehen, was sich dahinter verbarg und fand ein kleines, in hellen Sandtönen gehaltenes Badezimmer mit Wanne, die auch gleichzeitig einen Duschhahn besaß, einem Spiegel, Waschbecken und Handtuchhalter vor. Auch hier fanden sich blaue Muster an den Wänden, mein neues Zuhause schien wie für mich gemacht! Die Wasserhähne waren sogar golden, ebenso wie die Türknäufe, was allem etwas Königliches gab.
Wie spät es war wusste ich nicht, doch ich war müde und entschloss mich, meinen Koffer auszupacken und zu Bett zu gehen. Allerdings war das Bett bis auf eine Matratze leer, weder Decke noch Kissen lagen dort. Doch als ich den Schrank öffnete, um meine Kleidung darin zu deponieren fand ich viele Kissen, eine Decke und Bettbezüge. Großartig, ich hasste es, Betten zu machen. Entweder verschluckte mich der Deckenbezug oder das Laken fesselte mich. Allerdings machte Harry nicht gerade den Eindruck erpicht darauf zu sein, mir mein Bett zu machen, also tat ich es zur Not selbst. Wer weiß, vielleicht hatte er auch Reinigungspersonal, wie meine Tante Adeleine. Sie war es, die mich in Kleider aus dem letzen Jahrhundert gesteckt und wegen einer angekokelten Couch abgegeben hatte. Übrigens, sie war auch die Schwester der Tante, die mich fortgab, weil ich ihren Kleidertick nicht teilte und ihre Scheinfreundin beleidigt hatte. Ob ich bei Harry auch nur altmodische Kleider oder Röcke tragen musste? Er schien mir kein Kleiderfan zu sein, allerdings war er auch ein Mann… Man konnte nie wissen, mein Großonkel hatte auch ein Kleid an, einmal zumindest.
Schlussendlich machte ich es mir auf meinem neuen Bett bequem, wobei die Federmatratze quietschte. Ich packte mein Buch aus und begann zu lesen. Der Regen peitschte nun aber schon so heftig gegen mein Fenster, dass ich mich kaum auf die Zeilen konzentrieren konnte und zu allem Überfluss heulte der Wind auch noch ums Haus und rüttelte an den Dachschindeln. Ich zog mir die Decke über den Kopf und versuchte zu schlafen. Dies ging auch einige Zeit gut, doch mitten in der Nacht ließ mich etwas hochschrecken.
Donner grollte und Blitze zuckten über den rabenschwarzen Himmel und der Wind schien die Bäume draußen ausreißen zu wollen. Mit einer Mischung aus Angst und Faszination drückte ich meine Nase beinahe an der Fensterscheibe platt. Irgendwie fürchtete ich mich ja doch vor dem ganzen, außerdem musste ich auch noch für kleine Mädchen und ich hatte nicht die leiseste Ahnung, wo sich die Toilette befand. Toll… Widerwillig stieg ich aus dem Bett und tapste in Nachthemd und Hausschuhen durch die dunklen Gänge. Hier war es noch viel unheimlicher, all die komischen Gegenstände erschienen plötzlich eher bedrohlich als interessant. Die Toilette, irgendwo musste sie doch sein! Als ich die Treppe herunter gestiegen war, begann ich, die Türen links und rechts des Flures aufzustoßen, zumindest versuchte ich das, aber sie waren alle verschlossen. Alle, bis auf eine. Hinter einer Tür drang ein schwacher Lichtschein hervor. Ich trat näher und spähte durch den offenen spalt, doch ich traute meinen Augen nicht. Der ganze Raum war voller Bücher! So viele Bücher, dabei konnte ich noch nicht einmal die Decke sehen! Plötzlich ertönte eine eiskalte Stimme hinter mir und ließ mich herumfahren. „Was hast du hier zu suchen? DU solltest längst im Bett sein!“
Zwei Augen funkelten mich bedrohlich an, vor mir stand Harry, die Arme vor der Brust verschränkt, die Stirn in Falten gelegt.
„Ich..muss mal, für kleine Mädchen.“ klagend blickte ich zu ihm auf. Wie ein böser Geist ragte er vor mir in die Höhe, ich schluckte und trat von einem Fuß auf den anderen.
„Herrje… Die Toilette befindet sich oben, am Ende des Flures. Hier unten ist auch eine… Die Tür rechts von der Eingangshalle.“
Ich dankte ihm und wollte mich auf den Weg machen, doch erneut ertönte seine Stimme.
„Wo willst du hin?! Nicht so schnell! Man steckt seine Nase nicht in Türspalte, wenn man keine Ahnung hat, was sich dahinter befindet! Irgendwann kommt jemand, schließt die Tür und deine Nase ist ab!“ Seine Augen blitzen bedrohlich, aber mir war klar, was er mir sagen wollte. Bloß nicht spannen.
„Ich weiß… es tut mir leid, ich habe nur eine Toilette gesucht…“
„Wenn du es doch weißt dann tu es nicht! Herrje… Jetzt stehst du immer noch da! Nun geh schon, geh, bevor es hier ein Unglück gibt! Ich mache das auf jeden Fall nicht sauber! Los ab und dann husch ins Bett!“ Ich nickte, murmelte ein „Gute Nacht“ und war flitzte Richtung Porzellanschüssel.
„Himmel, hör auf zu rennen! Im Haus wird nicht gerannt! Irgendwann stolperst du über eine Falte im Teppich und schlägst dir deine Zähne an der Treppe aus, oder du rutschst aus, fällst die Kellertreppe hinab und brichst dir den Hals!“, tönte mir Harrys Stimme mit einer Mischung aus Wut und Sorge hinterher.
Als ich am nächsten Morgen endlich die Küche gefunden hatte, fand ich sie leer vor. Von Harry war keine Spur, auch auf meinem Weg durch den Rest des Hauses hatte ich ihn nicht gesehen. Etwas verloren stand ich nun da und wartete, nicht wissend, was ich tun sollte. Durfte ich denn in die Speisekammer gehen und mir Frühstück machen? Brot schneiden durfte ich schon mal nicht alleine, ich konnte mir ja die Finger abschneiden… oder so ähnlich. Ich war 10, fast 11! Also schon groß, da konnte ich doch wohl schon selbst Brot schneiden… Unentschlossen wanderte ich auf und ab, bis ich keine Lust mehr hatte und mich auf den Sessel setzte, auf dem ich am Abend zuvor gesessen und mein Honigbrot gegessen hatte. Mhhm, Honigbrot… Verdammt, wo war er denn hin verschwunden? Grimmig stützte ich die Ellenbogen auf den Tisch und starrte auf die Holzplatte. Ich erschrak zu Tode, als plötzlich die Tür aufging und Harry vor mir stand.
„Du bist ja endlich wach!“
Endlich?! Wohl eher schon, es war immerhin erst neun Uhr.“
„Guten Morgen.“ murmelte ich.
„Morgen, ja… Sag mal willst du etwas essen oder dir dein Frühstück aus dem Tisch starren?“
Ich starrte ihn fassungslos an.
„Ich…Ich dachte ich warte und wir frühstücken gemeinsam.“
Harry zog die Augenbrauen hoch.
„Um diese Uhrzeit? Danke, ich habe schon gefrühstückt. Was möchtest du haben? Toast, Eier? Vielleicht etwas Obst? Warme Milch oder Tee?“
„Von allem etwas bitte! Nur keinen Tee…“ Ich rümpfte die Nase während er mich stirnrunzelnd musterte.
„Bist du dir sicher, dass du so viel essen kannst?“
„Joah… Sicher, ich muss doch noch wachsen! Darum brauche ich Kraft und Energie und.. Naja Essen eben. Wer groß und stark sein will, muss gut essen. Das hat mein Vater immer gesagt.“
„Aja… Das ist mir durchaus bekannt… Wo er das wohl her hat?“, er nickte schmunzelnd und fing an, mir mein Monsterfrühstück zuzubereiten.
Ich staunte nicht schlecht als er Pfanne und Schürze auspackte und mir tatsächlich ein Ei briet, das er mit einem Apfel, zwei Stücken goldbraunen Toast mit Butter und Honig und einer Tasse warmer Milch servierte. Erst jetzt merkte ich, dass ich großen Hunger hatte und schaufelte, unter Harrys leicht verblüfften Blicken, brav alles in meinen Mund das nicht am Tisch festgeschraubt war.
Als ich fertig war, lehnte ich mich in meinem Stuhl zurück, ich fühlte mich, als würde ich platzen.
„Genug gegessen?“
„Mhm.“ Mehr brachte ich nicht über die Lippen.
„Gut. Dann geh und zieh dir deine Jacke über. Ich gehe einkaufen, du kommst mit.“
„Ich darf mitkommen!?“ Helle Begeisterung breitete sich aus, ich liebte es, einzukaufen.
„Nein, du sollst mitkommen. Wir gehen und kaufen Lebensmittel ein. Da du isst wie ein Heer Heuschrecken und ich nicht die geringste Ahnung habe, was du denn für gewöhnlich isst, kommst mit. Sonst würde ich dinge für dich zum Essen kaufen, die du dann gar nicht isst.“
Das leuchtete ein. Trotzdem, ich ging einkaufen und mit Harry dürfte das Ganze noch recht interessant werden. Was aß er überhaupt? Ich habe ihn noch nie essen sehen. Vielleicht aß er auch nur ganz komische Sachen, immerhin, er hatte nicht einmal Marmelade.
Umso mehr staunte ich, als ich Harry zu einem kleinen Häuschen etwas unterhalb des Haupthauses folgte. Hinter dessen Tür verbarg sich doch tatsächlich ein Automobil! Und zwar eines von der Sorte, die ich sonst nur auf Bildern gesehen hatte. Zwar fuhren hier in dieser doch recht ländlichen Gegend Autos, aber diese waren doch eher klapprige Werkfahrzeuge. Vor mir stand ein glänzender Wagen, mit geschwungenen Blechen über den Vorderreifen, einem langen Vorbau, lustigen Scheinwerfern und einem Ersatzreifen an der Seite. Er war tiefschwarz und man musste kein Experte sein, um zu sehen, dass er recht teuer war. Aber fast alles zu dieser Zeit war ziemlich teuer und dieses Schlachtschiff das sich Autos schimpfte war es ganz bestimmt auch. Harry stieg ein und startete den Motor, deutete mir, mich vorne neben ihn zu setzen und ich sprang nahezu in den Wagen. Zwar war ich mit meinem Vater auch oft mitgefahren, doch vorne zu sitzen war schon etwas Besonderes. Ganz besonders dann, wenn man drei Monate bei Leuten gelebt hatte, die noch in Zeiten zu leben schienen, in denen man mit Kutschen fuhr.
Doch das alles war nun im wahrsten Sinne meilenweit fort, ich war in einem kleinen, ländlichen Örtchen in England und fuhr mit Harry die lange, kurvige Straße entlang in die nächste, kleine Stadt, vor uns erhob sich die Sonne aus den grünen Hügeln.
So fuhren wir dahin, rasend schnell wie mir schien, fort von meinem alten Leben geradewegs in ein neues. In mein Leben mit Harold George Porter.
Die Stadt war bezaubernd, voller Leben und Leuten die lachten und geschäftig durch die Straßen huschten. Wir kamen an zahlreichen Cafès, Pubs und allerlei Geschäften vorbei, doch Harry schien ein bestimmtes Ziel zu haben und dieses auch schnellstmöglich erreichen zu wollen. Er mochte keine Menschenmengen, wie er mir erklärte.
Wir passierten viele kleine Ständchen, an denen Limonade, Gebäck, Eiscreme oder ähnliches verkauft wurde und ich hätte nur zu gerne etwas von ihnen genascht, aber ich traute mich nicht, Harry zu fragen, ob er mir etwas kaufte.
Also ging ich schweigend aber mit umso größeren Augen neben ihm her, bis wir schließlich an seinem Ziel angekommen waren.
Wir traten durch die geöffnete Tür eines kleinen Ladens in dem sich neben zahlreichen Regalen auch eine kleine Theke befand, an der man frische Backwaren kaufen konnte. In deren Nähe befand sich eine weitere Theke, dort gab es Fleisch und Käse. Die Regale waren voll mit allerhand Dingen, die man eben so brauchen konnte: Lebensmittel in allen Variationen, Waschmittel und Süßigkeiten.
Harry ging vor zum Tresen, doch schon ehe er angekommen war, wurde er stürmisch von einer kleinen, molligen Dame mit Schürze begrüßt.
„Harold! Wie schön Sie zu sehen! Sie waren lange nicht mehr in der Stadt!“, sie lächelte breit und winkte ihm zu. Harry nickte ihr zu und begrüßte sie seinerseits. „Guten Tag Mrs. Ross.“
„Was kann ich für Sie tun? Warten Sie, ich hole Ihnen einen Korb!“
„Geben Sie mir lieber gleich zwei.“
„Zwei? Um Himmels willen, sind Sie schon so ausgehungert?!“ Lachend kramte sie nach den Körben und reichte sie Harry.
„Nicht im Mindesten, dennoch hat sich mein Bedarf an Lebensmitteln um eine Heuschreckenkolonie erhöht.“, antwortete Harry und schielte zu mir.
„Ist das so? Warum das denn, haben Sie denn plötzlich Ungeziefer?“
„Nein, aber so etwas ähnliches. Zumindest der Größe nach zu urteilen.“
Ungeziefer? Ich? Und dann nannte er mich auch noch klein! Beleidigt verzog ich die Lippen zu einem Schmollmund, Harry aber tat etwas, was Mrs. Ross zutiefst zu irritieren schien. Er grinste und seine Augen blitzen schelmisch als er auch mich deutete.
„Darf ich vorstellen? Mrs. Elizabeth Atchinson. Meine Ein-Mann-Heuschreckenkolonie.“
Ich streckte ihr die Hand entgegen und sie schüttelte sie etwas perplex.
„Schön Sie kennen zu lernen! Ich bin Elizabeth.“
„Ach du meine Güte, Harold! Sie ist ja entzückend!“ dann wendete sie sich breit lächelnd an mich. „Wie um alles in der Welt kommt jemand wie zu jemandem wie unserem Harold?“
„Ich wohne bei ihm. Er passt auf mich auf. Und ich esse gar nicht so viel, er sagt das nur, weil ich seine ganzen Kekse aufgegessen habe.“
Die alte Frau lachte.
„Eine ganze Dose Kekse, zwei dicke Scheiben Honigbrot zum Abendessen, mit warmer Milch. Zum Frühstück dann zwei Scheiben Toast mit Butter und Honig, Eier, warme Milch und Obst.“, zählte Harry auf. Mrs. Ross schmunzelte.
„So sind Kinder nun einmal Harold, daran müssen Sie sich gewöhnen!“
„Darum bin ich auch hier.“, sagte er. „Nimm dir einen Korb und pack ein, was dir schmeckt.“
„Egal was?“
„Ja, egal was. Auch Süßigkeiten. Oh, und vergiss die Marmelade nicht.“, er zwinkerte mir zu.
„Aber nicht zu viel Süßigkeiten, wenn du zu viele von ihnen isst, faulen dir die Zähne aus dem Mund!“
Mit diesem Satz wandte er sich in die Richtung der Regale. Etwas unentschlossen stand ich da und schaute mich erst mal um. Was sollte ich nur einpacken? Auf jeden Fall Marmelade und Kekse, aber was sonst? Schokolade durfte natürlich auch nicht fehlen und Saft, ja viel Saft…
„Kann ich dir helfen?“, fragte mich Mrs. Ross lächelnd.
„Oh ja, bitte!“ Antwortete ich und sie trat hinter dem Tresen hervor und führte mich durch den Laden.
„Was brauchst du als erstes?“
„Hm…Marmelade!“
„Sehr schön… Möchtest du die Hausgemachte oder lieber eine andere?“
„Sie machen Marmelade?!“
„Sicher, ich mache Marmelade, backe Brot und Gebäck und verkaufe es hier. Ein Teil des Sortiments ist Hauseigen.“, sie lächelte.
„Darum kauft der gute Harold auch bei mir ein.“
„Harry kauft also immer das Hausgemachte?“
„Immer.“ Sie nickte stolz.
„Gut, dann mache ich das auch. Haben Sie Erdbeermarmelade?“
„Selbstverständlich!“
So half mir Mrs. Ross bei meinem Einkauf, außer der Marmelade lud ich noch Saft, Schokolade, Kekse und Erdbeeren in meinen Korb. Irgendetwas Gesundes musste ich ja kaufen.
„Na, wie gefällt es dir bei Harold?“
„Gut!“, antwortete ich und es war noch nicht einmal gelogen. „Er ist auch nett zu mir, obwohl er keine Kinder mag.“
„Oh Liebes, Harold ist ein recht eigener Mensch musst du wissen. Der gute Harold hat zwar seinen Macken und Eigenheiten und ist manchmal etwas, nun ja… schroff, aber im Grunde ist er ein netter Mensch. Außerdem scheint er dich sehr wohl zu mögen.“
„Ja? Woher wissen Sie das?“
„Ganz einfach, er hat gelächelt. Weißt du, es ist lange her, seit ich ihn so lebendig gesehen habe. Für gewöhnlich kauft er bei mir auf dem Hof ein, er liegt ganz in der Nähe. In die Stadt geht er nur sehr selten.“
Ich nickte. Harry war schon irgendwie seltsam, aber ich mochte ihn.
In diesem Moment stellte er auch seinen Korb neben den meinen auf die Theke.
Mrs. Ross packte tonnenweise Gemüse daraus in eine Tüte: Paprika, Tomaten, Gurken, Salat und haufenwese anderes Grünzeug. Dazu noch haufenweise Obst, Mehl, Eier, Butter, Zucker und Brot…
Seltsam, er hatte gar kein Fleisch gekauft.
Ich zupfte ihn am Ärmel. „Harry?“
„Hm?“ „Kaufst du denn gar kein Fleisch?“
„Herrje nein!“ Er schein völlig entsetzt zu sein.
„Was soll ich mit Fleisch?“
„Essen? Isst du denn keine Würstchen? Würstchen mag doch jeder!“
„Um Himmels Willen nein!“ Er schauderte.
„Würstchen sind klein geschredderte Stücke von toten Tieren, die in Därme von anderen Tieren gepresst werden.“
Ich starrte ihn an.
„Harold! Also wirklich! So etwas sagt man doch nicht zu einem Kind!“, empörte sich Mrs. Ross.
„Ich weiß wie man Würstchen macht! Steak ist auch aus Kühen. Aber es schmeckt gut…“ Ich sah ihn an, er musterte mich mit schräg gelegtem Kopf.
„Du weißt, was es ist und isst es trotzdem?“
„Eigentlich schon.“
„Gut, dann hol dir welche.“
„Was?“
„Na Würstchen, Steaks, was auch immer.“
Mrs. Ross schien ebenso verblüfft zu sein, wie ich auch, doch es war sie, die sich als erste wieder fing und Würstchen und Fleisch holte.
„Harry, du musst nicht, nur weil ich…“
„Schon gut.“ Er sah mich an und lächelte. „Lediglich weil ich Dinge nicht esse, musst du sie nicht auch nicht essen. Du musst noch wachsen und wer groß und stark werden will, muss ordentlich essen, nicht wahr?“
Ich war sprachlos, in diesem Moment klang er doch tatsächlich wie mein Vater.
In diesem Moment kam Mrs. Ross zurück und machte sich daran, die Körbe fertig aus zu packen.
Sie packte noch mehr in die Tüten, doch meine Aufmerksamkeit hatte sich auf Harry gerichtet. Ich wollte wissen, was er zum Inhalt meines Korbes sagte. Doch er gab keinen Kommentar ab, er schmunzelte lediglich, als Mrs. Ross das Glas mit der Marmelade einpackte und Harry zwei pralle Tüten entgegen schob. Er bezahlte, wir verabschiedeten uns von Mrs. Ross und verließen den kleinen Laden. Harry trug die Tüten und ich spazierte neben ihm her. Wir gingen aber nicht, wie erwartet, zurück zum Wagen, sondern bogen noch in eine kleine Seitengasse ab. Harry hielt vor einem Laden in dessen Schaufenster sich Bücher türmten.
„Möchtest du mit oder lieber hier warten?“
„Ich möchte mit! Ich liebe Geschichten!“
„So? Na dann gut, aber nichts anfassen, Kinderhände hinterlassen nur zu gerne klebrige Abdrücke auf Büchern, reißen Seiten heraus und beschmutzen Einbände.“
„Ich bin aber schon groß und ich mag Bücher und weiß, wie man damit umgeht!“, grummelte ich empört.
„Ich weiß, aber du vergisst, ich weiß nicht viel über Kinder. Schon gar nicht über dich.“
„Ich weiß.“ Dann musste er es eben lernen. Aber keine Sorge, ich würde ihm schon beibringen, was er wissen musste.
Wir hielten uns nicht lange in dem Buchladen auf. Harry kaufte einige Bücher und ich sah mich solange um, sorgsam darauf bedacht, wirklich nichts anzufassen, denn die Bücher hier sahen nicht aus wie die in der Bibliothek, sie waren alle nagelneu, wunderschön und auch derbe teuer.
Danach fuhren wir nach Hause, die ganze Fahrt über wusste ich nicht, was ich sagen sollte.
Erst als ich Harry beim Auspacken und Wegräumen half, fiel mir etwas ein, das ich ihn fragen wollte.
„Woher kennst du Mrs. Ross?“
„Mrs. Ross? Ich kannte sie schon als ich noch ein Kind war. Weißt du, das ist das Haus, in dem ich aufgewachsen bin und ihr Hof liegt ganz in der Nähe. Dein Vater und ich waren oft bei ihr als wir klein waren.“
„Wirklich? Was habt ihr dort gemacht? Ihr geholfen?“
„Mehr oder weniger. Zumeist trieben wir unser Unwesen auf den umlegenden Ländereien und versuchten, auf ihren Kühen zu reiten. Manchmal mähten wir aber auch die Weiden für sie, dann bekamen wir immer selbst gebackenen Kuchen oder Kekse und manchmal auch ein paar Münzen.“
„Mein Vater war auch hier?“
„Ja, wir waren jeden Sommer zusammen hier und verbrachten unsere Ferien in diesem Haus.“
Ich blickte ihn fragend an.
„Den Vater und ich besuchten ein Internat. Wir kamen nur in den Ferien nach Hause“, erkläre er.
„Das ist ja furchtbar!“
„Das erinnert mich daran, übermorgen beginnt die Schule wieder!“
„Ich gehe aber nicht zur Schule.“
„Wie bitte?!“
„Bisher hatte ich einen Hauslehrer, mein Dad hat ihn bezahlt und später dann Tante Adeleine.“
„Hm… ein Hauslehrer, soso. Willst du denn in die Schule gehen oder willst du wieder einen Hauslehrer?“
Ich dachte an Mr. Bitts, meinen alten Hauslehrer und meine Haare rauften sich sogleich um einen Stehplatz. Er war ein stets übel gelaunter, strenger und langweiliger Kerl.
„Oh bitte, bloß keinen Hauslehrer! Da gehe ich lieber zur Schule!“
Harry lächelte und ich musste daran denken, was Mrs. Ross gesagt hatte.
„Also gut, dann gehst du ab Montag zur Schule. Sie ist nicht so weit fort, gleich am Stadtrand und in der Nähe hier ist auch eine Bushaltestelle. Ich werde dich anmelden.“
„Danke.“
Als wir fertig mit einräumen waren, war es auch schon Zeit fürs Mittagessen. Harry kochte und er kochte erstaunlich gut, auch das Fleisch war köstlich.
Nach dem Essen zog sich Harry in sein Arbeitszimmer zurück und ich machte mich daran, mich ein bisschen umzusehen.
...
Die letzen Tage verflogen im Nu und als ich das nächste Mal aufwachte, war es Montag. Ich hatte kaum geschlafen, obwohl ich den ganzen Tag im Garten umher gewandert und somit müde war, musste ich viel zu oft an das denken, was vor mir lag: Schule. Ein völlig neuer Ort mit neuen Menschen und neuen Dingen. Mein Blick fiel zur Uhr an der Wand und ich stellte fest, dass es an Zeit war, aufzustehen und mich fertig zu machen. Doch war zog man denn an, wenn man die Schule ging? Ein Kleid? Einen Rock? Letzen Endes entschied ich mich für meinen knielangen, dunkelgrünen Samtrock, eine weiße Bluse und meine schwarzen Lackschuhe. Meine Haare flocht ich mir zu zwei Zöpfen, fertig. Ob das nun angebracht war oder nicht war mir recht egal, zumal ich nicht viel mehr zum anziehen hatte und in einem Kleid wollte ich nicht in die Schule gehen.
Mit grummelndem Magen machte ich mich auf den Weg in die Küche und staunte nicht schlecht, als ich Harry vor einem reichlich gedecktem Frühstückstisch sitzen sah. Vor sich hatte er eine Zeitung, die seinen leeren Teller überdeckte wie ein überdimensionales, bedrucktes Stück Toast.
„Morgen.“, sagte er ohne aufzusehen.
„Guten Morgen, Harry.“, erwiderte ich schon weit fröhlicher als ich mich an den Tisch setzte. Der Frühstückstisch lies wirklich keine Wünsche offen, es gab Toast, Marmelade, gekochte Eier, gebratenen Speck, Bohnen, etwas frisches Obst und sogar Haferbrei mit Sirup.
„Willst du auch etwas essen, oder versuchen, es fort zu starren?“ Harry hatte die Zeitung sinken lassen und musterte mich amüsiert.
„Schon…ich… Ich weiß nur nicht, was ich essen soll.“, antwortete ich wahrheitsgemäß.
„Versuch am besten von allem ein wenig.“
„Gute Idee.“ Das musste ich mir nicht zwei Mal sagen lassen, noch während ich sprach zog ich eine Scheibe Toast aus dem Toastständer, bestrich sie mit Marmelade und lud mir nebenbei etwas Haferbrei in eine Schüssel. Er war noch warm, dampfte und roch köstlich.
„Das ist kein Tee, keine Sorge.“, klärte mich Harry auf, der meinen skeptischen Blick auf die Porzellankaraffe bemerkt hatte.
„Was ist es denn dann?“ Ich war immer noch skeptisch, vielleicht war es ja Kaffee und das war noch ekeliger als Earl Grey.
„Kakao.“ Ich traute meinen Ohren nicht, er hatte mir doch tatsächlich Kakao gemacht!
„Willst du nun etwas davon?“
Ich nickte, wollte etwas sagen, überlegte es mir dann aber doch anders und schluckte erst meinen Toast herunter. „Ja bitte!“
Harry hob die Karaffe und schenkte mir Kakao in meine Tasse. Sie war Weiß, mit blauem Blumenmuster.
„Das ist fortan deine.“, erklärte er und deutete auf die Tasse, die nun prall gefüllt mit Kakao war, sogar eine Schaumkrone war drauf.
„Danke! Sie ist toll!“
„Du magst Blau, nicht wahr?“
„Ja… Es ist meine Lieblingsfarbe!“
„Ich weiß.“
„Woher willst du das wissen?“ Er konnte doch nicht wissen, was meine Lieblingsfarbe war. Er hatte nur gut geraten.
„Weil du es mir gesagt hast. Allerdings erinnerst du dich nichtmehr daran. Was glaubst du wohl, warum dein Zimmer blau ist?“ Mit hochgezogenen Augenbrauen blickte er mich an und schüttelte den Kopf.
„Du warst zu klein, als dass du dich nun daran erinnern würdest.“
Verblüfft schaute ich ihn an. Ich war schon einmal hier gewesen und wusste nichts davon? Moment, noch viel wichtiger, ich hatte Harry schon einmal gesehen und hatte es vergessen?! Das konnte nicht sein, nur alte Leute vergaßen Dinge!
„A-aber, wann war ich hier und warum erinnere ich mich nicht?!“
Harry seufzte. „Kinder… Nun ja, du warst damals sehr klein, gerade erst vier Jahre alt. Außerdem war das auch das letzte Mal, dass du hier gewesen bist. Bis heute.“ Er musterte mich über den Rand seiner Tasse hinweg.
„Denk nicht zu viel darüber nach, ich werde es dir erklären, wenn du wieder hier bist, iss dein Frühstück auf und dann ab in die Schule.
„Okay…“ Bei all dem Essen hatte ich das ganz vergessen.
Auch Harry frühstückte und es war das erste Mal, dass ich ihn essen sah. Sein Frühstück bestand aus Früchten, etwas Joghurt und einer Tasse Kaffee. Als wir fertig waren half ich ihm beim abräumen, er bestand darauf, dass ich im Haushalt half. Nur abwaschen musste ich nicht, denn es war Zeit, zum Bus zu gehen. Bevor ich ging deute Harry aber noch auf einen Stuhl, auf dem eine kleine Ledertasche lag. „Du brauchst doch eine Schultasche, oder?“
Verlegen nickte ich, daran hatte ich überhaupt nicht gedacht. Ich öffnete sie und fand darin auch Schreibzeug, alles, was man eben brauchen konnte.
Als ich mich zum Gehen wandte, richtete er erneut das Wort an mich.
„Wo willst du denn hin?“
„Ähm, in die Schule?“
„Ohne Essen?“ Er deutete auf eine kleine Box auf dem Küchentisch, sie war mir zuvor nicht aufgefallen.
„Du hast mir Essen gemacht? Danke! Was ist denn da drin?“
Neugierig fummelte ich am Verschluss der Box, doch Harry legte seine Hand auf den Deckel.
„A-a-a. Das ist dein Lunch, den isst du in der Schule, verstanden? Und sieh zu, dass niemand an der Box herumhantiert, wer weiß, was Kinder dir da reinstecken, Würmer vielleicht.“
„In der Schule gibt es Kinder, die dir Würmer in die Lunchbox stecken?!“, entsetzt starrte ich ihn an.
„Wer weiß? Vielleicht, vielleicht auch nicht. Man muss mit allem rechnen. Rechne mit dem Schlimmsten, dann kann es eigentlich nur noch besser werden.“
Irgendwie leuchtete das ein.
Nickend versprach ich ihm, vorsichtig zu sein und verließ das Haus.
Doch ich war kaum die Stufen der Treppe am Eingang hinab, als ich meine Box öffnete und hinein linste. Darin waren Sandwiches, ein Apfel und ein Gläschen mit etwas, das verdächtig nach Erdbeerkompott aussah. Außerdem lag ein kleines Päckchen mit einem Keks und einem Stück Schokolade darin. Wow, das war mit Sicherheit der beste Lunch der ganzen Schule! Überglücklich machte ich kehrt, rannte zurück in die Küche und umarmte Harry stürmisch.
„Danke Harry!“
„Was zum…?“ Doch zu mehr kam er nicht, schon war ich wieder auf und davon. „Einen schönen Tag!“ rief ich und winkte ihm zum Abschied zu.
Zurück lies ich einen verblüfften Harry, der, als er die Fassung wieder erlangt hatte, mir hinterher rief, dass ich doch nicht laufen sollte… Zugegeben, ich hörte ihn nicht mehr richtig, ich war schon spät dran und musste ja noch zur Bushaltestelle.
Währen ich meinen Tag in der Schule verbrachte, rief Harry bei Mrs. Ross an, um sich für den Nachmittagstee anzukündigen. Woher ich das weiß? Nun, sie hat es mir, einige Zeit später, selbst erzählt.
Nachdem Harry den Abwasch erledigt hatte, nahm er den Hörer von der Gaben und wählte auf der Drehscheibe des Telefons Mrs. Ross’ Nummer. Er wusste, dass sie zu Hause war, denn montags war ihr kleiner Laden geschlossen.
„Ja, hallo? Samatha Ross am Apperat.“
„Morgen Mrs. Ross, hier ist…“
„Harold! Wie schön, von Ihnen zu hören!“
„Schön, schön ja. Mrs. Ross, dürfte ich mich erdreisten und mich für diesen Nachmittag bei ihnen zum Tee ankündigen? Es gibt da etwas, das ich gerne mit Ihnen besprechen würde, falls sie denn Zeit haben.“
„Selbstverständlich! Ich freue mich! Das heißt, es ist doch nichts vorgefallen, oder? Zumindest nichts Schlimmes?“
„Nein, machen Sie sich keine Sorgen.“
„Gut…dann sehen wir uns heute Nachmittag!“
„Ausgezeichnet, auf Bald.“
„Ebenso!“, trällerte Mrs. Ross zurück, doch Harry hatte schon längst den Hörer auf die Gabel gelegt. Er hasste es, zu telefonieren und wurde niemals müde, sich darüber zu beschweren.
Obwohl sich Mrs. Ross über Harrys Besuch freute, machte sie sich dennoch Sorgen und fragte sich, was er wohl brauchen würde. Sie verriet mir, dass sie sich nicht nur gewundert, sondern auch ein bisschen gefürchtet hat, den Harold George Porter wäre unter normalen Umständen niemals zu einer Person zum Tee erschienen. So sehr er Tee auch mochte, er trank keinen Tee von anderen Personen. Auch nicht von mir, zumindest anfangs nicht.
Mrs. Ross wartete schon voller Spannung und überrumpelte Harry fast, als dieser am Nachmittag an ihrer Tür klopfte.
„Harold, wie schön! Kommen Sie doch herein!“
„Vielen Dank, Mrs. Ross. Ah, hier, das ist für Sie.“
Er drückte ihr eine Schachtel in die Hand.
„Pralinen! Du gute Güte Harold! Das wäre doch nicht nötig gewesen!“ Sie errötete. „Das letzte Mal, als mir jemand Pralinen schenkte, habe ich diesen jemand geheiratet!“ Sie sprach natürlich von Mr. Ross.
„Nur keine Sorge, ich werde niemals heiraten.“, entgegnete Harry wie üblich nüchtern feststellend.
Mrs. Ross blickte Harry tadelnd an. „Oh Harold, Sie und Humor…“
„Wie bitte?“
„Ach nichts, Sie wirken etwas überspannt. Setzen Sie sich doch!“
Mit diesen Worten hatte sie ihm auch schon einen Sessel in ihrem Wohnzimmer zugewiesen und Harry setzte sich und wartete, während Mrs. Ross den Tee servierte. „Also, Harold, sie würden nie anrufen und zum Tee kommen, wenn nicht eine gewisse Notwendigkeit darin liegen würde. Was um alles in der Welt ist los?“
„Das frage ich mich in den letzten Tagen auch des Öfteren! Wissen Sie, da liest man nichts ahnend seine Bücher, als plötzlich ein Mann mit einem Kind vor meiner Tür steht und es bei mir ablädt. Dem nicht genug, ein Kind könnte man fortgeben-„
„Harold!“
„-aber nicht dieses Kind, nein. Es schien irgendein Balg zu sein, doch als ich sie zum ersten man ansah, sah ich ganz unweigerlich niemand geringeren vor mir stehen als eine kleine, weibliche Version von Charles Atchinson!“
„Oh Harold… es tut mir ja so leid!“
„Wie bitte was?“
„Der Verlust von Charles, ich wusste ja, dass er, aber…“
„Oh. Sie wussten nichts von Charles Tod?“
„Doch… ich habe es gehört, tragisch. Aber ist es nicht schon Jahre her?“
„Etwas mehr als Zwei um genau zu sein. In dieser Zeit blieb sie innerhalb der Familie Atchinson. Zuerst war sie bei ihrer Großmutter, doch als diese nach nicht einmal einem Jahr verstarb wurde sie reihum gereicht. Sie war bei Adeleine und später bei Adeleines Schwester, dann kam sie zu diversen anderen, einem Onkel und so weiter. Doch keiner von ihnen behielt sie länger als notwendig, sobald sie einen Grund hatten, schoben sie sie ab und dann stand sie plötzlich vor meiner Haustüre.“ Er seufzte. „Mrs. Ross, Sie kennen mich, Sie wissen wie ich bin. Ich weiß kaum etwas über Kinder und kann mit ihnen in etwa genauso viel anfangen wie sie mit mir. Noch weniger sogar.“
„Aber Harold, Sie scheinen die Kleine doch zu mögen. Oder irre ich mich? Oh, Sie wollen sie doch nicht etwa fortgeben!“
„Wissen Sie, nein. Das ist ja das Schlimme. Ich sehe sie an und blicke in Charles‘ Augen. Sie hat die selben Augen wie ihr Vater, wissen Sie?“
„Ja… Ich habe es selbst gesehen als Sie sie mir vorstellten. Sie ist unweigerlich Charles‘ Tochter.“
„Eben. Sie ist wie das letzte Stück das von Charles übrig ist und ich schulde es ihm, wenigstens für sie da zu sein, wenn schon nicht für ihn.“
„Sie waren immer für Charles da, machen Sie sich bloß keine Vorwürfe! Sie sind ihm sogar ferngeblieben, um ihm ein glückliches Leben zu ermöglichen! Es ist nicht Ihre Schuld, dass die Familie Atchinson Sie nicht ausstehen konnte!“
Harry schwieg einen Augenblick und trank einen Schluck Tee.
„Sie, wollen also, dass sie bei Ihnen bleibt?“, fragte Mrs. Ross.
„Ja. Darum bin ich hier. Wie ich schon sagte habe ich nicht viel Ahnung von Kindern und Erziehung, zum Glück hat Charles sie gut erzogen und Adeleine hat es nicht geschafft, dies zu ändern. Sie ist kein kleines Kind mehr, zumindest beherrscht sie Grundkommandos, kann Lesen, Schreiben und ist stubenrein.“
„Wie bitte?!“
„Was ich von Ihnen brauche sind Ratschläge. Sie können mit Kindern umgehen, immerhin haben Sie auch Charles und mich immer gut behandelt und wir mochten Sie sehr.“
„Oh Harold…“, wieder errötete sie. „Ihr beiden habt es mir aber auch nicht immer leicht gemacht euch zu mögen! Ich erinnere mich nur zu gut, wie ihr versucht habt, auf meinen Kühen zu reiten und meine Gärten geplündert habt! Wie oft hat Marty euch deswegen mit der Mistforte gescheucht? Achje…“
„Ich tat mein Bestes, nett zu ihr zu sein, doch ich hatte keine Ahnung, was ich tun sollte. Also hab ich sie so behandelt, wie ich Charles behandelt hätte, wäre er als Kind vor mir gesessen. Sie hat es mir auch leicht gemacht, sie ist ihm sehr ähnlich… Ihre Zunge ist so scharf wie ein Metzgermesser, sie ist frech, aber nicht unhöflich und niemals um eine Antwort verlegen.“
„Genau wie Charles.“
„Genau wie Charles, ja. Also, was schlagen Sie mir vor?“
„Nun… Seien Sie nett! Und um Himmels Willen Harold, behandeln Sie sie wie ein Kind und keinesfalls wie einen Erwachsenen! Was ich damit sagen will, erwarten Sie nicht, dass sie alles kann und tut, wie sie es vielleicht tun würden oder wie Charles es tun würde. Sie ist ein Kind, sie braucht jemanden, der ihr ein Vorbild ist, der für sie da ist und auf sie aufpasst. Ein Kind braucht Liebe und Zuneigung Harold, verstehen Sie?“
„Das habe ich befürchtet. Aber ich werde mich selbstverständlich um sie kümmern und ihr Dinge beibringen und ja, ich werde nett sein.“
„Seien Sie nicht zu streng mit ihr. Ich bin mir sicher, Sie werden lernen, mit ihr umzugehen. Das Zusammenleben mit einem Kind ist nicht immer leicht Harold.“
„Ich weiß… Danke Mrs. Ross. Sie haben mir sehr geholfen.“
„Aber ich habe Ihnen doch kaum etwas nützliches gesagt!“
„Oh doch, das haben Sie. Wissen Sie, manchmal ist es auch schon überaus hilfreich mit jemandem zu sprechen. Nun scheint es mir realer, verstehen Sie?“
„Verstehe… Ich bin mir sicher, dass Sie das gut machen werden Harold, sie sind ihr bestimmt ein großartiger Ersatzvater.“
„Aber das bin ich nicht, nicht im geringsten. Ich bin nicht Charles, werde es niemals sein und ich werde mich auch nicht mühen, ihn zu ersetzen.“
„Genau das ist es ja. Sie braucht niemanden, der Verstorbene imitiert, sie braucht jemanden lebendigen der einfach so ist wie er ist und für sie da ist. Sie braucht Sie, Harold und Sie brauchen sie.“
„Inwiefern das?“
„Nun, sie tut Ihnen gut, merken Sie das nicht? Ich hab Sie letzen Samstag zum ersten Mal seit Jahren lächeln sehn.“ Mrs. Ross sah Harry lange an und Harry starrte lange Zeit ins Leere.
„Schicken Sie sie rüber, sollte es Ihnen zu viel werden. Sie kann mir hier auf der Farm helfen, wenn Sie wollen. Wenn Sie sonst etwas brauchen, rufen Sie einfach an, ich werde Ihnen helfen, Harold.“ Sie lächelte.
„Ich danke Ihnen, Mrs. Ross.“
„Gern geschehen. Eins noch Harold.“
„Ja?“
„Nun hören Sie endlich damit auf, mich mit Mrs. Ross anzusprechen“ Sie sind nichtmehr zehn Jahre alt und ich bin keine junge Dame mehr! Wenn Sie mich so nennen, komme ich mir vor wie eine alte Lady! Sagen sie doch einfach Samantha.“
Wie Sie meinen. Dann nennen Sie mich Harry. Sie haben mir nur mit Harold gerufen, wenn ich etwas angestellt habe.“ „Also andauernd! Was glauben Sie warum ich es immer noch tue? Macht der Gewohnheit…“ Beide lachten noch eine Weile und als Harry seinen Tee ausgetrunken hatte, verabschiedete er sich von Mrs. Ross, die er fortan Samantha nannte, und machte sich auf den Weg nach Hause.
Während Harry sich mit Mrs. Ross unterhalten hatte, verbrachte ich meinen allerersten Tag in einer richtigen Schule. Schon allein die Fahrt mit dem Bus war irgendwie aufregend. Als der Fahrer die Tür öffnete und ich eintrat starrten mich alle an. „Atchinson?“ Fragte er mich und ich nickte. Auch er nickte knapp. „Setzten und festhalten.“ Mehr sagte er nicht und so ging ich den schmalen Gang entlang und hielt nach einem freien Platz Ausschau. Doch im ganzen Bus gab es keinen Sitz, auf dem noch niemand saß und die meisten Kinder hatten ihre Schultaschen neben sich auf die Sitze gestellt und murmelten „besetzt“, als ich an ihnen vorbei kam. Langsam bekam ich Angst, dass ich mich gar nirgends hinsetzen konnte und die Fahrt über stehen musste. Plötzlich aber erklang eine leise Stimme hinter mir. „Du kannst gerne hier sitzen.“ Eine Schultasche wurde zur Seite gezogen und ein Junge mit blonden, leicht gelockten Haaren und grünen Augen blickte mich an und lächelte schüchtern.
„Danke!“ Ich lächelte zurück und setzte mich, erleichtert, nun doch einen Platz gefunden zu haben.
„Du bist neu hier, oder?“
„Ja, ich wohne in dem Haus, gleich dort, den Weg runter.“, erklärte ich ihm und deutete aus dem Fenster.
„Da wohnst du? Im ernst?“
„Sicher, warum denn auch nicht?“ „Weil dort nie jemand hingeht, der Typ, der dort wohnt ist wunderlich und er kommt so gut wie nie raus, deshalb weiß ich nicht, ob er echt ist oder nur ein Geist.“
„Er ist echt und er ist echt lieb. Aber wunderlich ist er auch.“
„Und du schwindelst nicht, du wohnst wirklich da?“
„Ja. Ganz im Ernst.“
„Cool.“
Es freute mich, dass es offenbar etwas Bewundernswertes war, mit Harry in einem Haus zu leben.
„Sag mal, wie heißt du eigentlich?“, fragte ich den Jungen.
„Ich bin Ben, Benjamin Grey und du?“
„Freut mich, Ben. Mein Name ist Elizabeth, Elizabeth Atchinson.“
„Freut mich Elizabeth.“
„Nenn mich Liz.“
„Okay, Liz.“
Den Rest der Fahrt über unterhielten wir uns über dieses und jenes und ehe ich mich versah hielt der Bus vor einem großen, mit Efeu bewachsenen Backsteinhaus. Es war an der Zeit, auszusteigen. Ich beschloss, mich an Ben zu halten und folgte ihm quer über den Hof zum Eingang, wo eine Frau mittleren Alters Stand und die Schüler beaufsichtigte. Sie war vermutlich Lehrerin und würde wissen, wo ich hinmusste. Also entschloss ich mich, sie zu fragen, nur für den Fall.
„Entschuldigen Sie, Madam?“
„Hm? Ja, was ist denn?“
„Ich bin Elizabeth Atchinson und bin neu hier. Können Sie mir bitte helfen?“
„Ohja selbstverständlich! Mr. Porter hat bereits angerufen und dich bei uns angemeldet, komm einfach mit, ich bringe dich zu deiner Klasse. Ich bin übrigens Mrs. Adams.“
Mrs. Adams schien ganz nett zu sein und begleitete mich zu meiner Klasse. Dort ließ sie mich allerdings allein, da sie zum Unterricht musste und es hatte bereits geläutet. Ich sollte hier auf meine Lehrerin warten und bereits nach wenigen Augenblicken eilte auch eine ältere Dame mit hochgestecktem Haar auf mich zu. „Elizabeth Atchinson?“
„Ja. Guten Morgen Madam.“
„Mrs. Graves. Ich bin ab heute deine Klassenlehrerin. Komm mit.“
Ich folgte ihr in die Klasse und der Wirbel, der zuvor geherrscht hatte, verstummte augenblicklich.
Mrs. Graves hob die Stimme:“ Kinder, wir haben ab heute eine neue Schülerin. Das ist Elizabeth Atchinson. Setz dich, Kind.“
ich war froh, den bohrenden Blicken der anderen zu entkommen und noch viel glücklicher war ich, als ich Ben sah, der alleine auf einer Bank in der hintersten Ecke saß. Ich ging zu ihm und fragte, ob ich mich setzen durfte. Er nickte und wenig später knallte Mrs. Graves mir einen Stapel Bücher auf den Tisch.
„Die wirst du brauchen.“ Dann drehte sie sich um und schritt zur Tafel. Mrs. Graves unterrichtete uns in Literatur.
„Schlagt nun alle eure Literaturkundebücher auf Seite dreihundertsechzig auf!“
Ihre Stimme schnitt durch die Klasse und alle taten, wie geheißen. Sie schien so streng zu sein, wie sie aussah.
Zu Mittag durften wir dann endlich auf den Hof und unseren Lunch essen. Auf dem Weg nach draußen verlor ich Ben, da ich zuvor noch für kleine Mädchen musste.
Ich blickte mich auf dem Hof um, konnte ihn aber nirgends sehen. Also machte ich mich auf den Weg um ihn zu suchen. Wo sollte ich anfangen? Grübelnd schritt ich umher als ich plötzlich seine Stimme hörte.
„Aua, lasst das! Aua, das war mein Bein!“
Das hörte sich weniger gut an. Was da nur los sein mochte? Schnell flitze ich um die Ecke und dann sah ich ihn. Ein großer, stämmiger Junge hatte ihn gerade getreten und ein anderer hatte ihn gerade geschubst. Einer der beiden war gerade dabei, eine Tüte aus einer Box zu holen, als er diese hatte, warf er die box auf Ben.
„Aua!“
„Das hast du davon, Brillenschlange!“
„Sieh zu, dass du in Zukunft mehr Essen mitbringst, da verhungert man ja, Vierauge!“
Solche Rüpel!
„Hey! Lasst ihn in Ruhe!“
Die beiden drehten sich um. Ben klaubte seine Brille vom Boden setzte sie auf und Starrte mich entsetzt an.
„Liz! Bist du irre?!“
„Nein bin ich nicht, aber die beiden!“ Empört zeigte ich auf die beiden Raufbolde. „Ihr habt sie doch nicht alle, ihr könnt ihn doch nicht sein Essen wegnehmen!!“
„Ach, und wer will uns daran hindern? Du?“ Sie lachten.
„Ja.“ Trotzig verschränkte ich die Arme vor der Brust.
Sie brachen in schallendes Gelächter aus.
„Was wirst du tun? Uns verprügeln? Wir haben ja solche Angst.“
Nun kamen beide auf mich zu und einer der beiden, der dickere, schubste mich und ich stolperte nach hinten und fiel zu Boden. Eines meiner Knie blutete.
Mir war nach heulen zumute, es brannte und würde sicher eine schreckliche Narbe geben. Doch ich konnte vor denen doch nicht anfangen zu heulen, sie lachten mich ja jetzt schon aus.
„Lasst sie in Ruhe!“, brüllte Ben von hinten und sie widmeten sich wieder ihm.
„Hey! Was fällt euch ein mich zu schubsen!“ Nun war ich erst recht sauer. Und ich wollte nicht, dass sie wieder auf Ben losgingen, er sah schon etwas lädiert aus.
„Was willst du, willst du etwa Streit, kleines Mistgör?“
„Nein, eine Dame fängt keinen Streit an!“
„Aber eine Dame wird diesen Streit nun beenden! Ihr beiden, ab in mein Büro, augenblicklich!“ Mrs. Addams war plötzlich da und offenbar fuchsteufelswild. „Das ist schon das neunte Mal, dass ich euch dabei erwische, wie ihr andere belästigt! Rein mir euch sofort!“
Ich ging zu Ben und half ihm auf.
„Alles in Ordnung?“
„Ja, alles gut. Das machen die öfter.“
„Was?! Sowas darfst du dir nicht gefallen lassen, du musst dich wehren!“
„Mhm… Danke, das war echt kanpp. Die hätten mich umgelegt.“
„Kein Problem. Aber jetzt haben sie dein Essen.“
„Ja… das passiert, dann esse ich eben nichts.“ Schulterzuckend sah Ben mich an, er schien an all das gewöhnt zu sein.
„Hm… wir teilen einfach mein Essen.“, schlug ich vor.
Wir setzen uns unter den Baum an der Ecke und ich öffnete meine Lunchbox. Harry hatte zwei extra-dick belegte Sandwiches mit Käse und Tomaten eingepackt. Eines davon gab ich Ben und wir teilten uns auch den Apfel, den Keks und die Schokolade. Zum Schluss öffnete ich auch das Glas mit dem Erdbeerkompott und wir löffelten auch dieses leer.
„Boah, deine Mum macht super Lunch!“, stellte Ben kauend fest.
„Nein, tut sie nicht.“
„Warum nicht?“
„Meine Mum ist tot.“
„Oh, das.. das tut mir so leid, ich wollte nicht…“
„Schon okay. Das hat Harry gemacht, du weißt schon, der wunderliche Typ bei dem ich jetzt wohne.“
„Ah… Für einen Mann kann er aber super kochen! Vor allem das Erdbeerkompott und der Keks!“
„Jah, Harry ist super.“ Antwortete ich und meinte es auch so.
Dann läutete es und die Schule ging weiter. Es war ein ereignisreicher, aber auch toller Tag gewesen, trotzdem war ich froh, als es läutete und die Schule aus war. Ben und ich stiegen gemeinsam in den Bus und als es für ihn an der Zeit zum Aussteigen war bedankte er sich noch einmal.
„Danke für alles Liz! Du bist wirklich eine tolle Freundin!“
„Wir sind Freunde?“ Ich blickte ihn verwundert an.
„Äh, ja.. ich denke schon, ich meine, wenn du willst.“ Er wurde rot.
„Klar!“
„Super, dann sind wir jetzt Freunde!“
„Abgemacht!“, sagte ich und wir gaben uns die Hand drauf. Dann stieg er aus. Er winkte mir noch zu als der Bus davonfuhr. Ich war die Letzte, die ausstieg und ich konnte es kaum erwarten, Harry zu erzählen, was passiert war. Ich hatte meinen ersten Freund und wir hatten auch schon ein kleines Abenteuer zusammen erlebt!
„Harry! Harry, wo bist du? Ich muss dir etwas erzählen!“ Voller Euphorie stürmte ich ins Haus.
„Liz? Was um alles in der Welt… Um Himmels Willen, im Haus rennt man nicht, du könntest-“
„…über den Teppich stolpern und mir an der Treppe die Zähne ausschlagen oder hinfallen und mir etwas brachen, ich weiß.“
er hob empört den Zeigefinger und setze an, etwas zu sagen, dich wieder war ich schneller.
„Und ich weiß auch, dass ich dich nicht unterbrechen soll, aber ich MUSS dir etwas erzählen, sonst sterbe ich vor Aufregung!“
Kopfschüttelnd starrte er mich an. Er schien Schwierigkeiten zu haben, sich zu beherrschen. Doch bevor er mich maßregeln konnte, setzte ich mich auf einen Stuhl in der Küche und plapperte los.
Als ich fertig war, sah er mich nur mit schräg gelegtem Kopf an. Ich strampelte ungeduldig mit den Beinen während ich auf seine Antwort wartete. Da fiel ein Blick auf mein Knie.
„Um Himmels Willen Lizzy! Was hast du da?! Ich sagte dir doch, dass du nicht rennen sollst!“
Erst jetzt erinnerte ich mich an die pochende Stelle auf meinem Knie. Nun war sie auch blau geworden und sah fürchterlich aus.
„Das ist nicht passiert als ich gerannt bin. Das ist passiert als ich Ben gerettet hab!“
Er sah mich an. „Ben? Gerettet? Wovor musstest du Ben retten und wer ist Ben?“
„Mein neuer Freund! Hab ich dir doch eben erzählt!“
„Ja, aber nicht, dass du ihn retten musstest.“
„Zwei große Jungs haben ihm seine Essensbox weggenommen und ihn geschlagen. Sie nannten ihn Brillenschlange und waren überhaupt total gemein zu ihm. Was hätte ich machen sollen? Ich hab nur gesagt, dass sie ihn in Ruhe lassen sollen und dann haben sie mich geschubst, ich bin hingefallen und hab mir das Knie blutig geschlagen.“ Nun wurde es zu viel. Ich erinnerte mich an das Gefühl, Ben nicht helfen zu können, wehrlos und unfähig zu sein, an das Brennen, das Lachen der beiden Jungs und begann zu schluchzen.
„Oh Harry, es hat so weh getan! Jetzt bleibt bestimmt eine hässliche Narbe! Es brennt immer noch!“ Es war zu spät ich heulte und Harry sah mich mit einer Mischung aus Grauen, Entsetzen und Hilflosigkeit an.
„Okay, okay! Ganz ruhig, beruhige dich!“, er fuhr sich nervös durch die Haare.
„Wie soll ich mich beruhigen, es brennt wie Feuer, es ist blau und mir fällt vielleicht das ganze Bein ab!“
„Lizzy! Es reicht! Dir wird das Bein nicht abfallen und es bleibt auch wahrscheinlich gar keine Narbe! Komm her.“
Er hob mich hoch und setzte mich auf die Küche. Dann ging er zu einem Regal und holte ein kleines Köfferchen hervor, woraus er einige Fläschchen und Döschen kramte.
Er zog sich Handschuhe über und öffnete eine der Flaschen.
„Harry…was tust du da?“ Ängstlich beobachtete ich, wie er eine rötlich-braune Flüssigkeit auf ein Tuch schüttete.
„Das wirkt desinfizierend, es reinigt die Wunde und verhindert Entzündungen.“
„Tut das weh.“
„Nein.“
Er tupfte mir damit das Knie ab und es brannte fürchterlich.
„Auaaaah! Du hast gesagt, dass es nicht weh tut!!“, klagte ich.
„Ja. Es hat auch gebrannt, nicht einfach nur weh getan, oder?“
Er hatte Recht. Aber war das nicht auch eine Form von weh tun? Aber es wir nicht weh tun im eigentlichen Sinne… Er hatte mich reingelegt!
Harry legte das Tuch zur Seite und öffnete ein Döschen.
„Das tut aber nicht weh oder? Und es brennt auch nicht?“, fügte ich hastig hinzu.
„Nein, weder noch. Es kühlt und es… es macht, dass du keine Narben hast.“
„Wirklich?“
„Mhm.“, murmelte er und schmierte mir eine dicke Schicht Salbe auf mein Knie. Wieder hatte er Recht, es fühlte sich wunderbar kühl an. Zum Schluss wickelte er mir einen leichten Verband darum. Ich bestand auf einen, zwar nicht aus denselben Gründen wie Harry – er wollte nicht, dass meine Kleider oder das Sofa schmutzig werden- aber ich bekam einen Verband und es sah aus, als hätte ich mich ernsthaft verletzt. Ben würde morgen sicher total beeindruckt sein.
„So, fertig. Auf diesen Schock brauche ich jetzt Tee, es ist ohnehin schon Zeit für Tee… Und für Kakao.“. fügte er nach einem Blick auf mich hinzu.
Er hob mich von der Küche und ich ging schon vor ins Wohnzimmer, oder Salon, wie die Erwachsenen es auch manchmal nannten und machte es mir in einem der beiden riesigen, alten Ohrensessel bequem. Dann kam Harry mit einem Tablett auf dem ein Teeservice mit zwei Kannen und zwei Tassen standen. Daneben war noch eine Schale mit Keksen.
„Harry?“, fragte ich ihn nachdem wir eine Weile schweigend da gesessen hatten.
„Ja?“
„Bleibt da auch wirklich keine Narbe?“
„Aber nein.“
Zweifelnd blickte ich ihn an.
„Echt? Ganz im Ernst?“
„Himmel, Lizzy! Von einer kleinen Schürfwunde bekommt man doch nicht gleich entstellende Narben! Was glaubst du, wie ich wohl aussehen würde, wenn jede kleine Schürfwunde gleich eine Narbe hinterlassen hätte?“
„Wann hast du dir denn die Knie aufgeschlagen?“ Es schien mir absolut unmöglich, dass jemand wie Harry sich mal verletzt hatte oder gar herumgetobt war.
„Du machst wohl Witze. Als ich so alt war wie du, sah ich aus als wäre ich eine einzige Schürfwunde! Dein Vater und ich trieben einen Schabernack nach dem anderen, was glaubst du, wie unsere Knie ausgesehen haben? Uns hat niemand mit Salbe versorgt, wir bekamen noch Ohrfeigen wenn wir heulend nach Hause rannten!“
„Du und mein Dad habt Unfug getrieben? Du? Was habt ihr denn gemacht?“ Meine Neugier war geweckt.
„Was Kinder eben machen. Wir sind öfter auf Bäume geklettert, als wir runter fallen konnten, sind in jedes Loch gekrochen, das wir finden konnten und sind sogar auf Mrs. Ross‘ Kühen geritten.“
Ich starrte ihn fassungslos an. „Auf Kühen kann man doch nicht reiten!“
„Aber sicher. Der Aufstieg ist nicht ganz einfach, das Oben bleiben auch nicht, aber es machte Spaß. Bis Mr. Ross und erwischte und fortjagte, wo wir uns gleich wieder weh taten, weil wir auf der Flucht am Zaun hängen blieben. Einmal haben wir uns mit den Hosenträgern und Zaun verheddert und Mr. Ross hat uns als Strafe dort hängen lassen, bis es dunkel wurde. Wir hatten eine Höllenangst und brüllten um unser Leben. Später kam dann Mrs. Ross und befreite uns. Sie nähte unsere Hosen und wir rannten hierher zurück, sagten aber niemandem, was geschehen war, denn sonst hätten wir erst Recht Ärger bekommen.“
Ich prustete vor Lachen.
„Zu dem Vorfall mit den beiden Raufbolden… Es war sehr mutig, aber zweifelsohne auch dumm und vor allem strategisch unklug, die beiden direkt herauszufordern. Mach so etwas nie wieder.“
„Okay… Aber-„
„Kein aber. Das nächste Mal siehst du zu, so schnell wie möglich mit Ben außer Reichweite zu kommen.“
„Und wie soll ich das anstellen?“
„Ihr seid schlauer als sie. Tricks sie aus. Lizzy, du bist mutig, aber auch ungehalten und denkst nicht über das nach, was du tust. Du bist deinem Vater sehr ähnlich, weißt du?“
„Ehrlich? Harry?“
„Hm?“
„Wie war er so? Als Kind meine ich.“
„Ganz genau wie du es nun bist. Weißt du, dein Vater war mutiger als jeder andere Junge, den ich je kannte. Ich war auch mutig, aber nicht so stark wie er. Meine Stärke lag in meinem Verstand. Zudem konnte ich mit keinem anderen Gleichaltrigen etwas anfangen, sie dachten nie nach, taten einfach, wonach ihnen war, ohne über Konsequenzen oder mögliche Profite und Dergleichen nachzudenken. Dein Vater war ein Extrembeispiel. Er war mein genaues Gegenteil- haltlos, frech, vorlaut, extrovertiert, stark und niemals um eine unüberlegte Handlung verlegen. Auch ich zog Ärger magisch an, als „Streber“ macht man das ohnehin, wenn man dann auch noch frech war, war das Chaos perfekt. Wir ließen uns von niemandem etwas sagen und schon gar nicht gefallen. Wir waren… kleine Rebellen, oder zumindest hielten wir uns für welche. Zumindest wurden wir öfter verprügelt als wir zählen konnten und spielten jedem einen Streich, der uns über den Weg lief. Wir waren die besten Freunde.“
Ich dachte über das nach, was Harry mir gerade erzählt hatte.
„Wenn ihr doch beste Freunde wart, warum habe ich dich nie richtig kennen gelernt?“
„Oh, das hast du.“, sagte er. „Du hast mich lediglich vergessen.“
Er lächelte mich an, doch sein Lächeln war merkwürdig, gar nicht fröhlich.
„Du warst nie da.“, flüsterte ich, um mich zu rechtfertigen.
„Schon okay.“
„Warum warst du nie da, wen ihr doch beste Freunde wart?!“, empörte ich mich.
„Eben darum. Weißt du Lizzy, dein Vater und ich reisten um die ganze Welt, das hat deiner Mutter gar nicht gefallen, jedoch fand sie nie einen Grund, es ihm zu verbieten… Und dann kamst du. Plötzlich hatte er einen Grund, zu bleiben wo er war und er zog zu deiner Mutter. Deine Mutter aber konnte mich nie leiden und somit hatte sie mir verboten dich zu sehen, Sie hielt mich für einen Schlechten Einfluss für Charles und dich. Dein Vater aber brachte dich eines Tages heimlich zu mir, damals warst du vier Jahre alt. Ich hatte dich am Tage deiner Geburt zum ersten Mal gesehen und von dort an immer wieder heimlich, bis deine Mutter uns einmal erwischte. Dann sah ich dich an ebendiesem Tag wieder, als dein Vater dich zu mir brachte. Wir unterhielten uns, tranken Tee und du hast dir damals das Zimmer ausgesucht, in dem du jetzt schläfst. Du wolltest es, weil es blau war und blau deine Lieblingsfarbe war. Das war auch der Tag, an dem ich dich zum letzen Mal sah, bis du vor meiner Tür standest.“
Schweigen kehrte ein, in meinem Kopf tobte ein Sturm aus Gedanken. Wie konnte meine Mutter nur so gemein sein?
„Warum hat Mum das getan?“
„Sie wollte nur das Beste für dich. Sie hatte andere Ansichten, was gut für dich war, das musst du verstehen.“
Das stimmte, meine Mutter hatte tatsächlich andere Ansichten gehabt als mein Dad. Sie war immer schon streng gewesen und hatte versucht, mich dahingehend zu erziehen, einmal eine gute Ehefrau und Mutter zu sein. Ich aber wollte schon immer werden, wie mein Vater. Mum aber wurde immer wütend, wenn ich ihr sagte, dass ich viel lieber reisen würde, als daheim zu sein und zu putzen. Einen Mann wollte ich auch nicht, Jungs waren blöd. Außer Ben, er war eine Ausnahme.
Darum war ich vermutlich auch zuerst bei ihren Schwestern gelandet, bevor ich zu Harry kam.
„Harry?“
„Ja?“
„Ich bin froh, dass ich hier bin, weißt du. Mir hat es bei meinen Tanten nie gefallen… Sie führten sich auf, als wären sie meine Mutter, waren aber immer nur gemein zu mir.“
„Niemand kann deine Eltern ersetzen Liz.“
„Ich weiß. Ich brauche auch keine Eltern mehr.“, gedankenverloren starrte ich in meinen Kakao, währen Harry mich stirnrunzelnd anstarrte.
Ich seufzte. „Sie sind tot und das ist nun mal so. Sie kommen nie wieder.“ Und wieder fing ich zu heulen.
„Ich liebe sie, aber sie sind tot und ich brauche sie nicht, ich brauche auch niemanden sonst, keine Tante Addie und niemanden von denen! Ich brauche nicht irgendjemanden, ich brauche dich!“, schluchzte ich. Harry starrte mich nur verblüfft an.
„Mich?“, flüsterte er und ich nickte.
„Ja.“, presste ich hinter zusammengekniffenen Lippen hervor.
„Humbug.“, murrte er und reichte mir ein Stofftaschentuch, ich putze mir die Nase, trocknete meine Tränen und reichte es ihm. Er nahm es naserümpfend, mit spitzen Fingern und lies es auf einen Teller fallen. Ich musste grinsen.
„Was ist?“, fragte er.
„Nichts. Du bist nur lustig, wenn du dich ekelst.
Er blickte mich gerunzelter Stirn an und schon zeigte sich seine Denkfalte wieder.
Nun musste ich lachen.
„Wenn du mich so anschaust, siehst du sogar noch lustiger aus!“
Er schüttelte den Kopf und lachte letzen Endes sogar mit. Er wurde einfach nicht schlau aus Kindern, wie er mir später einmal sagte. Doch an diesem Abend war es egal, wir saßen einfach da und lachten, bis es Zeit war, zu Bett zu gehen.
Harry brachte mich hoch in mein Zimmer, um sicher zu gehen, dass ich auch wirklich zu Bett ging und nicht noch im Haus herumwanderte, das mochte er nämlich überhaupt gar nicht. Ich zog mich also um und ging ins Badezimmer, um mich zu waschen. Währenddessen schüttelte Harry meine Kissen auf und sah nach, ob wohl nichts unter meinem Bett saß.
Unter meinem Bett war nichts, nicht einmal Staubmäuse und so legte ich mich hinein und Harry deckte mich zu bevor er ging.
„Gute Nacht, Liz.“
„Gute Nacht Harry. Harry?“
„Ja?“
„Liest du mir was vor?“
„Kannst du denn nicht selbst lesen?“Er blickte mich stirnrunzelnd an.
„Doch schon, aber manchmal ist es besser, wenn jemand einem etwas vorliest. Dad hat mir immer vorgelesen, weißt du.“
Er seufzte. „Na dann, aus welchem Buch soll ich dir vorlesen?“
Ich zog das einzige Buch, das ich hatte unter meinem Kopfkissen hervor und hielt es ihm hin. „Die Abenteuer des Tom Sawyer“, stand in ausgeblichenen Buchstaben auf dem zerlesenen Einband. Als Harry das Buch sah, wurden seine Augen groß.
„Ich habs von meinem Dad, ist das letzte von allen Büchern, die wir hatten.“
„Ich weiß.“ Seine Stimme klang seltsam.
„Darum kenn ich es ja auch auswendig.“, betonte ich voller Stolz. Naja, ganz auswendig ist vielleicht übertrieben, aber ich wusste, was passierte und hatte es schon oft gelesen und vorgelesen bekommen.
„Hast du denn kein anderes?“
„Nein… Das ist das einzige Buch, das ich habe. Hast du Bücher, Harry?“
Nun bekam sein Gesichtsausdruck wieder etwas Fassungsloses.
„Ob ich Bücher habe? Selbstverständlich! Ich habe viele Bücher! Ob ich Bücher habe… Ich habe-“ Er brach mitten im Satz ab uns musterte mich.
„Du magst Bücher, hm?“
„Ja, sehr gerne sogar.“
„Na dann komm mit, ich werde dir etwas zeigen.“
Mit diesen Worten führte mich Harry in den Raum hinter der großen, bogenförmigen Tür, hinter die ich schon mal gelinst hatte, als ich die Toilette suchte. Doch nun sah ich den Raum dahinter zum ersten Mal ganz. Er umfasste ganze zwei Stockwerke und hatte auch eine Decke aus Glas, durch die man den Sternenhimmel sehen konnte. Die Wände aber waren voll mit Büchern.
Staunend blieb ich neben Harry stehen.
„Willkommen in meiner Bibliothek. Such dir etwas aus.“
Dies war leichter gesagt als getan, doch schließlich fand ich mit Harrys Hilfe ein Buch, das mir gefallen konnte. Es handelte von einem Mädchen, das durch ein Kaninchenloch in ein Land namens Wunderland fiel und es wurde zu meinem neuen Lieblingsbuch. Von nun an saßen Harry und ich jeden Abend in den großen Stühlen der Bibliothek er las mir vor. Ich durfte nie ohne ihn in die Bibliothek und ich durfte schon gar nicht über die Treppe an der Seite hinauf in den zweiten Stock. Ich könnte ja über das Geländer fallen, am Boden aufschlagen und mir würde dabei der Schädel zerplatzen wie eine Wassermelone, sagte zumindest Harry.
Ich hatte noch nie in meinem Leben so etwas wie eine Wassermelone gesehen, aber Harry würde wohl Recht haben. Eines Tages hat er mir sogar eine gekauft und wir haben sie zusammen auf der Veranda gegessen. Meine Mum hat nie so etwas gekauft, sie mochte solche exotischen Sachen nicht. Meine Mum mochte vieles nicht, doch das ist eine andere Geschichte.
Eines Tages, als wir gerade wieder in der Bibliothek saßen und ich Harry dabei beobachtete, wie er irgendein Buch las, das ich nicht verstand, stellte ich fest, dass mir doch tatsächlich langweilig war und das in einem Raum, der bis zum Himmel voll mit Büchern war. Es regnete, wie schon seit Tagen, doch heute regnete es besonders stark und es schien, als ob es gar nichtmehr aufhören wolle. Harry mochte den Regen, doch im Moment ging mir der Regen einfach nur auf die Nerven, denn ich konnte nicht einmal rausgehen und im Garten spielen, geschweige denn mit Ben umherwandern.
„Harry?“
„Mhm…“ Auf seiner Stirn bildete sich wieder diese Falte, die die immer da war, wenn er angestrengt nachdachte oder kurz davor war, sich über etwas aufzuregen.
„Mir ist langweilig.“ So, nun war es raus. Nach einigen Sekunden, die Ewigkeiten zu dauern schienen, lies Harry sein Buch sinken und starrte mich an.
„Dir ist langweilig? In einem Raum voller Bücher?“
Ich nickte verlegen und Harry seufzte, klappte das Buch zu und stütze die Ellenbogen auf die Knie. „Was gedenkst gegen deine Langeweile zu unternehmen?“
„Keine Ahnung.“
Er verdrehte die Augen.
„Warum ist dir überhaupt langweilig?“
„Woher soll ich das denn wissen?“ Er konnte vielleicht Fragen stellen.
„Wenn du die Ursache eines Problems kennst, kannst du es auch lösen.“
Das stimmte allerdings und so dachte ich nach, bis ich die Rädchen in meinem Kopf knacken und knirschen hörte.
„Also?“
„Ich weiß nicht… Ich habe so viel gelesen… Bücher sind toll und ich liebe Geschichten aber…“
„Ja?“
„Irgendwie sind es immer andere Geschichten.“
„Selbstverständlich sind es andere Geschichten, wenn es immer die Selben wären, wäre es doch unsinnig, sie alle zu lesen!“
„Schon, aber das meine ich doch gar nicht. Ich meine… es sind alles Geschichten von anderen, sie sind längst vorbei, tot und begraben. Gibt es denn keine neuen Geschichten, die nur von handeln, was ich will?“
„Natürlich gibt es solche, du musst sie nur erfinden.“ Harry schmunzelte.
Dann kam mir ein Geistesblitz.
„Harry, erzählst du mir eine Geschichte? Eine, die ganz allein für mich ist?“
„Ich denke, da könnte sich etwas machen lassen… Ich bin zufällig gut im erfinden von Geschichten.“ „Wirklich?“ Ich sah ihn mit großen Augen an.
„Sicher, es ist schließlich mein Beruf.“, antwortete er und mir fielen fast die Augen aus dem Kopf.
„Du erzählst Geschichten als Beruf?“
„Herrje, nein. Ich schreibe Geschichten. Das ist mein Beruf.“
Nun war ich erst recht aufgeregt und auch ziemlich verblüfft zu gleich. Doch mir wurde auch klar, was Harry den ganzen Tag tat, wenn er in seinem Arbeitszimmer hockte und ich ihn bloß nicht stören durfte.
„Harry?“
„Ja Liz?“
„Schreibst du mir eine Geschichte? Eine, nur für mich allein?“
Er schien kurz zu überlegen.
„Ich weiß nicht, ob ich eine Geschichte schreiben kann, die dir gefällt.“
„Oh doch, das kannst du! Sie soll eine Heldin haben, und Abenteuer und sie soll romantisch und Märchenhaft sein.“
„Herrje Lizzy, das ist eine Art von Geschichte, die ich für gewöhnlich nicht schreibe.“
„Oh bitte Harry, für mich!“
„Also gut… Warte hier kurz auf mich, ich hole meine Schreibmaschine.“
Ich wartete bis er wiederkam und konnte es kaum erwarten, meine Geschichte zu bekommen.
Als Harry wieder da war saß er eine Weile einfach nur in seinem Sessel und sah dem Regen zu, wie er auf das Dach tropfte. Ich wartete immer noch, doch ich beschloss, geduldig zu sein. Nach einer Weile fing Harry tatsächlich an, auf die Tasten der Schreibmaschine zu tippen und ich saß da und lauschte dem Klicken der Tasten. Sie ahnen ja nicht, wie schwer es sein war, geduldig zu sein und es schien mir eine Ewigkeit zu dauern, bis er fertig war. Hin und wieder zerknüllte er eine Seite und warf sie weg, doch das war‘s dann auch schon mit Abwechslung. Irgendwann wurde mir sogar das Zusehen langweilig und als es schon spät war, ging ich grummelig in mein Zimmer, um zu schlafen. Harry aber blieb in der Bibliothek und schrieb die restliche Nacht durch und als ich am nächsten Morgen augenreibend in die Küche kam, lag ein kleiner Stapel Papier auf dem Küchentisch. Harry saß auf seinem Platz und trank Kaffe. „Guten Morgen Liz.“
„Morgen Harry…“ Wie um alles in der Welt konnte er so früh schon so ausgeschlafen sein?
Ich setzte mich auf meinen Platz und frühstückte, als ich fertig war und der Tisch abgeräumt war, schob mir Harry den Stapel hin.
„Lesen wir ihn doch gemeinsam in der Bibliothek!“, schlug ich vor und schob ihm die Zettel zu.
„Gut.“, sagte er und schob seinen Stuhl zurück.
„Aber du liest! Immerhin hast du es auch geschrieben!“, fügte ich hinzu und er lächelte.
„Warum hab ich mir das nur gedacht?“
„Keine Ahnung.“
„Das war eine rhetorische Frage Liz, darauf musst du nicht antworten.“
„Okay.“
Ich hatte keine Ahnung, was Rhetorik war, doch in diesem Moment war es mir auch gleich, ich wollte nur meine Geschichte hören.
So saß ich in der Bibliothek auf dem thronähnlichen Stuhl, meine Augen gespannt auf Harry gerichtet. Schließlich räusperte er sich und begann, mir meine Geschichte vorzulesen.
...
Es ist lange her, viel zu lange als dass man sich daran erinnern könnte, doch nicht lange genug, um es zu vergessen. Zu dieser Zeit lebte ein mächtiger König in einem prunkvollen Schloss. Von dort aus herrschte er mit eiserner Faust über sein Reich, er eroberte neue Länder und häufte sich so viele Schätze wie nur möglich an. Ja, der König hatte so viel Gold, dass er sogar ein Schloss aus Gold bauen ließ, das so hell strahlte, dass selbst die Sonne am Himmel dagegen fahl und stumpf wirkte.
Doch der König, so reich und mächtig er auch war, hatte nicht alles, was man hätte haben können, nein. Ihm fehlte es an etwas, das kein Krieg und keine Plünderei ihm je bringen konnte. Ihm fehlte etwas, das man nicht kaufen konnte: ein Herz.
Ja, der mächtige König hatte kein Herz. Dies bemerkte er eines Tages, als er feststellen musste, dass selbst all sein Reichtum das Loch in seiner Brust nicht zu fällen vermochte. So schickte er nach dem besten Schatzjäger, den es auf dieser Welt gab und staunte nicht schlecht, als vor ihm dann schlussendlich ein junges Mädchen stand. Man rief sie nur mit Löwenherz, denn sie war die mutigste, tapferste und edelmütigste Abenteurerin die man je gesehen hatte. Der König legte all seine Hoffnungen in sie und schickte sie aus, ein Herz für ihn zu finden. Das Mädchen mit dem Löwenherzen eilte sogleich davon, hinaus in die Welt und machte sich auf die Suche nach einem Herzen für den König.
Tage und Nachte irrte sie umher, durch Wälder und Wiesen, überquerte Flüsse und Seen, Berge und Täler, stets auf der Suche nach einem Herzen. Doch wie fand ein Herz? Dies war eine Frage, auf die niemand eine Antwort wusste. Das Mädchen jedoch dachte nicht daran, aufzugeben und suchte weiter, egal was auch geschah. Nach einiger Zeit aber musste sie zum Hof des Königs zurückkehren. Sie brachte ihm viele Schätze, ein aber brachte sie ihm nicht. Mit leeren Händen stand sie also vor dem König uns musste mit ansehen, wie ihn Kummer und Verzweiflung fragten. So bot sie ihm an, ihm ihr Herz zu geben, weil dies das einzige war, das sie finden konnte.
Der König, beeindruckt von so viel Mut und Tapferkeit verschonte ihr Leben und beschloss, sie an seinem Hof zu behalten und ihr ihr Herz zu lassen.
Als Gegenleistung für des Königs Güte mühte sich das Mädchen, des Königs Trauer zu vertreiben indem sie ihm Geschichten erzählte und sie hatte viel zu erzählen. Ja, sie war schon an fast jedem Ort auf der Welt gewesen und hatte nach Schätzen für Könige und Kaiser, Zaren, Prinzen und Prinzessinnen gesucht. Sie erzählte ihm von all ihren Abenteuern und den Schätzen, die sie gefunden hatte. Der König lauschte mit wachsender Sehnsucht, anders als sie, war er in einem Schloss aufgewachsen und hatte von der Welt kaum mehr als sein eigenes Land und ein paar Schlachtfelder gesehen. Eines Tages beschloss das Mädchen, mit dem König auf Schatzsuche zu gehen. Sie wusste zwar nicht, wonach sie suchten, dennoch zogen sie gemeinsam aus um etwas zum suchen zu finden.
Sie ritten durch die weite Landschaft, über Hügel und Felder, hinein in einen tiefen, dunklen Wald. Sie gelangten zu einer Lichtung, in deren Mitte ein Teich lag. Er sah aus wie ein gigantischer Spiegel, der in der untergehenden Sonne glänzte wie Blut. Das Mädchen ging zu dem Teich, um Wasser zu holen, währenddessen band der König die Pferde an einen Baum. Plötzlich ertönte hinter ihm ein lautes Plätschern. Der König wurde neugierig und trat ans Ufer, um zu sehen, was das Geräusch verursachte. Aus dem Wasser erhob sich eine riesige, furchterregende Kreatur mit langen, gewundenen Hörnern und Klauen, die mit krummen sichelartigen Krallen bestückt waren. Ein schauriges, gurgelndes Brüllen ertönte und die Kreatur stürzte sich auf den König. Das Mädchen aber spang dazwischen und trat ihr furchtlos entgegen um den König zu schützen, doch die Kreatur packte das Mädchen um sie mit sich in die Tiefe zu reißen. Nun packte auch das Mädchen die Angst, ihre markerschütternden Schreie gellten in den Ohren des, von grauen erfüllten, Königs. Wie gelähmt stand er da und musste mit ansehen, wie die Kreatur versuchte, das Mädchen mit sich zu reißen. Sie jedoch wehrte sich erbittert und kämpfte mit aller Kraft, doch es war zwecklos. Die Kreatur riss sie mit sich in die Tiefe. Zurück blieb der König, starr vor Schreck. Doch als die Schreie des Mädchens zu Blasen an der Wasseroberfläche wurden, erwachte er aus einer Schreckstarre, packte sein Schwert und stürzte sich in den See.
Auf dessen Grund thronte das Monster und hielt das Mädchen in seinen furchtbaren klauen gefangen. Der König hob sein Schwert und ließ es auf das Haupt des Monsters hernieder sausen. Mit einem dumpfen knacken splitterte dessen Schädel und es sank am Grund des Sees zusammen. Ohne zu zögern packte der König das Mädchen und zog es mit sich an die Oberfläche. Er zog sie aus dem Wasser und legte sie ins weiche Gras. Dor lag sie nun und rührte sich nicht.
Angst erfüllte den König, er schüttelte sie und tat alles, um sie aufzuwecken, doch sie rührte sich nicht. Weinend brach er neben ihn die Knie. In diesem Moment, als er schluchzend neben ihr kniete, wurde ihm erst bewusst, wie viel ihm das Mädchen bedeutete. Es war ihm nie zuvor aufgefallen, doch nun wurde diese Erkenntnis zu schmerzhafter Gewissheit. Sie bedeutete ihm mehr als alle seine Schätze, ja sogar mehr als sein goldenes Schloss.
Plötzlich schlug das Mädchen neben ihm die Augen auf und starrte ihn voller Verwunderung an.
„Warum weinst du?“, fragte sie ihn mit dünner Stimme. „Menschen ohne Herz können doch gar nicht weinen.“
Nun begriff der König.
„Ich… Ich habe ein Herz. Ich hatte es die ganze Zeit.“, antwortete er dem Mädchen.
Damit hatte der König Recht. Kein Schatz der Welt hätte je sein Herz werden können, nein. Die, die danach gesucht hatte, war letzen Endes dazu geworden.
So bat der König das Mädchen, für immer bei ihm zu bleiben und das Mädchen willigte ein. Von diesem Tage an lebten sie zusammen im goldenen Schloss und erlebten auch zahlreiche Abenteuer miteinander. So lebten sie von dort an, der König und sein Herz.
Harry verstummte. In meinen Ohren aber lag immer noch der Klang seiner Stimme.
Ich sah ihn lange an, unfähig etwas zu sagen.
„Und?“, fragte er nach einer Weile.
„Das war die schönste Geschichte, die ich je gehört habe!“ Ich schniefte.
„Ist sie nun aus? Aus und vorbei? Ich will nicht, dass sie aus ist?“
„Warum denn nicht? Jede Geschichte endet irgendwann.“ „Genau darum!“
Harry musterte mich Stirnrunzelnd.
„Hör zu Lizzy.“ Seine Stimme wurde sanft. „Es ist unsere Geschichte, darum bestimmen wir, wann sie zu Ende ist.“
Ich schaute ihn an, es dauerte eine Weile, bis ich verstand, was er meinte.
„Also kannst du auch machen, dass sie nie endet?“
„Natürlich kann ich das.“
„Dann mach es“ Ich will nicht, dass sie endet Harry. Wir sind wie der König und sein Herz. Du bist der König!“
„Und du bist das Mädchen mit dem Löwenherz, Lizzy.“
„Hat unsere Geschichte wirklich kein Ende Harry? Ich meine, jetzt wirklich… Wird sie nicht irgendwann vorbei sein, wenn, du weißt schon, wenn einer stirbt.“
„Ich verrate dir etwas Lizzy, also hör gut zu. Geschichten sind endlos, auf eine ganz bestimmte Art und Weise. Auch die Unsere.“
„So? Wirklich?“
„Natürlich. Unsere Geschichte ist endlos. Endlos wie der Regen.“, erklärte Harry und wir blickten hoch zum Glasdach, auf das der Regen seit Tagen prasselte.
„Weiß du Lizzy,“, fuhr er fort, „der Regen hat eine ganz eigene Art von Unendlichkeit. Er ist nicht unendlich im Sinne von niemals aufhören. Er ist endlos, weil er aufhört nur um immer wieder anzufangen aufzuhören und das unaufhörlich, immerzu und für immer.“
Irgendwie machte das Sinn und es klang auch noch faszinierend. Harry konnte Dinge immer mit so schönen Worten sagen, dass sie klangen wie Märchen, die wahr waren. Darum hatte ich auch keine Angst mehr, dass unsere Geschichte enden würde und ich fort von ihm musste. Wann immer ich von diesem Tage an Angst hatte oder mich Zweifel plagten, erinnerte ich mich einfach an das, was Harry mir an diesem Morgen gesagt hatte: Unsere Geschichte war endlos. Endlos wie der Regen.
Der Regen hörte tatsächlich irgendwann auf und die Sonne brach durch die Wolken hervor. Es war wieder an der Zeit, in die Schule zu gehen und ich konnte es kaum erwarten, Ben von meiner Geschichte zu erzählen.
Es war ein Tag wie jeder andere auch, einerseits freute ich mich darüber, andererseits könnte ich deswegen schon wieder fast losheulen. Warum? Weil ich –schon wieder- vor einem Berg Hausaufgaben saß und keinen Schritt weiterkam, weil das einfach alles…. Humbug war, wie Harry sagen würde. Andererseits war da noch etwas, das es mir unmöglich machte, mich zu konzentrieren. Mein Magen schmerzte, ich hatte beim Mittagessen viel zu viel gegessen. Aber ich hatte Riesenhunger, denn Ben und ich wurden schon wieder um unser Pausenbrot gebracht, von den beiden, pausbäckigen Jungs. Irgendwie waren sie ja wie Dideldum und Dideldei, nur in fies, groß und abartig hässlich.
Ich schleuderte gerade meinen Bleistift weg, als Harry die Küche betrat.
Ich saß immer in der Küche und machte Hausaufgaben, obwohl ich auch ins Studierzimmer gehen könnte, doch ich mochte die Küche viel lieber.
„Du sitzt immer noch bei den Hausaufgeben?“, fragte mich Harry überrascht.
„Ja.“, raunzte ich halblaut vor mich hin.
„Warum das denn?“
„Weil es ganz einfach schön ist!“ Harry klappte die Kinnlade hinunter. Zugegeben, ich hatte nicht unbedingt „schön“ gesagt.
„Elizabeth! Wirst du wohl diesen Gossenjargon lassen!“
„‘tschuldigung Harry, aber es ist einfach so sch… du weißt, schon.“
Harry seufzte und zog mein Buch zu sich heran.
„Literatur?“
„Ja. Mrs. Graves versucht uns in Hausaufgaben zu ertränken.“
„In Büchern und Papier kann man nicht ertrinken Liz. Man kann höchstens davon erschlagen werden.“
„Mhm.“
„Aber Moment… sagtest du so eben Mrs.Graves?“
Ich nickte. „Ja, warum?“
„Um Himmels Willen, diese alte Schindmähre gibt es immer noch?“
„Was, du kennst Mrs. Graves?“
“Aber sicher! Sie unterrichtete schon mich und deinen Vater! Wir hatten nur allzu oft Ärger mit ihr.“
„Echt? Warum das denn?“
„Na weil wir allerlei Unfug anstellten. Wir haben es ihr auch nicht leicht gemacht, wir haben ihr Nadeln aufs Kissen gelegt, manchmal haben wir es auch mit Leim beschmiert oder es einfach nur vorher mit Pfützenwasser getränkt. Wir haben auch einmal einen Nagel in einem Stück kreide versteckt und als sie an der Tafel schrieb, machte es dieses widerliche Geräusch und sie zog einen tiefen Riss in die Tafel, sie war natürlich ruiniert.“
Ich traute meinen Ohren nicht, Harry und mein Dad waren ja kleine Rowdies gewesen! Wenn ich mir Harry so anschaute, mit all seiner Liebe für Ordnung und seiner Strenge, all den Dingen, die man nicht tun durfte war dies kaum vorstellbar.
„Du musst also ein paar Vertreter für klassische Literatur finden und aufschreiben?“
„Mhm.“
„Na dann, schreib mal mit.“, sagte er und zählte mir doch tatsächlich ein paar Namen und Werke auf. Hausaufgaben erledigt, hätte ich ihn doch gleich gefragt.
„Das nächste Mal, wenn du Hilfe brauchst, fragst du.“
„Okay.“ Ich könnte ihn eigentlich gleich fragen, was ich gegen Ed und Nat unternehmen könnte.
„Harry… In der Schule gibt es zwei Jungs, die nehmen Ben und mir immer das Essen weg. Ich hab Ben mal vor ihnen gerettet, du erinnerst dich? Was kann ich gegen die tun?“
„Wie bitte?! Warum sagst du sowas nicht schon eher?“
„Ich dachte, sie würden aufhören aber naja…“
„Solche Leute hören niemals von selbst auf, Lizzy. Man muss sie dazu bringen. Es sind zwei große, gut gebaute Jungs, nicht wahr?“
„Ja, sie sind groß, stark und fett.“
„Also gut… Ihr könnt sie nicht ebenfalls verprügeln, ihr seid ihnen unterlegen, sie würden euch kopfüber in die Toilette stecken.“
„Danke.“
„Aber ihr könnt sie austricksen, ihr seid viel cleverer.“
„Haben wir ja versucht, wir sind ihnen dann aber aus dem Weg gegangen und haben unser Essen auf der Toilette gegessen. Wir haben uns auch mal auf einem Baum versteckt, aber sie haben uns runter gepflückt wie Äpfel.“
„Verstehe… Lizzy, solche Leute sind dumm. Sie nutzen ihre Stärke, um andere als schwach erscheinen zu lassen. Sie machen euch klein um selbst groß auszusehen, verstehst du?“
„Ja. Aber was hilft mir das?“
„Nun, ganz einfach. Du gibst ihnen, was sie wollen.“
„Aber warum das denn?!“ Ich verstand absolut nicht, worauf er hinauswollte.
„Das wirst du schon sehen, überlass das nur mir. Solche Leute sind ein bisschen wie Hunde Lizzy.“
Ich seufzte, beschloss aber, einfach abzuwarten und zu sehen, was Harry dagegen unternehmen würde.
Am nächsten Tag hatte er auch schon seine Lösung parat: Er hielt mir zwei Lunchboxen hin.
„Ich soll sie jetzt also auch noch füttern?!“, empörte ich mich.
„Im Grunde ja. Aber warte erst einmal ab. Wichtig ist, dass du diese Box“, er hielt die Rechte hoch, „gut sichtbar mit dir herumträgst, wie immer. Diese aber“, er hielt die linke Box empor, „versteckst du in deiner Schultasche und siehst zu, dass du sie nicht zeigst, bis die beiden außer Gefecht sind, ja? Ach, noch etwas, iss bloß nichts aus der Atrappenbox! Der Inhalt ist der selbe, naja mit Zusätzen.“
Ich nickte aber irgendwie hatte ich ein flaues Gefühl im Magen. Was war in der anderen Box? Genau genommen wollte ich es gar nicht wissen, also tat ich wie geheißen und weihte Ben im Bus in Harrys Plan ein. Auch er war skeptisch, doch schon bald bekamen wir die Chance, unseren Plan auszuprobieren.
Es läutete zur großen Pause und Ben und ich platzierten und mit meiner Geheimbox gut sichtbar an Nat und Ed’s Lieblingsplatz. Nach wenigen Minuten waren sie auch schon zur Stelle, um uns „hochzunehmen“, wie sie es ausdrückten.
„Sieh mal einer an, Ed, wen haben wir denn da?“
„Wenn das nicht unsere beiden Lieblingsscheißer sind, die, die uns immer lunch bringen!“
Beide lachten ihr hohles, beklopptes Lachen.
„Was haben wir denn heute dabei? Wieder Sandwiches?“, fragte Edward Donovan, aka Ed.
„Antwortet ihm gefälligst, ihr Scheißer!“, keifte Nathan Hensley, aka Nat.
„Da ist Kuchen drin.“, antwortete ich und verschränkte die Arme trotzig vor der Brust.
„Spinnst du? Was, wenn da gar keiner drin ist? Die bringen uns um!“, flüsterte Ben.
Daran hatte ich nicht gedacht, meine Zunge war immer schneller als mein Kopf. Ich schluckte und hoffte inständig, dass Kuchen in der Box war.
„Kuchen? Na dann gib das mal schnell her Brillenschlange!“, schnauzte Nat Ben an.
„Nur über meine Leiche!“, gab Ben zurück und drückte die Box an sich wie einen Schatz.
Nun kam Ed auf ihn zu, schubste ihn um und entriss ihm die Box.
„Netter Versuch Vierauge!“, lachte Nat.
„Das könnt ihr nicht machen, das ist MEIN Kuchen!“, rief ich empört.
„Ach, was willst du machen? Willst du wieder auf einen Baum klettern und dich verstecken? Oder hofft ihr, dass die Graves kommt und euch rettet?“
Beide lachten schallend und öffneten die Box.
„Sieh gut zu, was wir nicht alles machen können, ihr Scheißer! Boah Ed, sieh dir das an, da ist echt Kuchen drin! Und Muffins mit Schokolade!“, rief Nat seinem Freund zu und sie begannen eifrig, sich die Leckereien in den Mund zu stopfen. Währenddessen suchten Ben und ich das Weite und versteckten uns in sicherer Entfernung hinter einem Busch. Kurze Zeit später sahen wir, die beiden sich die Bäuche hielten und auf dem Boden knieten.
Wir trauten uns etwas näher heran um zu sehen was los war und konnten unseren Augen nicht trauen. Plötzlich fingen sie an, sich die Seele aus dem Leib zu Kotzen.
„Wow Liz, ich glaub‘, er hat sie vergiftet! Genial!“
Mir blieb die Spucke weg, Ed und Nat krümmten sich am Boden. Irgendwie hatte dieser Anblick schon etwas.
„W-was war denn da drin? W-was habt ihr uns gegeben, ihr Scheißer?“, stotterten sie und kotzen gleich danach munter weiter.
„Gar nichts.“, antwortete ich. „Ich sagte doch, dass das MEIN Kuchen isst und das heißt, dass nur ich ihn essen kann, ihr Scheißer.“
„Ganz genau.“, pflichtete Ben mir bei und wir blickten uns triumphierend an.
Ganz in Ruhe setzten wir uns dann unter unseren Baum und genossen den Kuchen und die Schokoladenmuffins aus meiner Lunchbox. Sie enthielt die doppelte Menge von beidem, so als ob Harry wissen würde, dass Ben und ich uns immer meinen Lunch teilten.
„Weißt du was?“,fragte mich Ben.
„Nein, was?“
„Harry ist genial. Was auch immer da reingetan hat. Er ist genial!“
„Stimmt.“, antwortete ich, den Mund voller Kuchen.
„…und dann sind sie nur noch dagelegen und haben gekotzt!“, schloss ich meine Erzählung.
„Elizabeth! Ich bitte dich, unterlasse diese Wortwahl in Zukunft.“
„Tut mir Leid… aber wie sagt man das anders?“
„Sie haben sich übergeben, entleert, was auch immer, nur nicht“, er rümpfte die Nase ,“kotzen.“
„Jetzt hast du es auch gesagt!“, kicherte ich und Harry verdrehte die Augen.
„Harry? Was hast du da eigentlich reingetan?“
„Brechmittel.“, antwortete er so sachlich und ungerührt, als würde er sagen, dass das Wetter schön sei.
„Aha… woher wusstest du, dass das funktionieren würde?“
„Wie ich dir schon sagte, sind solche Leute dumm. Sie würden Hundefutter essen, wenn ihr ihnen sagen würdet, es sei euer Lieblingsessen. Nur um euch zu schaden. Sie denken nicht viel nach und solange man nur genug Zucker verwendet, kann man sie mit so viel Brechmittel füttern wie man nur will.“
Er stellte seine Teetasse auf den Unterteller. „Dein Vater und ich haben das auch gemacht. Glaub mir, ich gebe dir noch ein, zwei Mal so ein Päckchen mit und die Sache hat sich erledigt. Nur zur Sicherheit, versteht sich, bei meiner Dosis dürften sie es beim ersten Mal gelernt haben, aber wer weiß.“
So machten wir es auch, doch eigentlich brauchten wir kein Brechmittel mehr um die beiden von unserem Essen fern zu halten. Sie kamen auch die restliche Woche nicht in die Schule und man munkelte, dass sie sich einen fürchterlichen Virus eingefangen hatten. Ben und ich wussten es natürlich besser. Doch seit diesem Tage ließen sie die Finger von unserem Essen. Zwar triezten sie uns weiterhin, ja noch schlimmer als früher aber das machte uns nicht viel aus, wir gingen ihnen einfach aus dem Weg und sie ließen uns weitgehend in Ruhe.
Die Schultage vergingen eigentlich recht schnell, Ben und ich verstanden uns von Tag zu Tag besser und er fragte mich sogar einmal, ob ich nicht nach der Schule mit zu ihm fahren wollte. Harry willigte nur wiederwillig ein, doch letzten Endes durfte ich dann zu Ben und ich freute mich riesig.
Ben wohnte in einem kleinen Haus, gar nicht so weit von Harrys entfernt. Seine Mutter war eine sehr nette Frau mit blonden Haaren und grünen Augen, sie sah fast genauso aus wie Ben. Sie kochte auch ganz gut, Harry kochte zwar besser, doch das konnte ich ihr schlecht sagen, also aß ich einfach meinen Teller leer. Danach gingen Ben und ich hinaus in den Hof und veranstalteten ein Wettrennen nach dem anderen, doch ich gewann immer. Ben war nicht sonderlich sportlich, er war eher schmächtig. Dafür brauchte sein Gehirn umso mehr Energie, denn er war schlau, sehr schlau. Außerdem war er nett und mein bester, einziger Freund dazu.
Irgendwann gegen Abend kam dann auch sein Vater nach Hause, ein Mann mit der Statur eines Schrankes, kurzen, ebenfalls blonden Haaren und schmutzigen Kleidern. Er arbeitete in einer Fabrik, wie Ben mir erzählt hatte.
Er musterte mich abschätzig als ich ihm die Hand hinstreckte und „Hallo“ sagte. Er roch komisch und sein Blick war glasig, fast so als wäre er krank und hätte fieber.
„Wer zum Teufel bist du?“
„Das ist Elizabeth Atchinson.“, kam mir Bens Mum zuvor. „Sie ist eine Schulfreundin von Ben.“
„Ach, jetzt treibst du dich schon mit kleinen Gören rum? Findest wohl keine Jungs als Freunde, hm? Dafür bist du zu schwach und schwuchtelig! Ich hab‘s selbst gesehen, sogar die kleine Göre hat dich beim Wettlaufen geschlagen!“, knurrte er.
„Das reicht jetzt Benjamin! Ben, würdest du Elizabeth nach Hause begleiten? Es war sehr schön, dich bei uns zu haben!“, sagte sie an mich gewandt und lächelte.
„Wozu soll er sie begleiten? Damit sie ihn beschützen kann?!“, er lachte, doch es war kein fröhliches Lachen. Ben wurde rot und ich zog ihn mit mir aus dem Haus.
„Auf Wiedersehen Mrs. Grey. Vielen Dank für das Essen und dass ich bei Ihnen sein durfte!“ Sie winkte mir zum Abschied und schloss hastig die Tür.
Ben sagte kein Wort.
„Ben? Ist dein Dad krank? Er sieht übel aus.“
„Nein, er ist nicht krank, er ist immer so, betrunken meine ich.“
„Er ist betrunken?!“ Ich war erstaunt. Betrunken um diese Tageszeit!
„Mhm.“
„Darum ist er also so gemein.“
„Nein, heute war er noch nett. Er ist immer so, oder schlimmer.“
Ich wollte mir Schlimmeres gar nicht vorstellen. Ich kannte all die blauem Flecken auf Bens Armen, doch bisher hatte ich angenommen, dass sie von Nat und Ed kommen würden.
„Hör einfach nicht darauf, was er sagt. Du bist der netteste Junge auf der ganzen Welt.“
„Danke Liz. Aber mit „nett“ gewinnt man keinen Männlichkeitspreis, sagt mein Dad immer, wenn meine Mum das sagt.“ Er seufzte.
„Ja und? Was ist dann männlich? So zu sein wie Ed und Nat? Darauf kannst du scheißen!“
„Liz!“
„Stimmt doch, Ed und Nat sind hässlich wie die Nacht finster und sogar noch dümmer als hässlich. Gut, sie sind stark aber was bringt das? Haben sie deshalb Freunde? Nein. Sie haben niemanden außer sich gegenseitig, weil sie beide strohdumm sind!“, ich versuchte auszusehen wie Harry, wenn er mich mit diesem „Na-was-sagst-du-nun-Blick“ ansah und stemmte die Hände in die Hüfen.
Ben sah mich lange an, er sah fast so aus, als würde er weinen wollen. Aber er weinte nicht.
„Danke Liz.“, flüsterte er stattdessen.
„Keine Ursache, wozu hat man Freunde?“
Er lächelte mich nun an und ich lächelte zurück. Gemeinsam spazierten wir durch das hohe Gras, doch ich bat Ben, kurz vor der Einfahrt zu Harrys Haus, auf die Straße zu wechseln. „Warum.“ fragte er mich stirnrunzelnd.
„Wenn ich durchs hohe Gras laufe oder schlimmer, darin liege, kommt irgendwann mal ein Bauer mit seinem Mähwerkzeug, übersieht mich und fleddert mich mit seinem Mäher in blutige Fetzen. Sagt zumindest Harry.“
„Iiehw Liz! Das ist ja ekelig! Glaubst du, dass das wirklich passieren kann?“, fügte er mit einem Hauch Panik in der Stimme hinzu.
Ich zuckte die Schultern. „Harry hat seine Gründe zu sagen, was er sagt. Wenn er keinen Grund hätte es zu sagen, würde er es nicht sagen, sagt er.“
„Harry ist seltsam.“
„Ich weiß.“
Schon waren wir am Einfahrtstor zu Harrys Haus angelangt. Ben und ich verabschiedeten uns.
„Ben? Warte!“, rief ich ihm hinterher.
„Was gibt’s denn?“
„Du musst mich auch besuchen kommen, ich frage Harry und wir treffen uns morgen auf der Lichtung im Wäldchen!“
„Okay, wir sehen uns Liz!“
Dann ging ich die Einfahrt hoch. Irgendwie musste ich Harry überzeugen, Ben einladen zu dürfen, er mochte nämlich keinen Besuch. Doch das würde mir auch schon irgendwie gelingen, zumindest hoffte ich das.
Ich konnte es nicht fassen, nach langem hin und her war es mir gelungen, Harry davon zu überzeugen, Ben einladen zu dürfen. Gut, er hatte unter anderem nachgegeben, weil ich versprochen hatte, dass wir überwiegend draußen spielen, nicht anfassen und bloß nichts kaputt machen würden. Darum rannte ich nun wie ein aufgescheuchtes Huhn quer durch die Wiese auf dem Weg zu dem kleinen Wäldchen neben Harrys Haus. Dort gab es eine Lichtung oder besser gesagt, ein kleiner Fleck ohne Bäume, wo ich mich mit Ben treffen würde. Er saß schon dort als ich angerannt kam und ihm schon von Weitem zurief, dass er mich am Wochenende besuchen könne.
„Samstag oder Sonntag, wenn du willst!“
„Sicher will ich, aber Sonntag geht leider nicht…“
„Weswegen?“, fragte ich enttäuscht, ich hätte ihn gerne zum Sunday Roast eingeladen.
„Weil ich Sonntags zur Kirche muss, meine Mum schleppt mich andauernd da hin.“, erwiderte Ben genervt.
„Musst du denn nicht in die Kirche?“ Er musterte mich stirnrunzelnd.
„Nah, wenn ich nicht will, muss ich nicht hin, sagt Harry.“
„Geht Harry nicht hin?“
„Harry? Nein, soviel ich weiß, geht er nie hin. Er glaubt nicht an Gott.“, erklärte ich.
„Wirklich!? Mum sagt, dass Menschen, die nicht an den Herrn glauben, in die Hölle kommen.“Ben sah besorgt aus.
„Humbug, wenn man nicht an die Hölle glaubt, kann man dort auch nicht hinkommen. Sie existiert nur für die, die an Gott und Jesus glauben. Sagt HArrry.“
„Hm… Hört sich richtig an, irgendwie. Harry wird in seinem Glauben wohl etwas anderes als eine Hölle und einen Himmel haben.“
„Kann sein.“
„Woran glaubt Harry eigentlich?“
„Keine Ahnung.“ Es überraschte mich, ich war noch nie zuvor auf den Gedanken gekommen, Harry nach seinem Glauben zu Fragen. Das musste ich bei Gelegenheit nachholen.
„Naja, egal. Wir sehen uns am Samstag?“
„Klar!“
„Gut, ich muss dann auch wieder nach Hause, Harry mag es nicht, wenn ich alleine in der Dunkelheit herumstromere und die Sonne geht schon unter.“
„Okay, bis dann, Liz!“
„Bis Samstag Ben!“
Schon machten wir beide uns auf den Heimweg und ich grübelte bereits darüber nach, was ich heute noch so alles anstellen konnte.
Mir war nichts wirklich Gutes eingefallen, darum beschloss ich, Harry zu suchen und ihn auszufragen. Es gab schließlich so vieles, das ich wissen wollte.
Ich fand ihn in der Küche, er war gerade dabei, das Abendessen zuzubereiten, also kam ich genau im richtigen Moment. Allerdings konnte ich ihm nicht helfen, er kochte immer alleine und mochte es gar nicht, wenn ich in der Küche herumstöberte und alles antatschte. Das essen durfte ich erst probieren, wenn es auf meinem eigenen Teller lag, mit einem Löffel im Topf zu stochern war absolut tabu. Ich durfte auch nicht zum Herd, wenn Harry kochte, ich könnte ja einem Henkel hängen bleiben, der dazugehörige Topf würde herabstürzen und mir würden brennend heiße Flüssigkeiten das Gesicht verbrühen. Sagt zumindest Harry.
Als wir beim Tisch saßen und das Abendessen angerichtet war – es gab Gemüseeintopf und er schmeckte herrlich, in meinem waren sogar Würstchen- beschloss ich Harry auszufragen. „Harry?“
„Was willst du dieses Mal wissen?“
„Woher willst du wissen, dass ich etwas wissen will?!“, fragte ich herausfordernd.“
„Erstens, du stellst mir eine Frage in dem du meinen Namen in diesem fragenden Ton äußerst, zudem sagst du ihn in genau dem Tonfall, den du stets anschlägst, wenn du etwas haben oder wissen willst.“, erklärte er nüchtern.
Ich schürzte die Lippen und schluckte meinen Eintopf.
„Harry, woran glaubst du eigentlich?“ „Ich? Ich glaube an das, was ich sehe. Und an etwas, das ist, obwohl man es nicht sehen kann.“ Ich runzelte die Stirn. „Was kann denn das sein?“
„Nennen wir es… unterschwellig wahrnehmbar?“
„Hä?“
Harry seufzte. „Es ist ähnlich wie der Wind. Oder die Luft. Du siehst sie nicht, du spürst sie auch nicht richtig, nur manchmal, da kannst du sie deutlich spüren, den Wind zum Beispiel. Du siehst sie nicht und trotzdem sind sie da.“
„Okay… Ich glaube, jetzt habe ich es verstanden. Naja, so in etwa.“
Viel später verstand ich dann, was Harry gemeint hatte, doch an diesem Tag war ich noch zu jung dazu gewesen.
„Harry, ich bin getauft worden. Ich bin mir aber nicht sicher, ob ich denn nun an Gott glaube oder nicht und ich gehe nicht zur Kirche. Komme ich jetzt in die Hölle?“
„Aber nein. Sünder kommen in die Hölle Lizzy und du bist keine Sünderin oder?“
„Nein. Woher weißt du das alles?“
„Aus der Bibel.“
„DU hast die Bibel gelesen? Obwohl du nicht an Gott glaubst?“
„Meine Mutter glaubte an Gott wie niemand sonst. Sie hat sie mir jeden Abend vorgelesen als ich noch klein war.“
„Oh. Kannte ich deine Mum?“
„Nein.“, antwortete er lächelnd.
„Warum nicht? Ich kenne ja auch meine Großmutter und war Dads Mum. Und ich kenne auch Mums Mum, wobei…Dads Mum ist tot.“
„Ich weiß. Meine Mutter auch.“
„Oh.“ Ich starrte verlegen auf meinen Teller. „Das… tut mir leid.“
„Aber nein, schon gut. Sie starb als ich so alt war wie du.“
Ich starrte ihn an. „Echt? Und dann bliebst du bei deinem Dad?“
„So in etwa.“ Er schweig und ich aß meinen Eintopf weiter. Es hatte keinen Sinn ihn über Dinge auszufragen, über die er nicht reden wollte, das hatte ich schon gelernt. Allerdings sagte er an diesem Abend nichts mehr und verschwand bald, nachdem er den Abwasch erledigt hatte, irgendwo im Haus. Da mir langweilig war, machte ich mich daran, den oberen Stock genauer zu erkunden. ich kannte zwar den Gang, in dem mein Zimmer lag, doch es gab noch eine Tür darin, die ich nicht geöffnet hatte. Es war die Tür, ganz am entgegengesetzten Ende des Flurs und ich wollte wissen, was sich dahinter verbarg also ging ich die Treppe hoch und bog nicht wie immer rechts ab, sondern ging nach links. Vor der kleinen Holztür blieb ich stehen und sah mich um. Ich durfte mich zwar im Haus frei bewegen und mit Abstand von Harrys Arbeitszimmer jeden Raum unter gewissen Umstanden betreten, doch Harry mochte es nicht, wenn ich herumstöberte und ich war im Begriff, genau dies zu tun. Vorsichtig blickte ich nach links und rechts, doch ich konnte niemanden sehen. Wer sollte denn schon da sein? Harry war unten und arbeitete. Das Haus war still und leer. Ich wagte es und drehte den Türknauf, die Tür schwang lautlos auf und ich stand vor einem kleinen, rechteckigen Raum. Bis auf eine schmale Wendeltreppe, die sich in der Mitte des Raumes emporwand wie eine Schlange, war der Raum leer. Ich ging auf die Wendeltreppe zu und stieg Stufe um Stufe hinauf. Oben angekommen, stand ich vor einer kleinen, runden Luke. In ihrer Mitte prangte ein großes Schloss, doch von einem Schlüssel war keine Spur. Enttäuscht kletterte ich die Treppe hinab und ging mucksmäuschenstill zur Tür. Als ich sie öffnete stand vor mir ein vollkommen verblüffter Harry. Ich hatte ihm die Tür regelrecht aus der Hand gerissen. Er starrte mich an und ich starrte zurück. Verdammt! Ich war erledigt!
Panisch blickte ich mich um, doch es gab keinen Weg an Harry vorbei und er stand einfach nur da, starrte mich verblüfft ja fast fassungslos an und wusste offenbar ebenso wenig wie ich, was er denn nun tun sollte.
Dennoch war es er, der das Schweigen brach.
„Liz, was… Was machst du hier?“
„Ich äh… gar nichts.“
„Gar nichts? Humbug, aus irgendeinem Grund musst du hier sein, ansonsten wärst du nicht hier.“
„Nein äh, ich wollte nicht, ich wollte nur…“
Sein Blick glitt an mir vorbei zur Wendeltreppe, blieb einen Moment an ihr hängen und glitt dann zurück zu mir, wo er dann auch hängen blieb. Seine stahlgrauen Augen bohrten sich in die meinen, sie sahen aus, wie fest gewordener Regen. Harry hatte diesen Blick, mit dem er vermutlich durch mich durch bis ganz hinunter in mein Herz und auch in die hinterste Ecke meines Kopfes blicken konnte.
„Du wolltest da hoch.“, stellte er nüchtern fest. Dennoch lag in seiner Stimme etwas, das ich nicht zu deuten wusste. Aber es klang anders, irgendwie bedrohlich.
„Harry, ich…“
„Was wolltest du dort oben?“
„Ich wollte nicht da rauf.“
„Du lügst.“
Ich blieb stumm und starrte den Boden an.
„Elizabeth, was wolltest du hier?“
„Okay, okay! Ich gebe es ja zu.“ Ich ertrug diese Stimme und diese Augen nicht mehr, nicht, wenn sie so klang und wenn sie mich so anstarrten.
„Ich wollte da hochklettern, nein ich BIN da hochgeklettert und wollte nachsehen, was dort oben ist. Aber es war verschlossen.“ Nun machte es „klick“ in meinem Kopf.
„Warum ist es überhaupt verschlossen, Harry? Und überhaupt, was ist da oben drin?“
„Neugierde kann eine so furchtbare Qual sein, nicht wahr? Manchmal quält sie uns mit ihrem brennenden Verlangen sogar noch stärker, als der grausamste Schmerz. Oh, was waren wir nur neugierig…“ Seine Augen hatten einen Verträumten Ausdruck angenommen.
Oh wie recht er doch hatte. Ich wollte wissen, was da oben war, JETZT.
„Harry…“ ,flüsterte ich. Er schien in Gedanken weit fort zu sein.
„Harry?“ Er stand nur da und starrte die Wendeltreppe an. Es schien, als würde er hindurch starren.
„Harry!“
„Bitte was?“ Er blickte mich verwundert an.
„Elizabeth, was machst du denn hier?“
„Ich… Ich wollte wissen, was dort oben ist.“ Ich deutete zur Treppe.
„Achso, ja stimmt. Du bist hochgeklettert, genau…“ Seine Augen wurden wieder klarer. „Elizabeth! Du bist da hochgeklettert! Mach das nie wieder, du hättest stolpern und herunterfallen können! Du hättest dir auf jeder Stufe einen anderen Knochen im Leib brechen können!“, empörte er sich.
Jep, Harry war wieder ganz der alte.
„Aber wenn du so unbedingt wissen willst, was da oben ist, dann frag doch ganz einfach und schleich nicht auf eigene Faust hier hoch um dort oben einzubrechen.“
Einbrechen?! Was war dort oben, eine Schatzkammer? Außerdem, ich fragte ja schon die ganze Zeit.
„Was ist denn nun dort oben?“
Wieder glitt sein Blick zur Treppe, dieses Mal hatte er aber etwas Wehmütiges an sich.
„Erinnerungen.“, flüsterte er.
„Erinnerungen? An was?“
„An… alles eigentlich. An mein Leben, meine Welt.“ Sein Blick ruhte dort.
„Ich war schon Ewigkeiten nicht mehr dort.“
„Warum nicht?“, fragte ich vorsichtig. Harry zuckte mit den Schultern.
„Schmerz, Wehmut, Angst?“, murmelte er, ich konnte ihn kaum verstehen.
„Ich weiß es nicht genau.“, sagte er dann.
Auch ich starrte nun die Treppe an, für mich war sie zu einem Tor in eine andere Welt geworden, in Harrys Welt.
„Da oben… da ist auch was von Dad, oder?“, flüsterte ich.
Harry nickte. „Da oben ist alles.“
Ich verstand nicht, was er meinte.
„Willst du es sehen?“, fragte er unvermittelt.
Ich nickte heftig. „Oh ja, ja bitte!“
Er lächelte schwach. „Na dann… aber passt bei den Stufen auf, du wenn du fällst-„
„-kannst du dir bei jeder Stufe einen anderen Knochen im Leib brechen. UND es ist unhöflich, Leute zu unterbrechen, ich weiß.“ vollendete ich seinen Satz für ihn. Wir sahen uns einen Moment an und dann schritt er die Stufen hinauf und ich folgte ihm. Er holte seine Taschenuhr hervor und nun erst merkte ich, dass an ihr ein Schlüssel hing. Harry nahm ihn ab, steckte ihn ins Schloss und drehte ihn herum. Ein Klicken ertönte, dann ein knirschen und Knarren – er stemmte die Luke auf und begab sich nach oben. Er tauchte in eine Wolke aus Staub und schwerer, alter Luft ein und war in dem schimmernden Loch verschwunden. Ich schluckte schwer, der Klang von Schritten ertönte dumpf über meinem Kopf. Er war dort oben. Ich atmete einmal tief durch und folgte ihm durch das schimmernde Tor und die Staubwolke, hinauf in einen Raum, in dem seine Welt begraben lag und hoffte insgeheim auch etwas von meinem Vater dort zu finden.
...
Der Raum schien zu leuchten. Goldenes Sonnenlicht flutete den staubbedeckten Boden, meine Schritte suchten die Abdrücke von Harrys Schuhen auf dem Teppich aus silbernem Staub und folgten ihnen. Überall standen Truhen, Schränke, Regale voller Dinge, Dinge, die mit Decken bedeckt waren… Es roch nach Staub und allem möglichen, nach lauter Dingen, die ich nicht kannte. In der Mitte des Raumes stand Harry wie eine Insel in diesem Meer aus Unbekannten. Ich eilte zu ihm, er zeichnete sich lediglich als schwarzer Schatten vor dem riesigen, runden Fenster ab.
„Willkommen in meiner Vergangenheit.“
Er blickte lächelnd auf mich herab.
„Harry… was ist das alles hier?“
„Andenken, Erinnerungen aus aller Welt. Na los, sieh dich ruhig um.“
Ich tat wie mir geheißen und begann, durch den überraschend großen Raum zu streifen. Erst jetzt begriff ich, dass er das ganze Haus überdachen musste. Ein großes Etwas, das unter einem Leintuch verborgen war, weckte mein Interesse. Ich hatte es gestreift und das Tuch war verrutscht, nun blitze etwas schwarzes darunter hervor. Neugierig zog ich das Tuch herunter und mir blieb fast das Herz stehen. Vor mir stand ein mannsgroßes Monster mit schwarzem Pelz, aus seinem weit geöffneten Mal ragten spitze Zähne hervor und seine Augen funkelten. Es sah so aus, als wäre es stinksauer und wollte mich fressen. Ich schrie wie am Spieß. „HARRYYYYYYYYYYYYYYYYYYYYYYY“
Er kam sofort herbeigeeilt.
„Um Himmels Willen, Elizabeth, was ist denn-“ Er brach mitten im Satz ab und ich traute meinen Ohren nicht, er lachte! Er lachte mich aus!
Erst jetzt merkte ich, dass dieses, dieses Ding sich nicht bewegte. Leicht beleidigt drehte ich mich zu Harry um.
„Harry, sag was ist das?!“
„Das, meine leibe Liz, ist ein Gorilla.“
„Ein WAS?“ Von so etwas hatte ich noch nie gehört, geschweige denn hatte ich etwas derartiges gesehen.
„Ein Gorilla.“, wiederholte Harry. „Es ist eine Affenart. Dein Vater hat ihn höchstpersönlich geschossen. Sie leben in Afrika und zählen zu den Menschenaffen.“, erklärte er.
Es war mir egal wo diese Dinger lebten, dieser wollte mich töten! Naja, zumindest sah es so aus.
„Keine Sorge, er kann dir nichts tun. Sieh nur, dort drüben stehen seine Eingeweide!“ Harry zeigte auf eine Ansammlung von verstaubten Gläsern in einem Regal.
„Mein Vater hat ihn…. Aber wie, sie leben doch in Afrika!“
Harry lächelte. „Wir waren dort, dein Vater und ich. Er hat sich mehr darum gekümmert, was er als Souvenir erlegen kann, ich habe mich mehr mit der Landschaft und der Vegetation beschäftigt. Ich war nie besonders schießfreudig, weißt du.“
Ich kam aus dem Staunen nicht mehr heraus. Harry war in Afrika gewesen-mit meinem Vater, in Afrika! Das war so weit weg, dass es schon am anderen Ende der Welt liegen musste!
„Aber warum ist er bei dir und nicht bei Dad?“
„Charles musste fast all seine Souvenirs fortschaffen, deine Mutter duldete sie nicht im Haus. Darum lagerte er sie bei mir und so wurde mein Dachboden zum Abbild unserer Reisen.“
Er hatte die Arme hinter dem Rücken verschränkt und folgte mir nun durch das Sammelsurium von Relikten, die er und mein Dad auf der Welt gesammelt hatten. Sie waren fast überall gewesen, wir fanden einen Kasten, in dem allerlei Spinnen aus dem Regenwald, die eine größer und ekliger als die andere, festgesteckt waren. Naja, sie kamen von überall her, aber so genau wollte ich das gar nicht wissen. Spinnen waren nun mal ekelig, basta. Umso mehr gefielen mir die Kästen mit Schmetterlingen. Manche von ihnen waren größer als meine Hand und so bunt und schön, dass ich sie am liebsten mitgenommen hätte. Neben den Tieren fanden wir auch tonnenweise Bücher, natürlich, diverse komische Gegenstände und vieles mehr. Dann aber fand ich eine riesige Kiste in der Bücher und Schachteln lagen. Neben ihr waren einige fragwürdige Apparate aufgereiht. „Harry, was ist das?“
„Herrje, das ist ja unser alter Diaprojektor. Und unsere Kamera! Der Filmprojektor!“
Ich starrte ihn an doch er war bereits dabei, eine der Schachteln zu öffnen und zog kleine Kärtchen hervor.
„Das sind Dias.“, erklärte er.
„Was sind Dias?“
„So etwas wie Bilder.“
„Können wir sie ansehen?“
„Natürlich…. Das heißt, wenn der Projektor noch funktioniert. Warte einen Augenblick.“
Harry begann, eifrig Dinge durch die Gegen zu tragen. Er nahm all die Apparate mit und stellte sie in die Mitte des Raumes. Ich hörte ein Rascheln und es wurde duster im Raum. Harry schaltete das Licht an und ich ging zu ihm. Ich nahm so viele schachteln mit, wie ich nur tragen konnte. Dann zerrte Harry ein altes Sofa unter einer Decke hervor. Es war zerkratzt und sah etwas lädiert aus.
„Setzt dich!“ er deutete auf das Sofa. So euphorisch hatte ich ihn noch nie erlebt.
Ich setzte mich also und er machte das Licht aus. Vor dem runden Fenster hing nun ein Laken. Es machte „Klick“ und schon erschien ein Bild auf der Leinwand. Es war in Schwarz und Weiß und zeigte zwei Jungs. Einer Hielt ein Buch in der Hand und hatte eine Brille auf der Nase, der andere hielt stolz ein Fernglas in die Höhe. Sie hatten einander sie Arme auf die Schultern gelegt und strahlten in die Kamera. Ich schluckte schwer.
„Das sind dein Vater und ich. Erkennst du, wo wir sind? Es ist draußen im Garten, unter dem Apfelbaum!“
Ein weiteres Mal klickte es und nun erschien Bild zweier Jungs in merkwürdigen Kleidern sie standen am Meer!
„Da waren wir mit meinen Eltern schwimmen. Ich mochte es nie sonderlich ins Wasser zu gehen… Aber dein Vater war ein hervorragender Schwimmer!“
Ah, der Junge, der so komisch angeekelt dreinblickte war also Harry. Ich musste lachen. Dann folgte ein Bild, auf dem beide schon älter waren. Sie standen vor einem seltsamen Hintergrund.
„Wo wart ihr da?“
„In der Wüste.“
„Was? Echt!?“
„Mhm, wir hätten uns fast verlaufen doch dann sind wir auf ein paar freundliche Beduinen getroffen, die uns begleiteten.“ Auf dem zweiten Bild waren dann auch andere, seltsam gekleidete Männer, vermutlich Beduinen.
Das nächste Bild schockierte mich zutiefst. „Ihr habt ja Kleider an!“ Ich lachte mich fast tot.
„Das sind keine Kleider, das sind Saris!“
„Was?“
„Saris, so etwas trägt man in Indien. Sieh nur, alle haben so etwas an.“
„Ist ja seltsam.... Boah, ist das ein Elefant?!“
„Ganz genau.“
Auf dem nächsten Bild saßen er und Dad doch tatsächlich auf einem Elefanten.
Es folgten noch unzählige Bilder, der Himmel draußen war schon längst wieder hell geworden, doch die Bilder wurden nicht weniger. Harry zeigte mir Abbildungen von ihm und meinem Dad in alles möglichen Altersstufen und an allen möglichen Orten. Das Fenster hinter dem Leintuch wurde immer heller, doch ich wusste weder, wie spät es war, noch wie lange wir hier oben gewesen waren, denn hier schienen alle Uhren still zu stehen.
„Um Himmels Willen, Lizzy!“, keuchte Harry nach Blick auf seine Taschenuhr. „Müsstest du nicht schon längst auf den Weg zur Schule sein?!“
Verdammt, das hatten wir vergessen. Es war Freitag und ich musste noch in die Schule! Mist!
Noch ehe ich etwas erwidern konnte hatte Harry mich schon an der Hand gepackt und die Wendeltreppe hinab in die Küche geschliffen.
„Zieh dich um, Zähne putzen, Kämmen, loslosloslosloslos…“, er redete nun ohne Punkt und Komma. Ich warf einen Blick auf die Uhr. Der Bus war schon vor fünfzehn Minuten abgefahren, mindestens.
Ich eilte also in mein Zimmer und machte mich widerwillig fertig. Als ich in die Küche kam stand meine Lunchbox fix und fertig auf dem Tisch, daneben lag ein Sandwich mit Marmelade.
„Wie spät ist es?“, fragte ich kauend.
„Elizabeth, wie oft soll ich dir…“ er meckerte weiter während er erneut die Taschenuhr hervorzog. „Himmel Herrgott, es ist ja schon nach viertel vor acht! Bis ich dich in die Schule gefahren habe ist es sicherlich schon viertel, wenn nicht halb neun! Du verpasst ja die erste Stunde!“
„Mhm…“, so übel wäre das gar nicht, dann würde ich Mrs. Graves entgehen.
Harry fuhr sich durch die Haare und stütze eine Hand auf die Hüfte.
„Herrje Lizzy, wir müssen auch noch den Tank füllen bevor wir fahren, ansonsten bleiben wir noch unterwegs hängen. Na los, husch husch!“
Mürrisch schnappte ich mir meine Lunchbox, da fiel mir etwas ein…
„Harry, ich hab meine Schultasche noch oben, ich hol sie schnell.“
Er seufzte. „Jaja, aber mach schnell, hörst du?“
„Jaaaah, aber ich werde nicht laufen, du weißt, ich könnte ja….“ Ich machte eine wedelnde Geste und er scheuchte mich in mein Zimmer.
Ich kam mit der Schultasche zurück, Harry hatte schon die Schlüssel parat. Er wollte tatsächlich fahren, ich wäre dabei sooo gerne geblieben und hätte weiter Dias angesehen. Da fiel mir ein, was Ben mir einmal erzählt hatte. Wenn er nicht zur Schule wollte, sagte er, es geht ihm nicht gut. Er hatte mir auch einige Tricks verraten, wie man sich krank stellen konnte, man konnte ja das Fieberthermometer in den Tee halten oder einfach Zahnpasta und Orangensaft schlucken, bis man kotzen musste. Oder ich konnte gleich das Brechmittel nehmen, Harry hat sowas ja… Aber nein, ich konnte Harry niemals über den Tisch ziehen, das war selbst für mich moralisch nicht vertretbar, wie er es ausgedrückt hätte. Naja, mal sehen, was man tun kann.
„Harry… mir geht es nicht gut.“
Er blieb mitten in der Tür stehen und sah mich an.
„So, ganz plötzlich geht es dir nicht gut?“, er musterte mich abschätzend.
„Ja mir, äh…. geht es nicht gut, du weißt schon, mir ist übel.“
„Soso.“ Ein Funkeln war in seine Augen getreten. Er fixierte mich mit seinen regengrauen Augen und seine Mundwinkel zuckten.
„Dir ist übel. Hast du auch Bauchschmerzen?“
„Ja….“
„Und so ein komisches Gefühl, so als würde sich alles drehen? Dröhnt dir auch der Kopf?“
„Ja, ja ganz genau!“ Das war ja nicht zu fassen, Harry war in dieser Sache sogar noch besser als Ben und ich zusammen.
„Herrje, dann hast du bestimmt auch Fieber…. Einen Moment.“ Er holte ein Fieberthermometer hervor und steckte es doch tatsächlich in seinen Tee.
„Oh, das sieht aber gar nicht gut aus.“ Er musterte mich mit besorgtem Blick.
„Du hast ja hohes Fieber…. Ich rufe besser einen Arzt… Oder denkst du, dass dir lediglich etwas Ruhe fehlt?“
„Ach, weißt du Harry, ich denke du hast recht… Etwas Bettruhe wäre denke ich ganz gut.“ Nun grinste ich.
„Dann sollten wir aber zusehen, dass wir dir genug Ruge gönnen, was meinst du?“
„Oh ja!“, trällerte ich vergnügt und Harry warf mir einen strengen Blick zu.
„Elizabeth, vergiss nicht, du hast Fieber!“ Er wedelte mit dem Thermometer vor meiner Nase herum und grinste schelmisch.
„Und das Kotz- äh, Erbrechen.“
„Ganz genau.“
„Ich muss also echt nicht in die Schule?“
„Aber nein. Du hast noch nie gefehlt, also wird ein Mal nicht schlimm sein.“
„Und geschwänzt hab ich auch noch nie!“
„Du schwänzt auch nicht! Du bleibst lediglich dem Unterricht fern um Dingen höherer mit Priorität nachzugehen.“, erklärte er mir. So hörte sich das ganze schon viel besser an. Auf dem Weg zurück in den Dachboden fragte ich Harry ob er auch manchmal Dingen mit höherer Priorität nachgegangen war anstatt zur Schule zu gehen. Er lächelte. „Manchmal, gut möglich…“ Ich grinste und wir setzten uns zurück auf das zerfledderte Sofa und sahen die Dias zu Ende an. Harry hatte auch sein Teeservice, ein Teeservice mit Kakao für mich und ein kleines Frühstückspicknik für uns mitgenommen. So saßen wir dann da, bis alle Dias angesehen und das ganze Essen verputzt war. Dann stöberte Harry erneut in den Kisten, dieses Mal in der mit den Filmrollen. Er legte eine ein und ich traute meinen Augen nicht.
Dort krabbelte ein kleines Baby im Gras eines riesigen Gartens herum, begleitet wurde es von einem jungen Mann, der ganz unverkennbar Harry war.
„Harry…wer…“
„Das bist du, Lizzy.“ Kam er mir zuvor und lächelte. Er hatte sich neben mich gesetzt.
„Ich sagte dir bereits, dass wir uns kannten.“
Gebannt starrte ich auf die tanzenden Bilder. Harry und ich spielten zusammen! Er hob mich hoch und wirbelte mit mir umher, mein Babyich lachte und klatsche in die Hände. Harry strahlte. Und ich konnte mich an nichts davon erinnern.
„Dein Vater hat gefilmt.“ sagte er. Ich nickte.
„Hast du noch mehr?“
„Natürlich. Einen Moment.“
Und schon tanzte die nächste, auf einen Film gebannte Erinnerung über die Leinwand und die Bilder tanzten und tanzten, den ganzen Tag.
Samstagmorgen kam überraschend schnell und ich konnte es kaum erwarten, Ben zu erzählen, was ich alles gesehen hatte, geschweige denn, ihm alles zu zeigen!
Als er dann endlich da war, musste er nur noch das größte Hindernis überwinden um einen unbeschwerten Tag mit mir zu verbringen: Er musste Harry vorgestellt werden.
„Also ich weiß nicht so recht, Liz. Er ist wie ein Geist, all die Jahre nicht sichtbar und dann plötzlich da. Bist du dir sicher, dass er immer schon hier gewohnt hat?“
„Klar, er hat gesagt, dass er hier aufgewachsen ist.“
„Schon…aber was hat er denn all die Jahre über hier getrieben? Ich meine, keiner hat ihn gesehen…“
„Gar nicht war, Mrs. Ross hat ihn gesehen! Und das fast jede Woche, wenn er zu ihr in den Laden kam um einzukaufen.“ Wir gingen gerade die Einfahrt hoch und ich öffnete die Tür, den Schlüssel hatte ich mitgenommen.
„Oh und eins noch. Nenn ihn niemals Mr. Porter!“
„Aber wie soll ich ihn denn sonst nennen?! Man redet Erwachsene nun mal so an, für Kinder heißen sie Mrs. oder Mr. Irgendwas, es sei denn, sie sind deine Eltern, dann sind die Mum und Dad.“
„Tja, aber Harry ist Harry. Nur Leute die er nicht mag nennen ihn Mr. Porter und du willst doch nicht einer von denen sein, oder?“
„Nein aber…“
„Keine Sorge, überlass das mir.“
Irgendwie schaffte ich es dann doch, Ben zu überzeugen, dass Harry kein Geist oder Phantom war und er ihn auch nicht fressen würde wenn er ihn Harry nannte, was ihn aber nicht davon abhielt ihn wie einen Geist, der ihn gleich verspeisen würde anzustarren als er ihn sah.
Wir fanden ihn in der Küche, er war gerade dabei, das Essen vorzubereiten. Ich hatte ihn nicht davon überzeugen können, den Sunday Roast of Samsstag zu verschieben, darum gab es einfach nur Steaks mit Senfsauce, Suppe und Apfelcrumble als Nachtisch.
Harry drehte sich um, er rührte gerade in einer Schüssel und hatte zum Kochen sein Jackett gegen eine Schürze getauscht. Er trug aber immer noch sein Hemd und seine Anzughose, die Ärmel hatte er ebenfalls hochgekrempelt, doch er sah trotzdem verdammt chic und elegant aus. Ben fiel beinahe die Kinnlade auf den Boden.
„Ah, Benjamin Grey. Willkommen.“
„Hey Harry.“
„Hallo Liz.“
Ben räusperte sich verlegen. „Guten Tag Sir, ich bin Benjamin, Ben Grey.“
„Ich weiß. Mein Name ist Harold, Harold George Porter.“ Er lächelte dieses geheimnisvolle Lächeln, dass ich nie ganz zu deuten wusste. Seine Augen funkelten.
„Lizzy hat mir schon viel von dir erzählt.“
Das hatte ich wirklich. Ben errötete, konnte sich aber dennoch einen Kommentar zu „Lizzy“ nicht verkneifen.
„Halt die Klappe.“, murmelte ich.
Harry hatte sich derweilen wieder dem Essen zugewandt.
„Habt viel Spaß Kinder. Lizzy, du weißt, wann es Essen gibt?“
„Jup.“
„Seid pünktlich, ansonsten könnt ihr euch euer Mittagessen aus dem Tisch starren.“
Wir nickten und verschwanden zum Spielen. Ich wusste, dass dies keine leere Drohung war, Harry machte Ernst, mit der Pünktlichkeit nahm er es sehr genau. Also gingen wir nicht zu weit weg, ich zeigte Ben erst mal das Haus.
Als wir alle Räume bis auf Harrys Arbeitszimmer –es war absolut tabu- und die Bibliothek durchwandert waren, führte ich Ben zurück zur großen Treppe in der Halle. Unter ihr führte eine große Flügeltür zur Bibliothek. Die Bibliothek hatte mehrere Eingänge, man konnte sie auch über eine kleine Tür im Obergeschoss und durch eine Tür in dem Gang wo Harrys Arbeitszimmer lag erreichen.
„Was ist da drin?“, fragte Ben mich als er den Blick von der gläsernen Decke gewandt hatte.
„Och, das ist nur die Bibliothek.“ „Ihr habt eine Bibliothek im Haus!? Das ist da der Wahnsinn! Darf ich mal da mal rein sehn? Bitte, ich fasse auch gar nichts an.“
„Klar.“ antwortete ich schulterzuckend, es war toll, dass Ben Harrys Haus so gefiel
Wir blieben in der Bibliothek bis es Zeit fürs Mittagessen war, dann eilten wir in die Küche, um ja pünktlich zu sein. Wir wuschen uns sogar noch die Hände vor dem Essen.
„Kann ich Ihnen behilflich sein?“, fragte Ben Harry. Ich hätte ihm sagen sollen, dass es zwecklos war.
„Wie bitte was? Nein, nein, setzt euch nur.“
Harry hatte den Tisch bereits gedeckt und kaum eine Minute nachdem wir uns hingesetzt hatten, war das Essen auch schon serviert. Es war herrlich und Ben und ich schaufelten und tonnenweiße Essen auf unsere Teller.
„Das ist wunderbar Harry!“, kommentierte ich halbkauend.
„Ja wirklich, Sie kochen sogar besser als meine Mum!“, meinte Ben.
„Danke Benjamin. Doch niemand kocht besser als eine Mutter, das hat mir meine immer gesagt.“, er lächelte verschmitzt.
„Niemand außer Ihnen vielleicht.“
„Ich koche lediglich anders, Benjamin.“
Das stimmte allerdings. Bens Mum kochte nur gewöhnliche, einfache Sachen und es gab sehr oft Würstchen mit Kartoffelbrei.
„Aber Ben hat Recht, du kochst am besten von allen!“, mischte ich mich ein.
„Was habt ihr beiden denn nach dem Essen vor?“ Harry wechselte das Thema immer so elegant…
„Hm…wissen wir noch nicht, vielleicht gehen wir raus in den Garten.“
„Eine gute Idee. Ich werde arbeiten, also bitte, seid ruhig.“
„Sicher.“
Nachdem wir alles aufgegessen hatten rollten wir fast von unseren Stühlen.
Harry machte sich daran, den Tisch abzuräumen und zu spülen.
„Sollen wir Ihnen beim Spülen helfen?“, fragte Ben.
„Nicht nötig Benjamin, danke. Du bist wirklich ein sehr hilfsbereiter Junge.“
„Naja… Zu Hause muss ich immer meiner Mum helfen, daher bin ich das gewohnt…“
„So, du hilfst also deiner Mutter? Das ist gut!“ Die beiden unterhielten sich eine Weile.
„Du bist wirklich ein sehr kluger Junge Benjamin.“ meinte Harry am Ende.
„Danke Sir… Aber bitte nennen Sie mich Ben.“
„Also gut, Ben.“ Er nickte.
„Wir gehen dann raus Harry.“, unterbrach ich die beiden, Ich war zurück und hatte mich umgezogen.
„Na dann, bis später.“ er winkte uns.
„Bis später Mr.-„ Ich versetzt ihm einen Hieb in die Seite und Ben stolperte. „Sag es bloß nicht!“, zischte ich. Harry drehte sich um. Er hatte die Augenbrauen hochgezogen.
„Ja?“
„Äh…“
„Ach nenn ihn doch einfach Harry!“, warf ich dazwischen bevor einer der beiden etwas sagen konnte.
„Aber das ist unhöflich!“,platzte Ben verzweifelt hervor.
Harry grinste.
„Ist schon gut Ben. Nenn mich Harry.“
Verblüfft blickten wir Harry an.
„Wolltet ihr nicht in den Garten?“, fragte er fast beiläufig während er einen Topf austrocknete.
Er hatte Recht. Etwas verwirrt brachen wir also auf, um den Garten zu erkunden.
„Zum Tee seid ihr wieder da, ja?“
„Sicher Harry!“, riefen wir beide im Chor während wir zur Tür hinaustraten.
„So und was machen wir jetzt?“, fragte Ben und steckte seine Hände in die Hosentaschen. Gemeinsam schlenderten wir in Richtung Garten.
„Keine Ahnung…“. Ich grübelte. Dann kam mir eine Idee. Ich klatschte ihm mit der Hand auf die Schulter. „Du bist!“, kreischte ich und hetzte davon.
„Aua, Liz, das tat weh… Und das Unfair, du hast Vorsprung!“, rief Ben mir im Rennen hinterher doch ich war schon um die Ecke gebogen.
Ben holte überraschend schnell auf. „Warte nur, ich krieg dich, dann kannst du was erleben!“
Kichernd rannte ich weiter, so schnell ich konnte, ich bog noch einmal ab, rannte hinters Haus und dann vom Haus weg. Das Gras wurde höher, und ging es bergab, ich wurde schneller und schneller, blickte nach hinten, um zu sehen, wo Ben war. Plötzlich aber prallte mein Fuß gegen etwas hartes, es riss mich von den Füßen und ich kullerte gegen einen riesigen Baum.
„Auah!“. Fluchend rieb ich mir das Bein. Ben tauschte auf der Anhöhe auf und blickte besorgt zu mir herab.
„Alles in Ordnung,Liz?“ Er eilte den kleinen Hang herab.
„Pass bloß auf, da liegt etwas am Boden… Ich bin darüber gestolpert…“
Ben kam keuchend vor mir zum Stehen und stütze die Hände auf die Knie.
„Was kann das gewesen sein?“
„Keine Ahnung, vielleicht eine Wurzel von dem Baum? Sieht ziemlich alt aus… Verdammt alt.“, murmelte er und betrachtete den gigantischen Baum.
„Nein, es war steinhart, ganz sicher keine Wurzel.“
Ben reichte mir die Hand und half mir auf. Ich stapfte auf die Stelle zu, wo ich gestolpert war. Hohes Gras wucherte hier unten wie im Urwald. Seltsam, für gewöhnlich mähte Harry das Gras immer und das mit akribischer Genauigkeit. Wenn ich es mir recht überlegte, hier war ich noch nie gewesen. Seltsam… Ich begann, das Gras von der Stelle zu entfernen. Zum Vorschein kam eine in den Boden eingelassene Steinplatte. Ich wischte mit der Hand darüber, doch sie wurde zum Teil von einer umgestürzten Säule verdeckt. Stirnrunzelnd musterte ich den Stein. Dort stand etwas… Mich traf fast der Schlag.
„BEN! Sieh dir das an!“
„Was ist denn?! Schrei doch nicht so, Harry sagte doch, wir sollen leise sein!“, Ben blickte zum Haus und kam vorsichtig heran.
„Was ist das?“, fragte er.
„Keine Ahnung. Lies.“
Er las und sah mich an.
„Was hat denn das zu bedeuten?“
Das fragte ich mich auch. Auf der Steinplatte im Boden stand klar und deutlich mein Name.
„Ben, was ist das?“
„Keine Ahnung… Ein Grabstein vielleicht?“
„Kin Grabstein? Um Himmels Willen, glaubst du etwa, dass Harry jemanden umgelegt hat?!“
„Was?! Nein! Denk doch mal nach Liz, wenn er jemanden umgebracht hätte, hätte er keinen Grabstein für sein Opfer gemacht. Außerdem, ich denke nicht , dass Harry…naja zu sowas in der Lage ist.“
Stimmt… Ich schämte mich. Wie hatte ich auch nur eine Sekunde daran denken können, dass Harry so etwas Schreckliches tun könnte?
Ich starrte den Stein an. Dann aber kam mir die zündende Idee: Der Dachboden. Wenn ich irgendwo Informationen bekommen konnte, was es mit dem Stein auf sich hatte, dann dort. Ich packte Ben an der Hand und schliff ihn hinter mir her.
„Liz! Spinnst du? Wohin gehen wir?!“
„Komm einfach mit und sei still! Ich hab‘ eine Idee!“
Wir schlichen auf Zehenspitzen durch das Haus und ich lauschte kurz an Harrys Arbeitszimmertür. Das Klackern seiner Schreibmaschine tönte durch die Tür. Sehr gut. Mucksmäuschenstill gingen Ben und ich die Treppe hoch, in den Raum mit der Wendeltreppe. „Was willst du hier, der Raum ist doch leer…“
Doch ich hörte nicht auf Bens flüstern, ich war schon dabei, die Wendeltreppe hochzuklettern. Ich bangte darum, dass die Türe nicht verschlossen war. Zögernd griff ich nach dem Knauf an der Falltür und drückte nach oben. Mit einem Klicken sprang sie auf und mir fiel ein Stein vom Herzen.
„Liz, was um alles in der Welt hast du vor?“ Bens Stimme wurde immer drängender.
„Was ist denn?! Kommst du nun oder was? Ich will nur etwas suchen…“, zischte ich.
Zögernd folgte Ben mir und wenig später standen wir gemeinsam in dem Raum unter dem Dach. Ich musste die Truhen mit den Fotoalben finden… Als allererstes ging ich die Mitte des Raumes, doch dort war nur die Truhe mit den Bildern und die mit den Filmen. Verdammt. Schnell eilte ich durch das Sammelsurium von Erinnerungen, ich musste den Gorilla finden, dort waren die Truhen mit den Fotoalben gewesen. „Ben?“
„Ja?“ Ben war gerade dabei den Projektor unter die Lupe zu nehmen.
„Weißt du, wie ein Gorilla aussieht?“
„Klar!“ Ben wusste, wie ein Gorilla aussieht?! Naja, Ben war eben schlau.
„Such ihn!“
„Was..Warum?“
„Tu‘s einfach.“
Wenig später standen wir beide vor dem schwarzen Ungetüm. „Boah, ein echter Gorilla! Sieh nur Liz, das Fell, die Pranken… und die Zähne erst!“ Ich hörte kaum hin, sondern suchte nach den Truhen. Sie mussten doch hier irgendwo sein… Volltreffer!
Ich öffnete sie und begann, in den Alben zu stöbern. Jedes von ihnen war sorgsam beschriftet worden. Amerika?-Nein. Ich legte es weg. Frankreich, Asien, Ägypten….Nein, nein und nein. Die erste Truhe war voll mit Reisealben aus zahllosen Ländern. Ich beugte mich über die Kiste, doch die, die hinter ihr stand war verschlossen. So ein Mist!
Ben war neben mich getreten. „Was ist damit?“ Er deutete auf einen Stapel Koffer, auf denen eine kleine Kiste thronte. „Gib die mal runter.“
Er reichte sie mir und ich öffnete sie. Zum Vorschein kamen ein Haufen Zettel, alte Briefe, ein paar getrocknete Blumen und eine Menge anderer Dinge. Ich war schon drauf und dran, die Hoffnung aufzugeben, als ich am Boden der Kiste ein Buch fand. Ich zog es heraus und öffnete es. Es war ein Fotoalbum! Und nicht irgendeines. Auf der ersten Seite standen zwei Namen, Harry’s und Elizabeth.
„Liz, ich glaube nicht, dass du es mitnehmen solltest… Es gehört Harry…“
„Nicht mitnehmen? Dann haben wir es umsonst gesucht!“
Ben seufzte. „Dann lass uns gehen, bevor Harry uns erwischt!“
„Angsthase.“, murmelte ich und wir beeilten uns, zu verschwinden, es war schon fast Zeit für den Tee.
Wir kamen gerade noch rechtzeitig in den Salon, wo Harry Tee, Kakao und Gebäck vorbereitet hatte. Es war köstlich und wir unterhielten uns gut, doch nach dem Tee musste Ben nach Hause. Wir verabschiedeten uns und während Harry sich um das Geschirr kümmerte, verschwand ich ins Studierzimmer, wo ich das Album versteckt hatte.
Ich kramte es aus der Lade des Schreibtisches hervor, zündete eine Kerze an und machte mich daran, das Album durchzublättern. Die Bilder darin zeigten Harry und irgendeine Frau. Seltsam, Harry hatte keine Frau… Ich beugte mich näher über das Bild, um sie genauer zu betrachten. Sie war wunderschön… Plötzlich krabbelte etwas über das Buch. Eine Spinne! Iehw!! Sie musste da drin gehaust haben. Ich erschrak zu Tode, kreischte und sprang auf. Dabei stürzte die Kerze um und fiel genau auf fas Buch. Oh nein, verdammt! Panisch griff ich danach und war es auf den Boden. Ich musste es ausmachen, aber wie, wie?! Oh nein oh nein, verdammt… Panisch blickte ich mich um. Dann ertönte ein Poltern und die Tür flog auf. Harry stand dort und starrte mich an.
„Lizzy, du hast geschrien, ist alles –?!“ Er packte eine Vase und schüttete das Wasser samt der Blumen auf das Album.
„Alles in Ordnung? Was hast du getan, dir hätte etwas passieren können… du-„ er brach ab, sein Blick ruhte auf dem qualmenden, angekokelten Album. „Was ist das?“ Er fixierte mich mit seinem Blick. „Elizabeth, wo hast du das her?“
Er trat auf das Album zu und hob es auf. Ein Bild fiel heraus, doch er merkte es nicht, er starrte nur auf das Album. „Harry ich…“
Sein Blick ruckte zu mir, er war kalt und schneidend.
„Wo hast du das her?“, flüsterte er. Seine Stimme war ebenso kalt wie ein Blick.
„Vom Dachboden…“ Ich schluckte.
„Habe ich dir nicht gesagt, dass du nicht stöbern sollst? Was wolltest du überhaupt damit?!“
„Ich wollte nur wissen, wer das ist… Harry, wer ist diese Frau.?“
„Elizabeth, geh auf dein Zimmer.“ seine Stimme war noch kälter als sein Blick geworden. Er starrte auf das tropfende Album in seinen Händen.
„Ich wollte es nicht kaputtmachen…. Ich wollte nur…“
„Geh-. Auf-. Dein-. ZIMMER!“ Er schrie, seine Stimme zitterte. Noch nie hatte er mit mir geschrien.
Ich machte auf dem Absatz kehrt und rannte in mein Zimmer. Doch dieses Mal kam keine Warnung, von wegen ich sollte nicht rennen. Dieses Mal hörte ich lediglich einen lauten Knall, Harry hatte die Tür zugeschlagen.
Ich saß auf meinem Bett und dachte nach. Harry hatte geschrien. Noch nie hatte er das getan und er hatte auch noch nie so dermaßen….bedrohlich gewirkt. Ob ich es nun zugeben wollte oder nicht, an diesem Tag hatte ich Angst vor ihm gehabt. Wie er mich angesehen hatte, wie er das Album angesehen hatte… Seine Augen, dieser Blick. Erst so kalt, dann so seltsam leer und dann so wütend. Ich glaubte, auch etwas wie Trauer darin gesehen zu haben, doch sicher war ich mir nicht. Noch lange dachte ich darüber nach, was es gewesen war, bis ich schließlich einschlief.
Am nächsten Morgen ging ich hinunter in die Küche. Ich hoffte, dass Harry nichtmehr wütend war und wollte mich entschuldigen. Doch er war nicht in der Küche. Der Frühstückstisch war reich gedeckt, doch sein Platz war leer. Ein ungutes Gefühl machte sich in mir breit, mein Magen krampfte sich zusammen. Ich aß ein paar Bissen und machte mich dann auf, um ihn zu suchen.
Er war nicht in seinem Arbeitszimmer, auch nicht in der Bibliothek oder sonst wo. Das Studierzimmer war ebenfalls verlassen, doch nichts deutete auf den gestrigen Vorfall hin, Harry hatte alles sauber gemacht. Ich ging in Richtung Dachboden, doch die Tür zu dem Raum mit der Wendeltreppe war verschlossen. Ich ging wieder nach unten in die Küche, doch sie war bereits sauber und von Harry war keine Spur zu sehen. Also ging ich zurück in mein Zimmer, bis mich zu Mittag der Hunger plagte. Aber ich war schon wieder zu spät. Das Essen war da, aber kein Harry. Dann endlich, zur Teezeit fand ich ihn in der Bibliothek. „Harry… Es tut mir so leid, ehrlich!“
Er sagte nichts, sah mich nicht einmal an.
„Harry!“ mir war zum Heulen zumute.
„Harry, es tut mir LEID! Ich wollte nicht, dass das Album kaputt wird, ich wollte doch nur wissen, was es mit dem Stein auf sich hat. Ich wollte nie, dass du böse auf mich bist!“, schluchzte ich.
Nun blickte er mich über den Rand seines Buches hinweg an.
„H-hier, das ist noch ganz.“ Ich reichte ihm das Bild, das aus dem Album gefallen war.
Er nahm es und sah es lange an.
„Die Meisten sind noch ganz.“, sagte er und ich starrte ihn an.
„Es tut mir Leid…“
„Wie oft willst du es denn noch sagen?“
„Entschuldige.“
Harry seufzte und fuhr sich mit den Händen durchs Haar. „Schon gut. Ich bin dir nicht böse.“
„Wirklich?“ Das waren die besten Neuigkeiten meines Lebens. Ich strahlte ihn an, doch er sagte nichts weiter.
„Harry… Ich bin gestern als ich mit Ben spielte über etwas gestolpert. Es war ein Stein, auf dem stand mein Name. Er ist hinter dem Haus, unter einem alten Baum. Harry, warum steht da mein Name.“
Er legte den Kopf schief und musterte mich.
„Hast du dich jemals gefragt, warum du so heißt, wie du heißt?“
Ich schüttelte den Kopf.
„Also gut, hör zu… Ich zum Beispiel heiße Harold, weil schon mein Vater so hieß und er hieß so, weil sein Vater so hieß und so weiter und so fort. Kannst du mir folgen?“ Ich nickte.
Er betrachtete das Bild in seiner Hand und lehnte sich zurück, ehe er fortfuhr.
„Weißt du, du fragtest mich schon ob ich eine Frau habe. Ich habe keine, das habe ich dir gesagt… Aber ich hatte eine.“ Nun wurde ich hellhörig.
„Du..hattest?“
„Ja… ich hatte.“ Er nahm einen Schluck Tee und begann zu erzählen.
„Sie war der gütigste, warmherzigste und absolut entzückendste Mensch, der mir jemals begegnete. Noch nie habe ich mit jemandem mehr gelacht, selbst mit deinem Vater nicht. Sie war..sie war wie weißer Tee mit Honig, verstehst du?
Ich habe sie kennen gelernt, als ich gerade von einer langen Reise mit deinem Vater zurückkehrte. Wir waren in der Stadt um unsere Vorräte aufzustocken, kamen geradewegs aus Mrs. Ross‘ Laden und dein Vater ging, um die Lebensmittel in den Wagen zu bringen. Ich aber machte mich auf zu dem kleinen Buchladen, du weißt schon, der in dem wir auch schon waren. Dort habe ich sie zum ersten Mal gesehen… Sie war wunderschön, mit Haaren von einer Farbe wie Rapshonig und Augen wie Karneol.“ Sein Blick glitt in die Ferne.
„Wir verstanden uns von Anfang an ausgezeichnet, wurden Freunde und später, als aus Freundschaft Liebe geworden war, wurde sie meine Frau. Geheiratet habe ich sie nie, zumindest nicht kirchlich. Sie aber wünschte sich die Ehe, alles andere wäre auch unangebracht gewesen und so beschlossen wir, im kleinen Kreis zu heiraten. Letzen Endes war es kein geringerer als dein Vater selbst, der uns traute und kein scheinheiliger Pfarrer. Wir heirateten unten im Garten, unter dem großen Baum. Es war eine richtige Feier, die ganze Familie deines Vaters war gekommen, zumindest das, was noch von der originalen Familie Atchinson vertreten war: Dein Großvater, deine Großmutter, sprich, die Eltern deines Vaters, seine Schwester, deine Tante Mary also , einige unserer Freunde und selbstverständlich Mrs. Ross und ihr Mann. Auch deine Mutter war da, deine Eltern waren zu diesem Zeitpunkt schon verheiratet gewesen, doch von ihrer Familie war niemand gekommen. Zugegeben, ich war auch froh, Adeleid und Konsorten nicht sehen zu müssen. Tjaja…so wurde Harold George Porter also zum Ehemann.
Weißt du, ich hätte mir kein schöneres Leben wünschen können und auch niemanden mit dem ich es besser hätte leben können als sie. Sie begleitete deinen Vater und mich sogar auf einige unserer Reisen, jedoch nur, wenn es nicht in allzu abwegige Gebiete ging. Wir waren auch oft allen unterwegs, so reisten wir zum Beispiel quer durch ganz England und auch nach Irland. Wenn wir nicht gerade reisten machten wir Spaziergänge oder lasen zusammen. Sie liebte es, zu lesen, genau wie ich. Es hätte so schön sein können, ein perfektes Leben mit einer perfekten Frau. Sie war die Frau, mit der ich in den Sonnenuntergang schritt.
Doch leider war ich dazu verdammt worden, allein zurückzuschreiten.
Weißt du, sie war krank geworden, furchtbar krank. Ich erinnere mich noch genau, wie sie zu mir sagte, dass ich ruhig gehen könnte und mein Leben weiterleben könnte wie bisher, doch ich wich nicht von ihrer Seite. So bleib ich bei ihr, behielt sie hier bei mir in diesem Haus, bis es für sie an der Zeit war, zu gehen.
Sie starb an einem wunderschönen Morgen im Mai. Wir begruben sie an ihrem liebsten Platz, dort unter dem Baum, wo sie immer gesessen und gelesen hatte. Nie hätte ich sie auf einem dieser grässlichen Körperfelder begraben können, nein. Sie sollte dort sein, wo sie am glücklichsten gewesen war, dort konnte sie für immer bleiben.“ Es wurde still, Harry umklammerte seinen Tee. Seine Augen stierten in die mittlerweile leere Tasse. Ich stand auf, um ihm nachzuschenken. Dunkelgoldener Tee füllte die Tasse, Harry bedankte sich und begann weiterzuerzählen.
„Von diesem Tage an veränderte sich für mich alles. Ich veränderte mich. Ich wurde verschlossen und griesgrämig, wie dein Vater sagte. Auf unseren, immer seltener werdenden Reisen verhielt ich mich zumeist Still und abweisend. Ansonsten verlies ich kaum mehr das Haus, lebte förmlich in der Bibliothek und ging nur hinaus, wenn ich unbedingt einkaufen musste. Manchmal vergaß ich sogar darauf, doch Mrs. vergaß mich nie und stellte mir dann einen Korb mit Nahrungsmitteln vor die Tür. Dein Vater mitunter der einzige Mensch, mit dem ich noch sprach. Er überredete mich dann auch, ihn zu begleiten, als er nach Amerika fuhr. Zuvor hatte er die freudige Nachricht erhalten, dass er bald Vater wurde und nun ja, während unserer Reise erhielt er plötzlich die Nachricht, dringendst nach Hause zu kommen. Wir kamen genau im richtigen Moment, wenige Stunden nach unserer Ankunft hier kamst du auf die Welt. Ich war dabei gewesen und konnte es kaum fassen, als dein Vater dich durch die Tür Trug und dich mir vorstellte. Anfangs konnte ich nicht viel mit der Situation anfangen, Charles war Vater geworden, doch für mich änderte sich dadurch kaum etwas. Nun ja, dein Vater aber kam mit dir im Schlepptau immer wieder zu mir in Haus, du bist praktisch hier groß geworden. Nur deine Mutter freute sich ganz und gar nicht darüber und so verbot sie es ihm. Dein Vater aber wollte nicht, dass ich aus deinem Leben verschwinde, warum auch immer. Und er wollte mich immer noch trösten. Als dann die Frage nach deinem Namen aufkam, zog er mich im Stillen zu Rate. Wir standen gerade an deiner Wiege, als er mir sagte, dass ich einen Namen aussuchen soll. Ich war vollkommen überrumpelt, doch er bestand darauf. So gab ich dir den schönsten Namen, den ich in meinem Leben gehört hatte: Elizabeth. Dein Vater war begeistert und wollte, dass ich auch bei deiner Taufe dabei bin. Irgendwie warst du mir auch ans Herz gewachsen und so willigte ich ein und wurde nicht nur zu deinem Namensgeber, sondern auch zu deinem Taufpaten. Ganz Recht, ich bin sowas wie dein Patenonkel.“
Er schmunzelte als er mein verblüfftes Gesicht sah.
„Na,na, sei froh, wenn ich nicht deinen Namen ausgesucht hätte, dann hätte deine Mutter dich nach ihrer Schwester benannt.“
„Dann würde ich jetzt ja Adeleide heißen!“ Das wäre ja das furchtbarste überhaupt gewesen!
„Ganz genau. Dann könnte ich dich jetzt Addie rufen.“
„Himmel nein, gäh, das ist ja grässlich!“
Harry lächelte.
„Mir hat mein Name immer gefallen… Aber jetzt finde ich ihn noch viel schöner.“
„Das freut mich.“
„UND, ab heute kann ich dich sogar Onkel Harry nennen!“ Ich strahlte.
„Bleiben wir bei Harry, ich bin nicht der Onkel-Typ.“
„Stimmt…du bist mehr der Mum-Typ.“ Ich kicherte.
„Wie bitte?!“
„Du bist wie eine Mum, du kochst, putzt und du sagst mir dauernd, ich soll wegen irgendwas aufpassen. Aber dann bist du auch wie ein Dad… Oder wie eine Hexe, du vergiftest Leute.“
„Ich mache WAS?!“
„Du weißt schon, Nat und Ed, das Brechmittel!“
„Ach so.“ Nun lachten wir beide.
„Harry?“
„Hm?“
„Sehen wir uns das Album zusammen an? Bitteeeee…..“
Er seufzte. „Nagut.“
„Super.“ Ich kletterte auf seinen Schoß.
„Himmel Lizzy, was soll denn das werden?!“
„Ich mach’s mir bequem, von da unten kann ich gar nichts sehen.“
Harry schüttelte den Kopf. „Ich dachte, du bist schon ein großes Mädchen?“
„Sicher, aber so groß bin ich auch wieder nicht.“
Er lächelte und öffnete das Album. Es war etwas…wellig und teilweise angekokelt, doch die Bilder darin waren alle noch ganz. Sie waren toll, jedes zeigte Harry und Elizabeth, sie war tatsächlich wunderschön. Außerdem hatte ich hatte Harry noch nie so glücklich gesehen, er lächelte auf jedem Bild. Doch es war nicht dieses Fotolächeln nein, sein Lachen war echt.
Das letzte Bild aber war anders als alle anderen. Es zeigte ihn mit einem Kind im Arm. Er strahlte. Darunter stand etwas geschrieben, es war die Handschrift meines Dads:
Harry & Elizabeth 08. August
Es war am Tage meiner Geburt aufgenommen worden.
Ich erinnere mich an vieles, das mich Harry näher gebracht hat, die Geschichte, wie ich meinen Namen bekommen habe gehört definitiv dazu. Doch davor gab es auch einen Tag, oder besser gesagt, mehrere Tage, die ich ohne Harry wohl kaum in so glücklicher Erinnerung halten würde.
Es war eigentlich ein freudiger Tag, die Sonne schien und alles war in Ordnung. Ich ging hinunter in die Küche um mit Harry zu frühstücken. Doch mir lag etwas auf dem Herzen, darum beschloss ich, Harry davon zu erzählen, sobald ich meinen Haferbrei mit viel Sirup aufgegessen hatte.
„Harry?“
„Hmhm?“Er blickte weiter in die Zeitung.
„Heute ist ihr Geburtstag und ich will sie besuchen. Fährst du mich hin?“
„Wie bitte was?“ Er blickte auf und legte die Zeitung weg.
„Mum. Sie hat heute Geburtstag, ich hab ihr einen Brief geschrieben.“
„Oh, das… Das ist ja wunderbar, Lizzy.“
„Harry… Glaubst du, könntest du ihr einen Kuchen machen?“ Irgendwie gehörte das für mich zu einem Geburtstag dazu, ob man nun tot war oder nicht.
„ Lizzy, Liebes… Natürlich könnte ich dir einen Kuchen für sie backen, aber glaubst du, dass sie ihn essen würde? Du weißt ja, wie die Frauen heutzutage sind, dick ist nicht chic, verstehst du? Außerdem, deine Mum würde nie etwas essen, das von mir kommt.“
Ich grinste. „Stimmt. Du könntest sie schließlich vergiften. Oder schlimmer, sie würde dick werden.“
„Ganz genau.“ Er schenkte mir sein wohl wärmstes Lächeln. „Ich denke, sie wird sich über deinen Brief mehr freuen als über alles andere auf der Welt.“
„Ehrlich?“
„Sicher.“ Er trank den letzen Schluck Tee. „Nun geh und mach dich fertig, sobald ich den Abwasch erledigt habe, fahren wir!“
Ich eilte nach oben und versuchte, mich so hübsch wie möglich zu machen. Harry hatte mir allerhand neue Sachen gekauft, aber keine von denen, die man im Laden bekommt, nein. Er war mit mir zu dem Mann gefahren, der ihm all seine Kleider schneiderte und er hat auch mir eine komplette Garderobe genäht. Frühling, Sommer, Herbst und Winter, alles so, wie es mir gefällt, ich durfte aussuchen. Das war einer der großartigsten Tage meines Lebens gewesen. Ich entschied mich für mein neues, dunkelblaues Lieblingskleid, mit weißer Spitze und kurzen Ärmeln. Die Haare flocht ich mir zu einem Zopf, dann huschte ich in die Küche, wo Harry schon seine guten Schuhe zuband. Gemeinsam gingen wir zu dem Häuschen, wo sein Wagen stand und fuhren dann los. Wissen Sie, an diesem Tag wunderte ich mich nicht einmal, dass Harry wusste, wo er hinfahren musste. Es dauerte nicht lange und wir waren dort angekommen, wo Mum und Dad jetzt wohnten.
Harry parkte und gemeinsam schritten wir den Kiesweg entlang, bis wir an der großen Staue mit dem Engel angekommen waren. Auf einer Tafel darunter standen in goldenen Buchstaben die Namen meiner Mum und meines Dads. Lucy und Charles Atchinson. Ich schluckte und legte den Brief hin. Dann trat ich einige Schritte zurück, atmete tief durch und räusperte mich.
„Hallo Mum. Alles Gute zum Geburtstag… Ich hab einen Brief für dich geschrieben, da drin stehen ein paar Worte für dich. Mum, ich möchte dir jemanden vorstellen. Ich weiß, dass du ihn kennst und ich weiß auch, dass du ihn nicht magst.
Mum, das ist Harry.“ Ich schluckte schwer, meine Kehle war trocken. Harry stand neben mir und starrte den Engel an, die eine Hand fest zur Faust geballt, die andere befand sich in meinem schraubstockartigen Klammergriff.
Ich schniefte, doch ich fuhr fort.
„Weißt du Mum, ich wohne jetzt bei Harry und er ist der liebste Mensch auf der ganzen Welt. Er passt auf mich auf, kocht für mich und macht einfach…einfach alles, okay? Er ist da. Du kannst ihn zwar nicht leiden aber weißt du was? Ich hab sogar meinen Namen von ihm! Siehst du? Er ist gar nicht so übel… Sei nichtmehr böse auf ihn, Mum. Du hast Unrecht, ihn nicht zu mögen, weil er der einzige ist, den ich jetzt mag, verstehst du? Du fehlst mir zwar und Dad auch, aber wisst ihr, jetzt ist da Harry und er ist da und ihr müsst euch keine Sorgen mehr machen weil er immer auf mich aufpassen wird!“ Meine Stimme brach, ich heulte.
„Sie hat Recht, das werde ich. Versprochen.“, flüsterte Harry neben mir und drückte meine Hand.
„Seht ihr? Ich… bin nichtmehr traurig, dass ihr weg seid… Naja schon, ein bisschen, aber ihr fehlt mir nichtmehr so sehr und das ist gut so. Das ist wegen Harry…“
„Harry, sagt auch mal was!“
Er räusperte sich während ich mich in sein Taschentusch schnäuzte.
„Hallo Charles… Lucy.“ Er deutete eine Verbeugung an.
„Ewig nicht gesehen hm? Tja, Charles, du hast deine Tochter gehört… Sie ist genauso wie du. Stur, verfressen, kopflos, übermütig, vorlaut und hat den Kopf voller Flausen.“ Ich starrte ihn böse an.
„Aber das ist genau das, was uns Abenteurer ausmacht, hm? Ich werde auf sie aufpassen, Charles. Keine Sorge. Achja, alles Gute zum Geburtstag Lucy, du siehst fast so hübsch aus wie deine Tochter.“
„Danke Harry.“ flüsterte ich. Dann verabschiedeten wir uns und gingen zurück zum Wagen.
Noch immer heulte ich ein bisschen. Auch Harry machte einen eigenartig mitgenommenen Eindruck, doch es war er, der das Schweigen brach. „Himmel Herrgott… Ich denke, wir brauchen jetzt beide eine riesen Kugel Eis, nicht wahr?“
„Oh ja! Schokolade mit Schokostückchen und Schokosauce!“
„Ganz genau. Und einen Becher Vanille mit Ahornsirup.“
„Aber nur wenn du artig bist.“ kicherte ich.
„Wie bitte? Höre ich da jemanden, der keine Schokosplitter haben will?“
„Nein, ich bin schon still!“
Ich hatte zwar fast den ganzen Morgen geheult, doch ich war froh, bei meiner Mum gewesen zu sein und ihr gesagt zu haben, was ich sagen wollte. Ich war auch unheimlich dankbar, dass Harry mit mir gekommen war, das hatte alles leichter gemacht und ich fühlte mich nun besser. Früher war es mir nicht klar gewesen, doch heute denke ich, dass ich an diesem Tag mit dem Tod meiner Eltern abgeschlossen, ihn akzeptiert hatte. Ich konnte mir eingestehen, was für mich von dem Tage an, an dem ich bei Harry angekommen war, immer klarer geworden war: Harry war nun da und es war alles gut.
Eines Tages oder besser gesagt, eines Nachts schreckte ich plötzlich aus dem Schlaf und mir wurde bewusst, dass gar nicht gut war, im Gegenteil. Ich warf einen Blick auf die große Uhr an der Wand, es war viertel vor drei Uhr morgens und es war der 2. April –Harrys Geburtstag. Ich war nun schon so lange bei ihm und ich hatte es vergessen! Wie konnte ich so etwas vergessen? Hastig sprang ich aus dem Bett, schlüpfte in meinen Hausmantel und schlich schnellstmöglich in die Küche. Ich brauchte einen Kuchen, einen Geburtstagskuchen und zwar hurtig. Harry würde bald aufstehen, er stand immer sehr früh auf… Manchmal war ich mir nicht mal sicher, ob er überhaupt schlief. Aber halt… Ich durfte in der Küche immer noch nichts anfassen, Harry würde ausrasten, ganz bestimmt. Aber ich brauchte doch einen Geburtstagskuchen, ohne Kuchen ist Geburtstag wie Schokoladeneis ohne Schokolade. Aber wo bekam ich um fast drei Uhr morgens einen Kuchen her?
Ich überlegte, Panik breitete sich in mir aus. Dann kam mir die zündende Idee. Ich schlich zur Tür und öffnete sie leise. Großartig, es nieselte. Ich kramte die Gummistiefel aus dem Schränkchen im Vorzimmer und schnappte mir noch eine Rolle von Harrys spezialzwirn aus der Küchenschublade. Den zwirn befestigte ich am Schlüssel und zog ihn über die Schnalle, dann unter der Tür durch und machte ihn schließlich auf der Außenseite der Tür fest, dort, wo die Klingel hing. So konnte ich die Tür schließen und sie dann wieder aufsperren, ohne den Schlüssel mitnehmen zu müssen. Den Trick hatte mir Harry verraten. Dann war ich auch schon auf und davon, wie vom Teufel gejagt raste ich durch die Wiesen, bis ich endlich, völlig durchnässt vom Nieselregen, an meinem Ziel angelangte. Ich hämmerte mit klammen Händen und rasendem Atem gegen die Tür von Mrs. Ross Haus. Nach einer Weile ging innen ein Licht an, ich hörte Schritte und die Tür wurde einen Spalt breit geöffnet.
„Wer ist da?“, tönte Mrs. Ross‘ Stimme aus dem Spalt.
„Hallo Mrs. Ross, ich bin’s Liz.”
Die Tür gin auf und gab den Blick auf Mrs. Ross frei. Sie stand breitbeinig da, auf dem Kopf hatte sie Lockenwickler und ihr Haar stand in Strähnen daraus hervor. In ihren Händen hielt sie eine Mistgabel.
„Himmel Kindchen, hast du mich aber erschreckt! Ich dachte schon, man wolle mich ausrauben!“
Ich wunderte mich, ob Einbrecher geklopft und gewartet hätten, bis jemand aufmacht, sagte aber nichts, ich bekam auch keine Gelegenheit dazu. Mrs. Ross packte mich auch schon an der Hand und zerrte mich ins Haus.
„Was bei Gott hast du um diese Uhrzeit hier draußen verloren? Es regnet, ist kalt und gefährlich! Weißt du eigentlich, was da draußen alles rumläuft? Rabauken, Vandalen, Diebe und womöglich schlimmeres! Setz dich hier hin…“
Sie drückte mich auf einen Stuhl in der Küche und musterte mich mit in die Hüften gestemmten Händen. Ich musste schon komisch aussehen, klatschnass, in Harrys Gummistiefeln und meinem Hausmantel.
„Mrs. Ross, es tut mir leid Sie zu stören, aber ich brauche Ihre Hilfe.“
„Gute Güte, was ist denn passiert? Geht es Harry gut? Warte, ich rufe die Polizei!“
Sie rang die Hände und eilte zum Telefon.
„Nein, es ist alles okay! Es ist nur so, Harry hat morgen, äh heute Geburtstag und ich brauche einen Kuchen für ihn.“
„Mrs. Ross ließ den Hörer auf die Gabel fallen und sah mich entgeistert an.
„Um Himmels Willen, das habe ich ja ganz vergessen!“
„Ich eben auch…“
„Warum backst du nicht zu Hause?“
„Harry hasst es wenn ich….“
„Stimmt, ich weiß! Verstehe, verstehe…“ Sie schlug sich gegen sie Stirn.
„Ich kenne Harry und seine Macken… Naja, dann sehen wir mal zu, dass wir anfangen. Hm..welchen Kuchen willst du ihm machen?“
„Keine Ahnung… Oh, Harrys Schokotorte ist super!“
„Ja, das ist mir bekannt…. aber glaubst du, ich hätte das Rezept? Ich kann dir nur meinen gewöhnlichen Schokoladenkuchen anbieten.“
„Egal… aber wir müssen ihn auch verzieren, ja? Ich will, dass er noch schöner aussieht als der, den er mir gemacht hat!“
„Nagut, mal sehen, was sich machen lässt…“
Mrs. Ross und ich begannen, alles für den Kuchen vorzubereiten. Während ich die Masse rührte erinnerte ich mich an meinen ersten Geburtstag mit Harry…
Ich kam verschlafen in die Küche, besonders gute Laune hatte ich nicht. Es war zwar mein Geburtstag, doch Ben war nicht da um mit mir zu feiern. Er war die ganzen Ferien bei seiner Tante, weit weg von hier. Grummelig betrat ich die Küche und traute meinen Augen kaum. Auf dem Tisch standen andere Leckereien als sonst, wo sonst Früchte, Brot, Joghurt, Müsli und Co standen, stand nun ein großer Teller mit Pancakes und eine Flasche Ahornsirup. Es gab auch noch Vanilleschnitten, Waffeln und allerlei süßes Zeugs.
War ich gestorben? Harry grinste mich an. „Guten Morgen Lizzy!“
Ich rieb mir die Augen als ich mich zum Tisch setzte. „Morgen Harry…“, murmelte ich und er deutete mir, mich zu bedienen. Das ließ ich mir nicht zweimal sagen, ich fraß mich an diesem Tag durch das Frühstücksallerlei wie eine Heuschreckenplage durch ein Feld.
Als ich aufgegessen hatte, verließ Harry die Küche und stellte ein hübsch eingepacktes Päckchen vor mir auf den Tisch. „Alles Gute zum Geburtstag, Liz!“ Er strahlte mich an, ich starrte das Päckchen vor mir an. „Danke….“
Was da wohl drinnen war? Oh Gott, ich musste öffnen, und zwar sofort! Aber was, wenn dort etwas..naja, merkwürdiges oder gar gefährliches drin war? Bei Harry wusste man nie, das hatte ich mittlerweile gelernt. Hm… was konnte es sein?
Harry schien sich köstlich zu amüsieren. „Du kannst es ruhig öffnen, es wird dich nicht beißen.“ Zweifelnd blickte ich ihn und dann das Päckchen an.
Ach, sei’s drum. Ich packte es und schüttelte es. Etwas darin flog hin und her… Wie eine Irre riss ich das Papier von der Schachtel, machte die Schleife ab und traute meinen Augen nicht. In dem Karton saß ein weißes Kaninchen. Doch es war nicht nur weiß, es trug ein Jackett, wie Harry sie immer trug und es hatte einen Regenschirm und ihm hing sogar eine kleine Uhr aus der Jackett-Tasche. Es sah aus wie das Kaninchen aus Alice im Wunderland, ganz genau so wie das auf den Bildern im Buch aussah!
Ich sprang auf und umarmte Harry, wobei ich ihn beinahe vom Stuhl riss. Zu Mittag durfte ich mir aussuchen, was er kochen sollte und am Nachmittag saßen wir alle im Pavillon im Garten und tranken Tee. Auch Mrs. Ross war gekommen und hatte mir ein Geschenk gebracht. Aufgeregt riss die Verpackung auf und fand…Socken. „Äh, vielen Dank Mrs. Ross!“, murmelte ich halb verlegen. Die alte Dame freute sich riesig und drückte mich nur noch fester. „Socken?“, fragte Harry wissend als er eine silberne Speiseglocke auf den Tisch stellte.
„Jup.“ sagte ich und zog zeigte meine Beine, die schon in neuen, handgestrickten ringelsocken steckten. Auch Harry zog seine Hosen hoch und entblößte dunkelgrün geringelte Socken. „Um Himmels Willen Harry!“, Mrs. Ross hielt sich prustend den Bauch. „Sie Tragen ja immer noch ihre Weihnachtssocken!“ Wir alle kicherten und dann hob Harry den Deckel der silbernen Glocke ab. Zum Vorschein kam ein zweistöckiger Schokoladenkuchen mit Schokoladenglasur und einer Krone aus Erdbeeren. Mit weißer Schokolade hatte er „Happy Birthday Lizzy“ drauf geschrieben. Ich kann mich nicht erinnern, jemals so viel Kuchen gegessen zu haben, aber er schmeckt einfach himmlisch….
„Vorsicht Lizzy, du kleckerst ja deinen Hausmantel an!“ Mrs. Ross‘ Stimme holte mich zurück in die Gegenwart. Sie gab mir eine Schürze, mittlerweile hatte ich meine eigene, da ich ihr oft beim Brotbacken half. Auch Ben half ihr, aber er half ihr draußen auf dem Feld und der Farm.
„Mrs. Ross, erinnern Sie sich an meinen Geburtstag?“
„Aber sicher, Kindchen…. Wie könnte ich das vergessen? Es war das erste Mal seit Ewigkeiten, dass Harry Gäste hatte. Weißt du, ich war fast noch nie in Harrys Haus gewesen.“
„Aber Sie waren ja auch an Weihnachten da!“
„Oh ja… Mrs. Ross schloss die Augen. Ein wundervolles Fest, nicht wahr?“
Ich nickte. Weihnachten mit Harry war tatsächlich wunderbar gewesen…
Es war noch gar nicht so lange her, dass ich bei Harry eingezogen war, doch der Winter war mit unerbittlicher Wucht und klirrender Kälte über das Land hereingebrochen. Schnee bedeckte alles, das sich nicht stetig fortbewegte und Ben und Ich verbrachten die meisten unserer freien Nachmittage damit, Schneemänner zu bauen oder Mrs. Ross beim freischaufeln ihres Hofes oder beim Backen von Keksen zu helfen. Wobei ich ihr eher beim Backen half während Ben sich draußen durch die Schneemassen wühlte wie ein ertrinkender Maulwurf. So sah er zumindest aus, wie Mrs. Ross immer behauptet hatte und sie wusste wie ertrinkende Maulwürfe aussahen, immerhin hatte sie immer den Gartenschlauch in deren Hügel gesteckt um zu vermeiden, dass sie ihre Ernten untergruben. Auch Harry war meinetwegen fleißig mit Kekse backen beschäftigt und er machte die besten Kekse überhaupt. Harry liebte zwar den Winter, doch es gab ein Problem an der ganzen Sache. Harry glaubte nicht an Gott und Co. und daraus schloss ich, dass er auch nicht Weihnachten feiern würde. Warum auch? Tja, ich musste ihn wohl oder übel danach fragen, nur um sicher zu sein, versteht sich. Zwar war ich auch nicht der gläubigste Mensch, doch als Kind bedeutete mir Weihnachten schon sehr viel. Außerdem gab es Geschenke.
Ich beschloss Harry beim Tee im Salon zu fragen, wie es denn mit ihm und Weihnachten steht.
„Harry?“
„Mhm.“
Er wusste mittlerweile immer, wenn ich etwas ausbrütete und so wurde dieser kleine Dialogfetzen zwischen uns zu so etwas wie einem Geheimcode für „Ich muss dich etwas fragen.- Frag nur, ich werde dir immer zuhören und antworten.“
„Weißt du, bald ist Heilig Abend.“
„Ich weiß.“
„Ja? Heißt das, dass du das feierst?“
„Gute Güte, nein. Ich feiere keine Feste aus Religionen, denen ich nicht angehöre.“
„Du hast also noch nie Weihnachten gefeiert?!“ Ich war schockiert.
„Herrje Lizzy, selbstverständlich habe ich das! Als ich so alt war wie du, habe ich jedes Jahr gefeiert. Weihnachten hier war ein wunderschönes Fest, meine Mutter hat jedes Jahr ein herrliches Essen zubereitet und in der großen Halle stand ein bunt geschmückter Baum. Ich feierte es auch mit deinem Vater, jedes Jahr, genau hier, in diesem Haus. Wir feierten auch mit Elizabeth, doch seit ich alleine bin, feiere ich nichtmehr, weil ich nicht daran glaube und niemand da ist, der es tut.“
„Verstehe aber… Harry?“
„Mhm.“
„Jetzt bin ich da und ich habe bis jetzt immer Weihnachten gefeiert. Es ist so ein tolles Fest, man feiert mit allen, die man lieb hat.“
Ich hatte auch Weihnachtsfeste bei Tante Adeleide und Tante Rosalia gefeiert, obwohl ich sie nicht ausstehen konnte. Doch das machte nichts, sie konnten mich noch weniger leiden als ich sie.
Trotzig verschränkte ich die Arme vor der Brust.
„Ich will mit dir Weihnachten feiern, Harry! …Bitte!“ fügte ich noch rasch hinzu.
Harry legte sein Buch aus der Hand, verschränkte die Finger, stützte sein Kinn darauf ab und blickte mich an.
„Du willst also unbedingt Weihnachten feiern?“
„Ja.“
„Mit allem Drum und Dran?“
„Ja!“
„Also richtig, mit einem Baum, Geschenken, Weihnachtsessen und-“ er schauderte „diesem grässlichen Weihnachtssingsang?“
„Oh ja bitte, bitte Harry!“
Harry seufzte. „Na schön Lizzy, wir feiern Weihnachten.“
„Yaaaaaaaay!“ Ich begann, wie eine Irre im Zimmer auf und ab zu springen, so sehr freute ich mich.
„Um Himmels Willen Lizzy! Hör auf herumzuspringen, sonst stößt du noch gegen irgendwas, schlägst dir eine Platzwunde und musst genäht werden!“
„Tut mir leid.“ Ich strahlte, ich würde Weihnachten feiern –mit Harry!
Kopfschüttelnd blickte Harry mir nach wie ich aus dem Raum trippelte und nach oben in mein Zimmer huschte.
Im Laufe der nächsten Tage stieg meine Aufregung stetig. Bald war es so weit und ich war schon extrem neugierig, wie Harry das ganze anstellen würde. Wir hatten auch Mrs. Ross eingeladen, die sonst alleine feierte, da ihre Tochter dieses Jahr bei der Familie ihres Mannes war.
Und wirklich, als ich zu Weihnachten in die große Halle trat, war ich überwältigt. Dort stand ein Baum, der fast bis zur gläsernen Decke reichte und es roch herrlich nach Wald. Mrs. Ross und ich schmückten den Baum mit der Dekoration, die Harry auf dem Dachboden ausgegraben hatte, während Harry uns Punsch, Tee und Kekse servierte und auf dem Klavier Weihnachtslieder spielte. Mrs. Ross und ich schmetterten die Lieder aus vollen Kehlen, währen Harry gekonnt die Tasten zum Klingen brachte. Dann aber verschwand er in die Küche, die für uns für die nächste Zeit absolutes Sperrgebiet war, um das Essen vorzubereiten. Mrs. Ross und ich saßen derweil bei Weihnachtspunsch im Salon.
„Weißt du eigentlich, wie der Baum ins Haus gekommen ist?“, fragte mich Mrs. Ross nach einer Weile. Ich schüttelte den Kopf. Nicht, dass ich mich nicht gefragt hätte, wie Harry an den Baum gekommen war, doch ich hatte vergessen, zu fragen.
„Wissen Sie es denn?“
„Natürlich.“
„Echt?!“ Ich beugte mich neugierig zu Mrs. Ross hinüber.
„Erzählen Sie es mir?“
„Aber sicher, Kindchen. Pass auf…“ Sie senkte ihre Stimme zu einem Flüstern.
„Es war furchtbar spät in der Nacht, gestern Nacht um genau zu sein. Ich lag nichts ahnend in meinem Bett und schlief, als es plötzlich an der Tür klopfte. Ich nahm die Mistgaben neben dem Eingang und öffnete und wer stand dort draußen? Harry! Er sah aus wie ein wild gewordener Schneemann und hatte eine Axt in der Hand. Da machte ich mir natürlich Gedanken, verstehst du? Er fragte mich, ob er sich meinen alten William und sein Zuggeschirr borgen kann.“
Wissen Sie, William war Mrs. Ross Pferd, ein schon etwas betagter, aber noch kräftiger Noriker.
„Selbstverständlich wunderte ich mich, was er damit wohl anstellen würde, doch wir reden hier von Harry, also sagte ich zu und er holte William und zog mit ihm in den Wald. Ich blieb am Küchenfenster sitzen und spähte in die Nacht hinaus, um zu sehen, was Harry wohl trieb. Nach einer gefühlten Ewigkeit erschien dann Harry im Schein der Lampe, die er mit sich trug, die Axt hatte er geschultert und William trottete neben ihm her und zog – ich dachte ich muss meinen Besen samt Stiel verputzen- einen riesigen Baum! Tjaja, so saß ich da und starrte aus meinem Küchenfenster. Harry winkte mir zu doch mich hatte es erwischt. Ich traute meinen Augen kaum, Sankt Nikolaus höchstpersönlich hätte keinen besseren Baum aussuchen können, Jesus Christus schon gar nicht. Später kam er dann zurück, er führte William in den Stall, schirrte ihn ab und trocknete ihn auch noch. Dann kam er zu mir, klopfte und drückte mir eine Schachtel Pralinen in die Hand. Noch dazu lud er mich ein, Weihnachten mit dir und ihm zu feiern! Ich dachte, mich kitzelt ein blaues Schwein! Harold George Porter geht in den Wald, schlägt einen Baum, zieht ihn nach Hause, borgt sich dazu mein Pferd und läd mich dann auch noch zu sich ein um Weihnachten zu feiern!“ Sie ließ sich in ihrem Sessel zurückfallen und schüttelte den Kopf.
„Tja, und jetzt sitz ich doch tatsächlich hier mit dir und feiere Weihnachten mit Harry.“ Wieder seufzte sie. „Weihnachten im Hause Porter… Dass ich das noch erleben darf! Darauf brauche ich jetzt einen Sherry.“
Ich grinste. Harry war doch tatsächlich durch den Schnee gestapft und hatte mitten in der Nacht einen Baum geholt – und was für einen!
Noch ehe Mrs. Ross ihren Sherry bekam, rief und Harry auch schon in die Küche. Er hatte den Tisch im angrenzenden Speisebereich festlich gedeckt und es gab das beste Weihnachtessen meines Lebens. Es gab Truthahn, er war fast so groß wie ein Kleinkind, eine köstliche Sauce und aller Art Beilagen. Zum Nachtisch gab es Christmas Pudding und dann gingen wir noch gemeinsam in die große Halle zurück um dort noch ein bisschen zu feiern. Endlich bekam Mrs. Ross ihren Sherry und nach ein paar Gläschen schnappte sie sich Harry an der Hand und wirbelte mit ihm durch die Halle. Ich lachte mich halb tot und klatschte vor Begeisterung in die Hände.
Als Harry sich aus Mrs. Ross‘ Griff entwunden hatte, drehte er sich zu mir um. „Liz, du hast wohl etwas vergessen.“ Er grinste und sah dabei recht komisch aus, mit so roten Backen.
Ich schaute ihn an, dann deutete er auf den Baum, unter dem sich Geschenke türmten.
„Die sind nicht nur Dekoration, weißt du?“ Er schien sich sehr über meine Fassungslosigkeit zu freuen.
„Die sind alle…für mich?“
„Nein, Father Christmas hat sie für mich hier gelassen.“ Er grinste, in seinen Augen leuchtete diebische Freude.
„Na los, geh schon und mach sie auf, oder willst du bis nächstes Jahr warten.“
Ich stürmte zum Baum und begann, mich durch den Berg von Geschenken zu arbeiten. Sie lagen seit heute Morgen da, wie konnte ich sie nur vergessen? Ich war auch nicht auf den Gedanken gekommen, dass sie für mich wären, doch auf fast allen Päckchen stand mein Name.
In einem waren selbst gestrickte Socken, von Mrs. Ross. In denen von Harry waren Kleider, Schuhe, Stofftiere und so ziemlich alles, was ich mir gewünscht hatte. Auf einigen aber stand auch ein anderer Name. Auf einem stand Harry’s Name, auch in seinem Päckchen waren Mrs. Ross berühmte Socken.
„Alle Jahre wieder, nicht wahr Samantha?“, fragte Harry grinsend als er seine Socken aus der Verpackung holte.
„Ach weißt du Harry, Socken braucht man immer.“
„Sicher, man kann nie genug von ihnen haben. Von diesen schon gar nicht.“
Er grinste spitzbübisch und zog sein Hosenbein hoch.
„Oh Harold!“ Mrs. Ross schlug die Hände vor der Brust zusammen. „DU trägst sie ja tatsächlich!“
„Aber selbstverständlich, ich habe jedes Paar, dieser Socken aufgehoben seitdem Sie mir das allererste schenkten als ich noch ein Kind war!“
„Mrs, Ross, sehen Sie, da ist auch eins mit ihrem Namen!“, unterbrach ich die beiden und hielt ihr ein Päckchen hin.
Ich schielte hinüber zu Harry. Was er ihr wohl geschenkt hatte?
„Aufmachen!“, forderte ich ungeduldig.
Etwas unschlüssig zog Mrs. Ross die Schleife auf und wickelte das Päckchen aus. Zum Vorschein kam eine Dose voll mit Harry’s hausgemachtem Fudge und ein Hut.
Mrs. Ross rang die Hände. „Oh Harry! Das wäre doch nicht nötig gewesen!“ Ihre Stimme klang brüchig, sie freute sich, schien aber kurz vor dem losheulen zu sein.
„Und ob das nötig war! Ja, bitternötigst sogar! Ich sehe Sie schon seitdem ich Sie kenne mit demselben Hut herumlaufen Samantha!“
Sie umarmte Harry stürmisch und drückte ihn so fest an sich, dass ich fürchtete, sie würde ihn zerquetschen. Doch noch ehe ich fliehen konnte fand auch ich mich in ihrer stählernen Umarmung wieder. Wir saßen noch lange zusammen, lachten tranken Punsch, Tee und Kakao, aßen Kekse und unterhielten uns bestens. Harry erzähle uns, wie er Weihnachten in anderen Ländern gefeiert hatte und Mrs. Ross erzählte von ihrer Tochter und ihrer Nichte. Es war ein wunderschönes Weihnachtsfest, viel schöner als alle, die ich zuvor gefeiert hatte und das obwohl ich mit Leuten feierte, mit denen ich nicht einmal verwandt war. Doch das war egal, es ging doch darum, mit Leuten zu feiern, die man lieb hat und das tat ich auch. Ich feierte nicht wie Ben mit meiner Mom, meinem Dad und dem Rest der Familie. Ich feierte Weihnachten mit Mrs. Ross und Harry. Und wissen Sie was? Dies war meine kleine, etwas absonderliche Familie geworden.
„So, das hätten wir!“ Mrs Ross stemmte die Hände in die Hüften und wischte sich die Stirn. „Nun muss der Kuchen nur noch backen.“ Sie schob die Form in den Ofen.
„Was machen wir solange?“
„Du kannst mir ja helfen, sein Geschenk zu verpacken. Oder du machst dich über die Teigreste in der Schüssel her.“, schlug Mrs. Ross schmunzelnd vor. Ich entschloss mich, letzteres zu tun, schnappte mir die Schüssel und folgte Mrs. Ross ins Wohnzimmer. Nun ja, ihr Wohnzimmer war auch die Küche, aber ich folgte ihr bis zu dem Schaukelstuhl in der anderen Ecke des Raumes, setzte mich dort auf den Boden und sah Mrs. Ross zu, wie sie Harrys Geschenk verpackte.
„Was ist da drin?“, nuschelte ich mit dem Löffel im Mund.
„Dreimal darfst du raten!“, gluckte Mrs. Ross.
„Hm….“ Ich tat, als würde ich scharf nachdenken. „Vielleicht…. Socken!“ Ich schwang den Kuchenteiglöffel wie einen Zauberstab in der Luft.
„Ganz genau!“ Ich kicherte, Mrs. Ross machte uns immer Socken, für Harry gab es immer Ringelsocken, für mich Gepunktete.
Das war das Gute an Mrs. Ross, sie machte sich nicht viel daraus, ob man nun Kuchenteig im Mund hatte, wenn man mit ihr sprach oder nicht und sie war auch nicht so penibel mit dem Essen. Bei Harry hieß es immer „man isst bei Tisch und nirgendwo sonst“. Ausnahmefälle waren da natürlich Picknicks, aber sonst war Harry immer streng mit der Ordnung im Haus. Es war auch immer überall blitzsauber, hier bei Mrs. Ross war es das zwar auch, aber hier und da lagen doch Dinge umher, Zeitungen stapelten sich und es war etwas chaotisch. Mein Zimmer durfte ich halten, wie ich es wollte, ich musste es ja auch selbst putzen.
Es dauerte nicht lange und der Kuchen konnte aus dem Ofen geholt werden. Mrs. Ross stellte ihn auf ein Fensterbrett zum Abkühlen, sorgsam darauf bedacht, dass der Kuchen keinen Regen abbekam. Dann händigte sie mir meine Helferschürze aus und wir bereiteten die Schokoladenglasur vor. Nachdem der Kuchen fertig war, sah aus, als hatte man mich im Ofen gebacken und mit Schokolade überzogen. Zum Glück hatte die Schürze den größten Teil des Massakers abgefangen und so schlüpfte ich in die Regenstiefel und meinen Morgenmantel und machte mich mit dem hübsch verpackten Kuchen auf den Heimweg. Mrs. Ross winkte mir und versprach, am Nachmittag vorbeizuschauen.
Ich kann gerade noch rechtzeitig zu Hause an. Schnell fischte ich nach dem Zwirn, zog und zerrte daran, bis das Türschloss endlich aufsprang. Dann packte so schnell und so leise wie möglich die Gummistiefel an ihren Platz zurück und eilte die Treppe zu meinem Zimmer hoch. Meinen nassen Morgenmantel hing ich über der Badewanne auf, dann kuschelte ich mich noch ins Bett, um mich aufzuwärmen. Um neun Uhr schlich ich dann schließlich die Treppe hinunter, das Päckchen mit dem Kuchen hinter meinem Rücken versteckt.
Wie ein Schatten glitt ich auf die Küche, ich machte keinen Laut… und dann sprang ich in die Küche.
„Moooooooooooooorgen Harry!!!“, trällerte ich. Harry hingegen hätte es fast aus seinem Stuhl katapultiert. Sein Tee schwappte gefährlich nahe an den Rand seiner Tasse, die er beinahe fallen ließ.
„Um Himmels Willen, Lizzy!“, entrüstete sich Harry. „Was um alles in der Welt ist los?! Wie oft habe ich die gesagt, dass im Haus nicht geschrien wird….“
Ich überging seine Meckerein und klatsche ihm dagegen voller Stolz mein Päckchen auf den Tisch.
„Aber, was zum…
„Alles Gute zum Geburtstag, Harry!“ zwitscherte ich munter weiter und weidete mich an seinem irritierten Blick.
„Vielen Dank Lizzy… das…“
„Mach es auf!“, drängte ich.
„Jaja, zuerst bedankt man sich aber gewöhnlich für….“
„Hast du schon, also mach es auf! Mach es auf, mach es auf, mach es auf!“ Ich hüpfte auf und ab.
„Herrgott Lizzy, setz dich hin und ich mache es auf, okay?“
Ich setzte mich auf meinen Stuhl und beobachtete Harry wie er sorgsam das Päckchen öffnete, ohne die Verpackung zu zerfleddern, wie es sich normalerweise gehörte. Aber naja, Harry war schon immer eigen gewesen.
„Das ist ja ein Kuchen! Wie schön! Vielen Dank Liz!“
„Den hab ich selber gemacht! Aber nicht hier, keine Sorge.“, erklärte ich voller Stolz.
„Ich weiß.“ Harry grinste. „Du hast ihn bei Mrs. Ross gebacken, nicht wahr?“
„Woher willst du das wissen?!“, empörte ich mich.
„Nun ja, meine Regenstiefel unternehmen für gewöhnlich keine nächtlichen Wanderungen und hinterlassen dann Pfützen unter den Türen des Schuhschranks in der Eingangshalle auf denen man fast ausrutscht wenn man zu seinem Morgenspaziergang aufbricht. Zudem ziehen sich keine nassen Spuren quer durch meine Halle, über die Treppe bis hin in den oberen Stock, wenn ich mich nicht täusche.“ Er trank einen Schluck Tee und grinste mich über den Rand seiner Tasse hinweg schelmisch an. „Du musst noch viel lernen, meine Liebe.“
Ich war enttäuscht und überrascht. Mein Plan war aufgeflogen…
„Aber ich musste doch zu Mrs. Ross gehen, hier darf ich ja nichts anfassen!“ Ich verschränkte die Arme trotzig vor der Brust. „Und es sollte eine Überraschung werden!“
„Oh, das war es auch. Du ahnst nicht, wie überrascht ich war, als ich feststellen musste, dass du an meinen Geburtstag gedacht hast und dir auch noch einen kleinen Masterplan überlegt hast um mir ein Geschenk zu beschaffen.“ Er schmunzelte.
„Das heißt…Du freust dich?“
„Aber natürlich freue ich mich!“
Mir fiel ein Stein vom Herzen. „Super! Dann probier doch mal den Kuchen!“
„Wie, ich soll ihn… essen?“
„Aber klar! Zum ansehen ist er ja wohl wirklich nicht da.“
„Lizzy, du weißt doch….“ Verdammt, Harry aß nichts, was andere kochten, aus welchem Grund auch immer.
Ich schniefte. Wie konnte ich das vergessen! „Aber Harry, er ist doch bloß von MIR!“
Harry seufzte und griff schließlich zum Messer und schnitt sich ein Stück ab. Nachdem er auch mir ein Stück aufgelegt hatte und ich schon dabei war, meine Portion zu vernichten, griff auch er zur Gabel und aß seinen Kuchen. Ich war überglücklich.
„Schmeckt zwar nicht so gut wie deiner, aber ist auch okay, oder?“, fragte ich hoffnungsvoll.
„Ich finde er schmeckt ausgezeichnet. Mit Liebe gemacht.“ Er zwinkerte mir zu.
Ich strahlte. „Ja… Mit viel Liebe und Brechmittel!“
Harry stockte einen Moment, dann brachen wir beide in schallendes Gelächter aus.
Wie versprochen kam Mrs. Ross am Nachmittag vorbei und wieder blieb sie bis zum späten Abend. Harry kochte uns ein wunderbares Abendessen und wir vernichteten den Rest des Kuchens.
Dann war es an der Zeit, sich von Mrs. Ross zu verabschieden und ich brachte sie zur Tür.
„Mrs. Ross! Warten Sie!“, rief ich ihr hinterher und hielt sie am Ärmel fest.
„Was ist denn los, Liebes?“
„Ich wollte mich nur bei Ihnen bedanken…für den Kuchen und die Hilfe und…Sie wissen schon. Danke.“ Ich umarmte sie und auch sie umarmte mich.
„Ach Kindchen, keine Ursache… Aber tu mir bitte einen Gefallen, ja?“
„Was immer Sie wollen!“
„Nenn mich einfach Tante Sam, das macht meine Nichte auch so. Ansonsten komme ich mir so alt vor und du bist ja auch schon sowas wie meine Nichte, so in der Art, du weißt schon.“ Sie lächelte. Mrs Ross hatte mir von ihrer Nichte erzählt. Sie lebte mit ihrer Mutter, Mrs. Ross‘ Schwester zusammen weit fort, am anderen Ende Englands und Mrs. Ross sah ihre Nichte nur sehr, sehr selten.
Sie hatte schon oft gesagt, Ben und ich seien wie die Enkel, die sie nicht hat. Oder wie Hofhunde, je nachdem , wie wir uns gerade benommen. Ich blickte ihr noch nach, wie sie ins Abendrot ging, während ich Harry von drinnen mit dem Geschirr klappern hörte. Man konnte über Harold George Porter sagen, was man wollte, doch wenn es um das Thema Kochen und Backen ging, konnte jede Mum einpacken. So mühte ich mich vollgefressen in die Küche, um ihm beim abtrocknen zu helfen.
-Ängste meiner Kindheit-
Es war an eine grauenvolle Nacht. Der Wind rüttelte und zerrte an den Fensterläden, riss Äste aus und schleuderte sie umher während der Regen gegen das Haus peitschte. Draußen tobte ein Sturm von apokalyptischen Ausmaßen. Ich tat mein bestes, mich in meinem Zimmer unter der Bettdecke zu verstecken, doch ich fühlte mich nicht sicher. Es hörte sich so an, als könnte das Haus jeden Moment abheben und durch die Lüfte fliegen und in jeder Ecke und Nische meines Zimmers schien ein schlimmeres, gefräßigeres Monster zu lauern. Selbst mein weißes Dandy-Kaninchen spendete mir keinen Trost. Meine einzige Hoffnung war die Lampe an der Decke, die schon die ganze Nacht brannte. Donner grollte ohrenbetäubend, ein Blitz durchzuckte die Schwärze der Nacht, es wurde kurz taghell und dann, ganz plötzlich ertönte ein weiteres, markerschütterndes Donnergrollen und ein knirschender, splitternder Laut. Dann wurde es mit einem mal stock finster, das Licht an der Decke war erloschen. Ich zog mir die Bettdecke bis zu den Ohren. Wenn es etwas gab, vor dem ich mich als Kind gefürchtet hatte, dann war es Dunkelheit. Erneut grollte der Donner, ein Blitz erleuchtete den Gewitterhimmel und ließ Schatten an meinen Wänden zum Heulen des Windes tanzen. Es knackte und knirschte und es war dunkel, stockdunkel. Das war zu viel. Ich hechtete kreischend aus dem Bett und rannte aus dem Zimmer. „HARRYYYYYYYYYYYYYYYYYYYYY!“ Alle seine Regeln missachtend rannte ich kreischend die Treppe hinunter, auf die kleine Insel aus Licht zu, die sich auf mich zu bewegte.
„Um Himmels Willen Lizzy! Was ist denn passier?! Geht es dir gut?! Beruhige dich erst einmal, es ist doch nur der Strom ausgefallen…“
Ich schlang die Arme um Harry, der mit einer komischen Lampe in der Hand mitten im Flur stand. In diesem Moment kümmerte es mich nicht, ob er meckern würde, er konnte meckern so viel er nur wollte. Er war mein Held, mein strahlender Ritter, meine Insel aus Licht inmitten der Dunkelheit.
„Was ist passiert?“ fragte ich ängstlich.
„Vermutlich wurde ein Baum entwurzelt und ist auf eine Leitung gekippt. Wir werden die Nacht wohl ohne Strom überstehen müssen.“
Wieder donnerte es. ich zuckte zusammen. Eine Nacht ohne Strom? Nie im Leben! Ich würde vor Angst sterben!
„Harry, ich hab Angst!“
„Ach du meine Güte… Lizzy es ist doch nur ein Sturm.“ Er strich mir über den Kopf.
„Ja aber es ist gruselig, laut und dunkel!“
„Ja und?“
„Aber Harry ich FÜRCHTE mich im Dunkeln!“ Ich sah in fassungslos an. Wie konnte er nur so ruhig da stehen wenn draußen fast die Welt unterging?
„Nun gut… Wir können im Keller Schutz suchen, dort ist es bei einem solchen Sturm am sichersten…“ Im KELLER?! Ich starrte ihn an.
„Oh Harry, bitte nicht! Da ist es nur noch finsterer! Gibt es denn keinen schönen, Ort, an dem es sicher ist?“
Harry schien kurz zu überlegen. In diesem Haus war es eigentlich überall sicher, immerhin stand es hier schon seit Ewigkeiten und war zudem auch noch aus Stein. Harry schien kurz zu überlegen, dann nahm er mich an der Hand. „Na dann komm mal mit.“ Er hob die komische Lampe hoch und leuchtete mir den Weg.
„Harry, was ist das?“
„Das ist eine alte Laterne.“
„Eine Laterne?“
„Ja, sie ist schon sehr alt und funktioniert ohne Strom. So, da wären wir . Vorsicht..“
Harry stellte die Laterne ab und öffnete eine Tür. Erst jetzt wurde mir bewusst, wo wir uns befanden. Vor uns lag der Raum, von dem aus man in den Dachboden kam, das Licht der Laterne tauschte die Wendeltreppe, die dort hinauf führte in einen gespenstischen Schein. Ich folgte Harry und im Schimmer der Laterne steigen wir die Stufen empor und Harry öffnete die kleine Luke zur Welt des Dachbodens.
Ich hatte keine Ahnung, was Harry vor hatte, ich wusste nur, dass es hier oben, anders als sonst, nicht tröstlich, sonder eher noch viel gruseliger war als unten. Hinter jeder Kiste schien ein Monster zu hocken, in jedem Schrank könnte sich ein Mörder verstecken und wer konnte wissen, was in all den Nischen, Ecken und im Schatten alles hauste? Harry aber schien keine Angst zu haben. Wenn ich es mir recht überlegte, so hatte Harry vor gar nichts Angst. Sollte er vor etwas Angst haben, so wusste ich es nicht, dennoch konnte ich mir nicht vorstellen, dass er vor etwas Angst hatte. Während ich mich im Lichtkegel der Laterne versteckte, breitete Harry riesige Planen am Boden aus. Er beschwerte sie an den Enden und band in der Mitte ein Seil fest, welches er über einen der Deckenbalken war, bevor er es wiederum wiederum an die oberste Kiste eines der Zahlreichen Kistenstapel band. Dann schubste er die Kiste hinunter. Es gab einen lauten Knall und eine Art Zelt hob sich wie von Zauberhand aus dem staubigen Boden. In dieses Zelt legte Harry Kissen und Decken, in der Mitte stellte er eine Lampe auf, eine, die noch mit Petroleum brannte. Dann hob er den, aus einer Plane bestehenden Vorhang an und bat mich herein. Verblüfft stellte ich fest, dass man dort aufrecht stehen konnte, selbst Harry musste sich nicht bücken.
Ich blickte mich staunend um. Es schien, als hätte Harry ein kleines, unabhängiges Universum inmitten des Dachbodenreichs geschaffen. Die Wände des Zeltes schimmerten goldig warm im Licht der Petroleumlampe, der mit Decken und Kissen bedeckte Boden vermittelte den Eindruck eines Riesenbettes. „Ganz hübsch, nicht wahr?“, meinte Harry. Er hatte die Hände in die Hüften gestemmt und blickte hoch zur spitzen Decke des Zeltes. Ich nickte zustimmend, es war tatsächlich gemütlich.
„Hm, hm hm… Irgendetwas fehlt noch… Achja!“ Er fasste sich an die Stirn.
„Was gibt es bei einem Weltuntergangswetter besseres als heißen Tee?“
Da konnte ich mir hundert bessere Sachen einfallen lassen, zum Beispiel hier oben in Sicherheit bleiben anstatt in die finstere Küche zu gehen und Tee zu kochen. Wie denn auch, so ohne Strom?
„Harry, ich will da nicht runter.“
„Musst du auch nicht, du kannst hier warten.“
Hier warten? Alleine? Gaaaanz sicher, natürlich. Ich blickte ihn fassungslos an und drückte mein weißes Anzugkaninchen an mich.
Er seufzte. „Also gut Lizzy… Was ist es, das dir solche Angst macht?“
„Ich… ich weiß es nicht. Ich hab eben Angst im Dunkeln.“
„Soso… Weißt du, in der Dunkelheit spielt einem die Fantasie meistens Streiche. Man sieht nichts, darum sieht man alles, was man glaubt zu sehen. Man sieht, was man sich vorstellt. Also, machen wir daraus ein Spiel, hm?“
Ein Spiel in der Dunkelheit, während um uns ein Sturm die Welt in Fetzen reißt? Warum nicht…
„Okay…“ Ich beschloss, Harry einfach zu vertrauen, er wusste schon, was er tat. Er wusste es immer.
„Wunderbar. Wovor fürchtest du dich am meisten? Was siehst du am deutlichsten in der Dunkelheit?“
„Monster, ganz, ganz viele unterschiedliche.“
„Monster…soso. Nun gut, du erinnerst dich doch sicher an unsere Geschichte?“
„Aber sicher!“
„Sehr schön. Denk einfach daran, du bist Liz Löwenherz. Stell dir die Monster einfach noch deutlicher vor und wenn du sie siehst, erschlage sie mit deinem…-„ erblickte sich suchend um- „magischen Schwert!“ Er zog einen alten Schirm unter der Plane hervor und hielt ihn mir hin.
Ich griff zögernd danach und fühlte mich doch tatsächlich irgendwie stärker.
„Dann bist du der König! Aber du brauchst auch eine Waffe…“ Ich griff unter der Plane hindurch und wühlte nach etwas, bis ich etwas langes, hartes erwischte und es hereinzog. Es handelte sich um ein Büschel aus Federn, das an einem langen Holzstiel befestigt war.
„Äh, das ist dein… äh, verzauberter…äh…“
„Straußenfederstaubwedel.“
„Ah… Okay, das ist dein allmächtiger Speer der Macht!“ Das hörte sich doch gleich viel besser an als Staubwedel.
Harry hob die Stimme. „Nun denn, Liz Löwenherz, brechen wir auf, um uns durch die monsterverseuchten Tiefen des Unterlandes zu schlagen, um an unseren Schlummertrunk und das heiß begehrte, süße Elexir aus Käfergold zu kommen?“
Ich kicherte. „Käfergold?“
„Kakaobohnen“, erklärte Harry augenzwinkernd.
„Kakao? Auf auf, worauf warten wir noch?!“
„Voran!“ Mit diesen Worten hob Harry seinen Straußenfederstaubwedel und schritt aus dem Zelt. Ich folgte ihm kichernd. Doch an der Tür, die aus dem Wendeltreppenzimmer führte, wurden wir ernst.
„Nun kommen wir in monsterverseuchtes Gebiet! An die Waffen!“ Ich hob meinen Schirm. Mir wurde etwas mulmig zumute, als wir aus dem Zimmer traten. Ich hatte meinen Schirm gezückt und hielt die Petroleumlampe in der Hand, Harry ging vor mir, seinen Riesenstaubwedel kampfbereit und die Laterne vor sich her schwenkend. Wir mussten schon ein recht fragwürdiges Bild abgegeben haben, aber ich hatte nicht mehr so viel Angst wie zuvor. Meine Angst schien vergleichsweise angenehmen Nervenkitzel gewichen zu sein und es war nur noch ein bisschen gruselig. Als wir in der Küche ankamen, gab ich Harry Deckung, während er allerhand Zeug in einen Picknickkorb packte. Dann schlichen wir, Rücken an Rücken, wieder die Treppe hinauf, ins schützende Zelt im Dachboden.
Dort angekommen, stellte ich die Lampe wieder in die Mitte und machte einen kleinen Fleck im Boden frei, damit Harry den Korb leeren konnte. Er stellte ein Tablett mit dem Teeservice und meinem Kakaoservie ab, baute dann eine seltsame Vorrichtung auf und Stellte eine Teekanne darauf.
„Ein alter, tragbarer Kocher. Sowas haben dein Dad und ich auch auf unseren Reisen benutzt, als wir keinen Herd hatten.“, erklärte Harry auf meinen neugierigen Blick hin. Tatsächlich zischte ein kleines Flämmchen aus der Öffnung und brachte das Wasser im Teekessel zum Kochen. Wenig später saßen wir bei heißem Kakao, Keksen und Earl Grey in unserem Zelt, mitten im Dachboden. Draußen tobte zwar immer noch der Sturm, doch nun machte es mir nichts aus, hier drinnen merkte man es kaum. Zusätzlich erzählte mir Harry Geschichten und zeigte mir, wie man mit seinen Händen Schattentiere machen konnte. Der Sturm aber war noch in vollem Gange, als Harry es für angemessen hielt, mich in mein provisorisches Bett im Refugium zu stecken. Es war mir unmöglich zu schlafen, egal was Harry auch tat, um es mir gemütlicher zu machen. Letzen Endes erhob ich mich aus meiner Kissenburg und stellte mich demonstrativ zu Harry, der mit einem Buch in der Hand auf einem großen Kissen saß. Es sah anders aus als die anderen und es roch etwas merkwürdig. „Harry?“
„Hmhm.“
„Was ist das für ein Kissen?“
„Ein Sitzkissen.“
„Es rieht komisch.“ Ich rümpfte demonstrativ die Nase und Harry blickte von seinem Buch auf.
„Nunja, es rieht eben nach dem, womit wir es gefüllt haben.“
„Womit habt ihr es denn gefüllt?“ Ich war neugierig geworden. „Und wer ist wir?“
„Wir haben es mit allem Möglichen gefüllt, was wir eben gefunden haben.“ Er zuckte die Schultern. „Dein Vater, einige Mitreisende und ich.“. fügte er hinzu.
„Echt? Wo wart ihr da?“
Nun sah Harry ein, dass es kein Entrinnen mehr gab, es war Zeit für eine weitere Geschichte zu einem Artefakt aus einem weit entfernten Land. Seufzend legte er das Buch beiseite.
„Damals waren wir in Indien. Indien musst du wissen….“ Zuerst erzählte er mir allerhand „interessante“ Dinge über das Land, dessen Lage und sowas… So begann er seine Erzählungen immer.
„Wie dem auch sei, diese Kissen haben wir mit unseren Mitreisenden gefertigt, um eine adäquate Sitzunterlage für jede Situation zu haben. Weißt du, wir schlugen uns durchs Unterholz oder den „Großstadtdschungel“. Herrje Lizzy, diese Städte hättest du sehen sollen…selten sah ich so viele Leute dicht an dicht in noch viel dichter aneinander gedrängten, kleinen Behausungen… Nunja, wie gesagt saßen wir immer auf diesen Kissen. Beim Essen, oder beim reiten auf einem indischen, beziehungsweise Asiatischen Elefanten. Wir haben sie mit einer Art Baumwolle, getrockneten Gräsern, Wolle und Dergleichen gefüllt. Auch ein paar Kräuter sind darin und…“
„Du bist auf Elefanten geritten?!“
„Natürlich.“, erwiderte Harry, als sei es das normalste Fortbewegungsmittel der Welt. „Ich habe davon auch Bilder… warte…“
Er holte ein Album aus einer der unzähligen Kisten, währenddessen wartete ich in unserem Schutzzelt. Es war schon unglaublich, Harry war wie ein wandelnder Globus. Überraschend schnell kam er auch mit dem passendem Album zurück, mittlerweile schien er genau zu wissen, was wo war. So blätterten wir durch das Fotoalbum und Harry erzählte mir, was ich wissen wollte. Müde wurde ich aber immer noch nicht, ganz im Gegenteil. Als der Sturm noch heftiger wurde, fühlte ich mich sogar im Zelt hier im Dachbodenreich nichtmehr recht wohl. „Harry was machen wir denn jetzt? Es wird immer schlimmer und ich kann bei während dem Weltuntergang nicht schlafen!“
Harry stütze das Kinn auf seine Handfläche und schien zu überlegen. Etwas viel irgendwo um und ratterte und klirrte bedrohlich. Diese Geräusche! „Das hört sich furchtbar an Harry!“
„Mhm… Als würden Skelette tanzen.“
„Harry!“ Das half nicht wirklich.
„Oh, tut mir leid, Lizzy… Warte einen Augenblick! Mir ist so eben etwas eingefallen, wo hab ich es nur…“
Mit diesen Worten ließ Harry mich völlig allein im Dachbodenzelt zurück.
„Harry!“ quiekte ich empört und ängstlich. Von draußen her hallten die Laute des Sturms, hier drinnen ertönte nun Rascheln, das Tappen von Schritten, Schleifen und wieder Rascheln. Harry war in den Tiefen des Dachbodens verschwunden. Dann endlich erklang seine Stimme. „Da haben wir es ja! Wunderbar…“
Es hörte sich an, als würde er etwas schweres herbei schleifen. Vielleicht hatte er tatsächlich ein tanzendes Skelett ausgegraben?! Bei Harry wusste man nie.
Doch dann wurde der Vorhand beiseite gerissen und Harry trat ein, ein wunderliches Gerät mit einer Art überdimensionalen Trichter im Schlepptau. Er kurbelte daran und plötzlich ertönte aus dem Trichterding Musik. Ich starrte es an, fasziniert und fassungslos.
„Harry, ist das eine Art…Radio?“ Wir hatten Radios, keine Frage, doch dieses Ding war irgendwie anders. Es war kein Kasten, verstehen Sie, was ich meinte?
„Das, meine leibe Lizzy ist ein Grammofon. Es spielt Musik, ähnlich wie ein Radio, nur die Funktionsweise ist.. ach, nicht so wichtig.“ Er hatte meinen Blick bemerkt.
„Was sollen wir jetzt tun?“
„Was wohl? Wir tanzen durch den Sturm!“ Mit diesen Worten griff er meine Hände und wir wirbelten zum Takt der Melodie über die Kissen. Harry zeigte mir einige klassische Tänze, doch sie waren für mich eher schwer zu lernen. (Und nicht unbedingt zeitgenössisch, zumindest meiner Meinung nach.)
„Harry, kannst du Charleston tanzen?“
„Wie bitte? Selbstverständlich…. Na komm!“
Harry fummelte am Grammofon herum und schon ertönte eher tanztaugliche Musik. Ich traute meinen Augen kaum, Harry tanze tatsächlich Charleston und Shimmy! Ich tanze mit, doch als wir beide uns gegenseitig Tanzen sahen, kugelten wir uns bald vor Lachen. Dann endlich, brach ich, müde und mit Lach-Bauchweh auf meiner Kissenburg zusammen und Harry deckte mich zu. Die letzen Klänge der Melodie verloren sich in der unendlichen Welt des Dachbodens. Dann war es eine Weile lang still.
„Harry?“
„Mhm.“
„Ich kann nicht schlafen, obwohl ich müde bin.“
„Keine Angst, ich wache über dich, während du schläfst.“ Er hob seinen Staubwedel und schwenkte ihn mit einer drohenden Geste. Ich musste kichern.
Der Sturm war im Moment nicht mehr meine größte Angst. Stürme oder die Dunkelheit waren auch nicht die größten Ängste meiner Kindheit, nein. Obwohl sie mit Spinnen und Arztbesuchen zu den Horrorvorstellungen meines damaligen Daseins zählten.
Die größte Angst meiner Kindheit war das erwachsenwerden.
Ich beobachtete Harry, der auf seinem indischen Kissen saß, den Staubwedel neben sich und tatsächlich so aussah, wie ein stiller Wächter. Er würde immer auf mich aufpassen, doch wenn ich einmal groß war, dann würde es niemals mehr so sein wie jetzt. Harry würde nicht mit mir in einem Zelt im Dachbodenreich sitzen und durch Stürme tanzen. Ich schluckte.
„Harry?“, flüsterte ich.
„Hmhm.“
„Ich will niemals groß werden.“
„So?“
„Ja, genau so. Wenn man groß ist, ist alles schwerer, man muss auf so viel aufpassen, man muss Arbeiten und man hat Verantwortung und …du weißt schon.“
„Verstehe.“ Er schien mich tatsächlich zu verstehen, Harry verstand mich immer.
„Es stimmt zwar, erwachsen werden birgt gewisse Herausforderungen und man weiß im Leben nie, was auf einen zukommt, doch das ist genau das, was den Reiz an der ganzen Sache ausmacht.“
„Schon…aber wenn ich groß bin, wird alles anders. Harry, ich will aber nicht, dass alles anders wird!“
„Ah, verstehe…. Nun, es stimmt schon, es wird sich so einiges ändern, doch das hat die Welt so an sich, sie verändert sich, ob es uns passt oder nicht, darauf haben wir wenig Einfluss. Jedoch sind wir es, die wir unser Leben ändern können. Wir allein entscheiden bis zu einem gewissen Punkt, was sich ändert. Glaubst du, ich wäre in all diese Länder gereist, wenn ich es nicht so gewollt hätte? Lizzy, du musst dich nicht fürchten, im Leben ändert sich so einiges, jedoch gibt es Dinge, die immer bestehen bleiben.“ Er blickte mich mit seinen regengrauen Augen an.
„Ich werde immer da sein Lizzy, egal was sich ändert, ich bin nun mal ich und daran lässt sich nichts ändern.“ Er zwinkerte und ich musste lächeln. Ich wusste, dass er Recht hat, Harry hatte immer Recht.
„Fest versprochen?“
„Ganz fest.“
„Hoch und heilig und überhaupt?“
„Überhaupt hochheilig und ganz fest Versprochen.“
„Ehrlich?“
„Ehrlich.“
„Wirklich ehrlich-“
„Um Himmels Willen Liz! Sagtest du nicht, du wärst müde!“ Harry rang die Hände.
„Gute Nacht Harry.“
„Gute Nacht Lizzy. Ich werde über dich wachen.“
„Versprochen?“
„Versprochen.“
Danach wurde es still. Jedoch nicht, weil das Unwetter aufgehört hatte, sondern weil ich endlich eingeschlafen war. Ein letztes Mal noch linste ich zu Harry hinüber, der wieder auf seinem indischen Kissen saß und über mich wachte, wie er es immer getan hatte. Wie versprochen.
Selbst am nächsten Morgen nach dem Sturm gab es keinen Strom. Harry hatte das Frühstück am alten Holzherd in der Ecke der Küche zubereitet, doch es schmeckte köstlich wie immer. Goldenes Sonnenlicht fiel durch das Fenster über der Kochnische herein und tauchte den Frühstückstisch in einen märchenhaften Schein. Sie ahnen nicht, wie schön es war die Sonne zu sehen, zumal ich in den Nächten davor noch dachte, dass ich nie wieder etwas anderes als das Innere des Zeltes der Dachbodenwelt sehen würde. Umso mehr hatte es mich gefreut, als die ersten Sonnenstrahlen durch das große, runde Fenster gefallen waren und das Zelt erhellt hatten. Harry hingegen wirkte nachdenklich wie er so zum Fenster hinaus starrte. Er aß auch nicht wirklich etwas, knabberte nur an einem Cracker, während er seinen Tee trank. Recht schnell leerte er seine Tasse und erhob sich dann, um das Geschirr abzuwaschen. Danach ging er zum Flurschrank und holte seine Gummistiefel hervor, schlüpfte hinein und machte Anstalten, das Haus zu verlassen. Ich hatte zeitweilen überlegt, mich noch einmal schlafen zu legen, immerhin war es erst sieben Uhr. Doch als Harry zur Haustür ging folgte ich ihm. „Wo gehst du hin?“
„Hinaus. Ich muss nachsehen, was das Unwetter angerichtet hat.“
Ich nickte und beschloss, mich anzuziehen und ihm zu folgen.
Wenig später war ich auch schon auf der Suche nach Harry. Ich streifte durch den überraschend gut aussehenden Garten. Gut, einige der Büsche und Bäume sahen aus wie eine Puppe, der man die Haare mit einer Drahtbürste gekämmt hatte und hier und da lagen auch ein paar Blumen herum, die der Wind aus ihren Beeten gerissen hatte. Das Gras war gesäumt von Blättern und unzählige bunte Blütenblätter funkelten im regennassen wie Juwelen. Ich ging zu der Senke, wo der große Baum stand unter dem Elizabeth war. Neugierig blickte ich hinunter zu den beiden kleinen Säulen, doch dieser Ort schien vom Sturm unberührt geblieben zu sein. Die Vasen standen noch ordentlich auf ihren steinernen Säulen und kein einziges Blatt lag auf dem Stein. Ein Sonnenstrahl fiel genau auf diesen Fleck und ließ ihn leuchten wie den schönsten Fleck der Welt. Offenbar war Harry schon hier gewesen und hatte aufgeräumt. Überall raschelte und tropfte es, Tau und Regen bedeckten das Gras wie ein Teppich aus Diamanten. Es war schon irgendwie seltsam, wie so etwas Schreckliches so etwas Schönes hinterlassen konnte. In Gedanken verloren stand ich da und starrte mir die Augen aus dem Kopf.
RUMMS. Plötzlich gab es einen ohrenbetäubenden Knall. Erschrocken drehte ich mich um und versuchte auszumachen, woher dieses Geräusch kam. Schon erblickte ich Harry, der das große bronzene Becken umgekippt hatte, aus dem nun Wasser lief und einen kleinen See auf der Wiese unter der Veranda bildete. Erleichtert atmete ich auf und ging zu ihm. „Alles okay?“, fragte ich während er das Becken wieder aufstellte.
„Mehr oder weniger. Die Balkonblumen und die Beete sind alle etwas lädiert und die Heckenrosen haben auch schon bessere Zeiten gesehen. Bis auf ein paar umgestürzte Dinge und herumliegende Äste ist aber alles wie sonst auch.“
„Gut.“ Ich stütze die Hände in die Hüften, wie auch Harry es getan hatte.
„Was machen wir jetzt?“ Ich musterte ihn während er in die Ferne blickte, er kaute auf seiner Unterlippe, wie immer wenn er nachdachte.
„Ich werde zu Mrs. Ross gehen und nachsehen, ob alles in Ordnung ist.“
„Ich komme mit!“
Einen Moment lang sah Harry so aus, als wollte er etwas dagegen sagen, doch dann nickte er.
Gemeinsam umrundeten wir das Haus und gingen die lange, gepflasterte Einfahr hinunter.
„Die Stromleitung wurde gekappt, sieh nur.“ Harry deutete auf einen Pfeiler in der Ferne. Sonst hing dort immer eine Leitung, nun ragte aber nur der Pfeiler in den strahlend blauen Himmel.
„Ein Baum muss umgekippt sein und sie mitgerissen haben.“ Erklärte Harry ehe ich fragen konnte.
„Das kam schon des Öfteren vor, weißt du.“
Hier gab es immer solche Stürme? Na großartig.
„Sieh dir nur die Pfützen an Lizzy, wie silberne Spiegel von einer anderen Welt.“ Harry deutete auf die Straße, die zu Tante Sam’s Haus führte. Sie war tatsächlich übersät von silbernen Flecken in denen sich der Himmel, die Bäume und alles um einen Herum spiegelte. Ich holte Schwung und sprang in eine besonders große Pfütze die, wie sich herausstellte knöcheltief war. Das Wasser spritze in alle Richtungen als hätte eine Bombe eingeschlagen.
„Elizabeth! Man springt in keine Pfützen von denen man nicht weiß, wie tief sie sind! Man weiß nie, was da drin lauert. Geschweige denn, ob sie einen nicht verschlucken!“ Empört hob Harry den Zeigefinger. „Wehe, ich sehe dich noch einmal wie du so etwas machst!“
Grummelig ging ich nun hinter Harry her. Doch dann fiel mein Blick auf eine besonders schöne, große Pfütze. Harry umrundete sie, doch ich konnte nicht anders. Ich nahm Anlauf und landete mitten drin. Dieses Mal spritze das Wasser viel weiter und viel höher. Zu weit. Es erwischte Harry direkt von hinten, mitten ins Kreuz. Ich sog scharf die Luft ein, Harry war stehen geblieben, sein Gehrock tropfte und triefte. „Elizabeth…“ Seine Stimme hatte diesen leisen Tonfall, von dem ich wusste, dass er nichts Gutes hieß.
Ich konnte mich nicht entscheiden, ob ich vor Angst sterben oder kichern sollte.
„Tut, tut mir leid Harry….“ stammelte ich.
Harry drehte sich langsam um.
Seine Haare hingen ihm in die Stirn, auch sie waren nass. Nun war es vorbei mit Contenance, ich brach in schallendes Gelächter aus.
„Na warte!“, rief Harry und machte Anstalten, mich zu packen.
Quiekend und kichernd lief ich davon und Harry rannte mir hinterher. Nun nahm niemand von uns mehr Rücksicht auf die Pfützen und so kamen wir schließlich klitschnass und völlig außer Puste bei Tante Sam an.
Harry öffnete das Gartentor und begab sich zur Haustür um zu Klingeln. Doch Tante Sam öffnete nicht. Stirnrunzelnd schritt Harry durch den Garten um sie zu suchen. ich folgte ihm. Hier sah es nicht ganz zu rosig aus wie bei Harry. Überall lagen zerflädderte Salatblätter und anderes Grünzeug herum. Die Gemüsebeete sahen ebenfalls stark mitgenommen aus. Langsam bekam ich es mit der Angst zu tun, was war, wenn Tante Sam etwas zugestoßen war? Ich schluckte. Ein Blumentrog war umgekippt, ich drehte ihn um und erschrak fürchterlich, als plötzlich ein Huhn darunter hervor flatterte. „Was um alles in der Welt…“ murmelte Harry. Wir waren hinter dem Haus angekommen, wo der Hühnerstall, oder besser gesagt das, was von ihm übrig war. William’s Stall lag daneben, doch erschien bis auf weiteres in Ordnung zu sein. Hier fanden wir auch Tante Sam, die hin und her jagte und versuchte, ihre Hühner einzufangen.
„Aber nein Trudie, nicht diese Richtung! Komm sofort her Abigail! Putputputputput….” Ich kicherte. Irgendwie sah sie schon lustig aus.
„Guten Morgen Samantha, mir scheint, als würdest du Hilfe brauchen.“
Sie fuhr hoch und ließ den Korb mit den drei gesammelten Hühnern fallen. Empört gackernd stoben sie auseinander und flüchteten.
„Oh Harry! Liz! Wie schön euch zu sehen! Ihr seid wohlauf!“
„Hallo Tante Sam!“ Ich winkte.
„Äh ja, ja ich könnte wirklich Hilfe gebrauchen…“ Sie blickte sich hilflos um. „Die Hühner…“ Sie zuckte sie Schultern. „Der Stall ist, naja der Apfelbaum ist umgekippt… und…“ Sie rang die Hände, den Tränen nahe deutete sie auf den Schaden. „Wie soll ich das bitte hinbekommen? Himmelherrgott…“
„Harry kriegt das hin! Nicht wahr Harry?“ Ich blickte Harry an und er nickte.
„Gut möglich… Samantha, ich bräuchte Hammer, Nägel, eine Säge und hast du noch irgendwo Bretter herumliegen? Ach und hol William aus dem Stall…“
Es war gut, das Harry die Sache in die Hand genommen hatte, Tante Sam war in etwa so aufgelöst wie ihre Hühnerschaar. „Ich geh und hol Ben, er kann auch helfen.“, bot ich rasch an, bevor ich auch noch zum schleppen verdonnert werden konnte.
Mit diesen Worten rannte ich auch schon durch das silberne Pfützenmeer, hinter mir hörte ich, wie Harry Tante Sam vorschlug, sich doch vorerst eine Tasse Tee und etwas Ruhe zu gönnen. Doch bald schon war das Rauschen des Windes, der mich zu tragen schien und das Pochen meines Herzens das einzige das ich neben dem Donnern meiner Schritte hören konnte. Meine Gedanken aber waren meinem Körper schon weit voraus, sie drehten sich rund um Ben. Ob ihm etwas geschehen war? Wie hatte er den Sturm erlebt, war etwas bei ihnen im Haus kaputt gegangen? Noch ehe ich mir schlimme Dinge ausmalen konnte erhob sich auch schon die Silhouette von Ben’s Haus aus dem matschigen Grund. Ich stand schon vor seiner Haustür und klopfte, als mir auffiel, dass etwas nicht stimmte. Rund um das kleine Einfamilienhaus aus roten Backsteinen, in dem Ben mit seiner Mutter und seinem Dad wohnte ragen für gewöhnlich Halme von irgendeinem Korn, Mais oder anderem Getreide in die Höhe, doch als ich nun den Blick über die Gegend schweifen lies, sah ich nichts dergleichen. Alle Halme und Pflanzen lagen an des Boden des Ackers gepresst wie die kläglichen Überreste einer geschlagenen Armee. Ich schluckte. Ben’s Dad hatte sich darüber sicher nicht gefreut, er freute sich so ziemlich über gar nichts und war so gut wie immer sauer auf die Welt und jeden der sie bevölkerte. Ich biss mir auf die Unterlippe. Sollte ich klingeln? Nein, auf keinen Fall. Ben hatte mir bei meinem ersten Besuch gesagt, dass ich bloß niemals klingeln sollte, denn so könnte ich seinen Dad aufwecken. So entschied ich mich, zu klopfen. Angespannt wartete ich und lauschte. Nichts tat sich. Ich atmete tief durch und klopfte erneut, dieses Mal etwas energischer. Immer noch nichts. Resigniert seufzte ich und hob ein letztes Mal die Hand. Ich klopfte so gegen die Tür, wie Harry es immer tat. Ich ballte die Hand zu einer lockeren Faust und ließ den Zeigefinger dabei etwas abstehen, dann pochte ich mit dessen Fingerknöchel drei Mal bestimmt gegen das Holz der Tür und lauschte. Tatsächlich, im Flur erklangen trippelnde Schritte und die Tür wurde einen Spalt breit geöffnet. Durch diesen Spalt blickten mich zwei funkelnd grüne Augen forschend an. „Ja?“ Kam es flüsternd hinter der Tür hervor.
„Hey Ben!“
„Lizzy?! Oh, du bist es.“ Die Erleichterung in Bens Stimme war ungewohnt. Wen hatte er erwartet, den Schwarzen Mann mit seinem Kindersack? Er hängte die Kette, die an der Innenseite der Tür befestigt war aus und öffnete die Tür vollends.
„Hast du Lust mit zu kommen und mir zu helfen Tante Sam’s Hühner einzufangen? Könnte echt lustig werden.“
„Furchtbar gern! Aber ich weiß nicht, mein Dad ist mit Mum los um zu sehen, was er für seinen Acker hier noch tun kann…“ Ben deutete in Richtung des platten Feldes.
„Ist sein Hauptverdienst seit er den Job verloren hat. Sieht nicht unbedingt gut aus, hm?“
Ich schüttelte den Kopf.
„Naja, er wird auch nicht unbedingt erfreut sein, wenn du hier bist und ihm nur…“im Weg rumstehst wie ein kleines Mädchen.““ Ich malte mit den Fingern Gänsefüßchen in die Luft. „Außerdem… Harry repariert gerade Tante Sam’s Hühnerstall. Du müsstest ihm sehn… in seinem üblichen Aufzug, mit allem Drum und dran…und Gummistiefeln!“
„Im ernst? Harry in Gummistiefeln?“
„Und Anzug.“
„Boah, das muss ich sehn!“, kicherte Ben.
„Na dann, worauf warten wir noch?“
„Sekunde… Ich schreibe erst noch eine Notiz für Mum und leg sie auf den Küchentisch, damit sie weiß, wo ich bin. Sonst macht sie sich Sorgen.“
Ich folgte Ben in die Küche. Das Haus bot einen recht chaotischen Anblick. Das Wohnzimmer sah aus, als hätte der Sturm dort gewütet: Das alle Kissen waren vom Sofa gerissen worden, das Polster des Sofas war zerrissen und der Tisch war umgekippt, Scherben lagen am Boden.
„Wow, sieht so aus, als hätte bei euch der Sturm im Haus getobt, hm?“
„Mhm… Nur, dass der Sturm sich dieses Mal nicht mit den Bierflaschen begnügt hat. Jetzt musste auch noch das Sofa dran glauben.“
Ich wusste, dass Ben’s Dad hin und wieder aushakte und mit Bierflaschen warf. Meistens tat er dies dann, wenn er schon ein paar davon geleert hatte.
Ich sagte nichts weiter und folgte Ben in die Küche, wo es nicht besser aussah. Schnell kritzelte Ben ein paar Worte an seine Mutter auf einen Zettel.
„Einkaufen, Wäsche machen, Aufräumen… Bin mit Lizzy bei Mrs. Ross, helfen. Betten überziehen, den Müll hinausbringen… „
„Aha, du schreibst ihr also auch auf, was sie zu tun hat?“
„Nein. Ich schreibe es so, weil er es dann nicht liest. Er liest Mum’s To-Do-Listen nicht, er erledigt keinen Weiberkram.“
Mit diesen Worten waren wir auch schon auf den Weg zu Tante Sam. Ich blickte Ben von der Seite an. Er trug eine zerschlissene alte Jacke, alte Schuhe und Hosen mit Hosenträgern. Mir fiel auf, dass er humpelte und überhaupt, war er anders als sonst.
„Der Sturm war furchtbar oder?“ Mehr fiel mir im Moment nicht ein, doch für einen Gesprächsanfang müsste es reichen.
„Ja, so schlimm war es bisher noch nie. Der Strom ist auch futsch, ich hab die ganze Zeit in meinem Zimmer verbracht und mich gelangweilt. Und du?“
„Jaaah… Ich war am Dachboden, mit Harry. Wir haben ein Zelt gebaut, ein richtig großes, ein Refugium und haben dort alte Filme angesehen und Charleston getanzt.“
„Quatsch, du erzählst mit nur was. Im Ernst? Das hört sich ja toll an!“
„Mhm, Harry hat auch einen Herd, der noch mit Holz funktioniert in der Küche und hat damit ein tolles Frühstück gemacht. Wir haben auch im Dachbodenzelt gepicknickt.“
„Wow, so ein Sturm muss schon was tolles sein wenn bei Harry wohnt, hm?“
„Oh ja, es war genial!“ Erst jetzt bemerkte ich Ben’s traurigen Tonfall.
„Aber eigentlich hat er das alles nur gemacht, weil ich mich fast zu Tode gefürchtet hab.“ Fügte ich hinzu und vergrub die Hände in den Taschen. Ben blickte mich an. „DU hattest Angst vor etwas? Ist nicht wahr!“
„Mhm… Ich mag keine Stürme, schon gar nicht wenn der Strom ausfällt, wegen der Dunkelheit.“
Ben prustete los vor lauter Lachen. „Du fürchtest dich vor der Dunkelheit?!“
Beleidigt funkelte ich ihn an. „Na und? Harry sagt, dass kommt daher, weil ich mich vor dem fürchte, was alles dort sein kann, weil ich mir einbilde, dass etwas dort sein kann… oder so ähnlich. Ich hebe eben eine starke Einbildungskraft.“ Trotzig verschränkte ich die Arme vor der Brust.
„Schon gut.“ Ben hob abwehrend die Hände.
„Weißt du, ich hab mich auch nicht unbedingt gelangweilt. Ich war zwar in meinem Zimmer, aber nur, weil ich mich versteckt hab. Vor ihm, er war so sauer wegen seinem Job und naja, du hast gesehen wie das Wohnzimmer aussieht.“
Er zuckte die Schultern. „Wir haben alle etwas, wovor wir uns fürchten, doch das ist gut so. Denn irgendwann überwinden wir unsere Angst und besiegen unsere Monster. Nur so werden wir stärker. Angst hilft uns zu wachsen, das überwinden von Angst macht uns zu dem, wer wir sind, sagt Harry.“ Einen Augenblick herrschte Stille.
„Harry hat Recht. Irgendwann erschlage ich mein Monster. “ Ben blickte in den klaren Himmel.
„Harry hat immer Recht.“ Ich folgte seinem Blick. Einen Moment standen wir beide da, inmitten der, mit silbernen Pfützen gesprenkelten Straße und blickten in den blauen Himmel. Der Wind wehte uns um die Nasen, es roch nach Regen.
„Sag mal, hat Harry auch normale Sachen?“
„Hm?“ Ich blickte Ben verwirrt an.
„Naja, ich habe ihn immer nur geschniegelt und gestriegelt gesehen, ein echter Gentleman eben.“
„Tja, heute trägt er mal Gummistiefel.“
„Das muss ich sehen!“
„Unbedingt!“
Damit waren wir wieder am Anfang unseres Gesprächs angelangt, doch das war egal. Wir waren fast am Ziel.
„Na los, den Letzen fressen die Monster!“ Mit diesen Worten spurtete ich los.
„Na dann steig schon mal in den Backofen!“, feixte Ben und rannte an mir vorbei. Lachend liefen wir durch das Pfützenmeer bis zu Tante Sam’s Haus. Wir blieben am Eingangstor stehen und holten Luft. Dann umrundeten wir das Haus und der Anblick der sich uns dann bot war unvergesslich: Harry stand beim Hammerschwingend beim Hühnerstall, er hatte ihn schon fast ganz zusammengeflickt. Seine Anzugjacke und sein Gehrock hingen auf einem Zaunpfahl daneben. Er trug nur noch sein Jackett, die Ärmel seine Hemdes hatte er hochgekrempelt und seine Füße Steckten nicht wie üblich in blank polierten schwarzen Oxfords, sondern in knallgelben Gummistiefeln. Ben und ich kugelten uns vor lauter Kichern. „Er sieht aus wie ein Gentleman, selbst in gelben Gummistiefeln, nicht wahr? Und er kann auch noch mit Werkzeug umgehen, ist denn das zu fassen?“ , schwärmte Tante Sam. Sie war hinter uns getreten.
Wir folgten ihr über den Hof und sie schickte uns auf das Gelände um die restlichen Hühner einzufangen. Mit einem großen Korb und einem Kescher ausgestattet machten wir uns an die Arbeit und ich muss zugeben, dass es Ben und mir einen Heidenspaß bereitete, Tante Sam zuzusehen, wie sie Trudie, Leticia, Prim, Katie, Charlott und Co. quer über den ganzen Hof jagte. Ben hatte vorgeschlagen, Körner als Köder auszulegen und einfach abzuwarten, denn wenn man ihnen hinterher rannte, bekamen sie nur Angst und flüchteten. Selbst wenn Tante Sam’s Hühner für gewöhnlich recht zahm und zutraulich waren, so waren sie nach den jüngsten Ereignissen doch etwas irritiert. Also warteten wir hinter Büschen und Blumenbeeten, bis sich eine der Hennen auf unsere Köder aufmerksam wurde. Dann schnappten wir uns den Kescher und hauten drauf, um es mal so formulieren. So gingen uns einige Hennen ins Netz, welches wir Johlend zum Triumph über unseren Köpfen schwangen. Die Hennen steckten wir davor natürlich in den Korb. Bald schon hatten wir alle Hennen beisammen und konnten sie am Nachmittag auch schon in ihren neuen Stall á la Harry stecken. Tante Sam aber freute sich noch nicht so richtig, sie sah eher besorgt aus. Als wir sie fragten, was los sei, sagte sie uns, dass eine Henne fehlte.
Vermutlich hatte sich das arme Ding irgendwo versteckt oder möglicher Weise hatte sich die Henne einfach nur verlaufen. Konnten sich Hennen denn überhaupt verlaufen und das auch noch auf ihrem eigenen Hof? Wie dem auch sei, Ben, Tante Sam und ich machten uns auf die Suche nach dem verlorenen Huhn während Harry die restlichen Trümmer beiseite schaffte und den Hof aufräumte.
Die nassen Zweige strichen mir übers Gesicht wie blätterbewachsene Finger als ich gemeinsam mit Ben durch das Gebüsch rund um den Hof streifte und nach dem verlorenen Federvieh suchte. Hier tummelte sich alles Mögliche, tote Käfer schwammen rücklings in Pfützen, Schnecken fraßen sich an dem saftigen Grün der Büsche satt und Würmer wanden sich über den feuchten Boden wie Miniaturausgaben von Schlangen. Es roch nach altem Laub, frischen Blättern und Regen, hie und da fanden wir auch ein paar Federn von Vögeln, doch von der vermissen Henne fehlte uns weiterhin jede Spur. Vom anderen Ende des Hofes drangen Tante Sam’s Stimme zu uns, sie rief nach dem Huhn wie nach einem Hund: „Petrunella, putputputputput…. Petrunella!“
Zugegeben, es hatte etwas verdammt Komisches an sich, wie sie so in halb gebückter Haltung über den Hof stapfte und nach einer Henne rief.
„Sie sieht fast aus, wie eine von ihnen.“, meinte Ben, der so eben ein Stück des Blättervorhangs bei Seite geschoben hatte und mit mir durch das Blattwerk spähte. Ich kicherte, Ben hatte Recht, Tante Sam sah tatsächlich fast aus wie eine Henne in Rock und Schürze, wie sie so mit ihren Gummistiefeln über den Hof wanderte.
„Sieh mal, sie und Harry gehen im Partnerlook!“, ich deutete auf ihre Gummistiefel, dann auf die von Harry, der gerade mit einem Rechen die Blätter vom Pflastersteinboden aufhakte. Ben prustete los vor lauter lachen und wir pressten uns gegenseitig die Hände auf die Münder, um nicht ertappt zu werden. Nachdem Tante Sam aus unserem Blickfeld verschwunden war, schlichen wir weiter durch das Gestrüpp, dass wir nach Petrunella suchen sollten, hatten wir bereits vergessen, denn wir waren zu Abenteurern auf wichtiger Erkundungsmission geworden. Wir waren gerade dabei, einen unentdeckten Kontinent zu erforschen, als uns ein gellender Schrei aufschreckte.“ Um Himmels Willen, PETRUNELLA!“
Es war Tante Sam’s Stimme und sie kam von der gegenüberliegenden Seite des Hofes. Ben und ich stürmten auf den Ursprung der Stimme zu und fanden eine völlig erstarrte, fast hyperventilierende Tante Sam und einen Haufen Federn, der unter einem umgestürzten Stapel Holz hervor lugte. Sie hatte die Henne gefunden, denn der Haufen Federn war doch tatsächlich ein zerquetschtes Huhn, die gesuchte Petrunella. Auch ich schluckte schwer, weder Ben noch ich hatten eine Ahnung, was wir tun sollten. „Oh meine liebe Petrunella! Meine arme, liebe Petrunella!“, schluchzte Tante Sam. Ich tat das Einzige, was mir in diesem Augenblick einfiel, ich holte tief Luft und brüllte so laut und so schrill ich konnte: „HARRYYYYYYYYYYYYY!“
Irgendwo hörte man einen dumpfen Knall und ein Metallisches Klirren. Harry ließ den Rechen fallen und eilte quer über den Hof auf die Hinterseite der Scheune, dorthin, wo wir standen und den Salat aus Quetschhuhn und Federn betrauerten.
„Was um alles in der Welt ist denn hier los? Ist alles in Ordnung mit euch?!“ Harry kam um die Ecke gesprintet und musterte uns halb entsetzt, halb fragend. Wir hatten uns alle zu ihm umgedreht und blickten ihn etwas ratlos an. Ben war der Erste, der seine Worte wiederfand. „Nun ja, mit uns ist schon alles in Ordnung aber… Pentrunella sieht nicht unbedingt gut aus?“
„Petru-“, wollte Harry fragen, doch ich fiel ihm ins Wort.
„Das Huhn, das wir gesucht haben, wir haben sie gefunden, sie ist Matsch!“
Ich deutete auf den Federhaufen hinter uns und Harry blickte etwas verblüfft auf den Hühnermatsch.
„Herrje… Das arme Tier hat ja die halbe Fuhre Holz auf einmal abbekommen…“
Ben hatte sich einen Stock gegriffen und stocherte das Beinchen des Huhns an, eines der wenigen Teile Petrunellas, die sich noch als solche identifizieren ließen. Ihr restlicher Körper war unter einer Ladung Holz begraben worden.
Tante Sam starrte entsetzt auf das Beinchen. Ich verzog den Mund und stupste Ben in die Seite. „Lass das, das ist unsensibel!“
„‘tschuldigung“. Er warf den Stock fort und drehte sich zu Harry um, der sich so eben räusperte.
„Wir können sie nicht hier liegen lassen, wir müssen sie irgendwie….entsorgen.“, meinte er etwas kleinlaut. Tante Sam erwachte aus ihrer Schockstarre.
„Entsorgen?! Meine arme, kleine Petrunella ist doch kein Sack Müll!“
„Ganz und gar nicht, so hatte ich das auch nicht gemeint, aber…“ Harry hob abwehrend die Hände.
„Kochen kann man sie ja auch schlecht oder? Gebratenes Quetschuhn, yummy..“, flüsterte Ben mir zu. Ich würgte gekünstelt und stieß Ben in die Seite. „Lass das, du bist ja echt so sensibel wie ein Zinnsoldat!“
„Kommt überhaupt gar nicht infrage!“, schluchzte Tante Sam. Was auch immer Harry gesagt hatte, hatte sie gereizt, sie starrte ihn an, als wolle sie ihn gleich fressen.
„Wir könnten doch ein Wikingerbegräbnis veranstalten, drüben am Fluss!“, schlug ich Ben vor.
„Super Idee! Aber ich will sie anzünden!“Ich hatte seine vollte Zustimmung.
„ Kommt überhaupt gar nicht infrage, ich darf sie abfackeln, es war ja auch meine Idee!“ Fauchte ich, doch Tante Sam hatte auch ein Wörtchen mit zu reden.
„Pentrunella wird auf keinen Fall in den Fluss geworfen oder angezündet! Das ist doch barbarisch!“
„Wir werfen sie auch nicht in den Fluss, wir bauen ein Floß, legen sie drauf und fackeln das Floß ab.“, erklärte ich.
„Wie kommt ihr Kinder nur auf solche Ideen?“, empörte sich Tante Sam.
„Harry hat mir mal davon erzählt, sowas steht auch in vielen alten Büchern über Wikinger! WIR haben uns das nicht ausgedacht, das waren die Wikinger, die haben Leute angezündet!“
„Warum beerdigen wir sie nicht einfach?“
„Niemand zündet hier irgendetwas an, nur damit das klar ist!“, schimpfte Tante Sam.
„Die Luft brennt ja ohnehin schon lichterloh…“, flüsterte Ben und fuchtelte grinsend mit der Hand vor seinem Gesicht herum.
„Wie bitte?!“, knurrten Tante Sam und ich im Chor.
„Ich sagte, warum beerdigen wir sie nicht einfach?“
Ben, Tante Sam und ich verstummten und starrten Harry an, er war in unserer kleinen Kabbelei untergegangen.
„Na endlich, ich dachte schon ihr würdet euch nie wieder besinnen!“, er stemmte die Hände in die Hüften, zog die Augenbrauen hoch und musterte uns.
„Nun? Was sagst du dazu, Samantha?“
„Ich…Ja ich denke, das wäre eine gute Idee.“ Sie schniefte.
„Super Idee, aber…äh, wer holt sie jetzt da raus?“ Ben stellte die naheliegendste Frage als erstes. Wir warfen uns Blicke zu und drehten uns dann fast zeitgleich zu Harry um. Alle starrten nun ihn an. Er warf die Hände in die Luft und seufzte. „Warum habe ich mir das nur gedacht? Also gut… Ben, wärst du bitte so freundlich und holst einen Spaten? Lizzy, warum nimmst du nicht deine Tante Sam und gehst mit ihr ein paar Blumen Sammeln…?“ Fluchs huschten wir alle davon, ich mit Tante Sam an der Hand, Ben lief für sich alleine los um einen Spaten aus dem Schuppen zu holen.
„Herrjemine, was für eine Schande…“, schluchzte Tante Sam kopfschüttelnd als wir wenig später vor einem Loch standen, in welches Harry Petrunella gelegt hatte. Er hatte sie mit einem weißen Tuch zugedeckt und Tante Sam und ich streuten ein paar Blumen in das Loch. Ben und Harry hatten auch ein kleines Kreuz aus den restlichen Holzscheitern vom Hühnerstall zusammengezimmert.
„Ähm… Willst du denn gar nichts sagen?“ Ich zupfte Tante Sam am Rockzipfel.
„Oh ja, ja natürlich… Äh… Petrunella, du warst eine großartige Henne, du warst immer für mich da und hast mich auch in schwersten Zeiten nie im Stich gelassen..“, Sie schluchzte, Harry zog ein weißes Stofftaschentuch aus der Innentasche seines Jacketts und reichte es Tante Sam, die sich lautstark schnäuzte und Harry das Taschentuch entgegenstreckte.
„Ah, ja… Du kannst es gerne behalten.“ Er schauderte fast unmerklich und ich musste fast loslachen. Es war immer lustig zu sehen, wenn Harry sich ekelte.
„Vielen Dank!“ Tante Sam schniefte erneut und fummelte auf dem Taschentuch herum.
„Aber nicht doch meine Liebe…“
„Danke auch dir Petrunella, danke für alles!“
Ben und ich tauschten Blicke.
Tante Sam drehte sich schniefend um und Harry begann, die zerquetschte Pentrunella zu verbuddeln.
Auch Ben und ich richteten ein paar Worte an Petrunella, des Anstandes wegen, wir hatten sie auch des Öfteren mit einem Grashalm hypnotisiert und dann dabei beobachtet, wie sie im Kreis gestakst war.
„Du warst wirklich ein tolles Huhn… „
„Ja…. und gepickt hast du mich auch nie!“, fügte Ben hinzu.
„Auf das du in Frieden ruhst.“, schloss Harry und klopfte die Erde fest. Er strich sich das Haar aus der Stirn, richtete sich auf und zog seine Taschenuhr – eigentlich war es jedes Mal eine andere, er sammelte die Dinger- aus der Tasche seines Jacketts und warf einen Blick drauf. „Schon viertel vor Fünf, herrje… Nun denn, wer von euch hat Lust auf Tee?“ Er blickte fragend in die Runde und alle nickten zustimmend.
„Ein bisschen Tee wird mir gut tun…“ murmelte Tante Sam und wir folgten ihm alle nach Hause, wo wir uns auf dem Sofa im Salon aufwärmten, bis Harry mit einem riesigen Tableau voller Tassen und Teekannen und einem Ständer voller Scones und Sandwiches auftauchte. Niemand macht bessere Scones als Harry und mir ein bisschen hausgemachter Marmelade und Clotted Cream lassen sie einen alles um sich herum vergessen, auch tote, zerquetschte Hühner. Selbst Tante Sam wurde wieder fröhlich und wir scherzten und redeten, bis es Zeit fürs Dinner war und nach Harrys Dinner waren wir alle, selbst ich, zu voll und zu müde um zu reden oder an irgendetwas zu denken. Harry bestand darauf, Tante Sam nach Hause zu begleiten, Ben hingegen bestand darauf, alleine nach Hause zu gehen und so fiel ich totmüde in mein Bett und träumte von Stürmen und zerquetschten Hühnern.
Ich verbrachte so unsagbar viele, unglaubliche Tage in Porter House, ja ich kann sogar behaupten, dass ich meine schönsten und glücklichsten dort verlebt habe. Dennoch erlebte ich einige der schönsten und unglaublichsten Dinge fern ab des Hauses, dessen Geborgenheit ich so sehr schätzte.
Es stimmt, Porter House war der schönste Ort, den ich damals kannte, was nicht viel heißen mag, in Anbetracht der Tatsache, dass ich zu dieser Zeit lediglich ein paar prunkvolle Häuser, deren Gärten und mit etwas Glück die Umgebung in deren Nähe kennen gelernt hatte. Wissen Sie, ich hatte mir immer gewünscht, eine Abenteurerin zu werden, die Welt zu bereisen und alles Mögliche und Unmögliche zu erleben, genau wie Harry. Aber was will man von der Welt sehen, wenn man beharrlich am selben Ort verweilt, wenn man dort steht wie ein Baum, dessen Wurzeln so tief ins Erdreich langen, dass selbst der Stärkste Sturm ihn nicht umzureißen vermag?
So etwas in der Art hatte Harry einmal zu mir gesagt, nun ja, nicht ganz, Harry hatte es so formuliert:
„Wir sind keine Bäume, Lizzy. Der Mensch ist nicht aus dem Boden gewachsen um ständig am selben Ort zu verweilen, als wäre er angewachsen. Auch sind wir keine Berge, die nichts und niemand zu versetzen vermag. Die Welt ist groß und weit, sie bietet Dinge, von denen du nicht zu träumen vermagst, ja nicht einmal in der Lage bist, sie dir vorzustellen, oder deren Existenz dir gänzlich unbewusst ist. Es ist eine Welt voller Wunder, aber auch voller Abscheulichkeiten, Überraschungen und Schönheit und sie wartet nur darauf, gesehen zu werden.“
Und ich muss sagen, dass er Recht hatte, wie immer. Oh, ich erinnere mich noch zu gut daran, wann er diese Worte an mich gerichtet hatte. Es waren gerade Ferien und weder er noch ich wussten so Recht, was wir miteinander anfangen sollten. Mir war todlangweilig, weil Ben zu seiner Tante gefahren war und auch Tante Sam war fort, bei ihrer Nichte. Harry hatte sich vorgenommen, zu arbeiten, litt aber unter etwas, das er als „Blockade“ bezeichnete. So etwas hatte er ab und an, dann war er noch wunderlicher als sonst, er war zerstreut und immer etwas säuerlich, um nicht zu sagen gereizt. Es war ein wunderschöner Sommertag als ich Harry wieder einmal über alles und die Welt ausfragte und so kam ihm schließlich eine Idee. Eine seiner Besten, wie ich finde.
„Harry?“
„Herrgott, was ist denn nun schon wieder los, Lizzy?“
Etwas genervt senkte er seine Zeitung und blickte mich über deren Rand hinweg an. Wir waren gerade dabei, auf der Veranda zu frühstücken.
„Was machen wir denn heute?“
„Woher soll ich das bitte wissen?“
„Keine Ahnung, du weißt sonst auch alles.“
Harry grummelte etwas vor sich hin und sein Gesicht verschwand hinter Zeitung.
„Harry?“
„Mhm..“
„Wo genau liegt Surrey?“
„Wie bitte?“
Die Zeitung senkte sich langsam und Harrys verwundertes Gesicht erschien.
„Du weißt nicht, wo Surrey liegt? Um Himmels Willen Lizzy, was bringt man euch in der Schule bei?! Es liegt in der Nähe von London, warum?“
„Weil Ben dort ist, seine Tante wohnt da.“
„Soso, verstehe…“
Wieder erhob sich die Zeitung vor Harrys Gesicht wie ein Vorhang.
„Warst du schon mal in London, Harry?“ Ich stützte meinen Kopf erwartungsvoll auf die Hände und kaute weiter auf meinem Honigbrot herum.
„Selbstverständlich, unzählige Male.“
„Ist es schön da? Es ist groß nicht wahr?“
„Es ist eine Großstadt, ja. Viele Leute, viele Vehikel, aber auch viel Interessantes zu sehen…. „
„Glaub ich gerne… Ich würde so gerne mal hin. Weißst du, ich will irgendwann dort arbeiten, berühmt werden, oder so. Aber vorher will ich reisen, die Welt sehen, so wie du.“
„Du warst noch nie in London?!“
Nun verschwand die Zeitung endgültig und Harry blickte mich fassungslos an.
„Es ist die Hauptstadt unseres Landes und du warst noch nie dort? Herrje, deine Tante Addie hat ein Haus ganz in der Nähe von London, hat sie dich nie mitgenommen?“
Ich schüttelte den Kopf.
„Noch nie in London… nicht zu fassen…“
Harry nahm einen Schluck Tee und schien in seiner Tasse zu versinken. Dann, ganz plötzlich setzte er sie so heftig auf den Untersetzer, dass der Tee in alle Richtungen spritzte.
„ Du willst reisen? Nun, dann fangen wir am besten gleich damit an!“
Ich starrte ihn verblüfft an. „Wie? Was? Wa…?“
„Nur nicht so behäbig, auf auf! Pack deine Sachen!“
Nun strahlte er mich an und noch während ich in mein Zimmer eilte und alles in meinen Koffer stopfte, hallten seine Worte in meinem Kopf.
„Komm schon Lizzy, wir fahren nach London!“
Dies war meine erste Reise, wir fuhren zwar nicht ans andere Ende der Welt, wie ich es mir vielleicht gewünscht hätte, doch wenn Harry London für einen guten Anfang hielt, dann war ich damit einverstanden. Ich hatte mich noch kurz von Tante Sam verabschiedet und schon waren wir in die Stadt gefahren, wo wir in einen Zug Richtung London stiegen. Zugfahrten waren nie besonders spannend gewesen, zumindest meiner Meinung nach. Irgendwann hatte ich es satt aus dem Fenster zu starren und die Landschaft dabei zu beobachten, wie sie im Rekordtempo an mir vorüberglitt. Seufzend musterte ich Harry, dessen Gesicht hinter einem dicken Buch verschwunden war. Auch ich versuchte, etwas zu lesen, doch mir schien es unmöglich in einem sich bewegenden Gefährt den Worten am Papier zu folgen. Tja, vom lesen im Zug wurde mir nun mal speiübel und die Langeweile plagte mich immer noch. Grummelnd entschloss ich mich, etwas zu unternehmen So ein Zug war schon etwas Interessantes, wie ich fand. Er war auf jeden Fall eine Erkundungstour wert. Aber würde Harry mich alleine durch einen fahrenden Zug voller wildfremder Leute streifen lassen? Wohl kaum. Schon beim Einsteigen waren wir bemüht, uns ein Abteil für uns alleine zu sichern, worüber ich auch froh war, doch nun war ich der Meinung, dass etwas Gesellschaft recht nett gewesen wäre. Wenn schon niemand hier war, dann musste ich mir eben jemanden zum spielen suchen, aus basta.
„Harry?“
„Mhm?“
„Ich muss mal.“
„Jetzt?“ Das Buch senkte sich und er blickte mich über den Rand des Buches abschätzend an.
„Ja, jetzt. Ganz dringend.“
„Herrje… Na dann geh schon, du kannst das ohnehin alleine. Unser Abteil findest du?“
„Klar.“
„Wage es nicht, dich wieder aus den Fenstern zu lehnen! Irgendwann verlierst du den Halt und stürzt aus dem fahrenden Zug!“
Mit diesen Worten in den Ohren machte ich mich vorerst auf die Suche nach einer Toilette, denn ich musste wirklich.
Es war schon irgendwie seltsam, so ein stilles Örtchen in einem fahrenden Zug. Wackelig war es obendrein, doch letzten Endes, war ich froh, überhaupt eines gefunden zu haben.
Ich war nun fast an der Spitze des Zuges, in einem Waggon, in dem fast alle Abteile voll waren. Langsam spazierte ich den schmalen Gang entlang und spähte möglichst unauffällig in die Abteile um einen Blick auf die Leute zu erhaschen, die dort saßen. Gerade beobachtete ich eine fette Dame, die ihr Abteil mit einem schmächtigen Mann teilte, wie sie ihrem kleinen Hund laut aus der Zeitung vorlas als plötzlich ein Zischen ertönte. Ich drehte mich nach dem Geräusch um und mein Blick fiel auf einen Jungen in abgewetzten blauen Hosen mit braunen Hosenträgern und grauem Hemd. Auf dem Kopf trug er eine Mütze, die ihm etwas zu groß zu sein schien. Er streckte den Kopf aus dem Fenster, wobei er fast seine Mütze verlor, wenn er sie nicht festgehalten hätte.
„Du solltest deinen Kopf nicht aus dem Fenster eines fahrenden Zuges strecken. Irgendwann knallt er noch gegen ein Schild oder ein Signal.“
Der Junge mit der Mütze drehte sich um und musterte mich verblüfft.
„Wer hat dir denn sowas erzählt?“ Er starrte mich mit großen Augen an.
„Harry. Darum weiß ich, dass es wahr ist.“
„Wer um alles in der Welt ist Harry? Ist er dein Dad?“
„Nein, sowas ähnliches.“
Wieder blickte der Junge etwas belämmert drein.
„Wie kann man denn sowas wie ein Dad sein?“
„Naja, wenn man Kinder bekommt ohne sie selbst zu machen und zu wollen. Wenn man kein Dad ist, aber trotzdem Kinder hat eben.“ Ich zuckte die Schultern.
„Aaah.“ Machte der Junge mit der Mütze. „Mein Dad, also mein richtiger Dad, ist hier Schaffner. Er kontrolliert die Fahrkarten, du weißt schon. Er nimmt mich immer mit zur Arbeit, weißt du.“
„Du fährst den ganzen Tag Zug?! Wird das nicht irgendwann langweilig?“
„Sicher, aber man muss sich nur zu beschäftigen wissen.“
Ich nickte. „Wie heißt du überhaupt?“
„Peter, aber alle nennen mich Pete und du?“
„Ich heiße Elizabeth, aber alle nennen mich Liz.“
„Okay… Sag mal Liz, kannst du spucken?“
„Wie bitte? Sicher kann ich spucken, jeder kann spucken! Warum fragst du?“
„Naja, du siehst aus wie eins von den Mädchen, die nicht spucken, nie.“
„Achja?“
„Ja, dafür bist du viel zu fein angezogen. Das Kleid war sicher sau teuer, nicht?“
Ich verschränkte die Arme vor der Brust.“Und wenn schon. Ich kann trotzdem spucken, auch wenn ich ein Mädchen bin!“
„Dann beweis es!“
„Sicher.“ Ich holte tief Luft und wollte schon aus dem Fenster spucken, als Pete mich zurückhielt.
„Spinnst du? Doch nicht hier, wenn uns jemand von den Gästen sieht sind wir erledigt!“ Mit diesen Worten zog er mich quer durch alle Abteile bis hin zum Ende des Zuges. Als ich durch die letzte Tür trat, verschlug es mir fast den Atem. Wir befanden und plötzlich auf einer kleinen Plattform im Freien, um uns herum sauste die Landschaft vorbei, es ratterte, krachte und wackelte an allen Ecken und Enden.
Pete zog eine braune Papiertüte aus der Tasche und hielt sie mir hin. „Da, nimm ein paar, die Kerne kannst du dann Spucken.“
Ich griff in die Tüte und zog eine Hand voll Kirschen heraus. Pete tat es mir gleich uns steckt sich auch schon die ganze Hand voll in den Mund. Wenig später schoss auch schon der erste Kern zwischen seinen Lippen hervor.
„Ha, mach das mal nach!“ , nuschelte er, den Mund noch voller Kirschen.
„Kein Problem.“ Auch ich steckte mir einige Kirschen in den Mund und versuchte, den Kern so weit wie möglich zu spucken.
„Für ein Mädchen bist du nicht übel, aber passt auf, du musst Druck aufbauen, erst die Backen voller Luft machen, in etwa so, siehst du? Und dann…Pffft!“
Ich nickte. „Okay.“ Schon hatte ich den nächsten Kern auf die Schienen gespuckt, dieses Mal fast doppelt so weit.
„Boah, klasse! Warte! Siehst du das Schild da? Wer das trifft bekommt die restliche Tüte mit Kirschen, abgemacht?“ Pete streckte mir die Hand entgegen.
„Alles klar.“
Wir beide visierten das Schild an, als es schließlich an uns vorbeisauste spuckten wir drauf los. Ein lautes „pling“ ertönte, einer unserer Kerne hatte es tatsächlich getroffen. Welcher es war wussten wir nicht, wir hatten wild durcheinander gespuckt und die Tüte war nun ohnehin leer.
Wir kugelten uns vor Lachen und lehnten uns gegen die Brüstung. Plötzlich ertönte ein lauter Pfiff und Pete schreckte hoch.
„Ohoh.“
„Was ist los?“
„Wir sind an der nächsten Haltestelle angekommen. Ich muss zu meinem Dad, irgendwo hier müssen wir raus, Schichtende.“
„Du fährst nicht bis nach London mit?“
„Nein, schade eigentlich.“
„Mhm. Naja, war nett dich kennen gelernt zu haben!“
„Dito. Für ein Mädchen spuckst du echt super!“
Mit diesen Worten sausten wir zurück, Pete suchte seinen Dad und ich machte mich auf die Suche nach unserem Abteil.
Erleichtert fand ich Harry darin vor, wie er in seinem schwarzen Notizbuch blätterte. Harry nahm auf Reisen immer so ein kleines, leeres Büchlein mit, dort klebte er Dinge ein, notierte Erinnerungen und sowas. Er hatte auch mir so eins geschenkt und nun hatte ich auch schon das erste, was ich hineinschreiben konnte: meine Begegnung mit Kirschenpete, dem Jungen mit der Mütze. Ich zog mein Büchlein aus meiner kleinen Reisetasche und begann hinein zu kritzeln. Neben meine Geschichte von unserem Weitspuckwettbewerb klebte ich einen Kirschkern, den ich immer noch im Mund hatte.
„Schon zurück?“ Harry blickte mich fragend an, der leicht sarkastische Unterton in seiner Stimme war mir nicht entgangen.
„Jaahh… Zugtoiletten sind seltsam. So wackelig und man findet sie auch nicht leicht.“
Harry runzelte die Stirn, sagte aber nichts.
Wir fuhren schweigend weiter, bis wir dann endlich an einem Ort namens King’s Cross ankamen, wo wir endlich ausstiegen.
King’s Cross war der wohl größte Bahnhof, den ich je gesehen hatte und was noch besser war, dass wir hier waren bedeutete, dass wir endlich am Ziel waren: in London.
London war gigantisch. Die Straßen waren voll mit Menschen und Vehikeln und wo keine Leute, Autos oder Busse waren, waren Häuser und diese Häuser waren wie die Stadt selbst- riesig. Londons Häuser wuchsen sich gegenseitig über den Kopf und jedes schien bis zum Rand voll mit den wunderbarsten, neuesten, fremdartigsten und teuersten Dingen zu sein. Die Straße, die wir entlanggingen um zu unserem Hotel zu gelangen war flankiert mit dieser Art von Häusern. Wir wanderten eine Weile umher, unser Gepäck hatte Harry zuvor zu unserem Hotel schicken lassen. Es gab so unheimlich viel zu sehen, vom Buckinham Palace, über den Big Ben bis hin zu all den Parks, dem Tower und der Towerbridge. Doch hier gab es so viel zu sehen, dass wir an einem einzigen Tag nicht alles schafften. Müde und vor allem Hungrig kehrten wir schließlich in unser Hotel nahe dem Trafalger Square zurück. Selbstverständlich waren wir zur Teezeit in einem kleinen Café eingekehrt, doch nun plage mich ein Mordshunger. Das Abendessen im Hotel war jedoch anders, als ich es mir erwartet hatte. Zu allererst zogen Harry und ich uns um, Harry bestand darauf, dass wir feine Sachen anhatten, denn auch das Restaurant des Hotels war nicht unbedingt etwas für Brückenarbeiter, wenn ich mich so ausdrücken darf. Schon als ich mich setzte wurde ich von einem Sammelsurium von verschiedensten Besteckteilen begrüßt und ich hatte ehrlich gesagt wenig Ahnung, was ich mit all den Gabeln, Löffeln und Messern anfangen sollte. Fassungslos blickte ich zu Harry, der mich amüsiert musterte.
„Ich hab noch nie so viel Besteck auf einmal gesehen, zumindest nicht für ein Essen für eine Person! Was soll ich denn damit anfangen?“
Ein Grinsen hatte Besitz von Harrys Lippen ergriffen.
„Nunja, du solltest es benutzen, würde ich vorschlagen. Natürlich könntest du auch deine Finger dazu verwenden, doch das wäre im Angesicht der hier versammelten Gesellschaft eher unpassend. Im Grunde ist es ganz einfach, sieh nur.“
Er deutete auf mein Besteck.
„Du fängst außen an und arbeitest dich nach innen vor, das ist alles.“
„Das ist alles?“ Skeptisch beäugte ich das seltsame Ding, das aussah wie ein Tortenheber in Miniaturausgabe.
„Und wozu ist das?“
„Das ist ein Fischmesser, Lizzy.“
„Ich muss hier Fisch essen?! Aber Harry, ich mag keinen Fisch!“
Entsetzt starrte ich ihn an. Harry aber gluckste nur vergnügt.
„Fish & Chips magst du doch auch.“
„Ja… aber nur weil da viel Panade dran ist, und ich mag vor allem die Chips.“, gab ich wiederwillig zu.
„Aja, also isst du doch Fisch. Aber keine Sorge, hier kannst du dir bestellen, was du möchtest. Alles, was du an Besteck nicht brauchst wird dann abgedeckt, was du brauchst und nicht da ist, wird aufgelegt.“
Stirnrunzelnd musterte ich Harry. „Ich darf also alles bestellen, was ich will? Wirklich alles?“
„Aber natürlich.“ Harry lächelte und irgendwie hatte ich das Gefühl, dass ich hier weder Fisch & Chips noch Eiscreme oder Eintopf auf der Karte finden würde.
Meine Vorahnung bestätigte sich als uns ein schick gekleideter Ober zwei, in Leder gebundene Speisekarten reichte. Zwischen ekelhaften Dingen wie Gänsestopfleber und anderem Zeug fanden sich aber zahlreiche Gerichte, die sich durchaus schmackhaft anhörten. Zum Schluss entschied ich mich für eine Vorspeise mit Krabben und einem französischen Braten als Hauptspeise. Harry bestellte sich irgendetwas mit viel Grünzeug und eine Suppe, alles ohne Fleisch natürlich. Wie Harry gesagt hatte, erledigte sich die Sache mit dem Besteck fast wie von selbst und das Essen war köstlich, was die Hauptsache war. Am Ende durfte ich mir noch ein Dessert bestellen und ich konnte auch Harry überzeugen, etwas Süßes zu wählen. Ich entschied mich für ein Schokoladensoufflee und Harry bestellte sich eins mit Vanille und Zimt. Harry erzählte mir, dass er schon als Kind in diesem Hotel gewesen war, mit seinem Vater und seiner Mutter. Er war offenbar schon oft in London gewesen, war erklärte, warum er sich hier so gut auskannte. Am nächsten Tag zeigte er mir ein großes, prunkvolles Haus, das, wie sich herausstellte, ein Kaufhaus war. Ich hatte davon gehört, hatte mir aber nie träumen lassen, eines Tages tatsächlich dort einzukaufen. Doch an diesem Tag spazierte ich mit Harry durch Harrods und es war fantastisch. Beim Anblick all der Dinge, die es dort gab, fielen mir fast die Augen aus dem Kopf. Wenn Ben dies nur sehen könnte! Doch alles, was es in Harrods gab, konnte kaum mit den Spielsachen mithalten, die ich Hamley’s gesehen hatte. So oder so, ich durfte mir in beiden Läden etwas aussuchen und ich durfte auch etwas für Ben und Tante Sam kaufen. So hielten Harry und ich es an jedem Ort, den wir fortan besuchten, ich durfte mir überall etwas aussuchen, mein ganz persönliches Souvenir und wir kauften immer etwas für Ben und Tante Sam.
So schön es in London auch war, bald schon ging die Reise weiter quer durch ganz England. Wir reisten von London nach York, Liverpool, Nottingham, Manchester, Birmingham , Exeter und Pymouth. Von dort weiter nach Southampton und Portsmouth, wo ich zum ersten Mal in meinem Leben ein Schiff bestieg um mit Harry hinüber auf eine kleine Insel zu fahren. Die Isle of Wight war nicht sehr groß, jedoch war sie voller interessanter Dinge. Wir besuchten Newport, wo Harry sich ein Auto mietete und von dort fuhren wir quer über die Insel.
Der Wind wehte mir um die Nase, als wir die Küste entlang von Benbridge nach Ryde fuhren, die Sonne strahlte und es roch nach Meer. Harry kaufte mir sogar einen Badeanzug und wir verbrachten einen ganzen Tag am Stand.
Dieser ist einer der Tage, an den ich mich besonders gerne erinnere. Warum? Nun, es war mein allererster Tag am Meer und ich verbrachte ihn obendrein auch noch mit Harry. Zwar konnte ich Harry nicht dazu bewegen, sich in einen Badeanzug zu werfen, doch das hinderte ihn nicht daran, den Tag mit mir am Strand zu verbringen. Er saß mit hochgekrempelten Hemdsärmeln und Hosenbeinen, unter unserem Sonnenschirm auf der Flickendecke, die schon so ziemlich an jedem Ort der Welt gelegen hatte und gab vor, sein Buch zu lesen. In Wahrheit aber hatte er seinen Blick über den Rand seines Buches hinweg an mich geheftet, seine wachsamen Augen folgten nicht dem Geschehen auf den Seiten, sonder mir, wie ich am Strand auf und ab hüpfte und Muscheln sammelte. Ins Meer traute ich mich nicht alleine, dazu musste ich Harry zum Aufstehen bewegen. Ich packte ihn einfach an den Händen und stemmte mich mit aller Kraft gegen ihn.
„Na los, komm schon Harry, geh mit mir schwimmen!“
„Aber Lizzy, ich gehe doch nicht in diesem Aufzug schwimmen!“
„Kannst du denn überhaupt schwimmen?“
„Selbstverständlich.“
„Echt? Bist du auch jemals in einem Meer geschwommen?“, bohrte ich nach.
„Natürlich, als ich ein Kind war, verbrachte ich viele Ferientage mit meinen Eltern am Strand.“
„Na dann komm! Ich war noch nie im Meer, in meinem ganzen Leben nicht!“
„So, noch nie?“
„Nein! Dabei will ich doch soooo gerne ins Meer!“
„Na wenn das so ist, warum geht du dann nicht einfach rein?“
Ich starrte ihn mürrisch und flehend zu gleich an.
„Weil…“ Ich zögerte und kaute auf meiner Unterlippe.
„Weil?“ Harry bedachte mich mit seinem „soso, ich wusste es doch, da ist etwas, was du nicht sagen willst- Blick“. Er zog die Augenbrauen hoch und seine regengrauen Augen blitzen vergnügt.
„Na weil ich mich nicht traue.“, murmelte ich mürrisch und schenkte ihm den vernichtendsten Blick den meine Augen hergaben.
„DU traust dich nicht? Elizabeth Atchinson, das furchtlose Mädchen traut sich nicht?“
„Nicht so laut! Und ja, ich trau mich nicht alleine, es ist eben… unheimlich. Was, wenn da Haie sind?“
Nun brach Harry in schallendes Gelächter aus, ich blickte mich um, um zu sehen, ob uns die anderen Leute anstarrten aber sie taten es nicht.
„Haie? Hier, am Badestrand von Ryde? Aber nein Lizzy, hier gibt es keine Haie und auch sonst nichts vor dem du dich fürchten müsstest. Sogar die Bakterien im Wasser sind harmlos.“
„Mhm, mag sein… Kommst du mit?“
„Wie bitte?“
„Kommst du wenigstens mit zum Wasser, wenn ich reingehe?“
Harry seufzte, legte sein Buch bei Seite und zog sich Socken und Schuhe aus.
„Na dann, ab ins Wasser mit dir.“ Mit diesen Worten erhob er sich.
„Okay… Der letze muss dem ersten ein Es bezahlen!“ Rief ich während ich schon zum Wasser rannte, ein verblüffter Harry folgte mir, ebenfalls rennend. Ich musste lachen, Harry in Hemd und Hose mit hochgekrempelten Ärmeln und Hosenbeinen über den Strand rennen zu sehen war zum wegschmeißen komisch. Am Wasser jedoch blieb ich stehen und beobachtete es skeptisch, wie es auf mich zukam und wieder zurückwich, als hätte es Angst vor mir.
„Es hat mehr Angst vor dir, als du vor ihm.“, flüsterte Harry augenzwinkernd als hätte er meine Gedanken erraten.
Ich nahm also meinen ganzen Mut zusammen und sprang in die knöcheltiefen Fluten.
„Iiiiiiiieeeeeh, ist das kalt!“
„Das kannst du laut sagen.“
Ich drehte mich zu einem nass gespritzten Harry um.
„‘tschuldigung…“
„Schon gut.“
Ich stapfte weiter ins Meer, und genoss die kühlen Wellen, die gegen meinen Körper wuschen und mich mit weisem Schaum umgaben.
Ein Windstoß jagte übers Wasser und warf den Sonnenschirm um.
„Na wunderbar… Warte einen Moment, Lizzy. Ich bin sofort wieder…“
Doch weiter kam er nicht. Noch während er sich umdrehte erwische ihn eine volle Ladung Wasser. Stolz stemmte ich die Arme in die Hüften und betrachtete mein Werk. Harry war nun klitschnass und ich war hoch zufrieden.
„Man dreht seinem Kind nicht den Rücken zu, wenn es drauf und dran ist zu ertrinken!“ Klärte ich ihn mit meiner besten Lehrerstimme auf.
Harry drehte sich langsam um.
„Soso… Nun ja, wenn man sein Kind ertränken will, muss man es schon selber machen, du hast Recht.“, knurrte Harry mit gespielter Wut und grinste.
„Hiiiiiilfeeee.“ Kichernd kämpfte ich mich durchs Wasser, bespritze Harry mit dem salzigen Nass während wir beide durch das knietiefe Meer tobten. Nun starrten die Leute uns doch an und ich konnte es ihnen auch nicht verdenken. Ein kreischendes, kicherndes Kind das einen fein gekleideten Mann mit Wasser bespritzt während sie beide durchs Meer tobten war schon ein recht ungewöhnlicher Anblick. Uns war dies allerdings recht egal, vor allem mir, denn eben hob Harry mich hoch und trug mich auf seinen Schultern aus dem Wasser.
„Jetzt ist es aber genug, deine Lippen sind schon ganz blau.“, sagte er während er mich zum Strand trug.
„Weiter, weiter! Noch ein Stück!“, jauchzte ich, doch Harry setzte mich ab.
„Langsam wirst du zu groß für solche Dinge.“, erklärte er während er sich den Rücken rieb.
„Gar nicht wahr, du wirst einfach nur zu….“
„Ja?“ Erneut zog Harry die Augenbrauen hoch und musterte mich fordernd.
„Gar nichts.“
„Aja.“
„Alt.“ flüsterte ich mucksmäuschenstill während er den Sonnenschirm wieder aufrichtete. Er reichte mir ein Handtuch und wir trockneten uns ab.
„Ich glaube, ich habe gewonnen.“ Schelmisch grinsend schaute ich Harry an.
„Das glaubst aber auch nur du.“
„Ich weiß, dass ich gewonnen hab, vorhin beim Wasserrennen!“ Empört verschränkte ich die Arme vor der Brust.
„Mag sein, du hast aber auch geschummelt, von Fairplay keine Spur.“
Ich wollte so eben protestieren, doch Harry fuhr unbeirrt fort.
„Ich schlage dir einen Deal vor. Da du mich hinterlistigster Weise ins Wasser gelockt hast und ich somit deinetwegen pitschnass bin und du gewonnen hast weil du… schlau genug warst mitten im Rennen einen Wettbewerb vorzuschlagen, bekommen wir beide ein Eis.“
Ich tat als würde ich grübeln.
„Also gut, aber nur weil du dich heute ins Wasser getraut hast!“, antwortete ich gebieterisch. Harry musste lächeln und wir machten uns auf den Weg zur Promenade, wo ich einen ganzen Eisbecher nur für mich alleine bekam.
Später am Nachmittag beschloss ich, mir eine Sandburg zu bauen. Ich wollte schon immer ein Schloss für mich ganz allein, also warum nicht eins aus Sand bauen?
Mit Schaufel und Eimer bewaffnet machte ich mich an die Arbeit, während Harry sich erneut einem Buch widmete. Dieses Mal nahm er allerdings sein kleines, schwarzes Notizbuch anstatt des dicken Wälzers über irgendein Thema, das mir langweilig erschien, zur Hand und begann eifrig darin herum zu kritzeln.
Er schien zu vergessen, wo er war und dass ich da bin, beim Schreiben vergaß er immer alles um sich herum, doch ich wusste, dass er mich immer im Auge behielt und lauschte was ich tat um sicher zu gehen, dass ich noch da war. Nach einer Weile musste er sich keine Mühe mehr machen zu lauschen, denn nachdem ich einen Haufen Sand zu einer annähernd schlossähnlichen Formation zusammengeschaufelt hatte stürmte ich auch schon auf ihn zu und zog ihn an der Hand hoch um ihm zu zeigen, was ich gebaut hatte. Harry blickte auf um nachzusehen, doch als ich mich umdrehte um darauf zu zeigen sah ich gerade noch, wie das Wasser über den Rest meines Bauwerks schwappte und es hinfort spülte. Grimmig warf ich die Schaufel in den Sand und starrte auf den nassen Haufen Sand, der mein Schloss hätte werden sollen.
„Tja, das ist die Flut.“ sagte Harry.
„Das ist nicht fair!“, grummelte ich.
Harry lächelte und erklärte mir, dass ich mein Bauwerk zu nahe am Wasser errichtet hatte, was mir mittlerweile selbst klar geworden war.
Ich musterte ihn nur mit verschränkten Armen und geschürzten Lippen.
„Und was jetzt?“
„Nun… Jetzt, da die Festung gefallen ist, sollten wir eine neue errichten, meinst du nicht auch?“ Mit diesen Worten erhob sich Harry, griff nach der Schaufel und marschierte zu einer offenbar geeigneteren Stelle, wo er sich umdrehte und mich anblickte.
„Was ist los? Bist du festgewachsen oder im Sand eingesunken?“ Er musterte mich und Schalk blitzte aus seinen Augen.
Ich schüttelte den Kopf.
„Na, dann los, oder willst du mir nicht helfen?“
„Doch, aber du machst sie Hauptarbeit.“, erwiderte ich und eilte zu ihm.
„Also, bevor man eine Burg baut-“
„Ein Schloss, ich will ein Schloss.“
„Gut, bevor man ein Schloss baut braucht man ein festes Fundament.“, erklärte Harry und um so eines zu schaffen muss man den Grund befestigen. Um den Sand fest zu klopfen hüpften wir einfach so lange auf der Stelle herum, bis sie stabil erschien und der Sand nicht mehr nachgab, was einen recht amüsanten Anblick für die anderen Leute am Strand bot. Danach schickte mich Harry mit dem Eimer zum Wasser, denn wir mussten Sandmatsch herstellen…
So mantschten und schaufelten wir, bis Harry mir ein wunderschönes kleines Schloss mit zwei hohen Türmen, die ihm bis zu den Knien reichten gebaut hatte. Dann holte ich aus unserer Strandtasche Harrys tragbare Kamera um ein Bild zu machen. Doch das Schloss alleine erschien mir nicht das richtige Motiv zu sein, also bat ich einen Herrn, der an so eben die Promenade entlang spazierte, ein Bild zu machen und reichte ihm den Bilderkasten.
Dann zog ich Harry an der Hand zu seinem Bauwerk und der Mann drückte ab.
Das Bild, das an diesem Tag entstand ist heute eines meiner Lieblingsbilder. Es zeigt die Erinnerung an einen der schönsten Tage meines Lebens:
Harry und ich stehen am Strand, hinter uns versinkt sie Sonne im Meer und vor uns liegt ein Schloss aus Sand.
Es gibt allerdings einen Ort, den ich noch viel schöner fand als London, das Meer und ganz England. Es handelt sich um den letzen Ort, den wir auf dieser Reise besuchten und er lag abgelegen irgendwo in einem kleinen Waldstück. Wir fuhren mit Harrys Auto dorthin und die Fahrt dauerte scheinbar ewig. Doch als wir endlich ankamen, waren wir am scheinbar schönsten Ort der Welt.
Bäume verschluckten die umliegende Landschaft, lediglich der Weg, auf dem wir gekommen waren zog sich wie ein geschmiedetes Band durch das grüne Dickicht und als die Bäume sich endlich auftaten, gaben sie den Blick frei auf ein kleines Haus, das auf einer Anhöhe umgeben von Bäumen thronte. Harry parkte den Wagen in der Einfahrt des Hauses, es wirkte wie ein Hexenhaus im Zauberwald. Er zog einen Schlüssel aus der Tasche, schloss die Tür auf und trat ein. Am Steinboden lag der Staub von vielen Jahren, doch das schien Harry nicht zu stören, was mich doch ein wenig wunderte. Für gewöhnlich war Harrys Haus lupenrein wie ein Diamant, doch dieses Haus hier schien verlassen und verwaist.
„Das letzte Mal als ich hier war ist schon eine ganze Weile her, also entschuldige die diesen Zustand. Du kannst dich ruhig umsehen während ich sauber mache.“ Er machte eine ausholende Geste.
„Harry wo sind wir?“
„Alles zu seiner Zeit, Lizzy. Erst muss ich diese Unordnung beseitigen, dann mache ich uns etwas zu essen und wir reden.“
Ich nickte doch Harry hatte schon die Ärmel hochgekrempelt und schnappte sich einen Besen aus dem hölzernen Schrank im Eingangsbereich. Während Harry sauber machte erkundete ich das Haus. Es war alt, zweifelsohne und an den Außenwänden rankte sich Efeu empor. Irgendwie sah es aus wie eine kleine, einfachere Version von Porter House. Ich fragte mich, was dies wohl für ein Ort war und während ich im Haus umherwanderte, entdeckte ich zahlreiche Bilder an den steinernen Wänden. Viele von ihnen zeigten Leute, die ich nicht kannte, doch auf einigen erkannte ich Harry, Elizabeth und sogar meinen Vater. Auf einem besonders großem Bild war eine Familie zu sehen, zwei Erwachsene und zwei Kinder. Sie alle sahen glücklich aus, die Frau auf dem Bild war wunderschön und der Mann hatte sehr markante Züge, die mich an Harrys Gesicht erinnerten. Das Mädchen war ebenfalls sehr hübsch obwohl es sehr jung war. Neben ihr stand ein Junge mit einem Buch in der Hand und bei näherem Hinsehen erkannte ich Harry. Nur… wer war das Mädchen und wo war dieses Bild aufgenommen worden? Noch bevor ich näher darüber nachgrübeln konnte erklang Harrys Stimme, er rief zum Abendessen. Ich eilte die Treppe hinunter und folgte dem Klang seiner Worte bis auf die Veranda, wo ich wie vom Donner gerührt stehen blieb. Vor mir erstreckte sich eine Wiese und eingebettet in einen Rahmen aus Bäumen lag ein See, glatt wie ein polierter Spiegel. An dessen Ufer stand Harry, vor einem Tisch mit zwei Stühlen und sofort erkannte ich die Umgebung des Bildes.
„Willkommen im Haus am See!“ Harry lächelte und zog mir den Stuhl zurück, sodass ich mich setzen konnte.
Ich blickte ihn fragend an, mehr brachte ich nicht zu Stande. Der Ausblick war atemberaubend. Wir befanden uns fast direkt am Ufer des Sees, ganz in der Nähe ragte ein Steg ins Wasser und die Bäume spiegelten sich auf der makellos glatten Oberfläche.
„Dies ist das alte Ferienhaus meiner Familie. Als Kind verbrachte ich zahlreiche Sommer hier. Es war auch einer der Lieblingsorte deines Vaters und auch Elizabeth mochte dieses Haus sehr.“, erklärte Harry.
„Und nun iss, das Essen wir ja kalt!“
Harry hatte in kürzester Zeit ein kleines Festessen gezaubert, es gab sogar Nachtisch.
Nach dem Essen spazierten wir am Seeufer entlang und gingen auch bis zum Ende des Steges, wo wir uns an den Rand setzen und die Beine ins Wasser baumeln ließen. Der Wind flüsterte und seine Worte brachten die Blätter der Bäume zum Rascheln, die Sonne versank langsam dort, wo der See und die Spitzen der Bäume mit dem Horizont verschmolzen und die Fackeln, die Harry zu beiden Seiten des Stegen angezündet hatten Knisterten. So saßen wir da und er erzählte mir Geschichten von dem, was er erlebt hatte, als er hier gewesen war.
Dann wurde es still, unsere Schatten tanzen auf dem Wasser und ich erinnerte mich an das Bild. Harry hatte mir erzählt, dass er mit seiner Familie hier gewesen war, mit meinem Vater und mit Elizabeth, doch er hatte das Mädchen nie erwähnt.
„Harry?“
„Mhm.“
„Oben hängt ein Bild, eines von dir und deinen Eltern.“
„So? Dort oben hängen viele Bilder. Einige sind älter als ich selbst.“
„Mhm… auf einem bist du mit deinen Eltern, zumindest glaube ich, dass sie es sind, weil der Mann dort dir ähnlich sieht. Dort ist auch eine wunderschöne Frau und hübsches Mädchen. Harry… Wer ist das Mädchen?“
Ich sah ihn lange an doch Harry sagte nichts und schien stattdessen mit seinem Spiegelbild im Wasser verschmolzen zu sein. Versonnen betrachtete er sein Schattenich. Dann, nach langer Zeit antwortete er langsam, aber bestimmt, so als wolle er sich selbst etwas erklären.
„Der Mann sieht mir nicht ähnlich, sondern ich sehe ihm ähnlich, was daher kommt, dass er mein Vater ist. Die Dame auf dem Bild ist meine Mutter und was das Mädchen anbelangt… sie war in der Tat hübsch.“ Ein Lächeln schlich sich auf seine Züge.
„Ihr Name ist Alice und sie ist meine Schwester.“
Wieder kehrte Stille ein. Ich blickte ihn eine Zeit lang fassungslos an, dann fand ich meine Worte wieder.
„Aber warum hast du mir nie von ihr erzählt? Und warum kenne ich sie nicht?!“
„Nun, das mag vielleicht daran liegen, dass sie tot ist.“
Harrys Stimme klang nicht böse auch nicht traurig, sondern nur seltsam leer.
Ich sog die Luft ein. Es…es tut mir Leid Harry, ich wollte nicht….“
„Schon gut. Es ist schon viele Jahre her….Das Bild ist mitunter das letze, das von ihr existiert. Alice starb sehr jung und meine Mutter hat vor Kummer alle Bilder, die sie von ihr fand von den Wänden gerissen und versteckt. Niemand wusste, wo sie sie hingetan hat, bis mein Vater eines kalten Wintertages nach dem Tod meiner Mutter den Kamin in ihrem Schlafzimmer anzündete um die Kälte zu vertreiben. Doch der Kamin zog keinen Rauch, es qualmte und als mein Vater einen Schornsteinfeger holen ließ, holte dieser einen ganzen Stapel von Bildern aus dem Kamin. Die Magd hatte ihre liebe Freude den Ruß aus dem Schlafzimmer zu entfernen. Aber auch die Bilder sahen nicht besser aus, zerkratzt, rußgeschwärzt und verbrannt. Meine Mutter hatte sie dort versteckt um sie bei sich zu haben. Sie hat jeden Tag für Alice gebetet.“ Harry seufzte.
„Weißt du, manchmal fehlt sie mir. Als wir klein waren verbrachten wir jeden Sommer hier, selbst als sie Krank wurde. Sie wurde nicht älter als du jetzt bist.“
Noch einmal seufzte Harry und schüttelte dann entschlossen den Kopf.
„Jetzt ist es genug, die Geister der Vergangenheit sollte man ruhen und die Toten dem Tod lassen.“
Wir unterhielten uns noch eine Weile und ich konnte ihn sogar dazu überreden, mir eine Geschichte zu erzählen. Dann aber fand Harry, dass es an der Zeit war ins Bett zu gehen. Ich blickte noch ein letztes Mal zurück, dann erlosch das Licht der Fackeln und der See füllte sich mit unzähligen Sternen.
Es war unser letzter Tag im Haus am See, besser gesagt, es war die letzte Nacht, die wir dort verbrachten. Aber auch dies ist nicht ganz richtig, denn genau genommen verbrachten Harry und ich diese Nacht direkt im Haus, sondern am See.
Aus einem mir unerfindlichen Grund waren Harry und ich nach dem Abendessen in ein kleines hölzernes Ruderboot gestiegen und auf den See hinaus gefahren, wo wir verweilten. Zuvor hatte ich die Sonne beobachtet, wie sie im See versank, doch nun war es stockfinster um uns geworden und die Kälte der Nacht begann langsam aber sicher mit ihren dürren, frostigen Fingern nach mir zu greifen. Zu meiner Verwunderung zog Harry just in diesem Moment die alte Flickendecke, die schon seiner Großmutter gehörte, hervor und legte sie mir um die Schultern.
Sie roch nach Porter House und unzähligen anderen Orten zugleich. Ich fragte mich, nicht zum ersten Mal, warum diese Decke, die aus Flicken und Fetzen in allen möglichen Mustern, Formen und Farben bestand ihm so lieb war. Wo doch sonst alles in Harrys Haus so elegant, anmutig, teilweise sogar antik, aber immer durchaus edel war, wirkte diese Decke etwas fehl am Platz, wie ein Putzlumpen in einem Haufen handgeknüpfter Orientteppiche. Darüber hinaus schien dieses Ding sein Eigenleben zu haben, ob Sie es nun glauben oder nicht, es schien zu wachsen, zu wispern und zu leben.
„Harry?“
„Hmhm?“
„Warum schleppst du diese Decke eigentlich immer überall hin mit?“
„Nun, eine Decke kann man immer brauchen, wie du siehst, nicht wahr?“ Er blickte mich mit hochgezogenen Augenbrauen, schelmisch funkelnden Augen an, wie er es immer tat, wenn ihn etwas amüsierte oder wenn er wie soeben dabei war, mir meine Fragen im Mund umzudrehen und die Antworten die ich hören wollte durch nervtötende Weisheiten zu ersetzen. Meine Augen bohrten sich in seine als ich ihn finster musterte.
„Schon, aber warum genau diese, wo du doch so viele andere hast?“
„Lizzy ich bitte dich, die teuren Decken aus dem Haus zu zerren um sie im Gras platt zu sitzen wäre Humbug. Ganz zu schweigen von dem Grauen das das herauswaschen von Grasflecken bei mir hervorruft.“
Er strich sich theatralisch durch die Haare.
„Aber warum macht das diesem Ding nichts? Es ist sauber, ja aber irgendwie… Keine Ahnung, diese Decke ist anders als alle, die wir zu Hause haben. Ich weiß nicht warum.“
„Nicht? Nun ja, das mag vielleicht daran liegen, dass diese Decke eigentlich keine richtige Decke mehr ist.“ Ich blickte ihn fragend an.
„Du erinnerst dich bestimmt, dass ich dir erzählt habe, dass dies die Decke ist, die ich von meiner Großmutter bekommen habe?“ Ich nickte zustimmend und Harry fuhr fort: „Tja, das was ich von meiner lieben Granny Porter bekommen habe, war eine Decke gewesen, jedoch hat sie auf all meinen Reisen erheblichen Schaden genommen. Ganz zu schweigen von dem Tag, als Charles damit ein Feuer – unser Lagerfeuer – zu löschen und sie dabei in Brand steckte. Tjaja, ich war recht betrübt an diesem Tag, doch einer unserer Mitreisenden hatte die Idee, sie zu flicken und gab mir dafür sein Stofftaschentuch. Das ist dieser Flicken hier… siehst du?“
Er deutete mit dem Finger auf einen bunt getupften Fetzen im Zentrum der Decke. Nun, seither war es eine Art Tradition geworden, dass man an jedem neuen Ort, den man bereist einen neuen Fetzen dazu flickt. Wir kauften Tücher auf Märkten in Italien, Spanien oder anderswo, am Hafen von Gibraltar fügten wir diesen Fetzen aus Segeltuch hinzu. Er stammt vom dem Boot, mit dem wir dann nach Lissabon fuhren. Einer davon war das Kopftuch einer Bäuerin, bei der wir wohnen durften als wir durch die Mongolei reisten. Der hier ist ein Stück der englischen Flagge, die einmal beim Buckingham Palace hing, aber wie wir dazu gekommen sind, ist eine andere Geschichte…
Ach, und bevor ich es vergesse, das hier ist ein Stück meiner liebsten Kinderbettwäsche die ich hier in diesem Haus hatte. Du siehst, diese Decke besteht aus Fetzen aus aller Welt. Sie ist ein Abbild jedes Ortes, an dem ich war und jeder Flicken erzählt seine eigene Geschichte. Sie ist eine Art Karte meiner Welt, wenn du so willst.“
Verblüfft musterte ich jeden einzelnen Fetzen der Decke während Harry sich zufrieden zurücklehnte und in den Himmel starrte. Nun war wieder Schweigen zwischen uns eingekehrt und auch rund herum was alles still geworden, selbst der Wind war verebbt und die Wellen waren ebenfalls eingeschlafen. Der See lag glatt und glänzend unter uns, wie eine blank polierte Scheibe aus Nacht und Nichts in der sich der Himmel spiegelte. Eine schier endlose Weile blickte ich in diese Weiten, ohne wirklich hinzusehen, als sich plötzlich etwas am Himmel zu regen schien. Fasziniert beobachtete ich, wie sich ein Stern vom Firmament löste und in den See stürzte. Augenblicklich riss ich den Kopf hoch und starrte empor zum Himmel, wo sich gerade eben ein weiterer Stern löste. „Um Himmels Willen Harry! Die Sterne, sieh nur die Sterne!“, kreischte ich und rüttelte an seinem Arm.
„Ich weiß, es ist wunderschön nichtwahr?“
Fassungslos starrte ich hinauf und beobachtete, wie die Sterne vom Himmel fielen. Sie schienen aus dem Firmament zu brechen und stürzten dann hinab auf die Welt. Ein langer, silberner Schweif begleitete sie wie ein Schatten aus Licht und Leben, wie ein Geist aus einer anderen Welt.
Ich keuchte, mir war entgangen, dass ich die Luft angehalten hatte.
„Harry… sag, was ist das?“
Harry gluckste vergnügt, wandte seinen Blick jedoch nicht vom Himmel ab.
„Das, meine liebe Elizabeth, ist ein Sternenschauer.“
„Ein Sternenschauer? Hast du sowas schon jemals gesehen?“
„So etwas kommt nur sehr, sehr selten vor, aber ja, das habe ich.“
„Wusstest du, dass es heute Sterne regnen wird?“
Erneut gluckste er und grinste wie ein kleiner Junge, der so eben ein strahlendes neues Fahrrad geschenkt bekommen hatte.
„Selbstverständlich. Warum glaubst du hätte ich dich sonst mitten in der Nacht in ein Boot gesteckt? Um auf dem See zu campieren?“
Noch immer starrte ich fassungslos in den Himmel. Noch vor knapp einer Stunde hatte ich gemeckert und geschmollt wie ein kleines Mädchen, weil ich ins Haus wollte. Jetzt dort zu sein erschien mir undenkbar.
„Hier.“ Ich wandte mich Harry zu, der mir eine Tasse heißen Kakao entgegenhielt. In der anderen Hand hielt er eine Kanne, die er weglegte um sich aus einer anderen Kanne Tee einzuschenken. Ich musste unweigerlich lächeln als ich in sein markantes Gesicht blickte, wo die regengrauen, unendlich tiefen Augen, die schon so unendlich viel gesehen hatten lagen und mich auf ihre einzigartige Art und Weise anfunkelten. In diesem Moment schienen sie noch viel heller zu stahlen als die Sterne, die vom Himmel regneten. Auch im See schien es Sterne zu regnen und ich vermochte nicht zu sagen, wo der Himmel endete und der See aus Nacht und Nichts begann. Doch in diesem Augenblick war mir alles egal, für mich gab es nichts außer Harry, mir und dem Boot in dem wir saßen, währen um uns herum Sterne vom Himmel fielen wie silberner Regen.
So wunderbar es auch war, mit Harry weit, weit fort zu fahren, neue Orte zu entdecken und Neues zu sehen, so wunderbar war es am Ende jeder unserer Reisen, nach Hause zu kommen. Es stimmt, Porter House war für mich zu meinem Zu Hause geworden und ich würde mir niemals ein anderes wünschen.
Ich freute mich jedes Mal hierher zurückzukehren, jedes Mal so sehr wie ich mich das erste Mal gefreut hatte, nachdem meine erste Reise mit Harry zu Ende gegangen war. Es war diese Mischung aus leichtem Bedauern, Sehnsucht, Fernweh und Glück das von dem schier unglaublichen Gefühl von Geborgenheit und Zu Hause übermannt wurde alsbald man einen Fuß über die Schwelle der Tür setzte.
Von dem Tage an, an dem Harry mich durch ganz England bis hin zum Haus am See, wo es Sterne geregnet hatte, geführt hatte verbrachten wir immer einen Teil meiner Ferien in einem anderen Land. Ich sah Dinge, die ich nur von Harrys Bildern gekannt hatte, kaufte Geschenke für Ben und Tante Sam und wollte an jedem Ort fast ewig bleiben. Doch mit jedem Mal freute ich mich mehr als ich das eiserne Tor, das den Weg der langen Einfahrt zu Porter House versperrte durch das Fenster von Harrys Wagen erblickte und wie damals so bin ich auch heute froh, endlich wieder Zu Hause zu sein. Unter Harrys warnenden Rufen und Vorträgen stürmte ich ungeachtet seiner Warnungen durchs Haus, jagte die Treppe zu meinem Zimmer hoch und sprang auf mein Bett wie ein Kleinkind. Den Koffer pfefferte ich achtlos in die Ecke und hetzte sogleich wieder nach unten, zum Telefon. Ich hatte den Hörer schon von der Gabel gerissen, als ich Harry fragte: „Darf ich Ben anrufen und fragen, ob er vorbeikommen will?“
Harry, der soeben die restlichen Koffer durch die Küche schleppte blieb stehen und musterte mich. „Jetzt sofort?“
„Ja sicher, am besten schon vor fünf Minuten!“
Harry seufzte und schüttelte den Kopf. „Aber Lizzy, wir sind doch eben erst durch die Tür gekommen… Du hast noch nicht einmal ausgepackt!“
Ich verdrehte die Augen. „Ich packe sowieso aus wenn ich Ben sein Geschenk gebe! Ach komm schon, bitte Harry, bitte!“
„Meinetwegen… Aber gib mir wenigstens eine Stunde, damit ich Ordnung schaffen und etwas backen kann!“
„Super!“
Ich fummelte an der Wählscheibe herum und knappe zehn Minuten später klopfte es an der Tür. Ich stürmte an Harry, der gerade in seine Küchenschürze geschlüpft war, vorbei um Ben zu begrüßen.
Ich erschlug mich fast selbst mit der Tür, als ich ihm öffnete, doch als ich ihn dann endlich sah, sah er seltsam anders aus, verändert irgendwie. Ich musterte ihn unschlüssig, bis mir klar wurde, was anders war.
„Verdammt nochmal, du bist ja groß geworden!“
Ein schiefes Grinsen breitete sich auf seinem Gesicht aus, seine grünen Augen strahlten.
Er schien nicht nur größer sondern auch kräftiger geworden zu sein.
„Schon seltsam, wie viel man in einem Sommer wachsen kann, was?“
„Wollt ihr im Türstock übernachten oder kommt ihr bald ins Haus?“, Harrys Stimme mischte sich in unser Schweigen.
„Was ist denn nun? Schließt augenblicklich die Tür, sonst ist das ganze Haus voller Fliegen und anderem Ungeziefer!“
Ben grinste. „Wir tun besser was er sagt, sonst steckt er uns noch in den Backofen.“
Ich nickte und Ben folgte mir in die Küche.
„Hallo Harry! Schön, Sie zu sehen!“
Harry drehte sich um, er rührte so eben in einer Schüssel, und musterte Ben.
„Ben! Wie schön, du bist ja groß geworden!“
Er wendete sich mir zu: „Soso, in einer Stunde, hm? Die Zeit fliegt ja.“ Er betrachtete mich tadelnd während Ben mich fragend anblickte.
„Ihr geht wohl besser nach oben, Lizzy hat dir sicher viel zu erzählen. Ich rufe euch, sobald der Tee fertig ist.“
Ich zog Ben am Arm, dankbar für Harrys Überleitung.
Ben grinste wieder. „Natürlich, nach dir…Lizzy.“
Ich boxte ihm in die Seite und stapfte voran. Niemand nannte ungestraft Lizzy, niemand außer Harry.
Doch Ben hatte Glück, ich war so froh, ihn wieder zu sehen, dass ich nicht nachtragend sein wollte.
Begeistert musterte Ben sein Mitbringsel und er erinnerte mich dabei so sehr an den früheren Ben, der er gewesen war als ich ihm das allererste Mitbringsel gegeben hatte, das ich je für ihn gekauft hatte. Es war ein Flaschenschiff gewesen und er hatte Stunden damit verbracht, es anzusehen und sogar einmal versucht, selbst eins zu bauen. Dieses Mal hatte ich ihm allerdings ein anderes Geschenk mitgebracht, über das er sich allerdings noch genauso freute wie der kleine Ben damals. Nun ja, wirklich „groß“ waren wir beide noch nicht, jedoch waren wir auch keine Kinder mehr, zumindest nicht richtig.
Ben hatte sich gerade begeistert bedankt als Harry uns zum Tee nach unten rief.
Es gab frisch gebackenen Schokoladenkuchen und selbstverständlich auch Sandwiches und Kakao für mich.
„Bist du nicht schon etwas zu alt für Kakao und Kuchen, Lizzy?“, neckte Ben, worauf ich ihm die Zunge herausstreckte.
„Elizabeth, ich bitte dich! Behalte deine Zunge dort, wo sie hingehört! So etwas tut eine junge Dame nicht, wir sind nicht bei den Proleten!“
„Ja Harry, tut mir leid…“ Ich rümpfte die Nase und schielte zu Ben, der grinsend einen Schluck Tee trank. Auch er mochte schwarzen Tee, wie Harry. Im Gegensatz zu Harry versenkte Ben jedoch die halbe Zuckerdose und einen ordentlichen Schluck Milch in seinem Tee.
„Dass ihr beide so viel Zucker und Süßigkeiten konsumiert… Euch werden noch die Zähne aus dem Mund faulen!“ Harry verfolgte kopfschüttelnd wie wir Kuchen, Kekse, ein paar Stückchen von Harrys hausgemachtem Fudge und zum Schluss noch seine berühmten Toffees vernichteten.
„Damit kannst du mir keine Angst mehr machen, Harry. Ich putze mir immerhin die Zähne.“
„Liz hat Recht, wir sind nicht mehr zwölf Jahre alt.“
„So? Dann seid ihr wohl schon zu alt und zu erwachsen für Kuchen und Kekse?“
„NEIN.“, tönte es aus unser beider Münder. Bei unserem Protest sprenkelte ein feiner Regen aus Keksbröseln und Kuchenstückchen aus unseren Mündern den Tisch.
„Elizabeth, Benjamin! Um Himmels Willen, man spricht nicht mit vollem Mund, also wirklich…“
Nachdem Harry unser Kuchenmassaker beseitigt hatte erzählten wir Ben von unserer letzen Reise.
„Wow, du ahnst ja nicht, wie gerne ich einmal mir euch verreisen würde…“, schwärmte Ben während Harry das Geschirr spülte.
„Wir müssen unbedingt noch etwas zusammen unternehmen bevor die Schule beginnt…. Zeit genug hätten wir ja.“, stellte ich fest.
„Das schon, aber nun ja, ich kann im Moment nicht weg…“
„Ihr müsst nicht wegfahren um etwas zu unternehmen.“, erklärte Harry.
„Harry hat Recht! Aber, was sollten wir hier schon tun?“Ich blickte zu Harry, der sich mittlerweile umgedreht hatte und eine Schüssel austrocknete.
„Ihr könntet doch Zelten, hier im Garten.“, schlug Harry vor.
Ben und ich sahen uns an und es bedurfte keiner weiteren Diskussion. Zelten? Hier im Garten, wo Harry uns mit allerlei Köstlichkeiten, Krimskrams und Krempel versorgen konnte? Zweimal musste uns das niemand vorschlagen.
„Harry, haben wir eigentlich ein Zelt?“
„Selbstverständlich haben wir das! Ihr könnt euch sogar eins aussuchen, ich habe einige. Wisst ihr, ich habe jedes Zelt, das wir auf unseren Reisen benützen aufgehoben… Sie müssten irgendwo im Dachboden sein.“
Ich strahlte Ben an. „Na los, ruf deine Mum an und frag, ob du hier übernachten darfst!“
„Nicht nötig, sie ist zu ihrer Schwester gefahren, ich bin dieses Wochenende verwaist.“ Auch Ben strahlte.
Großartig! Fehlte nur noch eine Kleinigkeit…
„Harry?“
„Mhm.“
„Bist du damit auch einverstanden?“
„Ihr seid draußen im Garten, dort könnt ihr herzlich wenig kaputtmachen…“
„Harry!“
„Natürlich bin ich einverstanden, hätte ich es sonst vorgeschlagen? Es ist mir hundert Mal lieber, ihr Zeltet hier im Garten als irgendwo sonst. Wer weiß, was sich dort draußen auf den Feldern für Leute herumtreiben, ganz zu schweigen was euch im Wald passieren könnte!“
Ich verdrehte die Augen, doch irgendwie hatte Harry Recht, schon wieder. Wer wusste schon, ob uns nicht ein Bauer versehentlich niedermähte, wenn wir in seinem Acker campierten? Man konnte nie wissen…
Wenig später hatte Harry ein altes Gerüst zusammen gebaut und bespannte es mit Bens Hilfe mit der Zeltplane. Als alles befestigt war, holte ich Harrys Flickendecke und einen ganzen Haufen von Kissen um damit das Zelt zu polstern. Harry erlaubte uns sogar, zwei seiner alten Schlafsäcke zu benutzen.
„Sie sind recht warm und bequem. Außerdem sind sie Wetterfest und sehen auch noch hübsch aus, mit dem Muster, das ihre Stoffhülle hat. Sie sind mit Alpakahaaren gefüttert, dein Vater und ich haben sie damals in den Anden gekauft. Die Leute dort züchten diese Tiere wie wir es mit Schafen machen, der Wolle wegen. Eigentlich sind sie eine Art Kamel, domestiziert versteht sich. Sie sind äußerst flauschig und weich…“, erklärte Harry Ben und mir während wir einen Kreis aus Steinen legten, in dessen Mitte Harry eine kleine Grube für ein Lagerfeuer aushob. Er zeigte uns, wie man ohne Streichhölzer oder Feuerzeug ein Feuer machen konnte und später, als es schon fast dunkel war, holte er eine Schale mit einer klebrigen Masse hervor.
„Reichst du mir bitte ein Stock, Ben?“
Ben suchte einen robusten Stecken und reichte ihn Harry, der mit seinem Taschenmesser die Rinde entfernte und dann etwas Mehl auf die freie Fläche rieb. Dann wickelte er etwas von Klebezeug darum und gab Ben den Stock zurück.
„Steck ihn so in den Boden, dass er ins Feuer reicht, aber nicht zu tief, ja genau so!“
„Was soll das werden, Harry?“, fragte ich während Ben den nächsten Stock vorbereitete.
„Na was wohl, wir backen Stockbrot.“
„Stockbrot?“, fragte Ben verwundert und auch ich blickte ihn fragend an.
„Das haben dein Vater und ich immer gemacht als wir noch kleine Jungs waren. Allerdings haben wir es auch auf allen unseren Reisen gemacht, es ist sozusagen unsere Tradition geworden. Wir haben es auch verfeinert… In Indien haben wir Curry unter den Teig gemischt, in Maghreb haben wir Datteln dazu gemischt. Man kann eigentlich alles in den Teig geben. Also… Ich hätte Meersalz anzubieten, Zimt und Zucker oder Honig. Ach ja, Schokoladenstückchen und Kakao hätte ich auch noch.“
Ben und ich entschieden uns, uns gar nicht zu entscheiden und alles auszuprobieren. So mischte ich mir Harrys Teig mit Zimt und Zucker und Tauchte es dann in Honig. Ben bestreute sein Stockbrot mit Meersalz und etwas Pfeffer. Eines davon tauchten wir sogar in Essig. Dann machten wir uns daran, etwas Teig mit Kakaopulver zu vermischen und Schokoladenstückchen einzuarbeiten. Es schmeckte köstlich, die Schokoladenstückchen schmolzen im Feuer und wenn man in sein Stockbrot biss, floss einem flüssige Schokolade aus einem Kakaoteigmantel in den Mund. Auch die Zimt-Zucker Variante war herrlich, sie schmeckte besonders gut wenn man sie in Honig dippte…
Zum Schluss holte Harry noch die kleine Päckchen hervor, die er ganz zu Beginn ins Feuer gelegt hatte. Sie entpuppten sich als die besten Bratkartoffeln, die wir je gegessen hatten, mit etwas Butter und Salz einfach unschlagbar.
So verbrachten wir unseren allerersten Campingabend im Garten hinter Porter House, brieten Stockbrot, aßen Bratkartoffeln und alberten herum, während Harry uns Geschichten von seinen Reisen erzählte.
Danach krochen wir in unsere Zelte, Harry hatte zwei aufgestellt, eines für Ben und eines für mich und versuchten zu schlafen. Oftmals krochen wir noch ein letztes Mal zurück und legten uns ins Gras, um die Sterne zu sehen und ich erzählte Ben von dem Tag, als ich mit Harry den Sternenschauer am See gesehen hatte.
So verbrachten wir viele Nächte, Ben’s Mutter hatte nichts dagegen einzuwenden und auch Harry hatte nichts dagegen. Er überließ es uns, wann wir zu Bett gingen, doch ich erinnere mich noch ganz genau an das Licht in seinem Arbeitszimmer, das immer gebrannt hatte und ihn als schwarze Silhouette im Fenster abzeichnete. Zwar saß er an seiner Schreibmaschine, doch ich wusste, dass er auch da war und aufpasste, wie er es immer tat und immer tun würde.
Eines Tages aber kam Ben viel später als sonst. An jenem Tag sah er merkwürdig aus, so anders als sonst. Seine Augen glänzten nicht wie sonst und auch sein Gesichtsausdruck war starr, wie eingefroren. Ben war sogar noch blasser als sonst und sah irgendwie krank aus. Ich wusste sofort, dass etwas nicht stimmte und mein Verdacht bestätigte sich auf grausame Weise als er mit leiser, fast tonloser Stimme sagte: „Er ist tot, Liz. Mein Dad ist tot.“
Er blickte mich an und seinen wunderbaren grünen Augen war alles Licht geschwunden. Sie wirkten seltsam kalt und leer.
Ich schlug die Hand vor den Mund, seine Nachricht hat mich überwältigt.
„Oh Ben! Es tut mir ja so leid!“ Ich umarmte ihn und wenige Augenblicke später kann Harry zur Tür geschritten.
„Elizabeth, wie oft habe ich dir schon… Herrje Ben, was ist…?“
„Mein Vater ist tot. Die Beerdigung ist am Samstag, es wäre schön, wenn ihr da sein würdet.“, erklärte Ben nun auch Harry ohne jede Regung.
Einen Augenblick lang sagte Harry nichts, dann aber nickte er. „Wir werden da sein.“ Er legte ihm die Hand auf die Schulter. „Mein Beileid.“, flüsterte er und Ben nickte.
„Danke. Euch Beiden… Ich sollte gehen.“ Damit wollte er sich umdrehen, doch ich hielt ihn zurück.
„Willst denn nicht noch zum Tee bleiben? Harry kann dir heiße Schokolade machen, gegen den Kummer…“ Ich blickte ihn aufmunternd an. Ich wollte ihm helfen, irgendwie.
„Es ist schon gut, Elizabeth. Ich denke, Ben hat im Moment genug zu tun. Manchmal braucht man einfach eine Weile für sich.“ Harry blickte Ben an und Ben nickte dankbar. Dann drehte er sich um und ging einfach.
Als ich ihn das nächste Mal sah, war es Samstag. Er stand ausdruckslos und gefasst neben seiner Mutter, die sich schluchzend ein Taschentuch auf den Mund drückte. Die Beerdigung dauerte nicht lange, doch Ben sah die ganze Zeit über immer wieder zu uns. In seinem Blick spiegelte sich mehr Dankbarkeit als alles Andere. Er hatte keine einzige Träne vergossen, nicht eine. Nachdem alles vorüber war traten Harry und ich zu Ben’s Mutter und dem Rest seiner Familie, um ihnen unser Beileid auszudrücken. Ben’s Mutter brach erneut in Tränen aus als sie sich bei Harry dafür bedankte, dass Ben die letzen Tage über und überhaupt immer bei ihm willkommen war und er so gut auf ihn Acht gegeben hatte.
„Schon okay, Mum…“ Ben berührte sie am Arm.
„Er ist s- so-oh-oh ein guter Junge!“, schluchzte sie und kramte nach einem Taschentuch.
Harry zog eines aus der Innentasche seines Jacketts und reichte es ihr. Sie schnäuzte sich und bedankte sich abermals, worauf sie erneut in Tränen ausbrach. Ihre Schwester, Ben’s Tante kam herbei geeilt um sich ihrer anzunehmen und sie zu trösten. Wenig später war alles vorüber und Harry und ich kehrten nach Hause zurück.
Am Nachmittag aber klingelte es plötzlich an der Tür. Ich ging, um zu öffnen und erblickte voller Überraschung Ben, der sich mittlerweile umgezogen hatte und nun wieder ohne seinen guten Anzug vor mir stand.
„Hey Liz.“ Er hob die Hand und schenkte mir ein ziemlich missglücktes, falsches Grinsen.
„Hallo Ben, komm doch rein!“ Obwohl ich froh war, ihn zu sehen, fragte ich mich, was er hier zu suchen hatte.
„Würde es dir etwas ausmachen, wenn ich einen Augenblick hier bleibe? Meine Mum und meine Tante packen gerade…“
„Sie packen? Warum das?“
„Meine Mum wird für eine Weile bei meiner Tante in Surrey wohnen. Mum hält es in unserem Haus nicht aus, sie fängt dauernd an zu heulen…“
Er zuckte die Schultern.
„Und was ist mit dir? Hast du schon gepackt?“
„Nein, ich bleibe hier, denke ich. Ich ertrage es nicht, dass sie jeden Moment wieder losheulen könnte… Und ich ertrage es nicht, wenn sie heult, schon gar nicht wenn sie zu heulen anfängt wegen ihm.“
Er ballte die Hände zu Fäusten und schluckte.
„Tut mir leid, ich…“
„Ist schon gut. Hey, ich frage Harry, vielleicht kannst du eine Weile bei uns bleiben? Wir könnten im Garten campen oder im Dachboden.“ Ich lächelte und legte die Hand auf seine Schulter.
„Danke Liz, das wäre wirklich…“
„ELIZABETH! Warum um alles in der Welt steht die Haustüre schon wieder sperrangelweit offen? Wozu glaubst du, haben wir sie? Als Durchzugsschneiße für Ungeziefer? Ganz zu schweigen von den Leuten, was wenn plötzlich irgendjemand-“ Harry verstummte mitten in seiner Tirade als er den Vorraum erreichte und Ben in der Tür stehen sah.
„Hallo Harry.“ Er hob die Hand und lächelte unsicher.
„Oh, hallo Ben! Ein ungünstiger Ort für ein Gespräch, dennoch zieht euch beide die Zone zwischen Tür und Schwelle magisch an, hm?“ Er funkelte mich tadelnd an. Ben trat schnell ein und ich schloss die Tür. Es waren tatsächlich einige Fliegen herein gehuscht.
„Hättest du etwas dagegen, wenn Ben eine Weile bei uns bleibt?“, fragte ich Harry.
„Aber natürlich nicht. Ich bin in meinem Arbeitszimmer, falls ihr etwas braucht. Seht zu, dass ihr zum Tee und spätestens zum Abendessen wieder hier seid.“, mahnte er ehe er verschwand.
Ben und ich verzogen uns solange in den Garten und setzen uns vor die Zelte hinter dem Haus.
Er schwieg eine lange Zeit und ich konnte es nicht ertragen, ihn so zu sehen.
„Ben… es tut mir ja so leid. Aber falls du irgendetwas brauchst, ich bin da. Ich weiß, es ist schlimm und am Anfang tut es weh aber das geht vorbei…“
„Hör endlich auf damit! Es reicht!“, er war laut geworden, hatte geschrien. Ich starrte ihn fassungslos an, doch er fuhr unbeirrt fort.
„Warum glauben alle, dass sie wissen, wie man sich fühlt? Natürlich, deine Eltern sind tot, alle beide, es hat weh getan und du hast geheult, aber das ist normal! Es geht aber auch anders, auch wenn es niemand wahr haben will. Wer hat gesagt, dass ICH heule? Nur weil meine Mutter um ihn weint, muss ich es nicht auch tun.
Nur weil alle anderen todtraurig sind weil er fort ist, muss ich es nicht auch sein. Es kann auch anders sein, verstehst du?!“
Er blickte mich an und seine Augen schimmerten feucht. Er sah verzweifelt aus, weil er begriff, dass ich es nicht tat. Ich verstand nicht, was er mir sagen wollte.
Er seufzte und stütze den Kopf in die Hände.
„Es tut mir leid, ich wollte dich nicht anschreien. Aber was ich sagen will ist…“. er stockte, schien zu überlegen, ehe er fortfuhr.
„Hast du dir jemals gewünscht, dass Harry nicht mehr da wäre?“
Fassungslos schüttelte ich den Kopf.
„Nein, niemals! Harry ist immer da und er wird immer da sein!“
„Siehst du? Du würdest auch um ihn weinen, wenn er sterben würde, oder?“
„Natürlich, aber Ben, ich weiß nicht was…“
„Harry war immer für dich da, er hat dich getröstet, auf doch aufgepasst, dir Dinge gelernt und gezeigt, er hat dir Geschichten erzählt und er hat dir Pflaster auf deine Schrammen geklebt, anstatt dir welche zu verpassen.“
ich starrte ihn an. Langsam wurde mir bewusst, was er mir zu sagen versuchte. Ich wusste, dass sein Dad nicht immer einfach gewesen war und ich wusste auch, dass nicht alle seiner blauen Flecken von den beiden Schulrowdies gewesen waren.
„Ben, du meinst…“
„Ja. Ich habe mir gewünscht, dass er fort ist. Einfach weg, für immer. Ich wollte, dass er mich in Ruhe lässt, dass er einfach aufhört. Natürlich habe ich mir nicht direkt gewünscht, dass er stirbt aber jetzt wo er fort ist… Ist er fort und das ist gut so. Darum muss mir niemand sagen, wie leid es ihm tut, dass ich keinen Vater mehr habe. Ich hatte nie einen. Du hingegen, du hättest Grund zu weinen, wenn Harry sterben würde. Ich habe keinen.“
Nun schwieg auch ich lange Zeit.
„Ich habe schon ewig nicht mehr an Charles gedacht.“
„Wer ist Charles?“
„Mein Vater, ich meine, ich habe schon ewig nicht mehr an meinen Vater gedacht. Weißt du, Harry nennt immer Charles wenn er von ihm spricht, wenn er mir von ihm erzählt. Am Anfang, als ich zu meiner Granny kam, hab ich noch oft geweint. Er hat mir gefehlt. Ich war zwar noch ein ganz kleines Kind, doch ich wusste, dass sie tot waren. Cha- äh, meinen Dad mochte ich immer lieber als meine Mum, darum hab ich ihn mehr vermisst. Doch ich dachte immer weniger an sie und als ich zu Harry kam, hörte ich irgendwann damit auf. Natürlich sind sie meine Eltern aber… Seitdem ich mit Harry bei ihrem Grab war, denke ich kaum noch an sie. Für mich sind sie irgendwie zu Figuren geworden, von denen Harry erzählt. Manchmal erwische ich mich sogar dabei, wie ich Harry „Dad“ nennen will. Aber es ist eben so, Harry IST jetzt mein Dad.“
„Wow. Dann sind wir beide irgendwie schlechte Menschen.“
„Glaubst du?“
Wieder zuckte er mit den Schultern.
„Keine Ahnung. Welches Kind, dass seine Eltern fort wünscht oder jemand anderen als seine Eltern sieht, ist ein gutes Kind?“
Nun zuckte ich mit den Schultern.
„Aber wir sind keine Kinder mehr. Zumindest nicht ganz.“
„Mhm… Außerdem, bei Harry ist es etwas anderes. Er wollte ja niemals dein Dad werden und du wolltest doch nicht von Anfang an, dass du einen neuen Dad bekommst oder?“
Ich schüttelte den Kopf. „Das war Zufall.“
„Oder Schicksal.“, sagte Ben.
Ich für meinen Teil glaubte nicht so recht an Dinge wie Schicksal. Ob Harry wohl daran glaubte? Noch ehe wir uns weiter fragen konnten, ob wir nun schlechte Menschen waren oder nicht rief uns Harry zum Tee ins Haus.
Während wir Harry’s heiße Schokolade schlürften und Schokoladenkekse mit extra Schokoladensplittern aßen dachte ich darüber nach, ob ich ein schlechter Mensch war und kam zu dem Schluss, es nicht zu sein. Was war so falsch daran, jemanden bedingungslos zu lieben, der einen selbst ebenso liebte? Für mich lag darin nichts Verwerfliches. Gut, ich hielt mich nicht für einen Unschuldsengel, aber ein schlechter Mensch war ich auch nicht. Ben nahm sich all das viel zu sehr zu Herzen, doch es brauchte vermutlich eine Weile um sich selbst klar darüber zu werden, was man ist und mit sich ins Reine zu kommen. Vorerst konnte er sein inneres, schwarzes Loch mit Keksen stopfen und falls es dann noch keine Ruhe gab, später gab es noch Abendessen.
Offenbar hatte Ben's Schwarzes Loch keinen Hunger mehr, es schien voll mit Keksen zu sein, denn beim Abendessen stocherte er nur mit der Gabel auf seinem Teller herum. Wenn mich etwas bedrückte konnte ich Tonnen von Essen verschlingen, bei Ben schien das Gegenteil der Fall zu sein. Selbst Harry's beste Würstchen mit Speck und Kartoffelbrei blieben teilweise auf Ben's Teller liegen. Ich für meinen Teil aß alles, außer die Erbsen, denn Erbsen konnte ich seit jeher nicht leiden. Mir warf Harry einen tadelnden Blick zu als ich vom Tisch aufstehen wollte.
"Elizabeth?"
"Hm?"
"Iss dein Grünzeug. Du weißt, dass du davor nicht ans Aufstehen zu denken brauchst."
Grummelnd setzte ich mich und matschte die Erbsen auf meinem Teller zu Brei. Ich war kein kleines Kind mehr, das sein Gemüse zu essen hatte, damit es groß und stark wurde. Ich war bereits groß, oder zumindest größer als vorher.
Ben hingegen schien von alledem nichts mitbekommen zu haben. Erst als er das Wort an Harry richtete blickte ich wieder von meinem Erbsenbrei auf.
"Harry?"
"Ja, Ben?"
"Darf ich bitte aufstehen? Ich.... Mir ist etwas komisch."
"Aber sicher."
"Danke."
"Gute Nacht, Liz.", er winkte mir noch zu ehe er die Küche verließ.
"Mnh-Nacht"., antwortete ich kauend, was mir einen tadelnden Blick von Harry einbrachte.
"Elizabeth..."
"Ja ich weiß, ich soll nicht mit vollem Mund sprechen... Das hast du mir seit ich klein bin über eine Milliarde Mal gesagt."
"Offenbar nicht oft genug.", seufzte Harry und räumte meinen leeren Teller ab.
Auf Ben's Teller waren immer noch ein halbes Würstchen, etwas Kartoffelbrei und eine Scheibe Speck. Ausgerechnet die Erbsen hatte er aufgegessen. Alle!
Kopfschüttelnd erhob ich mich vom Tisch. Trauer verwirrte offenbar sowohl den Verstand als auch den Geschmack.
"Harry?"
"Hmh."
"Ich mache mir Sorgen um Ben."
"Ich weiß Lizzy."
"Was ist mit dir?"
"Ich glaube er schafft das schon. Ganz sicher. Er braucht nur etwas Hilfe... So etwas ist niemals leicht, verstehst du?"
Ich nickte, obwohl ich keine Ahnung hatte. Ich war zu klein gewesen um den Tod meiner Eltern vollkommen begreifen zu können, der Tod meiner Großmutter war schon etwas anderes gewesen. Dann war ich zu Tante Adeleide gekommen... Aber nein, um sie hätte ich bestimmt nicht geweint. Aber jetzt war ich bei Harry und wenn er... Nein, Schluss damit. An so etwas wollte ich nicht denken.
"Harry, glaubst du, dass du ihm helfen kannst?"
"Hm... Ich glaube, dass wir ihm helfen können. Aber zu allererst braucht er Zeit und Ruhe. Ich werde später noch einmal nach ihm sehen."
Ich nickte erneut und umarmte Harry.
"Danke Harry."
"Schon gut. Du solltest jetzt auch ins Bett gehen, es ist spät."
"Es ist erst kurz nach Acht! Ich bin kein Baby mehr!"
"Ach nein? Warum müssen deine Erbsen dann zu Brei gematscht werden ehe du sie isst?" Er zog eine Augenbraue hoch und blickte mich an.
Ich grummelte nur irgendetwas und musste unweigerlich kichern.
"Gute Nacht, Harry."
"Gute Nacht, Lizzy."
Ich ging zu Bett, da ich tatsächlich müde war und dachte über Ben nach und darüber, was Harry wohl unternehmen würde um Ben zu helfen. Doch lange überlegte ich nicht mehr, ich schlief bald ein. Am nächsten Morgen aber erzählte Ben mir, was Harry getan hatte:
Es war noch nicht lange her, dass Ben den Esstisch verlassen hatte. Harry hatte den Abwasch erledigt und war dann mit einem Tablett zu Ben ins Zimmer gegangen. Ben sagte, dass er sich erschreckt hatte, als es plötzlich an der Tür klopfte.
"Liz?", hatte er durch die Tür gefragt.
"Beinahe. Ich bin es."
"Harry?"
"Ganz genau."
"Äh, komm rein."
Harry öffnete die Tür und trat ins Zimmer. Ben wohnte im Gästezimmer, ein schönes Zimmer mit dunkelgrüner Tapete im Brokatmuster.
Er stellte das Tablett auf den Nachttisch, der neben dem Bett unterm Fenster stand.
"Wie fühlst du dich?", fragte Harry.
"Irgendwie seltsam."
"Seltsam? Soso... Ich habe dir etwas mitgebracht. Lizzy trink es immer wenn ihr etwas fehlt. Wenn sie aufgewühlt ist oder nicht schlafen kann."
Er reichte Ben die große Tasse, die auf dem Tablett stand.
"Vorsicht, es ist heiß."
Ben hatte ihn komisch angeblickt, was Harry schmunzeln ließ.
"Keine Sorge, das sind keine Beruhigungsmittel oder Tabletten. Gift ist es auch nicht. Es ist nur heiße Milch mit Honig, Zimt und etwas Vanille. Das hilft gegen den Kummer, und die Kälte." Harry lächelte ihn an.
"Danke.", flüsterte Ben.
"Ist es draußen denn so kalt, dass man sich erkälten kann?", fragte er nach einer Weile.
Harry schüttelte den Kopf.
"Nun ja, wenn man Kummer hat, scheint einem die Welt gleich um einiges kühler zu sein als sonst. Man friert dann selbst im Sommer."
Wieder blickte Ben ihn eine Weile lang an und sagte nichts.
Auch Harry war still geblieben.
Dann, ganz plötzlich war alles aus Ben herausgebrochen.
"Ich habe das alles nicht verdient! Dass ich hier bin und dass du so gut zu mir bist, einfach alles!", schluchzte Ben.
"Warum sagst du denn nur sowas?", fragte Harry mit sanfter Stimme.
"Weil ich gar keinen Kummer habe! Nun ja, schon, aber nicht deswegen! Nicht wegen ihm, nicht so sehr wie ich sollte!"
Harry runzelte die Stirn und musterte Ben eindringlich.
"Niemand schreibt dir vor, weswegen du Kummer haben musst, Ben. Du musst bestimmt keinen Kummer haben, weil du keinen hast."
"Das ist es nicht... nicht ganz." Ben hatte den Kopf in die Hände gestützt und schien nachzudenken.
"Was bekümmert dich dann?"
Harry blickte ihn fragend an, wartete aber. Nach einer Weile hatte Ben sich beruhigt. Er hob den Kopf und blickte Harry direkt an. Er seufzte.
"Harry?"
"Mhm?"
"Bin ich ein schlechter Mensch?"
Harry blickte ihn lange an, dann schüttelte er den Kopf.
"Aber nein. Kind, wie kommst du denn auf solche Gedanken?" Er musterte ihn mit hochgezogenen Augenbrauen.
"Weil ich nicht so traurig bin, wie ich es eigentlich sein sollte, verstehst du? Mein Vater ist tot und ich habe noch nicht einmal geweint. Er ist einfach weg und naja es ist auch... du weißt schon."
Harry nickte. "Ich weiß."
Ben sah ihn verwundert an. "Wirklich?"
"Aber natürlich. Weißt du, es ist so... Man trauert um Menschen immer so, wie es zu ihnen passt. Angemessen, sagt man. Doch angemessen heißt nicht zwingend, dass man Bäche weinen muss, nein, so ein Humbug.
Trauer ist etwas ganz und gar Eigenartiges. Es kommt immer auf den Menschen an, Ben.
Man geht immer anders damit um. Es kommt auch immer auf die Beziehung zwischen den Menschen an.
Lass mich dir eine Geschichte erzählen. Es war einmal ein Mädchen, sie was das freundlichste, aufgeweckteste Geschöpf das ich bis dahin kannte. Wir hatten immer viel Spaß miteinander. Häufig versteckten wir uns im Kleiderschrank und malten uns die aberwitzigsten Dinge aus. Dort in diesem Schrank gab es Monster, die es zu beigen galt, es wimmelte von Schätzen, die man finden musste... Er war ein Tor zu tausend Welten. Ich habe sie sehr geliebt und in ihrer Nähe konnte ich niemals traurig sein. Auch sie war niemals traurig, sie hasste es zu weinen und sie hasste es noch, Menschen weinen zu sehen, denn das machte sie traurig.
Eines Tages aber starb dieses wunderbare Mädchen, meine über alles geliebte Schwester, und ich war untröstlich. Ich hatte mich im Kleiderschrank versteckt und wollte niemals wieder herauskommen. Meine Mutter hat geweint, so sehr und so lange, bis sie keine Tränen mehr hatte. Ich hingegen weinte nicht. Einmal weinte ich heimlich, im Kleiderschrank, doch dann niemals wieder. Warum nicht? Nun, ich wollte nicht traurig sein, weil es sie traurig gemacht hätte.
Ich war glücklich, wenn ich an sie dachte und das war es, was sie gewollt hätte. Sie wollte niemals, dass jemand traurig war, darum war ich es auch nicht, denn ich wollte sie nicht traurig machen."
Lange Zeit herrschte Stille, dann ergriff Ben das Wort.
"Dann bin ich doch kein schlechter Mensch. Ich bin traurig, aber ich trauere so um ihn, wie es ihm gepasst hätte. Du hast recht... er hätte mich ein verweichlichtes Mädchen geschimpft, wenn er mich heulen sehen würde. Ich habe ihn schon gemocht, aber..."
"Ich weiß."
Harry lächelte. Ben aber schluchzte und lehnte sich gegen Harry, der neben ihm auf dem Bett saß.
Dann weinte Ben gegen Harry's Schulter.
"Ach Herrje, aber nicht doch! Um Himmels Willen Ben... "
Harry hob abwehrend die Hände und blickte Ben fassungslos an.
"Was um alles in der Welt... Kinder...", er seufzte und tätschelte Ben den Rücken.
"Na na... aber nicht doch... "
"Ich weiß, ich bin eigentlich zu groß für sowas.", murmelte Ben.
Darauf musste Harry lachen.
"So ein Humbug, man ist nie zu groß für irgendetwas."
Auch Ben lächelte wieder und richtete sich auf.
"Aber ich fürchte, ich bin zu alt für große, heulende Kinder... oder noch nicht alt genug, wer weiß... Ich kann mit sowas einfach nicht gut umgehen."
"Ich finde schon. Was hast du dann eigentlich getan, wenn Liz geheult hat, als sie klein war?"
"Um Himmels Willen, ich bin fast gestorben! Ich hatte keine Ahnung, wie ich sie zum Aufhören bringen konnte!" Er schlug die Hände hinter dem Kopf zusammen und Ben musste lauthals lachen.
"Danke, Harry."
"Aber nicht doch, wofür denn?"
"Für alles."
"Immer doch."
Harry hatte noch ein letztes Mal gelächelt und war dann verschwunden.
So war er nun einmal, er war immer da wenn man ihn brauchte, auch wenn man sich selbst nicht darüber im Klaren war, dass man ihn gerade in diesem Augenblich brauchte. Doch schien es zu wissen, wie er alles zu wissen schien, obwohl er selbst der Meinung war, bei Weitem nicht alles zu wissen. Doch machte genau dieses Wissen nicht schon irgendwie weise? Nun ja, über Weisheit an sich kann ich Ihnen nichts genaues sagen, doch über Irrglauben und Nichtwissen, oh ja.
Ich für meinen Teil glaubte immer, alles über Harry zu wissen, doch an einem Tag lernte ich, wie falsch ich doch lag. Gut, ich wusste was Harry mochte und war auch überzeugt zu wissen, wen er mochte und gemocht hatte. Doch das war ein Irrtum von gewaltigen Ausmaßen. Warum? Nun, es schien Leute in Harry's Leben zu geben, die für mich nicht existent waren. Warum? Nun, weil ich nichts von ihnen wusste. Warum das? Tja, da gibt es etwas, das ich ganz sicher weiß und immer wusste: Harry hatte Geheimnisse. Ja, er hatte so viele davon wie er Dinge am Dachboden und in den Kellern hatte. Er hatte so viele von ihnen wie er Bücher besaß. Das war auch okay, ich wusste, dass er Geheimnisse hatte. Doch dass er sie selbst vor mir hatte war mir bislang nicht klar gewesen.
Was ich ebenfalls nicht geglaubt habe, bis es dann geschah, war, dass er mir fast jedes dieser Geheimnisse näher bringen würde, wenn es denn an der Zeit dafür war.
Es war einer der langen Tage, die sich zogen wie das Kaugummi, das man unter den Tischen meiner alten Grundschule findet, wenn man sie jedes Jahr zum Beginn der Sommerferien säubert. Zwar regnete es nicht, aber es sah verdächtig danach aus. Es schien, als könnte der Himmel selbst sich nicht entscheiden, ob es nun regnen sollt oder nicht. Ich zumindest wusste nichts mit mir anzufangen, gerade war Ben mit seiner Mutter zu seiner Tante gefahren, er musste sie nun oft begleiten, seit sein Vater gestorben war.
Gerade war ich zu Hause angekommen, doch wieder meiner Erwartungen war Harry nicht anzutreffen. Seltsam, er verließ das Haus für gewöhnlich nie, ohne mir Bescheid zu sagen. Ratlos beschloss ich, ein wenig umher zu wandern, vielleicht fand ich ihn irgendwo im Keller, im Dachboden, in der Bibliothek oder, was am wahrscheinlichsten war, in seinem Arbeitszimmer.
Meine ersten Anlaufstellen waren allesamt Nieten, Harry war nicht aufzufinden. Selbst sein Arbeitszimmer war gespenstisch leer. Die Tür stand sogar sperrangelweit offen, was sie sonst niemals tat. Und was war das? Dort drinnen herrschte ein, für Harry untypisches, Durcheinander! Ich bezeichne es als normale Unordnung, für Harry's Verhältnisse aber war dies ein Chaos schweren Ausmaßes - die Vorstufe zur totalen Anarchie.
Ich blickte mich noch ein letztes Mal sorgfältig um und rief seinen Namen.
"Harry?"
Nichts. Ich weiß, ich sollte nicht, aber ich konnte einfach nicht anders. Vorsichtig darauf bedacht, nichts umzuwerfen trat ich in Harry's Allerheiligstes.
An einer Wand des Raumes standen Kisten, alte, abgewetzte Truhen aus dunklem Holz mit Eisenbeschlägen, solche Kisten, wie ich sie vom Dachboden kannte. Unter dem Fenster befand sich Harry's Schreibtisch, ein ausladendes, kunstvoll verziertes Ungetüm aus Ebenholz mit geschwungenen Beinen und vielen Schubladen. Darauf thronte seine Schreibmaschine. Die schwarzen Teile waren blank poliert, die silbernen Tasten und Verzierungen blitzen. Für etwas, das er tagtäglich benutzte sah sie aus wie neu. In der Mitte des Raumes jedoch, türmte sich ein Berg von Karten, Büchern und Papier. Viele Schubladen der Kästen und Regale, die die Wände des Zimmers einnahmen waren ebenfalls geöffnet worden. Es sah aus, als hätte er krampfhaft nach etwas gesucht. Ich trat näher an den runden Tisch in der Mitte und nun viel mir auf, dass die Bücher keine richtigen Bücher waren, sonder eher Alben. Sie waren vollgeklebt mit Bildern, Skizzen und Notizen. Hierbei handelte es sich tatsächlich um die kleinen roten Notizbücher, in denen die Harry all seine Reisen dokumentiert hatte! Ich starrte sie an, wagte es aber nicht, sie zu berühren. Harry hatte mir von ihnen erzählt, als er mir von seinen Reisen erzählt hatte. Er hatte mir auch Dias, einige Bilder und Souvenirs gezeigt, doch es gab auch viele Dinge, die er mir vorenthalten hatte. Diese Bücher gehörten dazu. In diesem Buch war ein Bild zu sehen, ich glaubte, es schon einmal als Dia gesehen zu haben. Es zeigte eine Gruppe von Männern, Harry war darunter. Sie alle schienen glücklich zu sein, voller Erwartungen und Tatendrang. All diese Menschen... Hatte Harry sie alle gemocht? Warum hat er mir nie von ihnen erzählt? Oder vielmehr, warum habe ich ihn nie gefragt? Einer der Männer war Charles, mein Vater. Die anderen sieben kannte ich nicht. Auf der anderen Seite des Buches war ein Bild von einem der Männer, darunter standen ein paar Notizen. Ich blätterte um und fand ein weiteres Bild. Offenbar hatte Harry von jedem seiner Mitreisenden ein kleines Profil erstellt. Doch warum kramte er dies alles jetzt hervor? Arbeitete er an einem neuen Buch? Oder was hatte er vor? Noch ehe ich einen anderen Gedanken fassen konnte, hörte ich das vertraute Geräusch der Haustüre. Herrje! Jetzt aber nichts wie raus hier! Ich fühlte mich wieder wie ein kleines Mädchen, wie damals als ich heimlich in die Speisekammer geschlichen bin um mir Kekse zu stibitzen. Wohin jetzt? "Los, mach schon, in die Küche, tu so, als würdest du aus deinem Zimmer kommen!", flüsterte die kleine Stimme in meinem Kopf, die in solchen Situationen immer wusste, was zu tun war.
Betont lässig schlenderte ich in die Küche, wo mich dann fast der Schlag traf, als Harry die hintere Tür zum Flur öffnete.
Er schien ebenso überrascht zu sein, mich zu sehen, wie ich mich erschrak, ihn zu sehen.
Sein Blazer saß schief, einer der runden Lederflicken an seinen Ellenbogen hing herab, er hatte ihn sich offenbar ausgerissen. Sein fülliges Haar war zwar wie immer zurückgekämmt, stand aber dennoch etwas wirr in die Höhe, beinahe so, als hätte ihn heute Morgen der Wind frisiert, wie Tante Sam zu sagen pflegte. Unter seinen Arm war eine Mappe geklemmt, aus der ein Blatt Papier zu fallen drohte. Insgesamt schien er etwas durcheinander zu sein.
"Harry?", fragte ich ihn vorsichtig. "Ist alles in Ordnung?"
"Hm?", er musterte mich perplex ehe er antwortete.
"Oh ja, ja, alles bestens! Ich brauchte nur noch Papier, ist denn das zu fassen, dass mir das Papier ausgeht? Mir!", er lachte auf, doch sein Lachen hatte etwas Krampfhaftes, Bitteres.
"Willst du denn schreiben? Arbeitest du an einem neuen Buch?", fragte ich gespannt.
"Aber nein, heute nicht Lizzy."
"Wozu brauchst du dann Papier?", fragte ich verwirrt.
"Ich muss nachdenken.", antwortete er, als würde dies die Antwort auf alle wichtigen Fragen der Menschheit zugleich sein.
"Aha... Hast du nicht irgendetwas vergessen? Gibt es noch etwas, das du mir vielleicht sagen möchtest?", hakte ich vorsichtig nach.
"Achja, natürlich. Ich will nicht gestört werden! Und um 5 gibt es Tee."
Mit diesen Worten war er an mir vorbei und in seinem Arbeitszimmer verschwunden. Seltsam.
Ich trat in die Küche und stellte fest, dass Harry tatsächlich Papier gekauft hatte. Einige Stapel türmten sich am Küchentisch. Nunja, zumindest war sein Papierbunker nun wieder voll. Ich würde die Stapel jedenfalls nicht in sein Arbeitszimmer schleppen, das sollte er ruhig selber machen. Seufzend schnappte ich mir ein Glas Limonade und dachte nach. Eltern. Sie werden immer komischer, je älter man wird.
Kopfschüttelnd machte ich mich auf den Weg zum Dachboden, um dort etwas zu stöbern und meine Limonade zu genießen. Harry war heute aber auch seltsam... Nun gut, er war seltsam seit ich ihn kenne und war es vermutlich schon sein ganzes Leben vor mir gewesen aber so eigenartig hatte er sich noch nie benommen. Ich beschloss, Ben anzurufen und fragte ihn ob er vorbeikommen könnte. Wenig später saßen wir beide zusammen im Lichtkreis des großen Fensters an der hinteren Wand des Dachbodens.
"Und du hast mich herbestellt weil Harry seltsam ist?" fragte er mich stirnrunzelnd.
"Ja.", antwortete ich und nippte an meiner Limonade.
Ben seufzte und musterte mich. Er wusste, dass er keine Chance hatte, um ein Gespräch rund um meine -seiner Meinung nach unbegründete- Paranoia herumzukommen, darum fügte er sich seinem Schicksal, setze eine pseudobesorgte Miene auf und begann so zu tun, als würde er sich für meine trivialen Probleme interessieren. Immerhin waren wir keine Kinder mehr, von einem Jungen im Teenager alter konnte man sich doch etwas Ernsthaftigkeit erwarten oder?
Ben räusperte sich nachdem er seine Limonade geleert hatte und ich schenkte ihm nach. Da Harry den ganzen Tag in seinem Arbeitszimmer verbringen würde hatten wir uns mit einem großen Krug von Harry's selbstgemachter Zitronenlimonade und ein paar Keksen eingedeckt, die wir mit auf den Dachboden genommen hatten.
"Also..." begann er, "Ist dir in letzter Zeit etwas aufgefallen, das Harry anders gemacht hat als sonst? Irgendein besonders seltsames Verhalten oder so etwas in der Art?"
Ich dachte nach, aber mir viel nicht wirklich viel dazu ein... bis auf...
"Briefe! In letzter Zeit sind haufenweise Briefe gekommen. Für gewöhnlich erhält Harry zwar immer Post, aber nie so viel. Er nimmt aber immer nur einen oder zwei Bestimmte heraus und nimmt sie mit in sein Arbeitszimmer, die restliche Post liest er wie immer in der Küche."
"Hm... Das heißt also, Harry hat plötzlich vermehrt Kontakt zu anderen Menschen!", schlussfolgerte Ben.
"Genau."
"Himmel, das ist ja wirklich seltsam! Sag mal Lizzy, weißt du eigentlich, ob Harry so etwas wie Freunde hat? Außer seinen Büchern meine ich."
"Harry und Freunde? Jetzt hör mir aber auf. Ich habe noch nie einen anderen Menschen in diesem Haus gesehen außer Tante Sam, dir und mir. Seit ich hier bin nicht."
"Aber was ist mit der Zeit vor dir? Harry war doch mit deinem Vater befreundet und war er nicht viel auf Reisen, auch mit anderen Leuten?"
"Stimmt, er und Charles hatten ein paar Freunde oder Reisekameraden oder was auch immer. Der Kontakt ist denke ich abgerissen als Charles starb!"
Ben war mir einen komischen Blick zu, er hatte sich noch immer nicht daran gewöhnt, dass ich meinen ehemaligen Vater bei seinem Vornamen nannte, doch er sagte nichts mehr dazu.
"Wenn das so ist, dann müsste es doch irgendetwas geben, was ihn an diese Leute erinnert oder?", meinte Ben.
"Klar, der Dachboden ist voll von Büchern, Dias, Filmrollen und Fotos von..."
Ich musste nicht weiter sprechen, Ben und ich warfen uns einen Blick zu und stürzten uns auf die Kisten.
Wenig später winkte mir Ben mit einem großen, vergilbten Foto zu.
"Komm mal her Liz, ich glaube das könnte was sein!"
Ich kletterte über eine eisenbeschlagene Truhe und musterte das Bild, mit dem Ben wedelte. Es klebte in einem Fotoalbum und sah aus als wäre es irgendwo mitten in der Einöde entstanden. Es zeigte drei Männer, Harry, Charles und jemanden, den ich nicht kannte.
"Weißt du, wer das ist?", fragte Ben.
Ich schüttelte den Kopf. Er muss ihn schon länger kennen, auf dem Bild sehen sie noch recht jung aus. Glaubst du, er lebt noch?
"Warum nicht?", fragte ich.
"Naja, vielleicht ist er, im Gegensatz zu Harry und meinem Dad in den Krieg gezogen?", schlug Ben vor.
"Du meinst, er ist gefallen? Aber wenn ja, warum sollte er ihm dann Briefe schreiben? Tote schreiben keine Briefe, Ben!"
"Stimmt..."
"Aber warum meldet er sich erst jetzt?"
"Vielleicht will er wissen, ob Harry noch lebt? Während des Krieges war es doch nicht sicher ob und wann ein Brief ankommt und überhaupt! Aber woher können wir wissen, dass es genau dieser Mann ist? Auf den Fotos sind auch andere Männer." Ben blickte mich zweifelnd an.
"Hm... sieh mal, dort unten stehen Namen. Charly, Harry, Barty, Jim und Gee.", ich deutete auf die geschwungene Schrift, die als Harrys Handshrift identifizieren konnte.
"Wer die ersten beiden sind, wissen wir. Aber wer sind die anderen und wer von denen schreibt Harry?", fragte Ben.
"Keine Ahnung, ich weiß nur, dass die meisten von Harry's alten Freunden tot sind. Hat er mir erzählt.", erklärte ich Ben.
"Er hat dir von ihnen erzählt?"
"Hmhm... aber nie etwas Genaues, nur, dass es sie gab, er sie gern hatte, sie gereist sind und sie tot sind. Er hat nie viel über seine Vergangenheit gesprochen. Gut, er hat mir viele Geschichten erzählt, die er erlebt hat aber er hat nie von seinen Beziehungen zu Menschen gesprochen oder so etwas derartiges."
"Nunja, wir haben immerhin Namen, das ist schon mal was. Wir müssen lediglich den Namen des Absenders herausbekommen und dann sehen wer von ihnen es ist.", stellte Ben fest.
"Du bist ein Genie! Aber wie stellen wir das an? Harry hasst es, wenn ich in der Post wühle!"
"Hm...wir müssen einfach..."
Doch noch ehe Ben etwas Konkretes sagen konnte hörten wir von unten das Schrillen des Telefons, gefolgt von einem Rumpeln.
"Vielleicht ist er das, vieleicht ruft er ihn ja an! Los runter!", befahl ich.
Wie von der Tarantel gestochen stürmten wir nach unten, um vor Harry den Hörer abzunehmen, doch noch ehe wir zur Gänze um die Kurve geschlittert kamen erblickten wir Harry, wie er abnahm und sich meldete.
"Porter House- Herrje Lizzy, wie oft soll ich es dir noch sagen, im Haus wird nicht gerannt, zum Teufel nochmal!"
Ben und ich kamen knapp zum Stehen und vermieden es noch gerade, Harry umzurennen, der uns tadelnd angiftete während er in aller Höflichkeit und so freundlich wie ein nettes, kleines Mädchen, das Süßigkeiten schnorren will mit Bens Mutter sprach.
"Guten Tag Mrs. Grey, ja Ben ist noch bei uns, selbstverständlich richte ich es ihm aus... " Blablabla.... Ben und ich musterten uns und verdrehten die Augen. Wir wussten, das bedeutete nichts Gutes. Bens Mum war einer der wenigen Menschen zu denen Harry nicht nur höflich, sondern auch wirklich freundlich war. Vermutlich aber nur weil sie eben Bens Mum war.
So eben hängte er den Hörer auf die Gabel und drehte sich uns um.
"Ben, deine Mutter hat angerufen, wie ihr sicher bereits bemerkt habt - Man belauscht übrigens nicht die Telefonate anderer! Sie sagte du sollst nach Hause kommen. Augenblicklich, deine Tante ist da."
Ben verdrehte noch einmal die Augen, er konnte seine Tante nicht besonders leiden, verabschiedete sich dann aber und ging brav nach Hause.
Nun lag es an mir, dem Geheimnis auf den Grund zu gehen.
Zugegeben, Harry verhielt sich fast immer seltsam, besonders wenn er gerade über einem neuen Buch brütete, denn wenn er schrieb war er sogar noch merkwürdiger als sonst. Wie dem auch sei, dieses Mal war alles eben ein bisschen anders, was das Ganze für Ben und mich zu willkommenen Abwechslung zu unserem recht faden Alltag machte. Die Schule mutierte kurz vor Ferienbeginn zu einer noch größeren Schlummerhöhle mit noch viel größerem Schnarchfaktor als sonst und selbst Ben, der sonst immer begeistert von diesem Ort war, schien sich ein bisschen zu langweilen, wie die normalen Menschen in diesen Mauern. Fast jeder dort hatte anderes im Kopf, man fragte sich, wer was mit wem in den Ferien machte, ob wer arbeiten musste und welches Mädchen sich wohl im modischsten Badeanzug am nächstgelegenen Wasser sonnen würde. Für mich war das wie immer kein Thema- mein Badeanzug war noch immer der selbe den ich damals mit Harry kaufte um ihn in Newport, Bembridge und so weiter am Strand zu tragen. Sprich, er war erstens zu klein und schon seit gut zehn Jahren aus der Mode. Ich hielt ohnehin nicht viel vom Sonnenbaden, nach wie vor bevorzugte ich Abenteuer beziehungsweise Reisen mit Harry und der Umstand, dass Harry plötzlich Freunde zu haben schien, die noch lebten roch ganz gewaltig nach einem mit einem Geheimnis einhergehenden Abenteuer.
Harry war nach seinem Telefonat mit Ben's Mum erneut in seinem Arbeitszimmer verschwunden und machte keine Anstalten, sich daraus hervor zu bewegen obwohl es schon fast Zeit für den Nachmittagstee war. Ich beschloss, mich in die Küche zu setzen und zu warten bis Harry kam um den Tee zu kochen, doch ich wartete und wartete, ohne dass er auftauchte. Es war schon fast elf Minuten nach 5 Uhr, als er endlich bemessenen Schrittes in die Küche trat und den Tee aufsetzte. Er schien weder mich, noch den Umstand, dass ich bereits den Tisch für den Tee gedeckt hatte zu bemerken, erst als er sich umdrehte blinzelte er überrascht und nahm mich wahr.
"Oh, Lizzy. Was hast du angestellt?"
"Gar nichts, weswegen?", antwortet ich leicht angesäuert. Also wirklich, nur weil ich einmal etwas im Haushalt tat, ohne direkt und das drei Mal dazu aufgefordert zu werden...
"Aja. Dann lass mich es anderweitig formulieren: Was möchtest du?", fragte Harry fast beiläufig als er mir etwas Tee einschenkte.
"Ich will gar nichts. Warum muss ich immer etwas angestellt haben oder etwas von dir wollen, wenn ich etwas tue, das ich sonst niemals mache?"
Harry zog eine Augenbraue hoch, nippte an seinem Tee und schien zu überlegen.
"Seltsames Verhalten erregt nun einmal Argwohn und du verhälst dich eben nur unter gewissen Umständen auf eine gewisse Art und Weise.", gab er dann zur Antwort.
Ich schnaubte. Seine Behauptung entsprach zwar der Wahrheit, jedoch pflegten wir diesen Umstand für gewöhnlich zu akzeptieren und zu ignorieren. Ich nippte ebenfalls an meinem Tee, welcher ein gänzlich anderer war als sonst. und holte zum Gegenangriff aus.
"Achja? Wenn ich die bin, die sich seltsam verhält, warum schenkst du mir dann plötzlich auch Earl Grey ein, obwohl du ganz genau weißt, dass ich immer Früchtetee mit Unmengen von Zucker trinke?"
Ha, jetzt hatte ich ihn. Triumphierend grinsend funkelte ich ihn über den Tisch hinweg siegessicher an. Doch Harry wäre nicht Harry wenn er nicht eine Antwort parat hätte.
"Nun, ich war lediglich der Überzeugung, dass du alt genug wärst, um dich an den Geschmack zu gewöhnen. Immerhin betonst du selbst schon seit langem, dass du kein Kind mehr bist. Das bist du wahrlich nicht Lizzy und da Früchtetee mit einer halben Tonne Zucker nun einmal etwas für verzogene Kinder ist, dachte ich mir, warum nicht Earl Grey? Übrigens, zu dieser Tageszeit empfehle ich Zitrone, keine Milch. Es schmeckt frischer und scheint mir passender für die Jugend zu sein."
Ich war baff. Er und seine Argumentationen, also wirklich! Dennoch, mir war der Moment der Verwirrung nicht entgangen, der sich in seinen Augen gespiegelt hatte. Wir musterten uns beide lauernd und betont lässig über den Tisch hinweg, bis Harry erneut nach seiner Tasse griff und daraufhin einen kräftigen Schluck Blumenwasser aus dem kleinen Schälchen mit Rosenköpfen trank, das als Dekoration von meiner Wenigkeit dort platziert war.
"Soso... Warum trinkst du dann meine Blumendekoration anstatt deines Tees?"
"Wie bitte? Was um....." Harry's Blick senkte sich auf die vermeidliche Tasse in seiner Hand und er hustete und prustete vor Überraschung und Fassungslosigkeit einige Rosenblätter quer über den Tisch. Das brachte mich um meine mühsam angehaltene Beherrschung, ich lachte ihn lauthals aus während er mich böse musterte.
"Was ist wirklich los, Harry?", fragte ich als ich mich erneut halbwegs unter Kontrolle hatte.
"Schreibst du wieder an etwas neuem? Oder schreibst du jemandem?", hakte ich nach.
Harry musterte mich eine Weile.
"Also möchtest du doch etwas von mir wissen, wie ich bereits mutmaßte. Umsonst deckst du keine Tische ohne Aufforderung, schon gar nicht mit Blumendekoration."
Ich seufzte. "Ich mache mir nun einmal Sorgen um dich, Harry! Du verhälst dich seltsam, sogar noch seltsamer als sonst. Du schreibst und bekommst ungewöhnlich viele Briefe mit komischen Frankierungen, du verschanzt dich in deinem Arbeitszimmer und als Ben und ich heute nachforschten fanden wir heraus, dass du sogar Freunde äh...hast?"
"Elizabeth, es ist zutiefst respektlos seine Nase in die Angelegenheiten anderer Leute zu stecken. Zudem ist es unhöflich. Außerdem begrüße ich es überhaupt nicht, dass du deine Nase in meine Angelegenheiten steckst! Schließlich spioniere ich dir auch nicht nach.", empörte sich Harry.
"Aber du könntest mit wenigstens sagen, wenn du ...", ich stockte.
"Wenn ich was?", hakte Harry nach.
Ja, wenn er was eigentlich Tat? Alten Freunden zu schreiben war schließlich kein Verbrechen, selbst wenn man jemand wie Harry war.
"Ich... Wir, Ben und ich dachten einfach... Du... Naja...", irgendwie wollte mir nichts einfallen. Verdammt.
Nun war es an Harry zu seufzen.
"Ach Lizzy. Darf man sich denn nicht einmal mehr beschäftigen, ohne dir meine Aktivitäten zu melden? Bin ich nun plötzlich der Jenige, der andauernd in Schwierigkeiten steckt und allerlei Unfug ausheckt? Nur weil du fast erwachsen bist, bin ich dir noch lange keine Rechtfertigungen bezüglich meines Verhaltens schuldig."
"Ich weiß. Es tut mir auch leid Harry aber... Es passt mir einfach nicht, dass du etwas vor mir verheimlichst!"
So, nun war es gesagt. Trotzig verschränkte ich die Arme vor der Brust, auch wenn mir klar war, dass Harry recht hatte mit dem, was er sagte.
"Aber Lizzy, wir haben doch viele Geheimnisse voreinander. Du verheimlichst mir ständig etwas."
"Schon aber..." Verflucht, er hatte Recht. Harry und ich pflegten stets gewisse Dinge für uns zu behalten.
"Aber was?"
"Aber Geheimnisse sind nicht gut für eine Beziehung!", argumentierte ich. Dieses Argument hielt ich sogar für recht stichhaltig, da ich einen Artikel in einem Magazin über Beziehungen gelesen hatte, als ich bei Betty Johnson, einer meiner Klassenkameradinnen war.
Harry verkniff sich einen Kommentar, der ihm sichtlich auf dem Lippen brannte und lächelte stattdessen milde.
"Soso... Nun, meine liebe Elizabeth, ich bin da ganz anderer Ansicht. Geheimnisse sind es, die einer Beziehung würze geben. Sie sind es, die dem jeweiligen Partner den Freiraum lassen, den er benötigt. Eine Beziehung ohne gewisse Geheimnisse wäre undenkbar und furchtbar öde, ja sogar zum Scheitern verurteilt würde ich sagen. Immerhin, Geheimnisse sind das Geheimnis, warum unsere Beziehung so wunderbar ist. Meinst du nicht auch?", er zwinkerte mir zu und lächelte.
Als ich ihn nur anstierte und nichts erwiderte, fuhr er fort: " Es kommt auf die Art von Geheimnissen an, Elizabeth. Wir beide haben zum Beispiel Geheimnisse, wissen aber davon, dass der jeweils andere sie hat, das ist das Geheimnis an Geheimnissen. Das ist es auch was dich an diesem Geheimnis stört, du wusstest nicht, dass ich es habe und es wurmt dich, dass du es herausfinden hast müssen."
Damit brachte er es auf den Punkt, doch er war nicht fertig.
"Wie dem auch sei, du wusstest, dass ich dir nicht alles aus meiner Vergangenheit erzählt habe, einige Dinge ja, aber bei Weitem nicht alles. Für vieles warst du noch zu jung, du hast nie gefragt und ich war nicht bereit, es dir zu erzählen." Er seufze und trank einen Schluck Tee, dieses Mal erwischte er die richtige Tasse, eher er fortfuhr. "Nunja, es mag nun an der Zeit es dir zu sagen, da du es ohnehin schon herausgefunden hast. Wie du schon weißt pflege ich eine Bekanntschaft mit jemandem, den du nicht kennst. Er ist ein alter Freund, ein ehemaliger Kamerad von mir und Charles, wir waren zusammen auf Reisen... Unser Kontakt brach niemals ab, jedoch blühte er erst vor kurzem wieder richtig auf, denn ich habe ihm ein Geheimnis anvertraut."
"Achja? Und welches?", nun war ich neugieriger denn je, ich brannte darauf, zu wissen, worüber er mir diesem Mann schrieb.
"Dich. Ich habe ihm von dir erzählt, vor langem schon, doch nun, da sich die Lage entspannt und wieder halbwegs normalisiert hat, habe ich beschlossen, dich ihm vorzustellen."
"Vorzustellen? Persönlich? Wem!? Wer ist er? Nun sag schon Harry!"
"Sein Name ist Bartholomew Nightingale, er ist ein sehr guter, alter Freund."
"Warum habe ich ihn denn dann nie kennen gelernt?"
"Weil er weit weg wohnt und ich einen günstigen Zeitpunkt abwarten wollte, um euch einander vorzustellen."
"Wo lebt er denn? Etwa in Birmingham? Bristol? London oder gar in Glasgow? Oh Harry, heißt das, dass wir nach Schottland fahren? Wir waren erst einmal in Schottland!"
"Ich muss dich enttäuschen, meine Liebe Lizz. Barty lebt in einer Stadt namens New York, das liegt in-"
"Amerika?!", kreischte ich dazwischen. "Wir fahren nach Amerika! Ganz im Ernst?!"
"Ja, wir werden nach Amerika fahren. Außerdem, es ist unhöflich jemanden zu unterbrechen, der gerade spricht und wie oft habe ich dir schon gesagt, dass du nicht kreischen sollst wie eine hysterische Göre? Selbstverständlich muss die Schule vorbei sein und deine Noten müssen demensprechend....", betete Harry mir vor, doch ich hörte ihm nur mit halbem Ohr zu. Amerika... War denn das zu glauben? Ich würde mit Harry nach Amerika fahren!
Wenn ich an meine Reise nach Amerika denke, so erinnere ich mich vor allem anderen an eine bestimmte Bezeichnung, ein Wort welches mir jedes Mal aufs Neue einfällt, wenn ich mich an das erste Bild zurück erinnere, das ich von Bartholomew Nightingale sah. Damals war ich noch wesentlich jünger gewesen und hatte das Bild von Harry, Charles und einigen anderen aus ihrer Reisegang angestarrt, das auf einem kleinen Tischchen in seinem Arbeitszimmer stand. Selbstverständlich erwischte mich Harry dabei und er kam nicht umhin zu fragen, was ich an diesem Bild fand. Er selbst fand, dass er auf diesem Bildnis viel zu jung und verwegen aussah. Ich hingegen war der Meinung, dass das verstrubbelte Haar und die zerknitterte Kleidung ihm ganz gut stand. Er hatte es selbst in jungen Jahren geschafft, in einem durchschwitzten, locker sitzenden Hemd mit einem staubigen Jackett und hochgekrempelten Hosen gut auszusehen. Jedoch ist dies meine heutige Meinung zu diesem Bild, damals interessierte mich etwas gänzlich anderes. Also sagte ich Harry, was ich an diesem Bild so besonders fand: "Der Mann dort neben dir sieht aus als wäre er aus Schokolade gemacht."
Zugegeben, die Aufnahme war in Schwarz und Grau gehalten, aber neben Harry's fast wandweißem Teint wirkte dieser Mann wahrlich, als bestünde er aus Schokolade, nämlich aus der bitteren, dunklen, die Harry so gerne aß.
Daraufhin hatte ich Harry gefragt, ob etwas mit dem Bild nicht stimmte, oder ob es der Mann war, mit dem etwas nicht in Ordnung war. Wie gesagt war ich noch klein und ich muss gestehen, dass ich mich ein wenig vor diesem Bild gefürchtet hatte.
"Irgendwie macht es mit Angst. Darum starre ich es auch an Harry, ich muss es ansehen, ich muss einfach!"
"Aber warum, Lizzy?"
"Naja, der Mann sieht komisch aus, fast so als wäre er komplett schwarz!"
"Nun Lizzy, das hat auch etwas damit zu tun, dass dieser Mann tatsächlich schwarz ist.", erklärte mir Harry.
"Wie jetzt? Er ist wirklich schwarz? Wirklich, von Kopf bis Fuß und überall?" Voller kindlichem Erstaunen hatte ich Harry angesehen, noch niemals zuvor hatte ich mir Gedanken gemacht, dass es Menschen gab, die tatsächlich schwarz waren.
"Ja Elizabeth, dieser Mann hat tatsächlich dunkle Haut..."
"Ist alles an ihm schwarz? Auch innen?"
"Wie bitte?", Harry schien erstaunt von meiner Frage zu sein, darum präzisierte ich sie.
"Haben schwarze Menschen auch schwarze Herzen?"
Verblüfft musterte Harry mich, er hatte erkannt, dass ich mich ein wenig fürchtete und ich hatte wirklich Angst. Der Gedanke, dass es Menschen gab, die dunkel waren wie die Nacht war schon gruselig für mich, doch dann dachte ich daran, wie solche Menschen wohl im Inneren wären und so kam es, dass ich glaubte, dass schwarze Menschen schwarze Herzen hatten. Von Anatomie wusste ich zu diesem Zeitpunkt in etwa so viel wie ein Kaninchen von Mathematik, darum war das Ganze für mich auch so unbegreiflich.
"Nein Elizabeth. Niemand hat ein schwarzes Herz. Im Grunde schlagen in uns allen dieselben Herzen, wir haben dieselben Knochen und denken mit den selben Gehirnen. Das Einzige, was uns äußerlich unterscheidet, ist unsere Hautfarbe und unsere Kleidung. Wir mögen zwar alle anders aussehen, aber im Grunde sind alle Menschen gleich. Ob man nun groß oder klein ist, gedrungen oder gertenschlank, dunkle oder helle Haut hat ist nicht von Belang. Das was uns ausmacht, kommt von innen. Es ist die Art, wie wir sind die uns ausmacht. Wer wir sind können wir uns nicht aussuchen. Ich habe mir sich ausgesucht Harold George Porter zu sein, ich wurde als der geboren, der ich bin. Jedoch liegt es an uns zu sein wie wir sein wollen. Die Fähigkeit zu sein wie wir sind, ungeachtet dessen wer wir sind ist es, was uns als Menschen definiert. Eine freundlich aussehende alte Dame kann genauso gut eine schreckliche, kaltblütige Mörderin sein wie ein zwielichtig aussehender Bursche ein hochgebildeter, kompetenter Lehrer sein kann. Was du siehst macht bei Menschen nichts aus, was du fühlst ist was zählt. Zudem ist es vollkommen egal, welche Farbe etwas oder jemand hat. Wer sagt, dass ein schwarzes Herz kein gutes Herz sein kann? Das ist Humbug Lizzy. Zudem ist es anatomisch inkorrekt, innerlich sind wir, wie gesagt, alle gleich. Nunja, bis auf ein paar geschlechtsbezogene Unterschiede, aber für so etwas bist du noch zu klein..."
"Das heißt also, dass alle Menschen anders aussehen, innerlich aber gleich sind und trotzdem jeder anders ist als der andere?"
"Genau."
Mir schwirrte der Kopf.
"Trotzdem, dieser Mann sieht aus, als wäre er aus Schokolade. Was aber nicht heißt, dass er aus Schokolade ist."
"Ja, so in etwa kann man es auch ausdrücken.", erwiderte Harry lächelnd.
Von diesem Tage an waren alle Menschen mit dunkler Haut für mich insgeheim Schokoladenmenschen.
Ich mochte diese Hautfarbe, lernte jedoch mit der Zeit und auf meinen Reisen mit Harry, dass diese Menschen nicht immer so behandelt wurden wie man es sollte. Ich hörte von Dingen wie Rassentrennung und lernte, dass andersfarbige Menschen als wertlos erachtet wurden und dass man ihnen unsägliches Leid zugefügt, allein weil sie so aussahen, wie sie eben aussahen. Als Kind hatte ich mich vor einem Mann auf einem Bild gefürchtet, zwar nur ein paar Minuten aber dennoch. Ich hatte mir immer eine andere Haut gewünscht, da ich aufgrund meiner Sommersprossen auch gehänselt worden war. Manche Kinder hatten immer gesagt, dass ich aussehe, als hätte man mir mit einer Schrotflinte ins Gesicht geschossen. Damals fing ich an zu lernen, dass Menschen Menschen, die anders aussehen als sie anders behandeln. In London war ich bereits einer bunten Mischung aus Menschen begegnet, doch nun, viele Jahre später würde ich mit Harry in das Land reisen, in welches sich unzählige Menschen aus unzähligen Ländern geflüchtet oder zurückgezogen hatten. Amerika war ein Schmelztiegel, eine unbekannte, andere Welt für mich und so fühlte ich mich ein bisschen wie die Eroberer, die einst auszogen um eine neue Welt zu entdecken. Im späteren Laufe meines Lebens lernte ich viele Menschen mit allen möglichen Hautfarben und Kleidern kennen und schätzen. Doch anders als viele andere kümmerte es mich nicht im geringsten, wie Menschen aussahen, mich interessierte viel mehr, wie diese Menschen waren. Ich konnte es kaum erwarten hautnah zu erleben wie sie lebten, was sie gerne taten, aßen und so weiter. Einiges hatte ich in Zeitschriften oder in der Zeitung oder in Büchern gelesen, ich kannte amerikanische Menschen von Plakaten und aus dem Kino, kurzum, ich wusste genau genommen rein gar nichts über das Land, in das ich reisen würde, außer dass es absolut großartig werden würde.
Fortsetzung folgt... :)
* Hey Ho ihr lieben!*
Zu allererst möchte ich mich hiermit bei euch für's Lesen bedanken! Vielen lieben Dank, dass ihr euch die Zeit genommen habt und euch die Geschichte von Liz und Harry angesehen habt. Ich hoffe, ihr habt Gefallen daran gefunden. Wenn ja -großartig! Wenn nicht -schade, dass ich euch eure Zeit damit gestohlen habe.
So oder so würde ich euch um Feedback bitten, denn nur so kann ich lernen und die Geschichte wächst dank euren Hinweisen, eurem Lob und eurer Kritik! :)
Meinen besten Dank noch einmal!
Ftw,
Chris P.P
Tag der Veröffentlichung: 04.05.2013
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Weil du immer da warst wenn ich dich brauchte.
Dafür, dass du da warst, als es kein anderer war.
Für alles, was du getan und nicht getan hast.
Für dich, weil du immer für mich stark warst, wenn ich es nicht mehr sein konnte.
Für dich, weil du warst wer du warst und mich zu dem machtest, was ich heute bin.
Auf all die Male, die wir einander mit dem verletzt haben, was wir sagten, auf all den Unfug, den wir trieben, auf all die Tränen die wir weinten, den Schmerz und die Freude, die wir teilten.
Auf dich, auf uns.
Auf Harold George Porter!