The truth about Josh Harper
A madman’s story
An Tagen wie diesen scheint es, als wäre die Welt noch um einiges merkwürdiger, verrückter und wirrer als sonst, fast so, als wolle die Welt uns verschlingen, uns mit ihrem Wahnsinn ersticken und uns den Verstand rauben. So schien es zumindest an diesem kühlen Septembertag, der allerdings mitten im Juli war, doch an jenem Tag störte sich niemand an den frostigen Temperaturen, alle waren mit ihren Gedanken weit fort von den Geschehnissen, sie waren scheinbar entflohen, in eine andere, bessere Welt. Was ich keinem von ihnen verdenken kann. Sie alle schritten durch die Hügellandschaft welche die Feuer mit einer grauen Aschedecke belegt hatten, als wollten sie alles, was darunter lag mit ihrem Staub ersticken. Hin und wieder wogte ein Büschel grünen Grases unter der Decke hervor was der Landschaft einen noch trostloseren, nahezu vernichtend hoffnungslosen Hauch verlieh. Bei jedem Schritt wirbelten sie etwas Asche auf, die sie wie feiner Nebel umwogte und mit ihnen zog wohin sie auch gingen. So waren die Hügel an jenem Tag gesäumt mit tausenden Abdrücken der Schritte derer, die an dem denkwürdigen Tag erschienen. An der Kuppe des letzten Hügels blieben sie stehen und warteten.
Die untergehende Sonne setzte die umliegenden Hügel scheinbar in Brand, über ihnen allen lag ein roter Schein und die Asche der umliegenden Feuer rieselte wie Schnee vom Himmel. Der Wind trug die Wärme der Feuer mit sich und brachte die Aschedecke der Hügel zum wabern und wogen, wirbelte vereinzelte graue Wolken hoch, die zum brennenden Himmel strebten um dort mit dem beißenden, düsteren Qualm zu verschmelzen und einen dunklen Schleier um die untergehende Sonne legten. Nun standen sie alle auf der Kuppe des letzten Hügels und starrten auf das schwarze Loch das wie das Maul einer unersättlichen Bestie im Boden klaffte.
Allem Anschein nach, verschlang die Grube alles, was ihm nur unter kam, es schien als würde es all die Wärme dieses Julitages schlucken und nur septemberliche Kälte hinterlassen. Es schluckte auch die Freude und Wärme in den Herzen der Leute und hinterließ eine klirrende Kälte in den schwarzen, vertrockneten Klumpen die sie in ihren Brustkörben trugen und Herzen nannten. Ihre Augen waren dunkel und leer, nicht eine einzige Träne tropfte aus ihnen, benetzte den Boden und spülte etwas Asche beiseite, nein, niemand weinte, entweder weil es für sie kein Grund zu weinen war, oder weil ihre Trauer ihnen alle Tränen geraubt hatte. Ich jedoch glaube eher an ersteres. Kein Wort entsprang ihren Lippen, kein Laut drang aus ihren Mündern, ihre Augen blickten ins Leere, kein Blick traf den eines anderen, kein Gesicht suchte das eines Gleichgesinnten. Sie waren nicht mehr, als seelenlose Hüllen derer, die sie einmal gewesen waren. So standen sie nun in Reih und Glied um die finstere, schier bodenlose Öffnung, nur eine kleine Gasse ließen sie frei für ihn, den, der aus dieser grausamen, wirren Welt geschieden war, und jene die ihn an diesem denkwürdigen Tage begleiteten. Nach und nach wurden die Gestalten sichtbar, zuerst sah man nur ihre Schatten die vor ihnen schwebten wie fliegende Teppiche und jeden Ihrer Schritte gleichtaten, dann tauchten die Männer auf die durch die Asche warteten und direkt auf das dunkle Nichts im Boden zustrebten. Auch er war bei ihnen, der Ehrengast dieses schwarzen Festes. Sie trugen seine Hülle über ihren aschebedeckten Häuptern, so als hielten sie ihn zum Schutz vor den sengenden Zungen des Feuers als Schild. Endlich erreichten sie die Kuppe des Hügels und so auch die Öffnung. Wie schwarze Türme ragten sie davor in den Himmel, ihre Silhouetten rissen dunkle Löcher in den roten Horizont und er ruhte wie ein gläsernes Dach über ihnen. Die roten Bänder wogten und zitterten im eisigen Wind als würden sie jeden Moment dem Sog des Loches erliegen und in eine andere Welt Reißausnehmen, eine Welt von der keiner von ihnen je zu träumen gewagt hätte. Die letzten Sonnenstrahlen drangen durch den Rauchschleier und der Himmel spuckte sengende Asche die weiß-graue Decken auf die Häupter der Anwesenden legte. Er jedoch war bereits in den Tiefen seines kalten Bettes hinab gesunken als man begann ihn zuzudecken und das Loch mit dem Stoff der Welt zu füllen. Die Erde prallte mit donnergleichem Krach und Tosen an dessen Grund auf und es ebnete sich nach und nach, das Loch verschwand und hinterließ einen Fleck schwarzes Nichts inmitten aschebedeckter Hügel.
Mit dem letzten Sonnenstrahl erstarben auch alle Geräusche, das Licht erlosch, die roten Bänder verloren sich im reißenden Wind, der sie mit sich nahm, an den Ort an den die Schatten gingen wenn das Licht erstarb, und die Nacht schien alle Ereignisse unter ihrem schwarzen Schleier zu begraben. Sie bedeckte auch die dunkle Stelle und ließ sie noch finsterer erscheinen.
Der Wind wurde kälter und zog nun einen eisigen Hauch über den Boden, wirbelte die Asche zum Zenit, schnitt mit seiner kalten klinge ins Fleisch der Anwesenden und säte seine dunkle klirrend kalte Saat der Melancholie in die Herzen der Leute. Nach und nach verschwanden sie alle, ließen hinter sich was geschehen war und kehrten zurück in ihr Leben. Wie Schemen wandelten sie über die hügelige Landschaft, schüttelten die Asche ab und warteten durch die Nacht davon, warteten durch all die Asche und das Leid das das Feuer brachte, wateten heim zu ihren Lieben, ihren Feinden und nahmen ihr Leben wieder auf.
Nur einer blieb. Er verweilte indes einsam und allein, von allen verlassen dort, wo man ihn zur Ruhe bettete, tief unten in der kalten Erde.
Diese Narren, setzten ihn dem freien Verfall, den Würmern und Maden aus die sich an seinem verwesenden Fleisch gütlich tun würden.
Doch dies ist nicht das Ende nein, es ist nur der Anfang einer Geschichte, seiner Geschichte. Jede Erzählung hat einen Beginn, nun, diese beginnt eben mit dem Ende. Es ist eine grausame, furchtbare Geschichte, nicht weil sie aus der Feder eines Mannes stammt dessen Fantasie die grausigsten Dinge hervorbringt, die man sich nur vorzustellen vermag, oder weil die Ereignisse darin einen um den Verstand bringen , nein. Sie ist widerwärtig, verstörend und aberwitzig und zutiefst grotesk, doch das schlimmste an ihr ist, dass sie wahr ist und sie lebt, ja für wahr, sie ist lebendig genau in diesem Augenblick! Und warum? Nun, weil du sie liest. Geschichten ohne Leser sind keine Geschichten, es sind nur die leeren Hüllen von Worten die auf Papier gedruckt oder geschrieben ruhen und warten dass sie jemand liest, ihnen ihren Sinn entlockt, in ihrer Handlung versinkt und Stück für Stück von ihnen verschlingt wie du es gerade mit dieser tust. Ohne all das wüsste man nicht dass sie da sind, sie wären praktisch nicht existent. Was nützt es also Worte zu schreiben die niemand liest, die in Vergessenheit geraten und in ihrer Existenz vergehen und sich auflösen, verloren, hoffnungslos zum Scheitern verurteilt wäre das Streben nach Unsterblichkeit in dieser Form aber wer würde schon die Geschichte eines Wahnsinnigen lesen? Die Geschichte eines misanthropen, zynischen und melancholischen Irren?
Sei es wies sei, diese Geschichte ist allemal eine Erzählung wert, selbst wenn es die Geschichte eines Wahnsinnigen ist. Ich werde sie euch erzählen, so wahr ich hier sitze und Wort für Wort niederschreibe und bei meinem verlorenen Verstand, jedes Wort davon ist Wahr. Dies ist die Historie eines Mannes der über Jahre hinweg seinen eigenen mentalen verfall provozierte, Menschen hasste wie nichts anderes auf der Welt, der die Welt so sehr hasste wie sie Ihn und der sich selbst tausendmal verlor nur um sich zu finden, ein Mann der zwischen Paranoia und Wahnsinn verging. Heute werde ich etwas tun, was ich sonst zumeist vermieden habe, ich werde euch die Wahrheit erzählen, die Wahrheit und nichts als die Wahrheit über diesen einen, einzigartigen Mann. Dieser Mann war Joshua Harper.
Die Wahrheit über Josh Harper I
Robert J. Harper
Am neunundzwanzigsten Juli des Jahres 1977 erblickte Robert Harper als zweites Kind seiner Mutter Aida das Licht unserer grausamen Welt. Sie gab ihm den Namen seines Vaters den er fortan trug und scheinbar schon von Beginn an hasste, zumal es auch der Name seines älteren Bruders war. Von diesem Tage an begann das, was man wohl Roberts Leben bezeichnen würde.
Von diesem Tage an spannten sich nach und nach die bizarren Bahnen seines Geistes und formten sich Tag ein Tag aus zu einem endlosem Gewirr aus Plänen, Ideen, Ansichten und Urteilen über die Menschheit, die Welt und vor allem darüber, welche Fehler, Makel und Missbildungen sie doch hat.
Wissen Sie, der Verstand eines Wahnsinnigen ist wie ein nächtlicher Gang durch eine verschlungene, einsame Gasse in einer namenlosen verlorenen Stadt. Man irrt durch verworrene Wege nur um nach Ewigkeiten des Suchens vor einer Backsteinmauer in einer Sackgasse zu stehen. Ständig spürt man stechende Blicke von tausenden unsichtbaren Augen auf sich lasten, die lähmende Angst und das Gefühl verfolgt zu werden ruht auf einem wie die nahezu erstickende Dunkelheit der Gassen. Schneller und schneller werden die Schritte, näher und näher kommen die Körperlosen Erscheinungen unserer Verfolger. Die Laternen spenden nur spärliches Licht und werfen gespenstische Schatten an die unsagbar hohen Backsteinwände. Jeder Schatten wird zum Verfolger, jeder Schemen ein Mörder und die drückende Angst legt sich um unseren Körper wie die körperlose Dunkelheit der immer währenden Nacht. Unsere von Paranoia geplagte Vorstellungskraft injiziert uns das Gefühl der Wehrlosigkeit, verstärkt das Gefühl verfolgt zu werden und schärft unsere Sinne aufs äußerste, beinahe so, dass man sich selbst beim bloßen Gedanken daran an ihr schneidet. Gänseheut überzieht unsere Körper und hüllt sie so straff ein, dass es uns fast das Fleisch von den Knochen schält. Man sieht sein Ziel vor Augen, unseren lichten Fleck im Meer der Dunkelheit, das Licht am Ende des Tunnels, das Tor zum Himmel wenn man so will. Doch dies ist der Punkt an den wir uns von euch unterscheiden: Ihr, deren Verstand klar sein soll glaubt, dass dies der Ausweg ist, ihr meine Freunde lauft weiter mit der Angst im Nacken auf den lichten Fleck zu in der Hoffnung ihn zu erreichen. Wir hingegen haben erkannt dass dieser Fleck wandert und fast unmerklich jedoch stetig, immer weiter in die Ferne rückt. Das ist es was uns Wahnsinnige von euch „Normalen“ unterscheidet: Erkenntnis. Die Erkenntnis dass der Ausweg aus dem Labyrinth aus Gassen, Nischen und Winkeln unseres Verstandes zwar vorhanden ist, jedoch nur eine Illusion darstellt. Dieses Wissen, sein Ziel vor Augen zu haben, mit tausenden Verfolgern im Nacken, Millionen von Augenpaaren die uns mit ihren Blicken schier durchbohren auf es zuzulaufen, obwohl wir es nie erreichen werden brachte uns um den Verstand. Ihr hingegen hütet die Hoffnung ans Ziel zu gelangen und lebt in einer selbst gewebten Illusion.
Wahnsinn ist also mehr eine Frage der Erkenntnis, um nicht zu sagen Ansichtssache. Normalität ist das bloße leugnen der Anomalie unserer Selbst und der Welt in der wir leben, gefangen in der Überzeugung die unserem Verstand innewohnt.
Viele Menschen verbringen ihr ganzes Leben mit der verzweifelten Suche nach diversen Erkenntnissen, anderen fallen diese fast spontan ein. Robert J. Harper war einer dieser Menschen. Schon früh begann er alles Mögliche zu hinterfragen und versuchte alles zu ergründen was ihm nur unter kam. Dabei spreche ich nicht von der üblichen „warum-Phase“ die alle Kinder durchleben, nein.
Der kleine Harper war an sich ein unscheinbares Kind, seine Mutter versuchte ihn so katholisch zu erziehen wie auch sie selbst erzogen worden war, scheiterte jedoch kläglich.
Seit seinem sechsten Lebensjahr stand Harper im Schatten seines Bruders Robert, sie teilten sich zwar einen Namen, so war dies aber auch das Einzige was Robert J. Harper und sein großer Bruder gemeinsam hatten. So war Robert nicht nur der ältere, sondern auch der sportliche, gut aussehende Vorzeigesohn der Familie, dass er in etwa den IQ eines überfahrenen Eichhörnchens hatte störte seine Eltern und die Welt wenig, er war zwar dumm aber athletisch, gut gebaut und die Hauptsache war: er gewann haufenweise Sportpreise. Harper hingegen war eine eher unauffälligere, schmächtige Erscheinung, sehr intelligent, verschlagen aber introvertiert und er wies schon als kleines Kind leichte sadistische Neigungen auf.
All seine Talente wurden leider unter dem Ruhm in dem sein Bruder, der Star der Familie und der Lieblingssohn Aidas sich sonnte, begraben. Viel zu oft wurden seine Leistungen herabgewürdigt, wenn nicht ignoriert und vergessen, unzählige Male musste er sich anhören wie seine Mutter sagte „ Warum kannst du nicht wie dein Bruder sein?“ Auch sein Vater versuchte immer und immer wieder, ihn zu einem Abbild seiner Selbst und seines Bruders zu formen, wurde niemals müde ihm zu sagen wie nutzlos er doch war und ignorierte ihn schlussendlich völlig. Ohne es zu ahnen bastelte sich so Robert Haper sein Schicksal zusammen und in späterer Folge sollte es auch Robert Harper Junior, den Star der Familie erwischen. Nur Aida Harper hielt es am längsten denn ein Kind liebt seine Mutter, egal was sie ihm auch antut… Oder nicht? Nun, zumindest tut es das bis zu einem gewissen Punkt, irgendwann reißt jedem der Geduldsfaden, auch einem Kind, oder in unserem Fall einem fast-Teenager. So verstrichen die ersten Jahre Harpers nach einem ähnlichem Muster: Er absolvierte die ersten Schuljahre mit Bravour, gewöhnte sich daran im Schatten seines Bruders zu stehen und nutze seine unscheinbare Gestalt indem er zum Beobachter wurde und alles was innerhalb der Familie und seiner Umwelt geschah analysierte. Er lernte, dass wenn man beliebt war, alles bekam was man wollte ohne dafür arbeiten zu müssen, dass Sport gefördert und Intelligenz ignoriert wurde, dass seine Eltern nach außen hin eine Musterfamilie mit einem begabten Kind waren, er jedoch in den seltensten Fällen erwähnt wurde. Er lernte auch seine Begabungen auszuspielen, was sich am Umgang mit seinem Bruder zeigte. Robert war zwei Jahre älter, muskulös und beliebt, was der kleine Harper schon früh auszunutzen wusste. Bekanntlich verfügte sein älterer Bruder zwar über körperliche Reize, jedoch war seine Intelligenz sagen wir… mehr als leicht begrenzt. Doch dies war nur nützlich für ihn, sein Bruder war leicht zu manipulieren und schon im Alter von sechs Jahren nutze Harper dies genüsslich aus. Er redete ihm zum Beispiel ein, dass Smarties und Schokolade sich innerhalb von wenigen Augenblicken an seinen Beinen als Fettklobse ansetzten und ihn am Fußballspielen hindern würden, worauf Robert immer weniger und weniger Süßigkeiten aß, obwohl seine Eltern ihm ständig die wunderbarsten Leckereien schenkten. Auf diese Weiße kam klein Harper an die köstlichsten Dinge die ein Kind sich nur erträumen kann, sein Bruder hingegen verweigerte sie und schenkte sie lieber dem kleinen Josh. Man wundert sich warum er nicht fett geworden war, er behielt trotz allem seine schmächtige Statur bei und über die Jahre hinweg setzte er sich ein neues Ziel. Er wollte seinem Bruder dessen Muskeln rauben, damit er sehen konnte wie es sich als schwache Bohnenstange lebte.
Dieses Vorhaben brachte er an seinem achten Geburtstag in Gang. Robert, der mittlerweile 10 Jahre alt und Gewinner fast doppelt so vieler Fußballtrophäen war tat sich an seiner Lieblingsspeise, einem riesigen Schnitzel mit einer doppelten Portion Pommes gütlich, die Aida zum Anlass von Harpers Geburtstag zubereitete jedoch die Tatsache außer Acht ließ, dass Harper Schnitzel mit Pommes bis aufs Blut hasste.
Von nun an verfolgte er die Idee, seinem Bruder das Essen auszureden. Also startete er die erste von vielen langen Tiraden die er auf seinen großen Bruder los lies: „Robbie, wusstest du eigentlich, dass das Schnitzel das du da isst mal ein kleines Ferkel war?“
„Ja, aber die sind doch zum Essen da oder etwa nicht?“
Wie dumm er doch war…Harper hatte zwar nicht viel für Tiere übrig, zwar mehr als für Menschen aber er hatte auch nichts dagegen sie zu essen, so fand er jedoch auch dass sie einen besseren Lebenswandel als vom Stall auf den Teller verdienten.
„Nun ja schon, aber dieses Ferkel hatte auch eine Seele und vor allem eins: Fett.
„Tiere haben auch Fett? Nur Süßigkeiten machen dick.“
„Nein, Tiere haben viel mehr Fett als Schokolade, Schokolade braucht keine Fettpolster um sich im Winter zu wärmen und sie braucht auch keinen Fettspeicher
aus dem sie Energie gewinnen kann. Auch du hast Fett, und davon eine ganze Menge wenn ich das so sagen darf…“
„Ich bin nicht FETT! „
„Nicht wirklich fett, aber ein bisschen schon und bei jedem Bissen wirst du etwas fetter, siehst du wie sich dein Bauch unter dem T-Shirt wölbt? Du willst doch nicht so dick werden wie eins dieser Kinder die am Schulhof immer gehänselt werde weil sie von selbst rollen… Stell dir vor, was würde dein Fußballteam dazu sagen, du würdest langsam und träge werden, wie ein Nilpferd“
Das saß. Tag ein Tag aus redete Harper so auf seinen Bruder ein, naiv und dumm wie er war glaubte er, dass der kleine Harper ihm nur helfen wollte und verweigerte das Essen immer vehementer.
Eine Weile ging das Ganze auch recht gut, bis Robert Harper Senior auf den rapiden Gewichtsverlust seines Lieblingssohnes aufmerksam wurde.
Robert erzählte in seiner Dummheit natürlich alles was Harper ihm über all die Wochen mühsam eingeredet hatte, war sich der Folgen jedoch nicht bewusst.
Klein Harper lag in seinem kleinen Zimmer welches in einer Dachnische lag, da das zweite Kinderzimmer als Trophäen- und Trainingsraum herhalten musste, auf seinem Bett und Dachte nach. Er tat das Häufig, musterte dabei die dicken Balken die das Dach stützten und mehr als nur einmal malte er sich genüsslich aus was wohl geschehen würde, wenn er sie alle ansägte und das Dach einstürzen würde und seinen Vater und Robert unter der tonnenschweren Trümmerlast des Hauses zerquetschte, ihre Knochen zermalmte und ihre Körper unter sich begrub sodass nur noch die seltsam verformten Füße hervor lugten wie bei der bösen Hexe des Westens. Beim bloßen Gedanken an dieses herrliche Szenario musste er grinsen, doch seine Freude währte nicht lange. Plötzlich stürmte Robert Harper durch die Tür der Dachnische, zerrte seinen jüngeren Sohn vom Bett, packte ihn an den Schultern und hielt ihn im eisernen Griff gepackt. Nicht, dass dies etwas Neues für Harper war, nein, für gewöhnlich tat sein Vater dies des Öfteren er glaubte fast, dass es ihm Spaß bereitete ihn anzuschreien. Das war mittlerweile reine Routine und er hörte kaum mehr hin, beugte in gespielter Scham den Kopf, lies die Schultern hängen und machte ein betroffen-beschämtes Gesicht. Das zog eigentlich jedes Mal, irgendwann hörte er schließlich immer auf zu schreien, entweder ihm ging die Puste aus, was bei ihm als Kettenraucher aus Leidenschaft überraschend lange dauerte gegen Ende spuckte er jedoch immer grau-gelbe Klumpen und Hustete sich die Lunge aus dem Leib sodass Harper beinahe wieder gegrinst hätte, oder er hatte schlicht und ergreifend die Lust verloren, manchmal musste er auch aufhören weil seine Sendung anfing und er diese sonst verpassen würde. Doch an diesem Tag war dem nicht so. Robert Harper schrie nicht, zumindest nicht gleich. Er packte seinen Sohn an den Schulter, dieses Mal jedoch fester als sonst, so fest, dass es dem kleinen Harper die Tränen in die Augen trieb.
Dann holte sein Vater aus, seine Hand kollidierte mit Harpers kleinem Gesicht und hinterließ rote Abdrücke von allen zehn Fingern, den Handballen und der Faust seines Vaters. Immer und immer wieder donnerte seine Hand in das Gesicht des Jungen, immer fester wurden die Schläge und immer Lauter die Schreie Josh Harpers. Sie tönten gellend durch das ganze Haus doch je lauter er schrie desto fester schlug sein Vater zu, die Nachbarn sollten schließlich nicht hören dass im Hause der dreiköpfigen Musterfamilie der verschmähte zweite Sohn von dessen cholerischen Vater um den Verstand geprügelt wurde. Nach und nach verwandelten sich seine Schreie in ein ersticktes Gurgeln und gegen Ende in ein kümmerliches Wimmern das sich mit dem Wimmern seiner Mutter Aida, die im Türrahmen lehnte und entsetzt aber Wort und tatenlos zusah wie ihr jüngerer Sohn von seinem Vater grün und blau geschlagen wurde, zu einer Arie aus des Schicksals Hohn mischte und erst gefühlte Stunden später verklang als Robert Harper die Kräfte verließen, er grau-gelbe Klumpen hustete und sich ins Wohnzimmer begab um seine Sendung zu sehen.
Aida hingegen blieb noch einige wenige Augenblicke im Türrahmen stehen. Harper streckte ihr seine Arme entgegen und nach ihr, nun ja vielmehr flüsterte er nach ihr. Seine Mutter blieb jedoch reglos und mit ausdrucksloser Meine in der Tür stehen, blickte auf ihren wimmernden Sohn herab und sagte flüsterte:
„Wie konntest du deinem Bruder nur so etwas Grausames antun Robert, wie?“
Darauf wandte sie sich ab und stieg die Treppe hinab um ihrem Mann und ihrem Lieblingssohn Abendessen zuzubereiten. Dies war also der Abend an dem Robert Harper Senior sein Schicksal besiegelte. Harpers Hass auf seinen Vater wandelte sich in blanke, kalte Verachtung, denn Hass als solcher war ein Gefühl und Menschen wie sein Vater hatten so etwas wie Gefühle nicht verdient. Weiteres war dies der Tag an dem der kleine Harper begann seine Mutter zu hassen, er hasste sie weil sie zugesehen hatte wie sein Vater ihn quälte, er hasste sie dafür dass sie all die Jahre lang zugesehen hatte wie er mehr und mehr verkam, wie er im Schatten seines Bruders vor sich hin vegetierte, er hasste sie dafür, dass sie immer wollte dass er so werden sollte wie Robert, er hasste sie auch dafür, dass sie ihm denselben Namen gab wie seinem verhassten Bruder und der verachtenswerten Kreatur die sich sein Vater schimpfte. Doch am meisten hasste er sie weil sie ihn nicht liebte, zumindest nicht so wie er es sich vorstellte. Sie sollte IHN verehren, SEINE Lieblingsspeisen kochen und IHM huldigen weil er doch der intelligentere Sohn war, weil ER es war der sich Tag und Nacht den Kopf darüber zerbrach was er nur anstellen sollte damit er sich auch nur einen Augenblick in ihrer Aufmerksamkeit sonnen konnte aber was er auch tat, nichts reichte um mehr als einen kurzen Blick zu ergattern. Jede noch so gute Arbeit, jede noch so großartigere Leistung die er auch vollbrachte wurde an den Leistungen seines Bruders gemessen, selbst wenn dieser jene Leistungen niemals vollbracht hatte, sie niemals vollbringen hätte können weil er schlicht und ergreifend zu minderbemittelt, viel zu unterbelichtet dafür war! Allerdings kümmerte das niemanden, was der kleine Harper auch tat es wurde nie so gewürdigt wie das, was sein Bruder machte, auch wenn alles was dieser jemals vollbrachte einem Ball hinterherzulaufen und danach zu treten war. Im Ernst, das konnte jeder Vollidiot.
So trug es sich zu, dass Robert J. Harper in dieser Nacht einen Entschluss fasste, den er zu verwirklichen gedachte selbst wenn es bis an sein Lebensende dauern würde, darum lag er die ganze Nacht wach und verweilte auch noch Tagelang in seinem Zimmer unterm Dach, wartete darauf, dass es einstürzen würde und schmiedete an seiner Idee.
Ich will nicht behaupten dass ein Kind ein Sadist sein kann, aber wie würden sie ein Kind bezeichnen, das gleichaltrigen willentlich Schaden zufügte und ich rede nicht von kindischen Raufereien, ich spiele auf einige bestimmte vorher kurz erwähnte, aber in Anbetracht der folgenden Begebenheiten harmlose Ereignisse an.
Denken Sie nach, geneigter Leser, was ist eine Idee? Nun, eine Idee ist etwas was wir alle hatten, sozusagen nichts wirklich Denkwürdiges oder Besonderes, richtig?
Falsch! Eine Idee mag etwas sein, dass jeder von uns des Öfteren hat, was aber nicht heißen muss, dass sie etwas Unscheinbares ist, nein keineswegs. Ideen wachsen in unserem Verstand, sie entstehen aus einem einzigen Impuls eines Gedanken, doch wenn man sie reifen lässt, sie nährt, pflegt und behütet wuchern sie immer weiter und weiter bis sie schließlich etwas Greifbares darstellen, etwas das es wert ist Verwirklicht zu werden. Ich spreche hier nicht über Ideen wie zum Beispiel die Planung von Ferien oder dergleichen, ich möchte, dass sie sich an große Ideen erinnern. Das ist der Vorteil an ihnen, Menschen sterben, Zivilisationen gehen zu Grunde, ihr Vermächtnis stirbt aus, doch einige wenige Ideen blieben bestehen, sie alle kennen solche Ideen.
Die Idee von Unsterblichkeit, gut oder schlecht bleibt jedem zu definieren selbst überlassen, ist eine diese Ideen. Niemand weiß von wem sie stammt, wo sie ihren Ursprung hatte, doch das hindert sie nicht daran sich im Unterbewusstsein eines Jeden festzukrallen und die Forscher in eine nichtenden wollende Farce aus Grübeleien zu stürzen wie man den Prozess des unaufhaltsamen Verfalls aufhalten könnte. Von einbalsamierten, konservierten Mumien von Pharaonen über zufällig in Eis eingeschlossene Höhlenmenschen bis hin zu modernen Versuchen des Einfrierens und Wiederauftauens blieb nichts unversucht und selbst das Fehlen von Erfolg kann die Idee nicht auslöschen. Dies ist nur ein Beispiel für die Faszination einer Idee die Jahrmillionen überlebt.
Anders betrachtet ist eine Idee nicht mehr und nicht weniger wie das wohl älteste Virus überhaupt. Sie bildet sich im Kopf eines einzelnen, infiziert ihn und infiziert nach und nach jeden der mit ihr in Berührung kommt, wie eine Epidemie breitet sie sich so in unseren Köpfen aus, hochansteckend und nicht aufzuhalten. Vor Ideen gibt es keinen Schutz, gegen sie existiert kein Heilmittel und keine Impfung, sie machen keinen Halt vor Kindern, unterscheiden nicht zwischen Gut und Böse, Rasse und Alter, Geschlecht oder Herkunft. Sie kennen keine Vorurteile, für sie ist jeder Kopf nicht mehr als ein Zuhause, jeder Körper nicht mehr als Instrument und jeder Mensch einfach nur ein Mensch. Sie überdauern uns alle, kenne keine Krankheit und keinen Verfall. Sie sind ja auch nicht greifbar, das macht sie für uns unantastbar, was ihre Faszination noch um einiges hebt. Man kann sogar behaupten Gott sei eine Idee, wer kann schon das Gegenteil beweisen?
Beinahe jede Religion hat ihren eigenen Gott, ihre eigene Idee, die sie verehren, nach ihrer Unsterblichkeit trachten und sie lobpreisen weil sie Unzählige ansteckt. Doch dies zu glauben oder nicht liegt bei jedem selbst. Es steht mir nicht zu über Gott und dessen Anhänger zu urteilen, selbst wenn ich an keinen all dieser Götter glaube.
Es gibt leider auch dunkle und absolut verwerfliche, um nicht zu sagen grausame und hirnrissige Beispiele für Ideen. Nehmen wir den Rassismus oder Antisemitismus als Beispiele. Irgendwann hatte irgendwer die auf Vorurteilen beruhende Idee dass Leute mit anderer Hautfarbe oder anderem Glauben schlecht für den Rest der Menschheit sind. Ich verbitte mir Beispiele für diese beiden Extreme zu nennen, ich bin mir sicher Sie wissen wer damit gemeint ist.
Sie sehen, Ideen können in unzähligen Variationen auftreten, sie können hilfreich, weltverbessernd, heilend, aber auch gleichzeitig vernichtend, grausam und zerstörerisch sein. Sie können für falsche Zwecke missbraucht werden, für puren Eigennutz, um die Welt zu verbessern, um Menschen zu verbinden und noch für vieles, vieles mehr. Ideen sind weder gut noch böse, nicht schlecht oder fantastisch, sie sind schlicht und einfach differentionsmultipel und vor allem eins:
Ideen sind unzerstörbar, Ideen sind kugelsicher, Ideen sind unsterblich. Solange es Menschen gibt wird es Ideen geben und solange es Ideen gibt, wird es Menschen geben die von ihnen infiziert werden können.
Auch der junge Harper war von einer Idee infiziert worden, eine recht bedenkliche Idee für ein Kind dieses Alters. Seit dem ersten Aufkeimen dieses Einfalls verbrachte er seine Tage wie ein Spion in den Reihen seiner eigenen Familie, er begann alles was er sah zu analysieren, sezierte diverse Szenarien die ihm im Laufe des Alltags so unterkamen und eignete sich so ein Sammelsurium an Wissen über seine Familie an, welche je mehr er durch gezielte Beobachtung in Erfahrung brachte immer weniger in Takt zu sein schien. Nach nur wenigen Wochen begann die Fassade der nach außen hin so perfekt und makellos erscheinenden Familie zu bröckeln und er fand haufenweiße Sollbruchstellen an denen er ansetzten konnte. Bereits nach einigen Monaten des Planens und Grübelns bot sich dem jungen Harper die erste Gelegenheit seinen Plan zu erproben. Sein Vater sollte sein Versuchskaninchen sein, denn er wies die meisten Sollbruchstellen auf und bot daher ein naheliegendes Ziel. Einmal mehr verbrachte dieser seinen Abend vor dem Fernseher und ergötze sich am Anblick spindeldürrer Frauen mit offensichtlich viel zu großen Silikonbrüsten als plötzlich Aida das Zimmer betrat und sich einmal mehr darüber empörte wie herabwürdigend und erniedrigend es doch für sie sei, wenn ihr Mann viel jüngeren, viel attraktiveren Mädchen nachgeiferte, sei es auch nur eine Sendung über Supermodels. Schon brach das alltägliche Sechs-Uhr-Gezanke zwischen den beiden aus und Harper wurde um eine neue, blendende Idee bereichert. Aida war fast fertig mit einer ihrer Tiraden als Robert aufstand und ihr mitten ins Gesicht schlug. Harper blieb beinahe das Herz stehen, entsetzt blickte er in das fast ebenso entsetzte Gesicht seiner Mutter in dem sich deutlich die Hand seines Vaters abzeichnete, wie schon eine Weile davor bei ihm. Das war neu, bisher hatten sie sich immer nur angeschrien. Jetzt schrie er sie zwar auch an, was ihr einfiel sich einzumischen, sie ließe ihm doch keine Wahl mit ihrem Aussehehen et cetera. Wie zermürbend das für sie sein musste, sie stand Tag ein Tag aus am Herd, kochte putze und mühte sich ab die Familie zu ernähren doch Robert Harper war sowohl undankbar als auch unersättlich. Einerseits empfand klein Harper eine gewisse Genugtuung, andererseits hatte er auch Mitleid mit seiner Mutter, zumal er selbst nur zu gut wusste, dass die Schläge seines Vaters mit der Wucht von Thors Hammer auf einen hernieder sausten. Die Diskussion endete so abrupt wie sie begonnen hatte, Robert zog seine Hand zurück, seine Stimme verklang und er marschierte schnurstaks ins Schlafzimmer. Aida schluchzte vor sich hin und verstummte erst als Robert bereits seit Stunden im Bett war, bisweilen blieb sie jedoch im Wohnzimmer und das ohne den kleinen Harper zu bemerken der hinter der Bücherwand kauerte und lauschte. Er wunderte sich, dass man ihn nicht erwischt hatte, schon allein das förmlich hörbare Rattern und Rauschen seiner Gedanken hätte ihn verraten müssen. Doch glücklicher Weiße war dem nicht so und er blieb unangetastet in seinem Versteck, bis nach Einbruch der Dunkelheit auch seine Mutter schlurfend und Schluchzend das Zimmer verließ.
Dieses Ereignis verschaffte seinem Plan eine neue, ungeahnte Richtung und ihm wurde klar wie er ihn beginnen konnte. Aida war zwar hübsch, sie hatte ein markantes Gesicht mit hohen Wangenknochen, volle Lippen und wallendes, langes, braun-schwarzes Haar das zeitweilen noch keine einzige graue Strähne aufwies. Sie war eine groß gewachsene Frau, kurvenreich jedoch nicht dick. In ihrem markanten Gesicht leuchteten lichtblaue Augen, wie auch der kleine Harper sie hatte. Über ihren großen Augen zogen feine Augenbrauen ihre Bögen durch ihr blasses, fast Faltenfreies Gesicht. Robert Harper Senior hingegen hatte ein grobschlächtiges von grau-weißen Bartstoppeln überwuchertes, von Falten zerfurchtes Gesicht und den Körperbau eines Schrankes, welchen Harpers älterer Bruder geerbt hatte. Robert hatte auch die Einstellung gegenüber Frauen und deren Aussehen von seinem Vater übernommen, aber das ist eine andere Geschichte.
Der kleine Harper hingegen hatte das Gesicht seiner Mutter, wenn gleich es weniger feminin war, so war es jedoch ebenso markant und gleichmäßig, auch seinen dunklen Haarschopf hatte er von ihr und er weigerte sich von Anbeginn strikt dagegen auch nur einen Millimeter davon zu entfernen, ganz im Gegensatz zu seinem älteren Bruder, der gleich seinem Vater einen militärähnlichen Millimeterhaarschnitt trug. Aidas Aussehen war etwas womit sie schon seit sie Robert kannte zu kämpfen hatte, denn er scherte sich nicht um Dinge wie die Schwerkraft und das was diese mit dem weiblichen Körper über die Jahre anrichtet, wenn Sie wissen was ich meine. Er war der Überzeugung dass es selbstverständlich für Frauen war, den Haushalt zu schmeißen, Kinder großzuziehen und dabei noch mit 38, nach zwei Schwangerschaften so auszusehen wie am Tage ihrer Hochzeit. Dies machte ihr sehr zu schaffen, da ihr Mann mehr Interesse an Fernsehmodels zeigte als an ihr. Wie oft hatte Harper sie schon bei seinen Spionage-touren heimlich dabei beobachtet wie sie sich im Badezimmer vorm Spiegel drehte und sich kritisch beäugte, wie sie sich alle vier Tage jedes überflüssige Härchen ihrer Augenbrauen wegzupfte, sich tonnenweise braune Paste, die man wohl als Make-up bezeichnen mochte ins Gesicht klatschte und das nur um so auszusehen wie vorher. Alle zwei Wochen ging sie auch zu einer sogenannten Kosmetikerin, die ihr jedes nur denkbare Haar an Beinen und anderen Stellen mit Wachs entfernte. An einem Tag fand Harper sogar heraus wohin sie nach jedem Essen verschwand sobald sie den Tisch abgeräumt hatte. Sie schloss sich im Badezimmer ein, einmal aus Unachtsamkeit mit den kleinen Harper der sich hinterm Duschvorhang versteckt hatte in der Absicht, seinem Vater aufzulauern und herauszufinden wo er seine Pillendöschen verstaute. Anstatt das Versteck der Pillen seines Vaters zu entlarven wurde er Zeuge des Rituals das seine Mutter nach dem Essen vollführte: Sie beugte sich übers Waschbecken und stocherte mit dem verkehrten Ende ihrer Zahnbürste in ihrer Kehle herum, bis sie anfing zu Würgen und schließlich das mühsam gekochte Essen erbrach. So behielt sie also ihre Figur obwohl sie aß als gäbe es kein Morgen. Wie erbärmlich. Da sieht man es wieder, Eitelkeit verleitet einen zu den wiederwertigsten Dingen. Doch damit nicht genug, Robert Harper nahm davon kaum Notiz, er interessierte sich herzlich wenig für seine Frau und dies begann sich allmählich an ihrer Ehe abzuzeichnen, die Risse in der Fassade wurden immer deutlicher und Harper flogen die Zutaten des Gebräues seines Planes förmlich in den Schoß. Bisher hatte er die krankhafte Eitelkeit seiner Mutter gemixt mit etwas gut begründeter Eifersucht und das Verlangen seines Vaters nach einer jungen, attraktiven Frau. Perfekte Bedingungen für die Verwirklichung seines aufkeimenden Planes, er brauchte nur noch einen formidablen Anlass um das Ganze in Gang zu setzten. Er ließ sich Zeit, davon hatte er schließlich genug, Hast würde ohnehin alles verderben. So lag er Nacht für Nacht im Bett und tüftelte weiter während er den Ereignissen im Schlafzimmer seiner Eltern zuhörte. Sie waren recht laut, Robert drosselte seine Stimme kein Bisschen wenn er seine Frau eine Hure nannte, sie schlug und beschimpfte. Es hörte sich beinahe an wie eine dieser billigen Fernsehdramen, die Werktags von zwei bis vier Uhr nachmittags im Free-Tv liefen. So lauschte er den immer heftiger werdenden Streitarien seiner Eltern, sog jede auch noch so winzige Information die er nur ergattern konnte in sich auf wie ein Schwamm, speicherte sie und füllte damit eine neue Lücke im Riesenpuzzle seinen Planes. Sie denken sich nun wahrscheinlich, dass so ein Kind kaum Schaden anrichten könnte und dass es hierbei nur um einen Scherz handelt, doch nein dem ist nicht so. Nicht umsonst verbrachte Harper die letzten Zeit damit seine Familie zu untersuchen und nahezu zu Sezieren, Josh Harper hatte sich im Alter von acht Jahren ein Ziel gesetzt, ein fatales Ziel. Robert Joshua Harper wollte seiner Familie all das heimzahlen, was sie ihm bisweilen angetan hatte und noch antun wird, er wollte, dass sie bezahlen für all die Schande die er durch litten hatte. Er wollte seine Familie systematisch ruinieren und nun war die Zeit endlich gekommen um damit zu beginnen. So entschloss er sich also das Übel an der Wurzel zu packen. Damit war klar, wer als Erster an der Reihe war.
Die Wahrheit über Josh Harper
Nummer 1: Dad
Es war nicht schwer zu erraten wer als erster auf seiner Abschussliste stand, nicht wahr? Im Grunde gab es kaum eine andere Option für den kleinen Harper, er mochte zwar seinen Bruder hassen und er hatte auch angefangen Aida zu hassen, doch es gab noch eine weitere Person, eine die so grausam zu ihm gewesen war, die ihn gepeinigt hatte, ihn erniedrigte und ihn im Saft seiner Pein und seiner Scham ganze acht Jahre hatte schmoren lassen, doch damit war es nun endgültig vorbei. Harper hatte die Schnauze gestrichen voll von diesem wohl penetrantesten Beispiel für die Verkommenheit der menschlichen Rasse, ein Individuum welches die reinste Verschwendung von Haut, Knochen und Platz darstellte die man sich vorstellen konnte. Schon beim bloßen Gedanken an dieses Wesen stellten sich ihm alle Haare auf, er bekam Brechreiz, sein Her schien sich zu einem schier massiven Klumpen aus glühendem Eisen zusammenzuziehen und sein Magen erweckte den Anschein als wollte er sich nach außen stülpen und seinen gesamten Inhalt über den Boden ergießen. Je länger er wartete umso stärker wurden diese Reize und die Ungeduld wuchs heran zu einem brennenden Verlangen. Endlich, am 22. März war es soweit. Phase eins seines Planes konnte endlich beginnen, in dieser Phase ging es ihm um eins: Rache. Der kleine Harper wollte seinen Vater leiden sehn, lange und qualvolle Tage, Monate vielleicht sogar Jahre des Leids, solange bis ihm das Zusehen langweilig wurde. Dann würde der Nächste dran sein.
Dieser Tag schien perfekt für sein Vorhaben, Aida war, wie so oft bei ihrer Kosmetikerin und Robert war, welch Überraschung, beim Fußballtraining. Sein Vater war zur Arbeit gefahren, alles lief glatt. Klein Harper marschierte also in die Stadt, erst heute lernte er diesen Vorteil lieben, von ihrem Haus bis in die Stadt waren es nur fünfzehn Minuten Fußmarsch. Gemächlich schlenderte er durch den ruhigen Vorort durch den sich eine schmale Straße ihren Weg in die Stadt bahnte. Links und rechts von ihr säumten Bäume die an beiden Seiten vorhandenen Gehwege, hinter welchen wie an einer Schnur aufgefädelt, ein Haus sich ans andere reihte. Wie er dies doch hasste, alle diese Häuser sahen gleich aus, hatten die gleiche Gartenfläche, ja sogar den gleichen abscheulichen weißen Holzzaun und denselben Briefkasten! Er hatte diese Monotonie schon immer gehasst, sie sollte zwar die Illusion von Ruhe, Frieden und Ordnung erzeugen, was bei den engstirnigen, unterbelichteten Einwohnern und Gästen dieses Ortes zwar funktionieren mochte, bei Leuten mit etwas Grips hingegen nicht der Fall war. Leute wie er, selbst wenn er nur ein Kind war, erkannten das, was in solchen scheinbar perfekten Vororten mit ihren perfekten Wohnanlagen und perfekten Familien immer lauerte: Probleme und zwar massenweise davon. So war es auch hier, nicht nur in seiner Familie gab es Baustellen nein, über die Jahre in seiner Rolle als Beobachter fand er in nahezu allen Familien den Wurm. Bei den allheiligen Georges, die Familie des Priesters, war Amelie, die Mutter krankhafte Alkoholikerin, die angeblich jungfräuliche Pfarrerstochter Harriett nahm die Rolle der Dorfmatratze oder besser Vorstadtmatratze ein und der kleine Harper erwischte sie einmal bei einem Fußballspiel seines Bruders mit Max Hagott, dem Bankier hinter der Tribüne. Wo wir schon beim Nächsten Fall wären: Maxwell Hagott, erfolgreicher Bankier, Manager der Stadtbank, war zwar reich, doch sein Geld rührte nicht aus der harten Arbeit in der Bank, nein. Vielmehr entsprang es den Taschen der zahlreichen, mehr als nur frustrierten Ehemännern dieses Vorortes. Max Hagott machte gemeinsame Sache mit der Leiterin der hiesigen Kinderbetreuungseinrichtung, Barbara Dale, die auch der kleine Harper in jüngeren Jahren besucht hatte. Es war also wenig überraschend, dass das Haus zwischen dem Max Hagotts und Barbara Dales kein „Gästehaus“ im eigentlichen Sinne war. Man musste nur eins und eins zusammenzählen um zu erraten wer dort als Gast auftauchte und wen, genau die Jungfrau Harriett Georges. Dies sind nur wenige Beispiele für das was sich hinter den Kulissen des scheinbar perfekten Vorortes abspielte, doch auch das werden wir später noch genauer mitbekommen. Zurück zu Josh, der noch immer Durch die Straßen stolzierte, nun nur noch wenige Minuten von der Stadt entfernt. Langsam wichen die immer gleichen Häuser und von Bäumen gesäumten Gehwege den verschlungenen Gassen und Häuserwänden der beschaulichen Kleinstadt. Gut, es war keine große Stadt, nicht zu vergleichen mit Orten wie New York oder Paris, aber es war eine Stadt, hier gab es fast alles was es dort auch gab, nur eben in kleinerem Format, es gab Gasthäuser, Lebensmittelgeschäfte, ein großes Einkaufszentrum, einen Stadtpark, einen großen Marktplatz und haufenweise Boutiquen. Auf eine dieser Boutiquen steuerte der kleine Harper in diesem Augenblick zu. Es war die Art von Boutique in die seine Mutter niemals gehen würde, also genau die Art von Boutique in der die Frauen einkaufen würden die sein Vater sich im Fernsehen ansah. Sie haben es wahrscheinlich erraten, es handelte sich um einen Landen, in dem eine offensichtlich viel zu blonde Frau mit viel zu großen Brüsten und viel zu roten Lippen ihre Waren feilbot. Sie staunte nicht schlecht als Harper, der gerade mal groß genug war um sie über die Ladentheke hinweg verschmitzt zu mustern, das Geschäft betrat und sie mit aufgesetzter Unschuldsmiene ansprach.
Er erzählte ihr todernst, dass er ein Geschenk für seine Mutter suche, etwas Reizvolles damit es seinem Vater auch gefiel. Bei dieser Vorstellung musste er fast Würgen. Widerlich, schon zogen sich seine Eingeweide erneut zu einem Klumpen zusammen und er schmeckte bittere Galle. Er musste sich zusammenreißen, obwohl sein Magen rebellierte, also hielt er sich ein Ziel vor Augen: Er musste seinem Vater etwas anhängen, und dazu brauchte er diese verdammten Bhs. Wieder rettet ihn sein unschuldiges Äußeres aus dieser Situation, die Verkäuferin wurde nicht müde sich darüber zu kokettieren wie süß und niedlich er doch war und zeigte ihm Hilfsbereit die schönsten Exemplare. Die Frage der Größe war nicht schwer zu beantworten, er setzte einfach wieder seine unschuldigste Miene auf und verlangte die größte Größe die sie zu bieten hatte, so kaufte Harper der verschiedene BHs in doppel D mit passendem Unterteil und wunderte sich über zweierlei Dinge: erstens, warum man die Brüste von Frauen nach Buchstaben einkategorierte und zweitens, warum die dazugehörigen Höschen so dünn und durchsichtig waren wie Zahnseide. Egal, er hatte die Basis seines Planes aufgebaut und brauchte sie nur noch zu platzieren. Soweit schien alles nach Plan, doch noch war es zu früh um sich zu freuen, denn noch war nichts in Stein gemeißelt, der Erfolg seines ersten Schrittes hing im Prinzip einzig und allein von Aidas Reaktion ab, reagierte sie nicht so wie er es geplant hatte, lief er Gefahr den gesamten Plan hinschmeißen zu müssen. Darum war er auf Nummer sicher gegangen und hatte mehrere Objekte besorgt, er war sich jedoch fast zu hundert Prozent sicher, dass er auf Aidas Eifersucht und Misstrauen gegenüber ihrem Ehemann sowie auf die durch ihre Komplexe ausgelöste Überempfindlichkeit als höchst explosive Mischung zählen konnte. Von prickelnder Euphorie beflügelt flanierte er heimwärts, betrachtete im vorübergehen die zahlreichen Geschäfte und malte sich die nächsten Schritte seines Planes aus. Plötzlich durchfuhr ihn ein eisiger Schauer, er traute seinen Augen nicht, Aida schritt gerade aus dem Frisörgeschäft knappe zwei Häuser vor ihm, flugs versteckte er sich hinter dem gigantischen Springbrunnen der in der Mitte des Marktplatzes thronte. Nie hätte er gedacht, dass er einmal froh über diesen pompösen Schandfleck sein würde! Seine Mutter schlenderte federnden Schrittes weiter, geradewegs auf ein Nagelstudio zu, betrachtete derweilen akribisch ihren neuen Haarschnitt in einem der blank polierten Schaufenster. Allzu viel hatte sich nicht verändert, es fehlten wenige Zentimeter an den Spitzen und anscheinend hatte sie sich einige Stufen schneiden lassen. Der wohl gravierendste Unterschied war, dass ihre sonst so wilde, wellige Mähne streng geglättet und etwas lasch, wie der kleine Harper fand, von ihrem Haupt herabfloss. Gott, sie stand scheinbar ewig vor dem Schaufenster des Drogeriemarktes und begutachtete ihre Haarpracht. Langsam packte Harper die Eile, denn er wollte schnellstmöglich nach Hause, noch bevor sein dämlicher Bruder von seinem dämlichen Fußballtraining zurückkam! Endlich, nach der wohl längsten Minute seines Lebens wandte seine Mutter sich von ihrem Spiegelbild ab und ging auf das Nagelstudio zu, langsam und mit betont schwingenden Hüften überquerte sie den Platz und betrat schlussendlich „Wendy’s House of Wellness“. Hastig und mit pochendem Herzen sprang Harper aus seinem Versteck und bemühte sich nicht allzu auffällig, aber dennoch möglichst schnell vom nun scheinbar hektargroßen Hauptplatz zu verschwinden. Wie ein Detektiv aus einem billigen Groschenroman schlich er nun vorsichtshalber durch alle möglichen Seitenstraßen, sorgsam darauf bedacht nicht aufzufallen. Er kam sich vor als hätte er eine Bank überfallen und flüchtete nun vor einer ganzen Armada von Polizisten. Mehr als sonst verfluchte er den Ungehorsam seiner kindlichen Fantasie und unterdrückte krampfhaft die Vorstellung, dass jeden Moment ein uniformierter Bulle aus einer Nische springen und ihn in Ketten legen würde. Wie lächerlich er sich doch vorkam, armer kleiner Harper. Bald erreichte er die Stadtgrenze und die hohen Häuserblocks und bunten Fassaden wichen wieder der Monotonie seines verhassten Vorortes. Mit dem Säckchen in dem sich seine „Beute“ befand dicht an die Brust gedrückt pirschte er an den tückisch idyllischen Einfamilienhäusern vorbei, spähte mit Adleraugen über die kitschigen weißen Lattenzäune und lauschte mit gespitzten Ohren auf jedes noch so kleine, verräterische Geräusch. Was war das? Stimmen drangen aus einem der Vorgärten, aus dem Augenwinkel nahm er eine Bewegung wahr, blitzschnell fuhr er herum und duckte sich gerade noch rechtzeitig hinter einen der zahlreichen Büsche um zu sehen wie Markus Dale die Auffahrt zu seinem Haus hinaufeilte, auf dessen Türschwelle schon seine Frau Barbara auf ihn wartete und ihm scheinheilig zuwinkte. Wenn der wüsste was sie in seiner Abwesenheit trieb würde ihm das Lachen schon noch vergehen, aber noch war das nicht Harpers Sorge. Er war heilfroh darüber, nicht entdeckt worden zu sein und verweilte sicherheitshalber noch einige wenige Augenblicke in seinem Versteck. Gütiger Himmel, wenn das so weiterging würde ihn noch ein Herzinfarkt ereilen! Glücklicher Weise schien er ein einziges Mal in seinem Leben Glück zu haben, denn nach geschlagenen zwei Stunden voller Strapazen und Überraschungen erreichte er sein Elternhaus. Noch war er so froh gewesen über die Schwelle der Hintertür zu schleichen, verdammt, er war überhaupt das erste Mal froh dieses Haus zu betreten! Doch gab es keinen Anlass zur Freude, keine Zeit für Pausen und schon gar keine Zeit für Glücksgefühle, denn die eigentliche Arbeit stand ihm noch bevor. Er schalt sich selbst für seine Trödelei und hastete eilends in den Keller, in dem sich der Waschraum befand. Es war Mittwoch, perfekt, Mittwochabends war Waschtag im Hause Harper. Mit zitternden Händen begann er die Wäsche zu durchwühlen, er suchte und suchte und endlich fand er sie: Die Arbeitshose seines Vaters. Der kleine Harper klaubte einen der BHs aus seinem Beutel uns stopfte ihn in die Tasche der Arbeitshose seines Vaters. Er fiel mehr die Treppe hinauf als dass er ging, doch das störte ihn wenig. Er suhlte sich gerade förmlich in kindlicher Vorfreude auf das bevorstehende Debakel. Freudenstrahlend brach er zu seinem nächsten Ziel auf, dem Wohnzimmersofa auf dem sein Vater jeden Abend seine Sendungen sah. Er stopfte einen BH in die Ritze, niemand warf je einen Blick dorthin, außer Aida, wenn sie wie jeden Freitag sorgfältig alle Kissen vom Sofa klaubte um es von allen Bröseln zu befreien die ihr Mann tagtäglich dorthin beförderte. Es stimmte, dachte sich Harper, sein Vater fraß wie ein Schwein wenn er den leicht bekleideten Frauen im Fernseher hinterher geiferte. Das erinnerte ihn an einen schlecht durchdachten, aber keineswegs dummen Plan aus seiner früheren Kindheit… Als er sieben war, hatte er zufällig bei einer Unterhaltung seiner Eltern aufgeschnappt, dass sein älterer Bruder eine Allergie gegen Walnüsse hatte. Welch wunderbare Gelegenheiten sich einem doch manchmal förmlich vor die Füße warfen! Harper brauchte nicht lange zu überlegen um zu wissen, was er zu tun hatte. Als er, wie so oft, eines Nachmittags allein war, machte er sich auf in die Stadtbäckerei um dort eine Walnusstorte mit viel Schokoladenglasur zu kaufen. Sein Bruder liebte Schokolade, leider hatten seine Eltern ihm ausgeredet was Harper ihm all die Jahre so mühsam eingetrichtert hatte, aber was soll‘s, man lernt aus seinen Fehlern und das tat Harper. Er begab sich also mit der Torte im Schlapptau zum Lieblingsbolzplatz seines Bruders, doch wie erwartet lief er zwei schulbekannten Rowdies in die Arme, die den Platz vor Unbefugten schützen sollten. Da Harper in keiner Bande und damit ein Unbefugter war, bediente er sich einer List. Er redete sich den Mund fusselig und flehte die beiden bulligen Jungen an, die Leckerei doch bitte nicht Robert zu geben, da er sie für eine Lehrerin gekauft hatte. Das zog, denn wie die wenigsten Menschen wussten die Beiden, dass Harper Roberts kleiner Bruder war und so nahmen sie ihm die Torte ab und verfrachteten sie unter höhnischem Gelächter zu ihrem Bandenboss, Robert Harper. Es dauerte nur wenige Minuten und klein Harper ergötzte sich am Anblick seines am Boden liegenden und verzweifelt nach Luft ringenden Bruders. Wunderbar wie er sich im Schlamm wand wie eine kümmerliche Made, die er doch eigentlich war, nach Luft schnappte und zappelte. Grinsend und frohlockend saß Harper so hinterm Zaun der den Bolzplatz einrahmte und beobachtete seinen Bruder, der unter seinem allergischen Schock litt und daran zu verenden drohte. So saß er da, unzählige wunderbar lange Augenblicke, bis er vom Sirenengeheul der nahenden Rettung aus seiner Trance gerissen wurde. Schade, Ende der Vorstellung. Mühsam rappelte er sich auf um den letzten Akt des Bühnenspiels zu betrachten, sein Bruder wurde ins Krankenhaus gebracht, die beiden Jungs mit dem Streifenwagen nach Hause. Das roch nach Ärger, aber nicht für ihn. Vor Freude glucksend weil er zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen hatte wandte er sich Heimwärts. Nie würde er dieses Ereignis vergessen! Robert war gezwungen einige Tage im Krankenhaus zu verbringen, bis die Wucht seines allergischen Schocks nachließ und er wieder selbständig Atmen konnte. Wie sehr Harper diese Tage genoss, er sah sich selbst das Fußballspiel an, bei welchem sein Bruder mitspielen sollen hätte obwohl er Fußball hasste. Welch Genugtuung es doch war, die sonst ungeschlagene Mannschaft seines Bruders haushoch verlieren zu sehen! Ihn packte die Eitelkeit, denn immerhin hatte er dies zu verantworten…zumindest indirekt. Das waren noch Zeiten, doch ich schweife ab, zurück zu Harpers Plan.
Der kleine Harper wurde gerade damit fertig, den BH in die Sofaritze zu stopfen und schwebte im sanften Dunst seiner Erinnerung. Nun hatte er nur noch eine Station vor sich, das Gartenhaus. Dies war sozusagen seine Absicherung, denn wenn Robert Harper Senior sich wegen den beiden BHs aus der Affäre ziehen konnte, was Harper allerdings bezweifelte, so hatte er immer noch ein Ass im Ärmel, denn wenn Aida wie immer Ende März das Gartenhaus, das im Sommer als Gästehütte oder Grillzelt fungierte, auf Vordermann bringen würde, würde sie den dritten und letzten BH finden und dies würde der Tropfen sein der das Fass zum Überlaufen bringt, oder auch das Sahnehäubchen auf dem bereits eingestürzten Kuchen ihrer gescheiterten Ehe. Phantastisch, mit neuem Elan begab sich klein Harper also ins Gartenhaus. Immer noch mit überreizten und von Paranoia geschärften Sinnen schlurfte er durch die Flure des viel zu sauberen Hauses, vorbei an den unzähligen Sporttrophäen seines Bruders, an hunderten gestellten Familienfotos auf denen sie wunderlicher Weiße zu viert abgelichtet waren, ja auch Harper war darauf zu sehen, auf einigen zumindest. Wie sehr er doch diese Fototermine hasste, einmal im Jahr wurde auch von ihm Notiz genommen, jedoch nur um ihn als perfekten Sohn, der er, wie alle Welt wusste nicht war, herausgeputzt zu werden, geschniegelt und gestriegelt wie eine dieser verwöhnten, reichen Gören aus den Erziehungsratgebern und Hausfrauensendungen seiner Mutter musste er dann mit den drei restlichen, ebenso künstlich herausgeputzten Individuen seiner verachtenswerten Familie ewiglange vor einem fast blinden alten Knacker stillstehen und lächeln bis er seinen Mund vor Krämpfen nicht mehr schließen konnte. Auch das gehörte zur Illusion der perfekten Vorstadtortfamilie Harper, ein alljährliches Familienfoto um es den Nachbarn als Weihnachtskarte zu schicken, nur um ihnen dezent unter die Nase zu reiben wie perfekt man doch war. Schon in diesem Alter war Harper der Überzeugung, dass es völlig irrelevant sei, was andere von einem halten und passte damit so gar nicht das extrovertierte Raster seines Heimatortes. Neben den vielen Familienfotos hingen auch zahllose Bilder von Robert, die seinen gesamten Lebenslauf zu dokumentieren schienen. Robert als Baby, Robert als Kleinkind mit Fußball, Robert im Arm seiner Mutter, Robert auf den Schultern seines Vaters, Robert, Robert, Robert… Von seinem kleineren Bruder hingegen fehlte jedoch jede Spur, außer auf den Familienfotos existierte kein einziges Bild von ihm. Warum? Nun, seine Eltern waren zu beschäftigt damit den kleinen süßen Robert in jeder nur erdenklichen Situation seines Lebens abzulichten um dem unscheinbaren, jüngeren Bruder auch nur die geringste Beachtung zu schenken. Man kann nicht sagen, dass Robert J. Harper von der Aufmerksamkeit und Unterstützung seiner Familie abhängig war, nein er hatte schon sehr früh gelernt, dass Selbstständigkeit der Schlüssel ist um in dieser Welt bestehen zu können. Wenn er etwas wollte, so musste er es selbst erledigen, denn seine Mutter war zu beschäftigt seinem älteren Bruder alles in den Hintern zu schieben. Von seinem Vater wollte er gar nicht erst anfangen! Der verbrachte seine Vormittage auf Baustellen, wo er Mauern hochzog und jungen Frauen hinterher pfiff, seine Nachmittage waren bereits voll mit fernsehen verplant, die Arbeit auf dem Bau war schließlich Kräftezehrend genug, manchmal verbrachte er sie auch mit Robert auf dem Fußballplatz, man muss wohl kaum erwähnen, dass der samstägliche Gang zum Bolzplatz um seinem Bruder beim Gewinnen zuzusehen auch für den kleinen Harper zum Pflichtprogramm gehörte. Auch wenn es in späterer Folge niemanden scherte ob er nun mitkam oder nicht, man bemerkte ihn ohnehin kaum. Das war ihm mittlerweile jedoch egal geworden, er hatte gelernt dies zu seinem Vorteil zu nutzen wie sich nun zeigte. Robert hätte wohl kaum all das mitbekommen was er über die Monate hinweg über seine Familie in Erfahrung gebracht hatte. Bald schon würde sich zeigen ob er Erfolg hatte oder nicht, doch um das herauszufinden musste er erst den letzten der BHs in der Gartenhütte platzieren. Er hatte die Hintertür erreicht schlüpfte in die Arbeitsschuhe seines Vaters und ging hinaus in den überraschend großen, quadratischen Garten, der exakt so angelegt war wie alle anderen Gärten in diesem Vorort. Hier behandelte man Individualität wie eine Krankheit und traf entsprechende Maßnahmen um auch nur das geringste Aufkommen dieser zu verhindern. Sollte doch etwas Derartiges auftauchen, so ergriff man sogleich Gegenmaßnamen. Einmal hatte der alte Peer Langham ein, zugegeben, schon mehr als seniler, alter Mann einen nichtversenkbaren Rasensprenger im Baumarkt gekauft und aufgestellt. Stellen Sie sich das vor! Nicht versenkbar! Vor einem der perfekten, gleichen Häuser stand etwas Wasserspritzendes im sonst leeren, kleinen Vorgarten! Nun, dieses kleine unscheinbare Ding, löste plötzlich die Monotonie und ein Haus hob sich von allen andern ab. Sie werden nicht glauben, welch hitzige Diskussionen dieses unscheinbare, knapp fünfzig Zentimeter lange Ding im Nachbarschaftsrat auslöste. Schon bald kamen die wildesten, irrwitzigsten Beschwerden auf, von wegen ein Kind könnte über den Schlauch stolpern und sich den Kopf am Sprenger aufspießen, oder er könnte verrück werden und so den Gehweg mit einer Wasserschicht überziehen auf der alte Leute ausrutschen und geradewegs auf die Straße fallen könnten, wo sie dann von herannahenden Autos überfahren wurden. Welch Todesfalle! So unsinnig und irrwitzig das Ganze auch gewesen sein mochte, der Nachbarschaftsrat goss Öl ins Feuer und Stachelte die Leute an, immer mehr, immer unsinniger werdende Beschwerden in die Kummerbox vor dem Haus des Nachbarschaftsrates, wessen Vorstand unser hochverehrter Bankier, Schrägstrich Hobbyzuhälter war. Warum er? Tja, auch in einem Kleinstadtvorort wie dem unseren war es nie anders: Das liebe Geld regierte auch unsere kleine, auf einem Fundament aus Lügen und Fassaden gebaute Welt.
Auch dies war etwas, was dem kleinen Harper wiederstrebte, doch vorerst hatte er Anderes im Kopf. Er fischte gerade den Schlüssel zum Gartenhäuschen aus der Blumenampel und steckte ihn ins Schloss. Die Tür quietschte und knarrte wie eines der alten, rostigen Eisentore am städtischen Friedhof. Er hatte die Gartenhütte noch nie gemocht, nicht weil er nie zu einem der dort stattfindenden Grillfeste oder Übernachtungsparties seines großen Bruders eingeladen war, sondern weil er fand, dass ihr, trotz ihres fröhlichen gelben Anstriches ein gespenstischer Hauch anhaftete der in ihren Mauern nistete und von dort aus seine dunkle Aura durch den gesamten Raum zog. Unzählige Spinnweben waberten von der Decke und wiegten sanft im Luftzug als Harper die Tür öffnete. Das hereinfallende Dämmerlicht warf einen schmalen, orangegelben Streifen auf die Bodendielen, die fast undurchdringliche Dunkelheit wandelte sich in ein schauriges Zwielicht und hüllte die herum flimmernden Staubflocken in einen leuchtenden Schein. Wie der Staub abertausender Feen rieselten die Flocken zu Boden und stoben jedem Schritt den Harper tat auf, vollführten wilde Tänze um ihn, nur um anschließend wieder vor seinen Füßen zu Boden zu fallen und dort zu ruhen. Harper hörte jeden seiner Atemzüge so laut, als würden sie in Stereo von den Wänden wiederschallen, der klang seines eigenen Herzens erschreckte ihn ein ums andere Mal, so laut pochte es in seiner Brust. Er fürchtete in manchen Augenblicken sogar, dass es jeden Moment zerspringen könnte und dass die Scherben die es dabei auf dem staubigen Boden zurücklies ihn verraten würden. Selbstverständlich wusste er um die Unsinnigkeit dessen, was er sich in seinem Unterbewusstsein ausmalte, das hinderte ihn jedoch nicht daran sich die noch so absurdesten Entgleisungen seines Planes auszumalen, er musste schließlich für jedes noch so erbärmliche und winzige Detail seinen Plan B auf Lager haben. Nun war es fast vollbracht, geschickt platzierte er den letzten BH unter dem Kissen der Bank an der Ostwand der Gartenhütte. Nun zeigte sich auch warum er die Arbeitsschuhe seines Vaters angezogen hatte, man würde nun seine Fußabdrücke hier finden und das würde Aidas Misstrauen nur noch mehr schüren. Stolz wandte sich Haper um und blickte auf sein Werk herab. Quer durch die Gartenhütte zogen sich die Schmutzspuren von Robert Harper Seniors Arbeitsstiefeln. Was für eine Sauerei, überall lagen Erdklumpen, die Bank an der Ostwand war voll davon, und unter dem Kissen lag der letzte BH, so al wäre er von einer heimlichen Bekanntschaft dort vergessen worden. Wer würde schon ahnen, dass der kleine Harper für all das verantwortlich war? Höchst zufrieden mit sich selbst verschloss er die Tür mit aller Sorgfalt und spazierte durch den Garten zurück ins Haus, wo er die grässlichen Schuhe auszog, sie nahezu deckungsgleich wie er sie vorgefunden hatte auf die Fußmatte stellte und die Treppe in sein Zimmer hinaufstieg. Er brauchte nur noch eins zu tun, und das war warten. Klein Harper betrat sein karges, kleines Dachnischenzimmer und legte sich quer übers Bett, ein schlichtes Gestell aus dunklem Holz, mit einem quietschenden Lattenrost und einer harten Matratze. Seine Bettwäsche war weiß, schlicht und schmucklos, was ihn nicht störte, er hatte ohnehin nicht viel für solche nutzlosen Details wie Betten in Form von Rennautos mit bunt bedrucken Bettwäschen übrig, sein Bruder hingegen liebte diese Dinge, er schlief auch, wen wundert‘s, in einem solchen kitschigen Bett. Haper hielt, wie gesagt wenig von solchen verkitschen Dingen, er fand, dass zu viele Details nur vom Wesentlichen ablenkten. In einem normalen Bett wie er es hatte schlief es sich vermutlich auch nicht anders, als in einem überdimensionalen Plastikrennwagenbett. Außerdem war er sowieso nie sonderlich begeistert von Rennwägen, Fußball, Baseball und solchem Mist gewesen, er bevorzugte Beschäftigungen, die zwar nicht ganz typisch für Jungen in seinem Alter waren, jedoch um einiges nützlicher und interessanter waren als schnelle Autos und Sportgehampel. Ja, Josh Harper liebte Bücher, er besaß leider nur wenige, die er sich mit seinem wenigen Taschengeld leisten konnte, doch das tat seiner Liebe zum geschriebenen Wort keinerlei Abbruch. Fast jeden Nachmittag, verbrachte er, nachdem er seine Hausaufgaben erledigt hatte, in der städtischen Bücherei. Stundenlang fraß er sich so durch alles was die Regale so hergaben. Nun ja, nicht alles. Sein Interesse galt weniger den abgegriffenen, zerfledderten Zeitschriften, den billigen Liebesromanen die ohnehin alle den selben Inhalt teilten, welcher er da lautete Friede, Freude, Glück, Liebe, Betrug, die Schwester mit dem Ehemann der Anderen et cetera, et cetera…Es galt auch nicht den zahllosen Schmökern über die Stadtgeschichte, den Touristenschinken, Kochbüchern und schon gar nicht dem niveaulosen Kitschmüll den man hierzulande als Kinderbücher oder Jugendliteratur bezeichnen mochte. In seinen Augen war dies alles Müll, eine Frechheit, die pure Verschwendung von Worten, Papier und Zeit, kurzum Wortkotze. Den jungen Harper interessierten von Beginn an nur Bücher, aus denen er Wissen saugen konnte oder jene, die durch ihre famose Schreibweise, ihren Stil, ihren Inhalt oder ihre Aussage bestachen. So verschlang er alle Enzyklopädien, Lexika und Sachbücher die er nur finden konnte. Zwischendurch gesellten sich auch Romane, Horrorgeschichten oder Biografien hinzu. Er liebte all diese Bücher, sie entführten ihn in Welten die er sonst nie zu Gesicht bekommen würde, so ermöglichte ihm zum Beispiel „Die unendliche Geschichte“ von Michael Ende auf dem Rücken des Drachen Fuchur durch ganz „Phantásien „zu reisen und Atréju dabei zu begleiten wie er dem „Nichts“ trotzte um das Land zu retten. Dies war eines der ersten Bücher die er sobald er lesen konnte verschlungen hatte. Doch auch andere Bücher, wie Lewis Carroll’s „Alice’s advatures in wonderland“ besser bekannt als Alice im Wunderland, Charles Dickens‘ „The mystery of Edwin Drood“ oder Wilkie Collins‘ „The woman in white“ zählten zu seinen absoluten Favoriten.
Ihn faszinierten die immer anderen, einzigartigen Schauplätzte, die geschickt verworrenen, spannenden Handlungsabläufe und Rätsel an Büchern, sowie ihre Vielfalt und ihre Fähigkeit, Menschen für die kurze Zeit des Lesens in andere Welten zu entführen, in die Geschichte zu verstricken und darin gefangen zu halten bis man die letzte Seite gelesen und das Buch zugeschlagen hatte. man könnte fast behaupten, dass in diesen jungen Jahren die Bücher seine einzigen Freunde waren. Harper gab nicht viel auf seinesgleichen, gleichaltrige und ihre belanglosen, sinnfreien Interessen widerten ihn an und er verstand sich mit kaum jemandem aus seiner Klasse, geschweige denn aus seinem restlichen Umfeld. Er war ein Außenseiter, niemand sprach mit ihm und niemand beachtete ihn, was Harper allerdings herzlich wenig störte. Er genoss die Ruhe der Einsamkeit und hing so ewig lange ungestört seinen Gedanken nach, brütete an neuen Plänen und analysierte jeden Schritt den die anderen Kinder taten aufs Genaueste. Er war schon immer begeistert von der menschlichen Psyche und deren Durchschaubarkeit und Manipulationsanfälligkeit. Vor allem begeisterte ihn aber ihre Vielfalt, ähnlich wie bei Büchern gab es auch bei der menschlichen Psyche großartige Werke und Wortkotze. Harper befand den Großteil seines Umfeldes als Wortkotzte, eine blanke Verschwendung an Haut und Knochen wie er fand. Auf diese Weiße verbrachte der kleine Harper also seine Tage, Vormittags besuchte er die Schule, Nachmittags verkroch er sich in seinem Zimmer oder der Bibliothek und hing seinen Gedanken nach, wie auch nun, nachdem er den ersten Schritt seines Planes getan hatte. Schon bald hatte das Warten ein Ende. Stimmen, das klackern von hohen Absätzen und das poltern von Sportschuhen wurde in den Fluren laut. Aida und Robert waren zu Hause, nun war es nur noch eine Frage der Zeit bis seine Mutter den ersten BH in der Hose seines Vaters finden würde. Das einzige was Harpers Freude an diesem Tag trübte, war sein Bruder Robert, der zu ihm ins Zimmer geplatzt kam und die fast tranceartige Ruhe und den leichten Hauch von Glückseligkeit in dem sich der kleine Harper wiegelte, mit seinem Gestank nach Schweiß und dem nerv tötenden Klang seiner schon beachtlich tiefen Stimme mit einem Schlag zunichtemachte. Hervorragend, nicht einmal jetzt konnte er seinen bevorstehenden Erfolg auskosten. Robert war viel zu beschäftigt damit, seinem kleinen Bruder zu erzählen, dass die Familie Harper diesen Samstag zum alljährlichen Stadtfest gehen würde. Großartig, noch so ein widerlicher Brauch mit dem dieser Ort sich brüstete, das Maifest. Offiziell war dies ein gigantisches Grillfest, zu dem jeder Bewohner dieses erbärmlichen Vorortes etwas beisteuern konnte, wenn er oder sie wollte. Natürlich wollte jeder etwas beisteuern. So wetteiferten die Hausfrauen untereinander, wer den besten und meistverlangten Kuchen backte, die Männer hingegen duellierten sich an diversen Grillständen wer denn wohl das saftigste Steak grillen konnte und die Kinder vergnügten sich an zahllosen Spielbuden, Hüpfburgen, Dreibeinrennen und Schnitzeljagden. Diese Veranstaltung fand selbstverständlich am kommenden Wochenende im Stadtpark statt und alle würden wieder hingehen um sich ihre klatschlüsternen Mäuler mit Kuchen und Grillgut vollzustopfen und ihre ach so perfekten Familien ihren ebenso perfekten Nachbarn zur Schau zu stellen. Es wird wohl kaum einen von Ihnen überraschen, dass klein Harper diese Festivität wie sonst etwas hasste. Doch er wusste etwas mit hundertprozentiger Sicherheit: Aida und Robert Harper Senior würden es sich um nichts in der Welt entgehen lassen ihren Mustersohn dort zu präsentieren und allen aufs Auge zu drücken wie toll Robert Harper Junior doch war, wie stolz sein Vater auf ihn war weil er doch sosehr nach ihm geraten war. Wer’s glaubt! Klein Harper, das unscheinbare und fast unbekannte Anhängsel der Familie würde stattdessen nur eine Million mal hören, warum er denn nicht so toll wie sein großer Bruder sein könnte. Die meisten Anwohner dieses Ortes kannten ihn zwar, nahmen aber dennoch kaum Notiz von ihm. Darum hasste er diese Feste so sehr, sobald eines von ihnen stattfand, nahm man auch von ihm Notiz, er wurde allen Vorgestellt, musste haufenweise alternder Hausfrauen mit geheuchelter Freundlichkeit die Hände schütteln, er musste all seine Willenskraft aufbringen und sich unsagbar anstrengen um noch etwas Interesse an den Anekdoten der alten, fast tauben Schrullen heucheln und noch mehr Freundlichkeit vorspielen als im ganzen Jahr zusammen. Er gab Veranstaltungen wie diesen die Schuld, dass er gelernt hatte so gut und vor allen so selbstverständlich zu lügen. Das ist eine der Eigenschaften die an einem Ort wie diesem von Belang sind, keine Menschenseele interessiert sich hier auch nur im geringsten Dinge wie zum Beispiel mathematische Kenntnisse ( Dies nur als Exempel weil Harper zwar sehr begabt in Schulischen Angelegenheiten war und überall Einsen kassierte, bis auf Mathematik und dergleichen. Nicht, dass er es nicht lernen hätte können, er wollte es nicht, da er es für absolut Sinnlos befand, und keinen Nutzen in der Fähigkeit sah warum in Dreiteufelsnamen man doch lineare Funktionen oder pythagoreische Lehrsätze lernen sollte.) An Orten wie diesen überlebt man weder als Mathematiker noch als Meteorologe oder Doppelter Doktor. Hier überlebte nur der, der hinterhältig und verschlagen genug war, Tag für Tag die verschiedensten Dinge vortäuschen zu können. So funktionierte es eben in Kleinstadtvororten, man heuchelt, lügt und betrügt was das Zeug hält, sei es um die Illusion einer perfekten Familie, oder die Illusion einen Intakten Ehe, den Schein einer tugendhaften Jungfrau oder eines reichen Bankiers aufrecht zu erhalten. Man lügt, man belügt nicht nur seine Nachbarn, nein, man belügt auch in gewisser Weiße sich selbst. Das heißt, man versucht es zumindest, denn man ist kaum im Stande dazu sich selbst zu belügen, da man schließlich weiß, was Sache ist und man dies ganz gezielt umformt. Harper fand nie etwas Verwerfliches daran, andere anzulügen, warum auch? Es steht schließlich jedem frei zu sagen was man will, ob es nun Wahr ist oder nicht und es steht ebenfalls jedem frei zu glauben was man will, glaubt man also die Lügen die ein Anderer einem erzählt, so ist man selbst schuld daran. Gegen das drohende Unheil konnte er sowieso nichts mehr ausrichten, seine Mutter würde ihn, wie jedes Jahr, zu diesem vermaledeiten Fest schleifen und er würde sich lieb und folgsam stellen. Das Wichtigste war, dass Robert nun endlich wieder auf dem Absatz kehr gemacht hatte und in sein Zimmer im ersten Stock verschwunden war. Von unten tönten die üblichen Geräusche zu Harper herauf, Aida hatte begonnen die Küche aufzuräumen bevor sie anfing das Abendessen zuzubereiten, danach würde sie hinunter in den Wäschekeller steigen um die Schmutzwäsche ihres Mannes zu sortieren, das Kleingeld aus den Taschen seiner Hosen puhlen und sie dann endlich zu Waschen. Dabei würde sie dann den BH finden den Harper dort verstaut hatte. Wiedermal behielt er Recht, eine knappe Stunde später schallte Aidas glasdünne, hohe Stimme durch das ganze Haus. Sie verkündete, dass das Abendessen auf dem Tisch stand. Fantastisch, Harpers Magen knurrte wie der räudige Hund der Dales. Noch immer voller Euphorie sprang er förmlich aus seinem Bett und hastete die Treppe hinunter, wobei er beinahe über den an den Stufen fest getackerten Teppich stolperte. Er war sogar noch vor seinem Bruder Robert und seinem verachtenswerten Vater am Esstisch, trotzdem musste er warten bis auch sie dort eintrafen und ihre Plätze eigenommen hatten, denn bevor nicht jeder am Tisch saß und Aida das Tischgebet gesprochen hatte, bekam niemand auch nur einen Bissen zu essen. Komme was da wolle. Harper hasste diese Rituale seiner Mutter wie die Pest, er hielt nicht viel Jesus und Co. Auch das war ein Grund, warum Aida ihn vernachlässigte: Er war ungläubig, er hatte sich nie auch nur im Geringsten für Gott interessiert und das Einzige was er mit Jesus zu tun hatte war das herunterschießen von dessen Kopf, wozu er meist einen Golfschläger zweckentfremdete. Das gute an diesem Hobby war, dass es von allen Seiten quasi unterstützt wurde, denn zweimal wöchentlich klingelten irgendwelche Jesus-Fans an jeder Tür dieses Vorortes und verteilten Wackelkopf-Jesusstatuen. Im Laufe der Jahre hatte sich so mehr als genug Material zum verballern angesammelt und Harper wurde nicht müde die immer nickenden Köpfe des angebeteten Gott ihrer Mutter mit seinem Golfschläger durch sein Zimmer zu jagen. Als endlich alle am Tisch saßen und das Tischgebet gesprochen war, enthüllte Aida ihr heutiges Spezialgericht. (Jeden Tag kochte sie irgendetwas das sie als „Spezial-irgendwas „ bezeichnete. Spezialgemüsesuppe, Spezialmöhren, Spezialeintopf, Spezialpizza, Spezialmüll eben) Heute war es Harper ausnahmsweise egal wie seine Mutter ihr mittelmäßiges Essen bezeichnete, er würde selbst Spezialmüll essen, so hungrig war er, umso mehr freute er sich auf das Essen. Doch seine Freude sollte nicht lange währen, es gab sein absolutes Lieblingsgericht, Schnitzel mit Pommes. Wahnsinn. Roberts Gesicht wurde von seinem immer breiter werdenden grinsen nahezu verschluckt als er sah was seine Mutter gekocht hatte. Wie ein Barbar rammte er seine Gabel in das größte Stück und zog es sich auf den Teller, auch sein Vater tat es ihm gleich und Aida ebenso. Harper hingegen drehte sich im wahrsten Sinne des Wortes der Magen um. Fassungslos starrte er auf den Tisch und mühte sich krampfhaft damit ab, seinen Würgreiz zu unterdrücken. Schnitzel, fast jeden gottverdammten, zweiten Tag gab es ein verfluchtes Schnitzel! Er hatte Schnitzel noch nie leiden können seit er denken konnte hasste er dieses verfluchte Schnitzel. Er hatte endgültig die Schnauze voll. Wutentbrannt und von Ekel gebeutelt stand er auf und verließ Fluchtartig das Esszimmer. Sein Vater schrie ihm irgendetwas hinterher und kurz darauf hörte er schon das unheilverkündende Geräusch das von einem zurückgerückten Stuhl verursacht wurde. Na toll, das fehlte ihm gerade noch, noch eine Tracht Prügel. Dass ihn Schläge bevorstanden, dessen konnte er sich sicher sein, so sicher wie des Amens im alltäglichen Tischgebet seiner Mutter. Wenn der alte Robert Harper etwas mehr hasste als unterbrochene Gewohnheiten und Ungehorsam, dann war es die Tatsache vom Essen abgehalten zu werden, dies war das post-apokalyptische Szenario das in jeder Fernsehsoap die Zuschauerquoten explodieren lassen würde. Nun, da Ungehorsam ihn bei seiner Gewohnheit unterbrach und ihn obendrein noch vom Essen abhielt hatte Harpers letztes Stündlein geschlagen. Nun konnte ihn nur noch ein Wunder retten, zu dumm, dass er nicht an Wunder glaubte. Sein Vater hatte zwar fast aufgegessen und Aida war bereits im Wäschekeller verschwunden als Harper den Tisch verließ, doch er glaubte kaum, dass es für Robert Harper Senior einen Unterschied machte von einem fast vollen, oder wie in diesem Falle, fast leeren Teller aufzustehen. Die Stimmung beim Essen war ohnehin schon mehr als frostig, Robert Harper war angespannt und müde von der Arbeit und Aida war zutiefst frustriert, dass ihr Mann ihren neuen Haarschnitt geflissentlich ignorierte, sowie er auch ihre frisch manikürten Fingernägel und ihr neues Kleid keines Blickes würdigte. Man sah ihr förmlich an wie es in ihrem Herzen von Minute zu Minute kälter wurde, ihre Blicke wurden hart, ihre Miene verwandelte sich zu einer ausdruckslosen Maske die sich nur kurz aufhellte als Robert Junior sie mit Komplimenten für das herrliche Essen überschüttete. Schleimer. Widerlicher Arschkriecher. Nun würde der Senior seinen Frust an klein Harper auslassen. Der einzige Trost dabei war die Tatsache, dass er, wenn alles glatt lief, bald schon weit weg war, Aida würde ihn nach der Scheidung (dies war der Idealverlauf von Harpers Plan) sicher zum Teufel jagen und Harper könnte sich in Ruhe seinem nächsten Ziel widmen, aber dazu müsste er erst die Tracht Prügel des Jahrhunderts verkraften. Er hetzte die Treppe zum Dach hinauf und schlug dabei haken wie ein Kaninchen auf der Flucht vor einen Schlange, riss dabei den halben Teppich aus seiner Halterung und stürzte fast über das Geländer. Sein Herz drohte in seiner Brust zu explodieren und er stellte sich vor wie es wohl aussehen würde, wenn sein Kopf wie eine Bombe zerplatzte und das gesamte Treppenhaus mit roten Blutspritzern verzierte, die Wände mit Knochensplittern spickte und sein Gehirn an die Wand klatschte wie ein nasses Handtuch, viel toller anzusehen wäre aber wenn es an die Decke geschleudert werde würde, von ihr abprallte und vor den Füßen seines Vaters landen würde, welcher darauf ausrutschen, wie ein Gummiball die Treppe hinunter Kugeln und sich das Genick brechen würde. Bei dieser Vorstellung gluckste er vor lauter Lachen und vergaß beinahe, dass er doch auf der Flucht war. Blitzschnell jagte er noch mit letzter Kraft den kurzen, schmalen Flur entlang, stolperte in sein Zimmer und warf mit aller, verbleibender Kraft die Tür ins Schloss und sperrte so oft ab, so oft sich der Schlüssel nur im Schloss drehen ließ. Sein Blut schoss durch seine Adern, sein Herz pochte wie ein Presslufthammer und sein Puls rauschte in seinen Ohren wie ein gigantischer Ozean aus Blut. Von der Treppe ertönte das Gebrüll seines Vaters der wie eine blutrünstige Bestie die Stufen zu Harpers Zimmer hinauf preschte. Unter jedem seiner wuchtigen Schritte erzitterten die Dachbalken und Harper wünschte sich einmal mehr, dass er sie angesägt hätte. Hätte er dies getan, so war er sich sicher, wären sie Heute eingestürzt und hätten diese unsäglich verkommene Familie unter sich begraben und mit ihr auch Joshua Harper. Doch die Dachbalken waren heil und hielten dem donnern der dampfwalzengleichen Schritte seines Vaters mühelos stand. Harper drückte sich mit dem Rücken gegen die Wand sodass er die Tür im Blick und das Fenster im Rücken hatte, nur für alle Fälle versteht sich. So kauerte er da, mit rasendem Herzen und geplagt von der bangen Ahnung, dass er sich Prügel fangen würde, als plötzlich etwas Unheimliches zu hören war, nämlich gar nichts mehr. Nach einem kurzen, hysterischen Aufschrei aus dem Kellergewölbe, vermutlich hatte Aida ihren Mann gerufen, warum auch immer, war das Fluchen und Schelten seines Vaters verstummt und auch das Hallen der Schritte war umgekehrt und verklungen. Kein Laut war mehr im Treppenhaus zu vernehmen und nachdem er eine Weile dagesessen hatte bis das brennen in seinen Lungen nachgelassen hatte, stand Harper auf und robbte zur Tür, presste sein Ohr dagegen und lauschte. Was war passiert? Warum hatte Aida ihren Ehemann zu sich gerufen und warum in aller Welt war Robert Harper Senior ihrem Ruf gefolgt? Er presste sein Ohr nur noch fester gegen die Tür und lauschte angestrengt durch das Holz, er hörte alles Mögliche, das Knarzen und Knarren des Dachstuhls, das Wispern und Flüstern des Windes der durch die Ritzen der Fenster drang und durch das Haus zog wie ein Zug verlorener Seelen, das Klappern des Wetterhahns auf dem Dach der sanft im Wind schaukelte, ja er hörte selbst das Rauschen der Blätter des großen Kirschbaumes im Garten der im Wind wogte und Raschelte wie Tausende von klitzekleinen Flügelchen. In der Ferne vernahm er sogar das Bellen des Hundes der Dales und vom Nachbarhaus klangen die Stimmen von Max Hagott und Barbie Dale an sein Ohr, vermutlich diskutierten sie wieder darüber, ob sie mehr für einen Besuch in ihrem „Gästehaus““ verlangen sollten oder nicht. Ansonsten war jedoch alles Still. So entschloss sich Harper die Treppe hinunter zu steigen und nachzusehen was dort im Gange war, diese Stille war nicht nur unnatürlich, nein, selbst für den jungen Harper war diese Art von plötzlicher Stille unheimlich. Noch viel wachsamer als sonst schlich er völlig lautlos die lange Treppe hinab, sorgsam darauf bedacht, nicht den geringsten Laut von sich zu geben. Mit leisen bedächtigen Schritten tapste er in Richtung Wohnzimmer. Nirgends war eine Spur von seiner Mutter oder seinem Vater zu sehen, auch Robert schien wie vom Erdboden verschluckt, doch dann als er die Küche betrat sah er es: Die Tür zum Wäschekeller stand wenige Zentimeter offen, von unten drang ein spärlicher gelber Lichtschein die Treppe hinauf und legte ein unheimliches Glühen auf den Türspalt, das ihn erscheinen ließ wie das Tor zur Hölle. Wie passend, dachte sich klein Harper und überlegte ob er sich näher heranwagen konnte oder ob er es lieber bleiben lassen sollte. Gerade als er sich zum Gehen wandte, drang der fahle Klang hysterischer Stimmen zu ihm herauf. Wie vom Donner gerührt blieb er stehen und drehte sich ruckartig wieder um, was hatte er da gehört? Seine Mutter schrie gerade, Aida war anscheinend außer sich vor Wut. Schlagartig dämmerte Harper was geschehen war, seine Mutter musste den BH gefunden haben! Er stürzte zur Tür und kauerte sich wie ein Kaninchen dahinter um zu lauschen.
„…Es ist nicht meiner Robert! Er ist viel zu groß und so etwas… aufreizendes habe ich noch nie gemocht! Wem gehört dieses, dieses…dieses DING!“
„Aida ich bitte dich! Ich habe keine Ahnung, was bildest du dir überhaupt ein, wage es nicht noch einmal mich anzuschreien, geschweige denn, mir solchen gottverdammten, unwichtigen Müll vor zu plärren!“
„Ach ja? Wenn es doch so UNWICHTIG ist, warum gibt’s du es dann nicht zu!? Gib es endlich zu Robert, ich wusste es! Ich habe es geahnt, wie konntest du nur, nach all den Jahren?! Weißt du überhaupt was ich alles tat nur um einen einzigen Blick von dir zu erlangen? Ich kotze mir Tagtäglich die Seele aus dem Leib, sobald du aus dem Haus bist putze ich alles klinisch rein, lasse mir alle zwei Wochen jegliche Haare entfernen und rupfe mir jede gottverdammte Augenbraue einzeln zurecht so lange bis sie so perfekt geschwungen sind wie die der Huren die du dir im Fernsehen ansiehst! Ich verbringe Stunden im Badezimmer um mir das Gesicht mit viel zu braunem Make-up zuzukleistern doch du, du mieser Hurensohn würdigst mich keines Blickes, nein, viel lieber geiferst du den jüngeren Frauen und ihren Knackärschen und Silikontitten nach! „
Huch, das war neu, Aida fluchte, ihre Stimme wurde mit jedem Wort höher, schriller und gurgelnder. Sie weinte! Ob aus Kummer oder Hysterie war nicht zu sagen, aber Himmel Herrgott sie heulte wie ein Schlosshund! Es schien alles zu funktionieren, Robert Harpers Zorn wich Erklärungsnot und Verwirrung, ja ihm hatte es die Sprache verschlagen, war denn das zu glauben? Mit nahezu diabolischer Freude weidete sich der kleine Harper im Licht seines aufgehenden Planes. Seine Mutter misstraute ihrem Mann nun mehr denn je und zu allem Überfluss hatte sie nun auch allen Grund dazu! Wunderbar, einfach wunderbar! Aida keifte noch scheinbar Stundenlang weiter und Robert wurde bei jedem noch so kleinen Versuch sie zu unterbrechen abrupt mit einer neuen, noch viel beleidigenderen Tirade wieder zum Schweigen gebracht. Sie las ihm die Leviten wie die Lehrerin einer Klosterschule einem Schüler, der sein „Ave Maria“ falsch vorgebetet hatte. Immer öfter viel der Floskel „Ich hasse dich Robert, ich HASSE dich!“. Wie Musik tönte das in den Ohren des kleinen Robert J. Harper, der überglücklich und voller Schadenfreude hinter der Kellertür hockte und das Debüt des Schauspiels seines Planes in vollen Zügen genoss. Zu schade war es, als sich der erste Akt dem Ende neigte und das Trippeln von Aidas Schritten auf der Kellertreppe erklang. Begleitet von heiserem Schluchzen und verzweifelten Schniefen verschwand sie so von der Bühne und hätte Harper nicht beim ersten erklingenden Schritt die Flucht ergriffen, so würde er auf dem Küchentisch sitzen und hätte ihr lauthals johlend applaudiert. Vorsichtshalber war er aber blitzschnell und fast ebenso lautlos wie er gekommen war, wieder in seine Dachnische verschwunden um verstohlen durch seinen Türspalt zu linsen. Gerade noch rechtzeitig nahm er seinen Platz hinter seiner Zimmertür ein, um zu sehen wie Aida mit verheulten, rot geränderten Augen die Treppe hinaufstieg. Was zur Hölle wollte sie hier? Hatte sie Harper erwischt und war ihm sie ihm gefolgt? Unmöglich! Doch nein, was war das? Aida wandte sich am ersten Treppenabsatz nach rechts, in Richtung Schlafzimmer. Gut. Das war knapp, Harpers Nerven waren schon den ganzen Tag zum zerreißen gespannt gewesen, ein Glück hatte dies nun vorerst ein Ende. Plötzlich fühlte er sich wie erschlagen, alle Energie war mit einem Mal verpufft, die Wirkung des Adrenalins ließ nach und der kleine Harper wurde auf einmal unsagbar Müde. Seine Glieder wurden mit einem Mal bleischwer, seine Augenlieder sanken langsam aber sicher und die Müdigkeit legte sich über seinen Geist und seinen Körper wie eine bleierne Decke. Mit letzter Kraft schleppte er sich zu seinem Bett und lies sich hinein plumpsen. So wie er gefallen war, so blieb er auch liegen um den Stimmen seines Überichs und seines inneren Ichs lauschte, zwischen denen eine hitzige Debatte über den weiteren Verlauf des Planes ausgebrochen war. Sein inneres Ich lobte den heutigen Erfolg in himmelschreienden Hymnen, sein Überich hingegen mahnte zur Vorsicht und sprach sich für erhöhte Achtsamkeit und große Sorgfalt aus, denn noch war es nicht vorbei. Irgendwie hatte es schon Recht, noch war Robert Harper Senior noch nicht aus dem Haus, streng genommen war es zu früh für imaginäre Festtagsparaden. Trotzdem, ein bisschen hatte auch sein inneres Ich recht, Erfolge waren dazu da um sich darüber zu freuen, oder? So verbrachte Harper noch unzählige Augenblicke damit, der Debatte der körperlosen Stimmen seiner selbst zu lauschen, bis er schließlich, noch bevor die Sonne vollständig hinter dem Haus der Dales verschwunden war, in einen tiefen, traumlosen Schlaf fiel.
Es war das erste Mal seit langem, dass der kleine Harper schlief, die vergangenen Nächte hatte er schließlich fast vollends mit der Planung seines Spektakels verbracht. Hin und wieder hatte er sich auch einem Buch gewidmet oder war ins Wohnzimmer hinab geschlichen um sich diverse Seifenopern im Fernsehen anzusehen. Er hasste es zwar Fernzusehen, doch eben hierbei, welch Ironie, war er auf die Idee mit den BHs gestoßen, in einer dieser grenzdebilen Seifenopern hatte er ein ähnliches Szenario beobachtet und aufgrund der Verhaltensmuster seiner Mutter war er zu dem Schluss gekommen, dass dies der Perfekte Plan sei. Anscheinend war das Fernsehen, so hirnlos und asozial seine an den Haaren herbei gezogen Handlungen auch manchmal waren, auch das eine oder andere Mal ganz nützlich. Auch die Neigung seines Vaters, sich halbnackte, junge Frauen mit Silikonbrüsten im Fernsehen anzusehen erwies sich nun als äußerst hilfreich und schürte das Misstrauen und den Verdacht seiner Mutter, betrogen zu werden. Bald schon, vielleicht sogar schon Morgen, würde Aida auch Harpers nächstes kleines „Geschenk“ an seinen Vater in der Ritze des Fernsehsofas finden und das Melodram würde in den zweiten Akt schreiten und seinen unglücklichen Verlauf seiner Handlung weiterspinnen. Genau betrachtet, war es nur noch eine Frage von Tagen oder Wochen, höchstens einen Monat konnte es noch dauern bis Haper seinen verachtenswerten Vater endlich los war. Seine Mutter war ohnehin mehr als labil und anfällig für allerlei Unfug den man ihr in den Kopf setzte, aber das haben Christen nun mal so an sich. (Zumindest die, die klein Harper kannte.) Bald schon würde Aida es nichtmehr aushalten, schon heute war ihr Fass übergelaufen, im metaphorischen Sinne versteht sich, und sie würde sich von Robert Harper scheiden lassen. Sie konnte sich ruhig noch etwas Zeit lassen, Harper wollte sich noch länger am Leid seines Vaters weiden, er wollte sehen wie er in seiner Schmach verkam, wie er sich aus Leid zu Grunde richtete, denn das war alles was er wollte. Sein Vater sollte leiden.
Die Nacht verstrich ohne Zwischenfälle und am nächsten Morgen wurde der kleine Harper vom hereinfallenden Licht der aufgehenden Sonne geweckt. Es dauerte eine Weile bis er sich entsann, was am gestrigen Tage geschehen war, doch als er sich darüber im klaren war sprang er nahezu aus dem Bett und hastete in die Küche um die Auswirkungen seines Tuns zu begutachten. Überraschender weiße war er als letzter erwacht, sein Bruder saß bereits am Küchentisch und war gerade dabei sich den Rest seines Marmeladenbrotes in den widerwärtigen kleinen Mund zu stopfen, als Harper die Küche betrat. Aida stand am Küchentresen und schmierte ein weiteres Brot für den unersättlichen Schlund ihres Lieblingssohnes. Alles schien so zu sein, wie es immer war, doch auch dieses Mal war nichts wie es schien. Aida Harpers Augen waren rot gerändert und blutunterlaufen, ihre Hände zitterten und ihre Stimme bebte. Von Robert Harper hingegen fehlte jede Spur. Er war auch gestern Nacht nicht nach oben ins Schlafzimmer gegangen, das hätte Harper gehört, sein Vater trampelte bekanntlich wie ein Elefant. Der kleine Harper setzte sich vergnügt an den Tisch und nahm sich ein Stück Brot und bestrich es mit einem großen Klecks Honig. Komisch, wie der Genuss des Erfolges selbst das trockenste Stück Brot in eine Geschmackssinfonie vom Feinsten verwandeln kann. Auch während des Essens ruhten die Augen des jungen Harper auf der, scheinbar über Nacht geschrumpften, Gestalt seiner Mutter und wachten über jede Bewegung die sie tat. Nachdem er sein Brot aufgegessen hatte, erfüllte ihn das Beobachten seiner Mutter auch schon mit Langeweile, also beschloss er seinen Vater zu suchen um zu sehen wie viel Schaden er bei ihm angerichtet hatte. Auf eine gewisse Weiße tat ihm seine Mutter leid, doch es half nichts, sie war nun mal das einzige Werkzeug wessen er sich bedienen konnte um seinen Vater zu verletzen. Sie war ohne ihn ohnehin um einiges besser dran, was sie auch wusste, doch aus irgendwelchen Gründen leugnete sie es. Die Liebe war schon seltsam, wie der kleine Harper fand, seltsam aber nützlich und höchst anfällig für diverse Manipulationen. Nun gut, er wollte seine Zeit nicht damit verschwenden über die Relevanz und Bedeutung von Liebe und dergleichen zu sinnieren, viel lieber wollte er sich am Anblick seines Vaters weiden. Er musste auch nicht sonderlich lange suchen um diesen zu finden. Robert Harper Senior lag auf dem Wohnzimmersofa und schlief. Ihm hatte, Harper traute seinen Augen kaum, der Streit noch mehr zugesetzt als Aida! Er sah aus, als wäre er seit gestern um fünf Jahre gealtert, sein Gesicht war fahl und seine Haare hatten an Glanz verloren. Er stöhnte gequält als er sich auf die andere Seite wälzte, die Nacht auf dem Sofa war Gift für sein zermartertes Kreuz und das unebene Liegen goss nur noch mehr Öl ins lodernde Feuer seiner Rückenschmerzen. Erneut versuchte Robert Harper sich in eine bequemere Liegeposition zu bringen, vergeblich. Seine Augenlieder begannen zu flattern, er wachte auf. Zeit für Harper, Reißaus zu nehmen. Von neuem Elan beflügelt schwebte er förmlich die Stufen der Treppe zu seinem Zimmer hinauf um sich anzukleiden. Es war ein herrlich warmer, sonniger Maitag, warm genug für kurze Hosen und T-Shirts. Wahllos streifte der junge Harper sich irgendein Shirt und ein beliebiges Paar Shorts über. Harper hatte sich noch nie sonderlich für Kleidung interessiert. Hosen waren Hosen und T-Shirts waren T-Shirts egal welche Farbe sie hatten oder von welcher Marke sie waren. Es kümmerte ihn auch herzlich wenig, dass andere, die sich mehr aus ihren Kleidern und ihrem Aussehen machten und dafür auch kostbare Stunden vor dem Spiegel verschwendeten, sich die hohlen Köpfe darüber zerbrachen was sie am nächsten Tag anziehen könnten, sich über ihn lustig machten , weil er dies nicht tat. Und wenn schon, was sagte es aus ob man nun ein gelbes oder blaues Oberteil anhatte? Markenfetzen mochten wegen ihres völlig überteuerten Preises als Prestigeobjekte gelten, doch man konnte sich hunderte Armani Jeans kaufen und tausende Chanel Taschen anschaffen, doch intelligenter wurde man dadurch auch nicht. Das war es, was Harper an seiner Intelligenz so schätzte, sie war das einzige auf dieser Welt was ihm allein gehörte, was ihm niemand nehmen konnte und was niemand anderer kopieren könnte. Robert mochte zwar viele, Großteils auch falsche Freunde, haufenweiße Pokale, Unmengen von modischer Kleidung und Schuhen besitzen, doch er würde niemals in seinem ganzen Leben so viel Intelligenz vorweisen können wie Harper. Darum würde es ihm auch nicht schwerfallen, Robert zu Grunde zu richten. Doch noch war es nicht soweit. Schnellen Schrittes tappte Harper aus seinem Zimmer und machte sich auf den Weg in die Küche, wo er seinen Vater vorzufinden hoffte. Vergebens durchkämmte Harper das Haus auf der Suche nach Robert Harper Senior, schlussendlich fand er ihn doch wie dieser reglos im Garten auf einem der Sonnenstühle saß und gedankenverloren, mit leeren Augen sein Bier schlürfte.
Wohl zum ersten Mal in seinem Leben fühlte sich Robert Harper hilflos, verlassen, verloren und vollkommen verwirrt. Er kam sich vor als hätte man ihm den Boden unter den Füßen weggezogen. Er wusste nicht, wie er seiner Frau erklären konnte, dass er sie nicht betrog, dass er sie liebte, und bei Gott das tat er wirklich! Sie mochte zwar Recht haben, indem sie ihm vorwarf, dass er jüngeren Frauen nachgeiferte und ihr in den letzten zehn oder fünfzehn Jahren ihrer Ehe immer weniger Beachtung geschenkt hatte doch dies tat er nicht, zumindest nicht immer, mit Absicht. Er interessierte sich zwar nach knapp zwanzig, oder sechzehn Jahren Ehe eben nichtmehr sosehr für sie wie zu Anfang ihrer Beziehung. Nun wurde ihm mehr und mehr klar, welch graviereder Fehler dies gewesen war. Aida misstraute ihm mehr denn je und zu allem Überfluss versuchte auch noch irgendjemand, ihm etwas anzuhängen. Was konnte er schon tun? Er war verwirrt, musste seine Gedanken ordnen und wieder zu sich selbst finden. Im Klartext bedeutete das, dass Robert Harper Senior seit seines Erwachens und dem gescheiterten Versuch mit seiner Frau zu sprechen, nichts anderes tat als ein Bier nach den anderen in sich hinein zu kübeln und in sich in seiner Verzweiflung und seinem Selbstmitleid zu suhlen wie ein Schwein. Ihm war zum heulen zumute, doch das durfte ihm niemand anmerken, ansonsten würde er nur seine Autorität verlieren und das war das Letzte was er nun gebrauchen konnte. Auch die Nachbarn durften vom Verlauf der Dinge nichts ahnen, denn sonst waren sie das Gespött des ganzen Ortes. So vor sich hindämmernd bemerkte Robert Harper seinen zweiten Sohn nicht, der in unter dem großen Kirschbaum hockte und ihn beobachtete. Was er sah gefiel ihm nur zu gut, sein Vater betrank sich und versuchte seine Sorgen und Probleme in kaltem Bier zu ertränken. Hervorragend, es war fast schöner anzusehen als er es sich erträumt hatte. Noch war allerdings nichts gewonnen, der Stein war zwar ins Rollen geraten, doch noch hatte Aida nicht alle Objekte gefunden, die Harpers Vater das Genick brechen sollten. Zur Sicherheit hatte der kleine Harper neben den drei Wäschestücken auch noch ein Zettelchen mit einer fiktiven Telefonnummer in die Brusttasche des Feiertagshemdes seines Vaters gesteckt, an einigen seiner Hemden hatte er auch mit eindeutig zu knalligem Lippenstift als dass ihn Aida tragen würde ein paar eindeutige Abdrücke auf den Krägen hinterlassen. Auch diese Idee hatte er aus einer der nächtlichen Wiederholungen einer dieser vielen Seifenopern. Ihm blieb also nicht mehr viel zu tun, außer warten und zusehen. Die monatelange Arbeit würde sich lohnen, dessen war er sich sicher und er musste sich nur noch zurück lehnen und die Show genießen, Beifall klatschen und sich seines Erfolges freuen. Die Stimmung im Hause Harper wurde von Tag zu Tag eisiger, man konnte förmlich den Temperaturunterschied fühlen, auch die Spannungen zwischen Aida und Robert entwickelten sich prächtig. Je mehr Tage ins Land zogen, desto mehr bröckelte es in den Wänden ihrer Ehe. Aida hatte Robert aus dem Schlafzimmer verbannt, von nun an verbrachte er seine Nächte auf der Wohnzimmercouch. Langsam aber sicher bekam auch Harpers Bruder Robert mit, dass etwas nicht stimmte. Einmal rang er sich dazu durch, seine Mutter zu fragen was los war, doch dumm und naiv wie Robert war glaubte er ihr als sie beteuerte, dass alles in Ordnung sei und er sich nicht zu sorgen brauchte. Egal, aus Tagen wurden Wochen und nach wenigen dieser Wochen kam auch der Tag des Maifestes, zu dem Aida wie immer alle herausputzte. Das diesjährige Maifest war für Harper besonders faszinierend und erschreckend zugleich, einerseits war er beeindruckt von der nahezu perfekten Maske die seine Mutter und sein Vater trugen. Keiner von ihnen ließ sich auch nur im Geringsten die Vorkommnisse der letzten Zeit anmerken. Sie lächelten fast ununterbrochen, umarmten Nachbarn, aßen Unmengen von Kuchen und Grillzeug, nahmen an diversen Aktivitäten für Erwachsene wie zum Beispiel dem Badmintontunier oder der Weinverkostung teil und Tratschen mit jedem den sie nur sahen. Auch die anderen Nachbarn trugen ihre Masken mit an Perfektion grenzender Präzision. Pater George war mit seiner Familie anwesend, jeder der Georges verhielt sich absolut unauffällig. Harriett trug zur Abwechslung ein bis zum Hals zugeknöpftes weißes Kleid das ihr bis über die Knie reichte. Ihre kurzen, blonden Locken waren zu einem strengen Knoten gebunden und ihre Füße stecken in blank polierten weißen Lackschühchen. Sie sah aus wie die Unschuld in Person, die niedliche, brave kleine Pfarrerstochter. Niemand würde in vermuten, dass sie sonst in ihrer Freizeit als Nachwuchsprostituirte für Barbara Dale und Max Hagott Arbeitete. Ihre Mutter, Amelie war ebenfalls anwesend, doch anstatt sich wie zu Hause mit Wein zuzuschütten blieb sie hübsch ordentlich an der Seite ihres Mannes, schüttelte Hände und unterhielt sich den anderen Frauen. Unter ihnen war auch Barbara Dale mit ihrem Köter, ein besonders minderbemitteltes Exemplar eines Chihuahuas, welcher die meiste Zeit des Festes in Barbaras Handtasche verbrachte und hin und wieder aufgebracht kläffte, wenn sie an einem der Kuchentische vorbeischritt ohne ihm etwas von dem dort liegendem Kuchen zu geben. Hinter einem der Tische standen auch Max Hagott und seine Frau Claire. Claire war die mit Abstand widerwärtigste Schreckschraube die der kleine Harper zu dieser Zeit kannte. Ihr angeblich natürliches kotze gelbes Haar stand in wirren Korkenzieherlockenbüscheln von ihrem mit Botox vollgepumpten Kopf ab und wippte jedes Mal wenn sie ich hob oder senkte. Claire Hagott war schon seit Ewigkeiten nicht älter als 36, doch selbst das viele Botox in ihren Lippen, die chirurgisch angehobenen Wangenknochen, ihre angeborene (schon sechsmal operierte) Stubsnase und ihre doppel D Körbchen vermochten sie nicht wirklich zu verjüngen. Sie mochte sich benehmen und herrichten als wäre sie gerade in den Zwanzigern aber jeder, der nur etwas Augenlicht hatte, nein, selbst ein Blinder würde erkennen, dass die gute Claire schon mindestens Mitte Vierzig, wenn nicht sogar Fünfzig wäre. Die Kinder des Ortes munkelten, dass wenn Claire Hagott endlich tot war, ihre Brüste und ihre Lippen immer noch in ihrem Grabe weilen würden, selbst wenn der Rest von ihr schon längst verfault war. Plastik verrottete schließlich schwer, warum sollte es bei Plastikbrüsten und Plastiklippen anders sein? All das bezahlte selbstverständlich ihr guter, um einige Jahre jüngerer, Ehemann Max, der als Bankier und nebenbei als Zaungast bei Harriett George und Barbara Dale, genug Geld verdiente um seiner Frau ihr geliebtes Kosmetikstudio, in das auch Aida ging, zu finanzieren und sie ewig jung zu halten. Gerade lächelte sie und entblößte ihre neuen, perfekt weißen Zähne, alles völlig natürlich vom Kieferorthopädien gerichtet, selbst hierbei bildete sich keine einzige Falte in ihrem, von sprühbräune fast orange-braunen Gesicht. Ihre hart erhungerte Figur steckte in einem, sicher sündhaft teuren, Designerkleid. Harper hatte diese Frau noch nie gemocht, sie war nicht nur überheblich und eitel, sie war auch noch herablassend und erniedrigend gegenüber Kindern. Sie hasste Kinder, und das ließ sie diese auch spüren, wehe man kam ihrem Garten zu nahe oder wehe man berührte ihr heißgeliebtes Cabriolet! Wehe dem der es auch nur wagte dieses Auto anzuhauchen. Robert hatte Harper einmal erzählt, dass Billy Fisher, der Sohn des hiesigen Schrotthändlers, gesagt hatte, dass er sobald Claire endlich tot war, zum Friedhof gehen, ihr Grab ausschaufeln und nachsehen würde ob ihre Brüste und ihre Lippen nicht verwest waren und wie Fußbälle in ihrem Knöchernen Brustkorb lagen. Kein Wunder, sie hatte Billy einmal zur Polizei geschleppt, weil er auf der Suche nach seinem Federball durch ihren Garten geschlichen war, sie hatte ihm unterstellt, er sei ein Spanner. Auch Harper und Robert hatten ihre Differenzen mit dieser Zicke, doch auch sie würde ihre Retourkutsche bekommen, wie jeder hier in diesem idyllischen Vorort. Harper bemerkte noch viele andere bekannte Gesichter in dem Getümmel aus Menschen als er durch den Park schlenderte. An nahezu jedem Baum hingen bunte Girlanden, Lampions und Lichterkettchen waren zwischen den Baumkronen aufgehängt worden und der Wind rüttelte an ihnen als wolle er sie herab reißen. Die Sonne strahlte wie zum Hohn vom wolkenlosem Himmel, so als wollte sie jeden einzelnen dieser abscheulichen Leute verbrennen und dabei zusehen wie der Wind deren Asche über die Stadt hinfort blies. Haper war auf der Suche nach einem Ort wo weniger Leute waren, sie große Wiese der Parkanlage kam schon gar nicht infrage, da dort die Aktivitäten für die Kinder stattfanden, um nichts in der Welt wollte er sich zu all den anderen, geistlosen Kreaturen gesellen die Freude daran fanden mit zusammengebundenen Beinen über die Wiese zu hüpfen oder gedankenlos einem Ball hinterherjagten. Bald wurde er fündig, er setzte sich unter einen, etwas abseits stehenden Baum von wo aus er alle sehen konnte, für alle anderen jedoch nicht sichtbar war und holte ein Buch aus seinem Rucksack. Er schlug es auf und begann darin zu lesen, Seite für Seite arbeitete er sich weiter zum Ende des Buches. Harper begann zu vergessen wo er war, was um ihn herum geschah und nach und nach versankt er mehr und mehr in der Welt des Buches das er las, bis er schließlich diverse irrelevante Dinge wie Zeit und den Ort an dem er sich Befand vergas. Die Stunden verstrichen als wären sie nicht mehr als Sekunden und bald begann die Sonne langsam hinter den Häusern zu versinken. Das Licht wurde allmählich zu einem fahlen Schein und der Dunst des Abends senkte sich auf den Park herab. Die Lichterketten und Lampions wurden eingeschaltet und überall glitzerten bunte Lichter in den Bäumen und Sträuchern. Bald schon waren sie die einzigen Lichtquellen und die hereinbrechende Dunkelheit raubte den kleinen Harper die Sicht auf die Worte seines Buches und machte es ihm so unmöglich wieder darin zu versinken. Schade, nun brauchte er eine neue Beschäftigung. Er stand von seinem Versteck unter dem Baum auf und ging über die Rasenfläche zurück zur großen Wiese, wo mittlerweile ein gigantisches Lagerfeuer loderte über welchem die Kinder Würstchen und dergleichen Grillten. Einige spießten diese auf lange Stöcke uns fuchtelten damit im Feuer herum, andere stecken Marshmallows an deren Spitzen und hielten sie ins Feuer bis sie schwarz wurden. Henry Fisher, der Mann der den hiesigen Schrottplatz sein Eigen nannte, saß auf einer der Holzbänke am Lagerfeuer und gab schaurige Geschichten zum Besten. So erzählte er zum Beispiel von der alten Frau, die in dem leer stehenden Haus auf dem Hügel gewohnt hatte. Um diese Frau rankten sich vielerlei Geschichten, so erzählte man sich unter anderem, dass sie ihren Mann, mit dem sie dort gelebt hatte, auf grausamste Weiße im Schlaf erstickt hatte, um mit ihrem Liebhaber allein in dem Haus vom gewaltigen Vermögen zu leben. Einige sagen auch, dass sie ihn vergiftet hat, um sein Vermögen für sich zu haben. Wieder andere, so auch Henry Fisher, glauben, an die Version der Geschichte, dass Dolores Bennington ihren Ehemann Ralph eines Nachts mit dem Tranchiermesser aus Eifersucht das Herz aus der Brust geschnitten und es unter der gigantischen Trauerweide im Garten des Anwesens vergraben hatte. Natürlich war dies alles Humbug. Ein weiterer Schachzug der Bewohner ihren Ort interessanter für Touristen zu machen. In Wahrheit war Ralph Bennington, der einst reichste Mann dieses Ortes, an einem unspektakulären Herzinfarkt gestorben und seine arme Frau hatte ihn gefunden. Man sagt, durch den Verlust ihres Liebsten hatte sie den Verstand verloren, was durchaus wahrscheinlich war, denn weitere zehn einsame Jahre in einem einsamen Haus auf dem Hügel inmitten eines Ortes wie diesem würde jeden irgendwann um den Verstand bringen. Auch die Einsamkeit tat ihr übriges. Es war eine Schande, dass die Leute über die arme Frau grausige Geschichten erzählten, sie war dort oben einsam und allein gestorben, zehn Jahre nachdem ihr geliebter Mann das Zeitliche gesegnet hatte. Die Wahrheit war zwar traurig, den Leuten jedoch zu langweilig und so putschen sie sie eben etwas auf. Harper mochte diese Geschichten nicht, er befand sie für unmoralisch und durchweg armselig, man zog nicht über Tote her, egal wie lange sie schon tot waren. Nicht, dass er Angst vor dem Tod oder gar Angst vor Geistern hatte, er fand schichtweg, dass man, wenn man sich über jemanden das Maul zerriss, jemanden nehmen sollte der einen noch hören kann und sich an einem Rächen kann. Alles andere war feige, erbärmlich und nochmals feige. Es ekelte ihn an, wie alle an Henrys Lippen hingen, gespannt seiner Lüge lauschten und ihm wohl auch noch glaubten. Des Öfteren begaben sich einige besonders stumpfsinnige Exemplare der Kinder zum Haus auf dem Hügel um dort dem Geist von Dolores Bennington zu begegnen. Sein Bruder Robert führte jedes Jahr zu Halloween diese Gruseltouren und Mutproben mit seiner Clique und deren Neuzugängen durch. Als Harper fünf Jahre alt gewesen war, hatte ihn sein Bruder mit gezerrt und der kleine Harper wäre vor Angst fast gestorben. Nun wurde ihm beim Gedanken an diese Aktionen nur noch speiübel. Er selbst hatte den Erzählungen keinen Glauben geschenkt und hatte Nachmittage in der Bibliothek verbracht um zu recherchieren. Er hatte herausgefunden wie es wirklich gewesen war, es stand in jeder Zeitung. Angeekelt wanderte er weiter, weg vom Lagerfeuer und den Lügen die Henry Fisher zum Besten gab. Er war nun wieder bei den vielen Tischen angelangt an denen die, zu dieser fortgeschrittenen Stunde schon leicht angeheiterten, Erwachsenen saßen und sich angeregt miteinander Unterhielten. Über einigen Tischen hing der dichte, bläulich-graue Dunst von Zigarren und Zigaretten. Einige der feinen Damen und Herren, darunter auch Claire Hagott, Barbara Dale, Amelie George, Max Hagott, Robert Harper Senior und Sylvia Harris. Letztere des Gesindels war eine Frau, die mit äußerster Vorsicht zu genießen war, das wusste selbst der kleine Harper. Sie war sechsmal geschieden und einmal verwitwet. Kein Wunder, bei ihrer Attitüde musste ein Mann taub, blind, stumm und querschnittsgelähmt sein um es bei ihr auszuhalten. Sie war die Eitelkeit in Person, dazu noch sehr leicht reizbar und darüber hinaus höchst empfindlich und extrem herrschsüchtig. Ihr war es schon eher zuzutrauen einen Mann des Geldes wegen umzulegen. Doch obwohl Harper sie nicht mochte, weil sie ihn immerzu anpöbelte wenn er ihr in die Quere kam, erlaubte er sich nicht über sie zu urteilen, da er sie nicht gut genug dafür kannte. Er urteilte über keiner der verkommenen Bewohner dieses Ortes. Doch sie urteilten über jeden, selbst wenn sie ihn oder sie nicht kannten. Dies, geneigter Leser, ist einer der Gründe, warum man an diesem Ort besser eine perfekte Maske trug. Jeder war erpicht darauf perfekt zu sein, in den Augen der anderen makellos zu erscheinen, denn sobald jemand aus diesem Muster fiel, so wurde er zerrissen bis nicht einmal mehr ein Stück Kleidung von ihm übrig blieb. Wer hier sein wahres Gesicht zeigte, ging unter, er wurde gefressen von all den nach Klatsch gierenden Mäulern derer, die sich die Illusion von Perfektion geschaffen hatten. Glauben sie mir, jeder Mensch trägt eine Maske, auch Sie. Diese Maske ist das, was außenstehende von ihrer Persönlichkeit wahrnehmen, auch wenn sie Sie nicht kennen. Nicht ihr Gesicht ist ihre Maske, sondern das, was sie andern von sich offenbaren oder verstecken. So können Sie nach außen hin, aufgrund der Maske ihrer Persönlichkeit als freundlich gelten, obwohl Sie im Grunde ihres Herzens vielleicht überhaupt nicht freundlich sind. So bekommen Menschen einen Eindruck von anderen Menschen, der sich in ihren Köpfen festsetzt. Ein Mensch kann sein wie er will, er muss sich nur im Klaren sein, dass er eine Maske trägt, die er beliebig formen kann wenn er es wünscht. Doch Vorsicht, trägt man sie einmal, so wird es nahezu unmöglich sie wieder von seinem wahren Gesicht zu trennen. Auch Harper war sich dessen bewusst, er lernte schon sehr früh, dass er sich eine solche Maske zulegen musste um an diesem Ort zu bestehen. Der Unterschied zwischen Harper und dem Rest der Bewohner dieses Ortes war jedoch, dass er nicht nur mehrere Masken besaß und sie auch einzusetzen wusste, nein der Unterschied lag darin, dass er sie ablegte wann immer er in den Spiegel sah. Das war natürlich rein metaphorisch, genauer gesagt, Harper machte sich selbst nicht, im Gegensatz zu seiner Mutter, vor, dass er in einer perfekten Familie lebte. Harper kannte die Wahrheit, und die Wahrheit war, dass jeder hier anständig Dreck am Stecken hatte. Doch anscheinend war er der einzige der noch in der Lage war, seine Maske von seinem Gesicht trennen zu können. Es mag sich grausam anhören, doch selbst mit fast neun Jahren hatte Harper manchmal das Bedürfnis, ihnen allen ihre Masken vom Gesicht zu reißen, sie vor ihnen in den Staub zu werfen und sie mit einem Hammer in Trümmer zu schlagen. Dies hatte noch Zeit, zuerst musste er seinen Vater loswerden. Es war fast Mitternacht als Aida sich entschloss das Schauspiel zu verlassen. Müde und nachdenklich ging Harper zu Bett und lauschte dem neu entflammten Streit seiner Eltern. Irgendwann fielen Harper die Augen zu und er schlief ein.
Am nächsten Morgen wurde er von lauten Stimmen geweckt, die vom Garten her zu ihm heraufschallten. Es waren die hysterische Stimme seiner Mutter und die verzweifelte Stimme seines Vaters. Hervorragend, sie stritten! Der kleine Harper sprang aus dem Bett und eilte zum Fenster um zu sehen was dort vor sich ging. Ihm dämmerte, was geschehen sein musste: Aida hatte nach knapp einem Monat sein zweites Geschenk gefunden. Fantastisch, sie hatte am Morgen begonnen das Gartenhaus für den Sommer herzurichten, zwar diesmal erst spät (es war bereits Anfang Juni) doch letzen Endes spielte dies keine Rolle. Für diesen Fall hatte Harper in weiser Voraussicht einige Hemden seines Vaters präpariert als dieser sie in den Wäschekeller geworfen hatte. Sie hatten Aida nur noch mehr angestachelt und nun, nachdem sie noch einen weiter BH in der Gartenhütte fand und ihr Mann seit dem Fund des ersten auf dem Sofa schlief und sich täglich im Garten aufhielt war dies die Bestätigung aller ihrer Wahnvorstellungen.
Vom Fenster aus beobachtete Harper wie seine Mutter ihren Ehemann anschrie und in blinder Wut ihr Putzzeug nach ihm warf. Göttlich, konnte es denn noch besser werden? Ja, es konnte. Robert Harper war völlig verzweifelt, er konnte sich nicht verteidigen, kam nicht zu Wort und seine Frau würde ihm ohnehin nicht glauben. Man konnte förmlich sehen wie er innerlich in tausende Scherben zerbrach. So verging der Vormittag, Aida war nach einer guten halben Stunde wutentbrannt von dannen gezogen und Robert Harper Senior stand selbst jetzt noch, als es längst Mittag war, an derselben Stelle im Garten und starrte ins Leere. Die Ratlosigkeit, der Schmerz über den scheinbar nahenden Verlust seiner geliebten Frau und die Verzweiflung fraßen Robert Harper innerlich auf. Er war nur noch eine leere Hülle, ein Schatten seiner selbst. Der einst so autoritäre, herablassende und starke Robert Harper war ein gebrochener Mann. Er regte sich nicht einmal mehr auf, wenn Harper frühzeitig den Esstisch verließ, nicht nur, weil Robert Harper immer seltener an ebendiesem geduldet wurde. Auch Harpers Bruder Robert wurde mit jedem Tag misstrauischer gegenüber der Lage in der seine Familie sich befand. Auch ihm war klar, dass zwischen seinen Eltern etwas ganz und gar nicht stimmte und dass es nur noch eine Frage der Zeit war, bis alles aus ihnen herausbrach. Mehrmals schüttete er Harper sein Herz aus, doch der kleine Harper hatte neben ein paar geheuchelten Worten des Trostes auch nicht mehr als die Gewissheit, dass die elterliche Ehe im wahrsten Sinne des Wortes den Bach runter gegangen war, zu vermitteln. Mit jedem Tag der verstrich fand Aida mehr Gründe, welche sie in dem Glauben, dass ihr Mann sie betrog bestärkten. Sie fand sogar dort welche, wo gar keine waren! Ihr von Paranoia, Misstrauen und Komplexen gepeinigter Verstand setzte ihr täglich neue Flöhe ins Ohr und sie war bereit an jeden einzelnen zu glauben. Die ohnehin schon derangierte Fassade ihrer perfekten Ehe bekam immer mehr Risse und das Beste war, dass Harper nichts mehr zu tun hatte außer zu warten, denn mittlerweile bildete ihr Verstand selbstständig die wahnwitzigsten Ahnungen. Harpers Neugierde wuchs bis ins unermessliche, er malte sich ständig aus wie sie, nun da sie offensichtlich selbst von seiner inszenierten Geschichte überzeugt war, reagieren würde, wenn sie den Letzten BH in der Sofaritze finden würde. Sehr lange musste Harper nichtmehr warten. Sein letztes Geschenk an seinen Vater fand Aida an einem sonnigen Juli Tag. Sie war gerade dabei, das Haus für ein am nächsten Tag stattfindendes Treffen ihres Buchclubs vorzubereiten als sie die Überraschung entdeckte. Nun ja, Buchclub war kein Ausdruck für den, aus fünf Hausfrauen bestehenden, Verein der sich jeden zweiten Donnerstag im Haus einer ihrer Mitglieder traf um Martinis zu schlürfen, über ihre Ehemänner und Nachbarn zu lästern und den neuesten Klatsch und Tratsch aus der Nachbarschaft und der Welt der Stars auszutauschen. Von niveauvollen Unterhaltungen oder guten Büchern war weit und breit nichts zu sehen. Die wohl einzigen Bücher die diese Frauen, neben diversen Kochbüchern und Erziehungsratgebern je gesehen hatten, waren aller Wahrscheinlichkeit nach Schnulzenromane und Liebesschundblätter à la Happy-End-Müll.
Wunderbar, noch ein Abend an dem Harper sich in seinem Zimmer verkriechen musste um nicht von Hausfrauen in Stücke gerissen zu werden. Dieses Mal war Robert Harper nicht zu Hause, er war in der Arbeit als Aida einen weiteren Beweis für seine angebliche Untreue fand. Da niemand da war, den sie anschreien konnte, setzte sie sich aufs Sofa und stützte den Kopf auf ihre Hände. So saß sie stundenlang da und Harper konnte förmlich sehen, wie es hinter ihrer Stirn arbeitete.
Aida wusste kaum wie ihr geschah, sie nahm ihr Umfeld und das Geschehen wie durch einen Schleier wahr. Ihr Kopf fühlte sich an als wäre er aus Blei und in ihm tobte ein Orkan aus den verschiedensten Emotionen. Sie wusste nicht, ob sie ihren Mann hassen oder verachten, ob sie ihm glauben oder ihm misstrauen sollte. Siebzehn Jahre der Ehe, und das für nichts? Wie lange betrog er sie schon? Dass er dies tat, daran zweifelte sie keine Sekunde mehr, zu viel Bestätigung hatte sie in letzter Zeit erfahren. Doch warum fand sie dies erst jetzt heraus? War sie blind gewesen? Vermutlich schon, Liebe machte bekanntlich blind und sie liebte diesen Mann über alles. Was hatte sie nicht alles getan damit er ihr auch nur einen Augenblick seiner Beachtung schenkte? Die unzähligen Schönheitskuren und Diäten, zahllose Stunden des Schminkens und der mühsamen Enthaarung, Ewigkeiten beim Frisör und der Kosmetikerin und er hatte nicht einmal auch nur das kleinste Kompliment für sie übrig gehabt. Herrgott wie konnte sie nur so blind gewesen sein? In den letzten Wochen war die ohnehin schon lange leere Hülle ihrer Ehe in sich zusammengefallen und sie konnte nichts dagegen tun. Tränen rannen über ihr blasses, in den letzten Wochen mehr und mehr eingefallenes, Gesicht und zogen ihre nassen Spuren über ihre fahle Haut. Sie rannen über ihre Wangen und tropften von ihrem Kinn auf den Wohnzimmertisch, wo sie liegen blieben und im Abendlicht funkelten wie tausende Diamanten. Mit der könnte man meinen, dass sie ihre Tränen verloren hatte, so unglaublich viele hatte sie schon vergossen. Doch nun war endgültig Schluss. Wie so in der Abenddämmerung auf dem Sofa im Wohnzimmer ihres Hauses saß, verschwand die Ruhe und die Last der Trauer und Verzweiflung, ihr zu Eis erstarrtes Herz schien in blanker Wut und Entschlossenheit zu explodieren und es brach ein Gewitter aus rasender, unbändiger Wut vom Zaum. Alles was sich seither in ihrem inneren angestaut hatte, verschaffte sich gehör, alles wollte nach draußen, wollte ausbrechen und entliehen. In ihr ging ein Wandel vonstatten der sie erschreckte, jedoch auch mit neuer Energie beflügelte und plötzlich wusste Aida, was sie zu tun hatte. Ihre Tränen waren getrocknet und in ihrem Inneren loderte brennend heißer Zorn und brodelnder Hass. Ein Klicken ertönte, darauf folgte Rascheln und der schlurfende Klang von schweren, dreckigen Schuhen. Er war hier, war gekommen. Wo war er gewesen? Arbeiten, oder bei einer seiner geliebten? Im Grunde interessierte es sie nicht. Hauptsache, er war da, sie musste es so schnell wie möglich hinter sich bringen Bevor es eskalierte. Da war er schon, stand in der Tür wie ein Schuljunge, mit hängenden Schultern und einem Blick der Steine hätte weichmachen können. Sieh mal einer an, nun besaß Robert Harper die Güte, seine Frau anzusehen. Doch nun war es zu spät, Aida hatte die Schnauze voll, das Fass war übergelaufen. Sie richtete sich kerzengerade auf, sah ihrem verhassten Mann in die Augen und spuckte ihm die fünf Worte förmlich vor die Füße: „Ich lasse mich scheiden! Geh!“ Noch bevor Robert etwas erwidern konnte drehte sie sich um und ging.
Robert Harper wagte nicht an das zu glauben, was gerade eben passiert war. Seine Frau wollte die Scheidung! Sie wollte, dass er auf der Stelle ging und niemals wieder kam, wie konnte sie nur? Seine Welt zerbarst in tausende und abertausende Scherben, binnen weniger Sekunden entlud sich all das, was sich im Laufe der vergangenen Wochen über ihnen zusammengebraut hatte wie ein Gewitter. So plötzlich es gekommen war, so schnell war es auch wieder vorbei, doch die Folgen die damit einhergingen waren verheerend. Er hatte seine Frau verloren, die einzige Frau die er jemals geliebt hatte, er liebte sie doch immer noch, verdammt es tat fast weh so sehr liebte sie ihn. Doch Aida war gegangen und das einzige was sie zurückließ, war ein schwarzes, bluttriefendes klaffendes Loch inmitten seiner Brust. Er wollte schreien bis seine Stimmbänder rissen, bis seine Lungen wie Luftballons platzten, doch seine Stimme schien mit Aida gegangen zu sein. Er wollte irgendetwas gegen die Wand schleudern, doch seine Arme und Beine versagten den Dienst. Er wollte sie hassen, rasend vor Wut losstürmen und verschwinden, doch er verspürte nicht den geringsten Dunst von Wut und dergleichen. Robert Harper spürte überhaupt nichts mehr. Ein eisiger Hauch der Leere breitete sich in ihm aus und füllte seinen ganzen Körper mit bleierner Schwere und dem Gefühl der Hilflosigkeit, er wurde hineingezogen in den tiefen, bodenlosen Schlund der Trauer und der Verzweiflung. Nun denn lieber Leser, kennen Sie das Gefühl wenn man in völliger Dunkelheit eine Treppe hinaufsteigt und eine Stufe verfehlt? Man tritt ins leere und scheint ewig zu fallen, in ein bodenloses Loch zu stürzen. Für einen kurzen Moment umklammert nackte Angst das Herz und hält es in ihrem unerbittlichen Griff gefangen. Für diesen einen, winzigen, kurzen Augenblick fühlt man sich absolut hilflos und ausgeliefert, man kommt sich vor als stünde man vor einem unendlich tiefen Abgrund und würde von einer eisigen Hand hineingestoßen werden um ewig zu fallen. Doch dann fängt man sich wieder, man fasst auf einer anderen Stufe Fuß und er Augenblick ist vergessen. So fühlte sich Robert Harper Senior in diesem Moment, nur dass er auf keiner Stufe mehr fußfassen konnte, weil seine Treppe eingestürzt war. Er fand sich nun in einem immerwährenden Gefühl des Fallens und würde der Angst vor dem Aufprall nie entkommen können. Das änderte nun auch nichts mehr, Robert war bereits zerbrochen. So stand er nun da, in seinem eigenen Wohnzimmer, bis seine Beine unter dem Gewicht seines restlichen Körpers nachgaben und er wimmernd und schluchzend am Boden kauerte und um seine scheinbar perfekt gewesene, kleine, zerfallene Welt trauerte. Aida, nie würde er sich verzeihen können ihr zu Zeiten ihrer Ehe nicht genug Beachtung geschenkt zu haben, schlussendlich war er allein am Bruch schuld, er hatte sie nicht so behandelt wie sie es verdient hätte, ihm allein war er zu verdanken, dass sich Misstrauen in ihrem Herzen breit gemacht hatte bis es schließlich vor Kummer zersprang. Gegen Einbruch der Dunkelheit sank er in einen unruhigen Schlaf aus dem er bereits beim ersten Sonnenstrahl erwachte. Mühsam richtete er sich auf, holte seine bereits von Aida gepackten Koffer aus der Küche und verließ sein Haus. Am Eingangstor wandte er sich ein letztes Mal um und blickte zurück auf sein Haus in dem all die glücklichen Erinnerungen an seine Frau, seinen geliebten Sohn Robert und dessen Bruder wohnten und sich nun für immer von ihm entzogen hatten. Er kehrte seinem Leben den Rücken und wanderte davon, stieg barfuß durch das Meer aus den Scherben und Trümmern seiner perfekten, geliebten, zerstörten Welt, fort. Wo er hinging wusste er nicht, doch das spielte keine Rolle Mehr, nichts spielte mehr eine Rolle, Robert Harper war tot, er war innerlich tausend Tode gestorben.
Harper hockte auf der Treppe und spähte durch die Stäbe des Geländers auf sein Werk hinab. Robert Harper war gebrochen, Aida hatte ihn verlassen und das nach nur wenigen Monaten harter Arbeit! Es hatte sich gelohnt, sie hatte alles geglaubt alles was Harper aufgezogen hatte, die Arbeit hatte sich gelohnt! Wie ein Film lief die Szenerie immer und immer wieder vor seinem inneren Auge ab, zuerst sah er Aida, wie sie völlig fertig auf dem Sofa saß, den Kopf auf die Hände gestützt und geweint hatte bis sich in ihr etwas verändert hatte. Der kleine Harper konnte diesen inneren Wandel seiner Mutter förmlich spüren, er sah, wie sich ihre gesamte Trauer mit einem Schlag in Wut und Entschlossenheit wandelte und wie sie sich in fünf Worten gegen seinen Vater richtete, der darauf sichtlich in tausende Scherben zersprang. Aida war aus dem Zimmer geschritten wie eine Königin und Robert Harper schlich wie ein gescholtener Hund aus dem Haus, sie hatte ihm seine Koffer schon fertig gepackt bereitgestellt. Als Harper am Morgen danach an seinem Fenster stand und seinen Vater dabei beobachtete wie er mit hängendem Kopf von dannen zog, vermutlich auf dem Weg in ein Hotel, erfüllte ihn ein Gefühl das er bislang noch nicht kannte. Wohlige Wärme des Glückes breitete sich in ihm aus und kroch durch seinen Körper wie eine Schlange aus heißem Stahl. Er musste ununterbrochen grinsen und konnte schreien vor Glück, dass er seinen Erfolg mit niemanden teilen konnte und kein Lob für seine Leistung erhalten würde, tat seiner Freude nur wenig Abbruch. Doch schon als Aida beim Frühstück verkündete, dass Mommy und Daddy sich scheiden ließen, ließ dieses anfängliche Hochgefühl langsam aber stetig nach. Nachmittags, als Aida sich auf den Weg zu ihrem Anwalt machte um die Scheidung rechtskräftig zu machen, gesellte sich Robert zu Harper in den Garten. „Weißt du, ich hab Angst, glaubst du Mom schafft das? „ „Sicher, wieso nicht, ich bin fast elf und du bist bald dreizehn, wir sind keine Kleinkinder mehr, Rob“ „Schon, aber was wird aus Dad? Ich glaube nicht, dass er Mom das angetan hat, er hat sie geliebt! Mom hat ihn auch geliebt“ „Ja und? Selbst wenn er sie geliebt hatte, anscheinend hatte er auch andere“ „Glaubst du, dass er zu sowas fähig war? Sie waren doch immer glücklich!“ Immer glücklich, bi diesem Gedanken musste Harper es sich verkneifen laut zu lachen und ob Robert Harper zu etwas grausamen fähig war, das wusste Harper nur zu gut, immerhin hatte ER die Prügel gefangen und nicht sein Bruder. „Viele Ehen gehen kaputt, auch wenn sie glücklich scheinen, nichts ist wie es scheint Rob. Zu dir war Robert immer gut, du warst so, wie er es sich vorstellte, ich war für ihn nur halb existent, ich war das was schief ging als sie einen zweiten Robert wollten.“ „Du hast ihn noch nie Dad genannt, warum?“ „ Weil er nie mein Vater war, ich trage seinen Namen, und teile sein Blut, doch er ist für mich kein Vater und wird auch nie einer sein, es ist gut, dass er weg ist. Er sah seinen Bruder durchdringend an und in dessen Augen erkannte er etwas, von dem er nie dachte, dass sei Bruder dies empfinden hätte können. Angst. „Ich hab Angst Robbie, was wird aus und Mutter?“ „Mein Name ist Harper, JOSH Harper, u weißt wie sehr ich meinen ersten Vornamen hasse! Tut mir Leid Rob, das wird schon, Mom kommt damit klar, besser als du glaubst. Sie ist stark und ich glaube sie weiß damit umzugehen.“ „Aber was wird aus dem Geld? Mom arbeitet nicht!“ Harper seufzte, sein Bruder war wirklich fertig, und naiv noch dazu. „Mom wird haufenweiße Alimente für uns kassieren.“ „Dann ist Dad arm!“ Jetzt reichte es ihm. „Verdammt nochmal Robert, er hat Mom in all den Jahren seiner Ehe mit ihr betrogen, er hat sie ignoriert und somit zu Grunde gerichtet! Ich hab sie mehrmals dabei erwischt wie sich den Finger runter gesteckt hat, nur damit sie schlank für ihn bleibt und er hat sie keines Blickes gewürdigt! Sie hat alles für ihn getan, doch er hat sie liegen lassen! Er hat ihr willentlich weh getan Robert, ER war es der sie leiden ließ!“ In den Augen seines Bruders begann sich etwas zu verändern, sie wurden dunkler und ihr Blich erhärtete sich. „Du hast Recht, ich hasse ihn.“ Das war schon fast zu einfach gewesen. Doch auch die Naivität seines Bruders konnte Harper nicht von seinem Gefühl ablenken. Er mochte ihn schon, das wurde ihm klar. Doch auch das täuschte ihn nicht über die Leere hinweg, die das Glücksgefühl hinterlassen hatte. Es hatte ihn erfüllt wie eine Sonne die in seinem Inneren brannte, doch mit ihrem erlöschen hinterließ sie nichts als bittere Leere und den Hunger, diese zu stillen. Harper fühlte sich ausgebrannt, hungrig und nichtig. Das sollte es gewesen sein? Nach über einem Jahr und mehreren Monaten der harten Arbeit war nichts mehr übrig von der Freude die er sich erwartet hatte. Gut, sein Plan war aufgegangen, Robert Harper war weg, für immer weg, doch was nützte ihm das? Er hatte sich jeden Tag darüber amüsieren können wie sehr er doch litt, doch nun war er weg, würde vermutlich Selbstmord begehen oder sich eine neue Frau suchen, was auch immer, damit hatte Harper nichts mehr zu tun. Seine Eingeweide zogen sich zu dem altbekannten Knäuel zusammen, in seinem Inneren brodelte und gurgelte es wie in einem Hexenkessel. In seinem perfiden Verstand begann es zu rattern und zu arbeiten, er versuchte logisch zu denken aber sein inneres Ich wand sich in Verzweiflung und sein Überich höhnte mit teuflischem Grinsen und wissendem, fast lehrenden Ton über den Stand der Tatsachen. „Nun denn mein Freund, deinen Erfolg in allen Ehren, doch eine allzu große Herausforderung war es nicht gewesen. Gut, du magst deine Familie systematisch entzweit haben, dein Bruder hat sich auf deine Seite gestellt und deine Mutter ist nunmehr eine Marionette als der Puppenspieler. Du, mein Freund, hast die Fäden in der Hand, Robert vertraut dir offensichtlich und Aida ist, nun ja mehr oder weniger irrelevant. Du hast zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen, Vater ist aus dem Haus und Mütterchen ist allein, verzweifelt und verbittert. Ihr hast du ohne es zu beabsichtigen den Rest gegeben. Zugegeben, es ist durchaus bewundernswert, du hast zwei erwachsene Menschen binnen einem Jahr plus minus ein paar Monate dazu bewogen sich zu hassen, obwohl keiner der Beiden etwas getan hat was zu einer Scheidung führen hätte können. Doch seien wir ehrlich mein Freund, du kannst weit mehr als das. Darum fühlst du dich so leer und unbedeutend, selbst nach einem so strahlenden Erfolg. Du brauchst ein neues Ziel! Eine neue, große Herausforderung! Du wirst bald Elf. All die Jahre der Analyse dieser verkommenen Familie, seit wir acht waren hast du deine Zeit damit verbracht diese Familie zu ergründen nur um, als du zehn wurdest, damit anzufangen sie zu zerstören. Jetzt bist du bald elf Jahre alt und hast es zu nicht mehr als einer geschiedenen Mutter, einem verwirrten Bruder und einem zerstörten Vater gebracht. Du brauchst eine Aufgabe, doch diesmal keinen Kinderkram mehr, nein… Wir brauchen etwas großes, ich bin hungrig, mein Freund, sehr hungrig. Robert kann dir sehr nützlich sein, dieser naive, beschränkte Narr vertraut dir, gut wir mögen ihn, doch wir können ihn auch zu unseren Gunsten einsetzten! Häng dich an seine Fersen, wir brauchen einen Verbündeten, eine Handpuppe. Sieh zu, dass Robert dein verbündeter wird. Nur Geduld, lass etwas Zeit verstreichen und sondiere die Begebenheiten, sodann wird sich sicherlich eine neue Option ergeben, mit der wir arbeiten können. „ So war es also beschlossen. Harper brauchte ein neues Ziel, und es stimmte, sein Überich hatte, wie immer, Recht. Er brauchte einen Verbündeten. Harper gab es ungern zu, aber er mochte Robert, auch wenn seine Eltern, pardon, auch wenn seine Mutter ihn immer bevorzugt hatte, so war er immer nett zu ihm gewesen. Es konnte nicht schaden eine Weile mit seinem Bruder zu verbringen, ihn etwas besser kennenzulernen, um zu verstehen was in seinem Kopf so von statten ging. Wer weiß, vielleicht konnte ihm das in ferner Zukunft von Nutzen sein. So war es Beschlossen, der kleine Harper wollte sich Zeit nehmen um etwas zu finden, womit er das tiefe, gierige Loch in seinem Inneren stopfen konnte, selbst wenn er dafür eine gewisse Zeit für seinen großen Bruder opfern musste. Es war also beschlossen, Harper würde warten, nicht ruhen, nicht im Geringsten, nein, er würde warten und stärker werden, bis er ein nächstes Ziel vor Augen hatte.
Selbst wenn dies Jahre dauern würde, es kümmerte ihn nicht, was sollte passieren? Sein Vater war weg, er hatte es geschafft, er hatte es endlich geschafft, Robert Harper war gebrochen, fort eine verblassende Erinnerung. Es war vollbracht, das Gespenst war zum Gespinst geworden.
Wissen Sie, geneigter Leser, die Zeit ist schon ein Mysterium für sich, nicht wahr? Seit Anbeginn versuchen wir, sie zu kontrollieren, doch sie mit Abstand das einzige, was der Mensch mit bedingter Ausnahme von Naturkatastrophen nicht kontrollieren, aufhalten oder gar bezwingen kann. Gut, man hat gelernt sie einzuteilen, in Sekunden, Minuten, Stunden, Tage, Wochen, Monate und Jahre. Doch dies ist nur bedingt hilfreich, man teilt so zwar einen Tag in zwölf einzelne Stunden von denen die Hälfte der Nacht und die andere Hälfte dem Tag gehören, somit kann man die Zeit einteilen. Es wäre mehr als nur vermessen zu glauben, man könne die Zeit genau messen, selbst Forscher teilen längst vergangene Perioden nur spärlich ein, oder halten sie Zeitangaben wie „2000 nach Christus“ für präzise? Selbst diese Aussage basiert auf einem zweiten Faktor, für den man an Gott glauben sollte. Sie sehen, niemand, auch nicht die klügsten Köpfe unserer verkommenen kleinen Welt vermögen die Zeit zu bezwingen oder sie zu durchschauen. Sie existierte schon lange vor uns, so viel von ihr war bereits mehr als vergangen als der Parasit Mensch die Erde befiel und begann sie Stück für Stück auszulöschen. Wir können Zeit zwar einteilen und mittels dieser Einteilung in gewisser Weise vorausplanen für Zeiten von denen wir nicht wissen können ob sie anbrechen werden oder nicht, wir können so unser Leben nach ihr richten und das ist der Punkt. Der Mensch unterliegt der Zeit, solange es ihn gibt, sie unabhängig von ihm und seinen Launen. Die Zeit ist ein selbständiges Eigen, ihr Voranschreiten ist unumgänglich und unaufhaltsam. In Wahrheit kontrollieren weder wir die Zeit, noch die Zeit uns, denn ihr ist es egal was wir tun oder lassen, denn sie schreitet zwingend voran, komme was da wolle. Die Zeit IST, denn sie fühlt weder Schmerz, noch sieht sie Leid oder beabsichtigt gar, solches zu verursachen.
Ganz anders als Harper, denn nun, da so viel Zeit verstrichen, so viel Leid geschehen und so viel Schmerz verursacht war, war für ihn endlich, am siebten Juli die Zeit gekommen. Er hatte sein handeln wieder aufgenommen und nahm kurz vor seinem achtzehnten Geburtstag Rache an all denen die ihn bis zu diesem Zeitpunkt gedemütigt hatten.
Nun, ich will ihnen auf den nächsten Seiten den weiteren Werdegang Josh Harpers schildern, in wenigen, knappen Worten nur, denn die Zeit schreitet schließlich voran und selbst Sie können vermutlich die Ewigkeit noch nicht ihr Eigen nennen.
Darum sollten wir keine Zeit verschwenden, doch eins vorab, dieses Kapitel unserer Geschichte ist verworren und weilt nur noch äußerst verhangen in meiner Erinnerung. Des Weiteren wird es einige unfüllbare Lücken in ihre Vorstellung reißen und ihnen wird, wenn es das nicht schon längst ist, klar werden, mit wem sie es in dieser Geschichte zu tun haben. Wir nähern uns sozusagen dem zweiten und dritten Schlüsselpunkt nach der Extermination seines Vaters aus der Familie, werden wir nun zwei weitere Handlungen verfolgen dürfen, die nicht nur durchweg untypisch für einen elfjährigen Jungen, sondern auch diffus und zunächst leicht harsch und überstürzt wirken werden. Wir werden Zeugen wie der kleine Robert J Harper zu Josh Harper heranreift. Nun, wenn sie es wagen, dann brechen wir nun auf, weiter zu unserer Reise durch die nächsten sieben Jahre im Leben eines Wahnsinnigen.
Die Wahrheit über Josh Harper
Nummer 2. Robert Harper
-Bruder
Nach der Scheidung seiner Eltern brach eine schwere Zeit für Robert Harper an, denn er hatte, im Gegensatz zu seinem kleinen Bruder, sehr an seinem Vater gehangen. Doch sein jüngerer Bruder hatte Recht, das hatte er immer, sein Vater war selbst schuld an der Scheidung, er hatte ihrer Mutter Aida wehgetan, über all die Jahre, er hatte sie betrogen und sie zum Schluss einfach verlassen. Daher wunderte es ihn wenig, dass Aida das alleinige Sorgerecht erworben hatte und sie nun recht gut, wenn nicht sogar besser als vorher, von den Alimenten lebten, die ihr Vater an ihre Mutter zahlen musste. Josh hatte zwar Recht was seinen Vater betraf, Robert hatte wirklich gelernt ihn, zu Recht wie Josh sagte, zu verachten oder zu hassen, was auch immer, doch er konnte noch sooft Recht haben in allem was er sagte, Robert vermisste seinen Vater insgeheim. Seit er weg war, war niemand mehr da, der ihn als Fußballstar vergötterte, seine Mutter verstand davon nicht genug, um sich wie sein Vater dafür zu begeistern, sie besuchte zwar jedes seiner Spiele und unterstützte ihn auch so gut sie konnte, ja, Aida war wahrhaftig stolz auf ihren älteren Sohn als er ins Fußballteam seiner neuen Schule aufgenommen wurde und sich dort beweisen musste. Mit dem Wechsel an eine andere, höhere Schule musste Robert Harper aber auch so einiges lernen. So musste er zum Beispiel lernen, sich anderen unterzuordnen und sich mühsam an sie die Spitze von etwas zu kämpfen, was er gut meisterte, schon bald war er Kapitän der schuleigenen Fußballmannschaft, doch das war es nicht, was seinem Selbstbewusstsein einen Dämpfer versetzte, nein, hier war man als Fußballstar nur beliebt aber nichts Besonderes mehr, da es von Starathleten an der Schule nur so wimmelte. Er tröstete sich jedoch damit, in seiner Clique der beliebteste zu sein. Sowas gab es hier zu Hauf, Cliquen. Es gab die Fußballer, die Tennisspieler, die Mathegenies, die hübschen Mädchen, die weniger hübschen Mädchen und die Außenseiter. Unter den Cliquen herrschte eigentlich kein Streit, man hatte ja die Außenseiter über die man sich lustig machen konnte. Sie wurden zwar von allem und jedem, ja sogar von den Mathegenies, gehänselt und erniedrigt. Auch Robert war bei solchen Aktivitäten immer vorn Dabei. Er war der Überzeugung, dass diese Leute dazu da waren um von Leuten wie ihm und den Anderen schikaniert zu werden, so wie er der Überzeugung war, dass Leute wie er dazu da waren, gut im Fußball zu sein. Es stimmte, er dachte nicht sonderlich kompliziert oder sonderlich viel, überragend viel Grips besaß er auch nicht. Dafür, so fand er, sah er einfach zu gut aus, schon mit seinen dreizehn Jahren war er der Überzeugung, dass Aussehen über Intelligenz ging. (Woran man den Grad seiner Intelligenz sehr deutlich erkennen konnte, wie Harper fand) Nichts desto Trotz hatte er mit seinem Aussehen wahrlich Erfolg und zugegeben, so schlecht sah er nicht aus, wie die Mädchen fanden. Robert Harper kam im Aussehen ganz nach seinem Vater, wie Sie bereits wissen, er war großgewachsen und schon im Alter von dreizehn Jahren recht muskulös und kräftig, was er dem Drill seines Vaters und dem Sport zu verdanken hatte. Robert war groß, er war der Größte in seiner Klasse, er überragte selbst seine besten Freund Billy Fisher um drei Zentimeter und Billy war schon eine Klasse für sich. Roberts Körperbau hatte etwas von einem Schrank, was in späteren Jahren nur noch deutlicher wurde. Nicht nur sein Körperbau sondern auch seine Gesichtszüge glichen denen seine Vaters bis aufs Haar. Er hatte dunkle, braune Augen und ein hartes, grobschlächtiges Gesicht in dessen Mitte eine breite Nase thronte. Das glatte, buschige, dunkelbraune Haar trug er stets Kurz oder gar nur Millimeter lang. Man schätzte ihn fast Allerorts um einiges Älter als er war und nicht wenige Mädchen würden sich gerne als seine Freundin rufen lassen, worüber er sich natürlich im Klaren war. All diesen Dingen nach zu urteilen war Robert Harper also ein ganz gewöhnlicher, beliebter, glücklicher Junge der vor Selbstbewusstsein nur so strotzte. Doch nur Harper wusste, dass dem nicht so war. Wahrhaftig, so war für Robert Harper das erste Jahr an seiner neuen Schule das Schlimmste, das sein kleiner Bruder nicht da war. Er hatte ihn zwar schon immer gemocht, trotz ihrer anfänglichen…Schwierigkeiten. Doch Robert wertete Harpers Aktionen, wie seinen Versuch seinen Bruder magersüchtig zu machen oder dem Gelungenen Projekt, Robert zum Vegetarismus zu überreden (er weigerte sich ein ganzes Jahr lang, Fleisch zu essen, selbst sein geliebtes Schnitzel und seine heißgeliebten Pommes verschmähte er) alle als Produkte der Eifersucht und dem Versuch, ein bisschen Aufmerksamkeit zu erhaschen. Mit dem Gehen seines Vaters viele Monate zuvor, besserte sich das Verhältnis zwischen Robert und seinem jüngeren Bruder erheblich, um nicht zu sagen, die beiden Brüder wuchsen förmlich aneinander. Der kleine Harper wurde für Robert zu seinen größten Stütze und er verbrachte so viel Zeit wie nur irgend möglich mit ihm. Man könnte sogar sagen, sein kleiner Bruder übernahm mit dem Verlassen ihres Vaters, seinen Platz in Roberts Herz. Er wusste nicht, ob sein Bruder das Selbe empfand, doch er würde ihn niemals fragen, nein, über sowas wie Gefühle zu reden was Roberts Ansicht nach alles andere als männlich und somit nur etwas für Weicheier und Schwulis wie man in der Schule so schön sagte. Er konnte Harper überdies nie einschätzen, er war so anders als er. Insgeheim bewunderte Robert Harper seinen Bruder zutiefst, denn Harper war höchst intelligent, er war zwar kein Mathegenie, doch er wusste sonst fast alles, ja er wusste in der Tat fast alles was man nur wissen konnte, glaubte zumindest Robert. Sein kleiner Bruder war sowas wie ein wandelndes Lexikon, er wusste zu allem was Robert sagte oder fragte eine Antwort und brachte es selbst in jungen Jahren fertig, alles zu durchschauen und er war zudem im Stande, Leute dazu zu bringen nach seiner Pfeife zu tanzen ohne, dass diese es bewusst wahrnahmen. Er konnte Leute ansehen und wusste scheinbar nach wenigen Minuten wie sie tickten, er drehte das, was in ihren Köpfen vorging so, dass es ihm nützte wenn er es wollte. Das war Robert unheimlich, es war eines der Dinge an seinem Bruder, die ihn zwar faszinierten, ihm jedoch auch einen eiskalten Schauer über den Rücken jagten. Nichts desto trotz war Harper für Robert immer wichtiger geworden, auch wenn dieser das nicht ahnte. Robert versuchte zwar Harper glauben zu machen, dass Harper IHN brauchte, doch in Wahrheit war das genaue Gegenteil der Fall, ER war es, der Harper brauchte und das wie die Luft zum Atmen. Es tat ihm weh, doch in der Schule hatte er einen Ruf zu wahren und ignorierte Harper weitgehend, beschützte ihn jedoch wann immer jemandem aus den anderen Cliquen der Sinn danach stand dem jungen Harper die Pause zu verderben und ihn zu demütigen. Er hatte alle aus seiner Clique dazu überredet, ihn in Ruhe zu lassen und Billy Fisher mochte den kleinen Harper sogar ein bisschen. So vergingen die Jahre, Robert Harper beschützte seinen geliebten kleinen Bruder und schleifte ihn mit sich, wohin er auch ging. Über die Jahre wuchs so der Zusammenhalt der beiden Brüder und sie entwickelten sich zu einem ansehnlichen Team. Robert bat Harper recht häufig um Hilfe, sei es bei Schulangelegenheiten oder wenn er einen schlauen rat brauchte. Sein kleiner Bruder war auch der Kopf der beiden geworden und heckte mit Robert und seiner Clique auch diverse Dummheiten aus, das hatten sie vorher auch getan, doch seit Robert seine Freunde von Harper überzeugt hatte, waren diese Dummheiten zu handfesten Streichen geworden und dank Harpers gewitztem Verstand wurden sie nie erwischt und gerieten auch nie in Schwierigkeiten, da der kleine ein Genie war, wenn es darum ging, Leute zu manipulieren, trügerischen Schein zu erzeugen und diabolische Pläne auszuhecken. Bereitwillig tat Robert alles, was sein kleiner Bruder ihm sagte oder vielmehr vorschlug, er wiederum schlug es seinen Freunden vor und so entwickelte sich im Laufe der Zeit eine Art Spinnennetz in dem sie alle klebten und der hungrigen Spinne gehorchten. Doch dies übersteig bisweilen Roberts Horizont, er merkte nicht dass er im fortlaufenden Gang der Jahre immer mehr instrumentalisiert worden war. Robert verwandelte sich mit jedem Tag ein bisschen mehr in eine Maschine, die funktionierte wie man sie programmierte und derjenige der sie programmierte war sich dessen anfangs nicht wirklich bewusst, zumindest war er sich nicht im klaren welche Ausmaße dies einst annehmen würde. So wurde Robert zu einem Instrument seines Bruders ohne, dass dieser es mit großer Mühe erzwungen hätte, nein. Der kleine Harper war mittlerweile in der Lage, Leute zu manipulieren ohne dass er es noch bewusst wahrnahm. Es wurde schlicht und ergreifend eine angenehme Gewohnheit für ihn, ein Klacks, seine leichteste Übung, sein Täglich Brot.
Der Himmel brannte, dicke, schwarze Rauchwolken glitten über die Kuppen der Hügel und hüllten die Sonne in ein tiefschwarzes Kleid aus Dunst und Asche. Es roch nach Feuer und Tod, von den einst grünen, üppigen Wiesen waren nur noch schwarze Grasstoppel und Felder aus Asche übrig. Die sonst so friedlichen Hügel glühten im Glanz des tobenden Feuers und malten schaurige Schatten an den, von Rauch nachtschwarzen Horizont. Selbst die Wolken scheinen im gleißenden Licht und der immensen Hitze des Feuers zu lodern, die Hügel sahen aus, als wäre die Sonne zerborsten und würde nicht nur hinter dem Rauchschleier gefangen gehalten. Sengende Hitze und eine dicke Schicht aus Asche waren nur kleine Übel im Gegensatz zu dem gigantischen Feuersturm, der über alles hinwegfegte was in den Hügeln stand und sie in ein flammendes Inferno verwandelte. Selbst die Luft schien zu brennen, sie waberte und flimmerte über den Kuppen der Hügel wie ein Meer aus brennenden Seelen die aus den Untiefen der Hölle entkommen waren um vor den Augen all jener Exemplare unserer verkommenen Rasse zu verenden, als Mahnmal um ihnen zu zeigen was auf sie zukommen würde. Die Flammen krochen die Hügel hoch, weideten ihre Senken und Täler aus wie Lämmer beim Schlachter und verschlangen alles, was ihnen in die Quere kam. Feuerzungen leckten an dem Bäumen bis ihre verkohlten Überreste wie Skelette längst vergangener Untiere aus längst vergangenen Zeiten aus der verbrannten Erde ragten. Sie streckten die verbrannten Reste ihrer einst so mächtigen Kronen gen Himmel als würden sie ihre Hände zum Gebet ringen, so, fast flehend, warfen sie lange, grausige Schattenauf die glühende Erde. Der Boden erzitterte unter der Wucht eines gewaltigen Bebens und die Aschedecke stob auf und tauchte den Boden unter seinen Füßen in schummrigen Neben. Rauchschwaden wanden sich über den Boden wie Maden und schlängelten in alle Himmelsrichtungen davon. Das Inferno tobte immer heftiger und heftiger. Die Erde teilte sich, der Boden brach, Risse überzogen die Hügel wie ein Geflecht aus Narben und Adern. Die Erde bebte und zitterte wie die Hand eines Sterbenden, die Kuppe des größten Hügels barst, stürzte in sich zusammen und wurde sogleich von einem Meer aus Flammen ertränkt. Brennend heißer Wind spülte über das Land, ließ die Asche hochwirbeln und tanzen wie einen Schwarm grauer, totbringender Schmetterlinge und riss alles was nicht festgewachsen war mit sich, hinab in den Schlund der unbekannten Tiefen. Nun brannte es überall, die heiße Luft versengte ihm die Lungen, sein Blut schien zu kochen, zu verdampfen als wolle es seine Adern sprengen und ihn in Stücke reißen. Gleißenden Licht blendete seine Augen, der Wind bestäubte sie mit glühender Asche. Der unerträgliche Geruch nach verbranntem Fleisch und die Schreie körperloser Stimmen brachten ihn beinahe um den Verstand. Die Hitze wurde unerträglich, die körperlosen Stimmen immer lauter und lauter. Um ihn herum schien die Welt eingestürzt zu sein, die Hügel schienen kleiner geworden zu sein, fast, als hätte das Feuer sie verschlungen. Ob es nun Tag oder Nacht war, konnte er nicht sagen, das Feuer hatte alle Zeit gestohlen, der Himmel erstrahlte in glühendem Rot und eine Schwarze Rauchdecke hatte sich über den Horizont gelegt als wolle sie die Welt darunter ersticken. Er konnte es ihr nicht verübeln, zu viel war geschehen. Das Meer aus Rauch wurde dichter und senkte sich immer weiter auf die Erde herab, bereit alles unter sich zu begraben. Der Wind jedoch verwandelte sich in einen Sturm, man könnte meinen er wolle dem Rauch zuvorkommen und die Scherben unserer Welt hinweg blasen, fort die Asche, fort den Staub, hinaus aufs Meer, wie altes Laub. Doch da war noch das Feuer, es wütete mit enormer Kraft und pflügte sengende Dünen und glühende Furchen in die schwarze Erde. Sie alle kämpften um das Privileg die Trümmer seiner Welt in ihren Grundfesten einzureißen und zu vernichten. Die unzähligen körperlosen Stimmen erhoben sich zu einer gläsernen Hymne und klagten ihr Leid mit rauschen und tosen in den brennendenden Himmel. Das tosen des zum Sturm gewordenen Windes erfasste ihre Hymne und trug sie mit sich, weit in die Tiefen des Nichts das auf ihn wartete. Eine Wand aus Feuer schloss ihn ein, die Flut des Rauches, das Tosen des Windes hielten ihn gefangen und das Inferno fegte auf ihn zu untermalt von einem Chor aus Schmerzensschreien und qualvollem Stöhnen und Ächzen abertausender körperloser Stimmen. Sein Mund war ausgedorrt, seine Zunge war kurz davor in Flammen aufzugehen, seine Lippen waren beinahe ebenso rissig und verbrannt wie der Boden zu seinen Füßen. Der heiße Wind blies die sengende Luft bei jedem Atemzug heftiger in seine Lungen, die beim Atmen geröstet zu werden drohte. Seine Haut, seine Augen und sein ganzer Körper schienen zu brennen, er fühlte sich wie eine lebendige Fackel. Angst hielt sein Herz im eisernen Griff und bohrte ihre langen, kalten Finger so tief in es hinein, dass es drohte auszusetzen. Eine Stimme erhob sich und donnerte über das Tosen uns Rauschen des Chaos hinweg seinen Namen. Immer und immer wieder schmetterte sie ihn gegen sein Gesicht als hätte er ihn vergessen. Die Erde erzitterte bei jedem Ruf aufs Neue doch die Grabesstimme und ihr eisiger Hauch hüllten ihn ein, er war unfähig sich zu rühren. Die sengende Hitze verwandelte sich in klirrende Kälte, Furcht spülte über das Flammenmeer hinweg wie eine riesige Welle und der Wind wurde frostig. Die Flammen erloschen, das eisige Wasser der herein brechenden Welle drohte ihn zu ertränken und es wurde immer kälter. Verzweiflung packte ihn als die Welle auch über ihn hinweg schwemmte und ihn mit sich riss, Wasser drang in seinen Mund und füllte seine Lungen bis sie zu bersten drohten. Ein kalter Hauch legte sich um ihn und schnürte ihn ein wie ein Paket. So sank er rasen schnell in die Tiefe, unfähig sich zu rühren oder zu befreien, es gab kein entkommen. Die brennenden Hügel waren einem Eismeer gewichen und die Stimme donnerte unerbittlich seinen Namen. Ein sanft gelblicher Schein erschien am Horizont, er brach im Wasser und brachte es zum Leuchten. Das fahle Blau des Himmels wurde sichtbar und die Sonne Tauchte aus dem Wasser auf. Ihr heller Schein breitete sich langsam aus und erleuchtete schlussendlich alles mit grellem, weißen Licht, das ihm das Augenlicht nahm. Die Stimme wurde sanfter und femininer, doch nicht weniger bittend. Nun klang auch ein Hauch Sorge aus ihren Tonfall. Sie rief seinen Namen, immer und immer wieder, doch seine nassen, kalten Fesseln ließen nicht von ihm ab. Er schien zu fallen und prallte auf etwas Nasses, Hartes. Er war auf dem Grund gelandet, hilflos, gefesselt mit der Stimme im Ohr die seinen Namen sang wie eine Hymne.
Harper schlug entsetzt die Augen auf. Langsam dämmerte ihm wo er war, er hörte auf mit den Armen zu fuchteln wie ein Ertrinkender. Dazu gab es keinen Grund mehr, er war nichtmehr inmitten des gewaltigen Feuersturms oder dem reißenden Eismeer das die Feuersbrunst erstickt hatte, er lag in seine klatschnasse Decke gewickelt. Alles um ihn herum war nass, das Fenster über seinem Bett war Sperrangel weit offen und von draußen stob die Gischt des eisigen Regens zu ihm ins Zimmer. Es tobte ein Gewitter, der Himmel hatte seine Schleusen geöffnet und es schüttete wie aus Eimern. Die Öffnung seines Fensters gähnte wie ein gigantisches zahnloses Maul und ließ Sturzbäche von Regen in sein Bett fließen. Großartig. Von unten tönten gedämpft die Stimmen seiner Mutter und die seines Bruders. Sie riefen seinen Namen. Erleichtert und etwas perplex begann Harper, sich aus der klatschnassen Decke zu schälen. Das erklärte wenigstens das plötzliche Hereinbrechen eines Eismeeres in seinem Traum. Mit klammen Fingen löste er die letzten wirren Schlingen der Decke und kroch in sein Bett. Die Matratze hatte sich bereits mit Wasser vollgesogen und schmatze als er einen Fuß daraufsetzte. Bei jedem Schritt quoll Wasser unter seinen Füßen hervor und er fühlte sich als würde er durch ein Moor warten. Er schloss das Fenster und der Regen begann empört dagegen zu schmettern, fast so, als wolle er es wieder öffnen. Vorsichtig schlich Harper aus seinem Zimmer, das von Pfützen übersät war wie ein frisch gegossenes Blumenbeet. Er ertappte sich selbst bei der Vermutung, dass die Welt ihn für seine Schandtaten bestrafen wollte, und somit zu dem Schluss kam, es wäre besser wenn sie ihn ertränkt. Er wusste zwar, dass dies Humbug war, doch nichts desto trotz jagte ihm dieser Gedanke einen kalten Schauer über den Rücken. Schnell flitzte er die Treppe hinab um zu sehen, aus welchem Grund seine Mutter und Robert nach ihm riefen. Er bog gerade um die Ecke, in Richtung Wohnzimmer, als seine Mutter ihm entgegenkam. Sie schenkte ihm einen kurzen Blick. fragte ihm nach seinem Befinden und vergewisserte sich, dass alles in Ordnung war und schritt sogleich wieder von dannen, ins Badezimmer um neue Handtücher zu holen. Irritiert aber doch neugierig ging Harper die letzten Meter bis zum Wohnzimmer, er Anblick der sich ihm dort bot, raubte ihm den Atem. Das Glas der Panoramawand, oder vielmehr das Glas dessen, was von ihr übrig war, lag in tausenden Scherben zu seinen Füßen und knirschte bei jedem Schritt unter seinem Gewicht. Vor ihm klaffte ein Loch in der Wand aus Glas, die Reste davon ragten aus dem Fensterrahmen wie die Zähne eines Untiers. Der Sturm hatte einen Ast vom Kirschbaum im Garten gerissen und ihn gegen die Glaswand geschleudert, nun lag er auf den Trümmern des Sofatischchens. Ironischer Weiße war alles in diesem Raum verwüstet worden, nur der heißgeliebte Fernseher und das Sofa Robert Harper Seniors waren unversehrt. Man musste zugegeben, das Leben hatte seine eigene Form von Humor, wie sich herausstellte, war sie ähnlich der Vorstellung, die auch Harper hegte. Aida musste sich schwarzärgern, ihre geliebten Orchideen waren unter dem Bücherregal zermalmt worden, ihre schönen Familienfotos ein Haufen nasse Pappe und von ihrem schönen Panoramafenster, das einst die ganze Wand einnahm, war ein Scherbenhaufen und ein leerer Fensterrahmen in einem großen Loch geblieben. Doch das verhasste Sofa und der abscheuliche Fernseher waren heil, fast makellos geblieben. Doch warten Sie, es kommt noch besser! Alles was hinter den Trümmern der Panoramawand bot sich ein Spektakel sondergleichen. Der Himmel war schwarz, spuckte seine Säfte in rauen Mengen und der Wind tobte unerbittlich. Die Mülltonnen, sonst so adrett vor den Häusern am Straßenrand aufgereiht, lagen kreuz und quer auf der Fahrbahn, diverser Müll wirbelte durch die Luft und hing in sorgfältig gestutzten Sträuchern besser gesagt, in deren Überresten. Von ordentlich gepflegten Gärten war nicht mehr viel übrig, er Sturm hatte sie in kleine Müllinseln verwandelt, Blitzte zucken am Himmel und hatten einige er Bäume in kokelnde Stummel verwandelt. Wetterhähne waren von den Dächern gebrochen und Gartenzwerge wurden wie Dartpfeile auf die Häuser der Nachbarn geschossen. Soweit das Auge reichte sah man abgebrochene Äste, herumfliegenden Müll, die dazugehörigen Tonnen, Zeitungen und Laub flatterten im Wind wie nasse, halbtote Vögel und Dachschindeln lösten sich von ihren Plätzen um auf die Häupter der Bewohner dieses grässlichen Vorstadtviertels zu hernieder zu sausen. Hin und wieder erblickte Harper ein bekanntes Gesicht, das versuchte die letzten noch verbliebenen Zwerge in seinem Garten zu schützen oder sich die unnütze Mühe machte, die Latten seines Zaunes wieder einzusammeln, nur um wenige Minuten später zu sehen, wie sie erneut vom Sturm herausgerissen und gestohlen wurden. Es herrschte Chaos, Harper konnte es kaum glauben, geschweige denn konnte er aufhören zu grinsen, nein, er grinste bis seine Wangen unter Krämpfen zuckten wie halbtote Fische. Er trat hinaus in die, von Blitzen durchzuckte, stürmische Nacht und schlenderte Barfuß durch das regennasse Chaos um sich an diesem Anblick zu weiden. Nun erschien ihm der Gedanke, dass die Welt versuchte die menschliche Rasse zu ersäufen wie die Ratten, die sie eigentlich waren, gar nichtmehr so abwegig. Er konnte es ihr nicht verdenken, der Mensch war schließlich die größte Plage die der Erde jemals wiederfahren ist. So schlenderte er, in Gedanken versunken, durch seine Straße und betrachtete den Schaden, den das Gewitter verursacht hatte. Noch immer tobte es mit ungeheurer Wucht, wenn auch nicht mehr ganz so heftig wie zuvor. Der Wind zerrte an Harpers Pyjamahemd als wollte er es ihm vom Leib reißen doch er wanderte wie in Trance weiter. Er blickte in die Gärten und Fenster der Häuser in denen sich seine Nachbarn ein Bein ausrissen um den Schaden zu begrenzen. Barbara Dale war gerade dabei ihren Hund wieder einzufangen während ihr Mann damit beschäftigt war ihren kostbaren Oleander festzuhalten. Wenn der wüsste, dass seine Frau eine Affäre mit Max Hagott hatte und die beiden das Gästehaus der Pfarrerstochter für ihre Zwecke vermieteten. Wo wir schon bei unserem nächsten Haus angekommen wären, Max Hagott spurtete durch den Garten wie ein Marathonläufer, seine Frau Claire stand im Türrahmen und schrie ihm Kommandos zu. Auch ihr Häuschen hatte buchstäblich sein Fett wegbekommen, die protzigen Skulpturen im Garten waren ein Haufen Schutt und die Balustrade ihres Balkons hing zur Hälfte im Zaun der Dales. Auf der gegenüberliegenden Seite kämpfte Pater George verzweifelt um sein Kruzifix, welches der Wind von der Tür gerissen und verkehrt in den Boden im Garten der Fishers gerammt hatte. Empört und verzweifelt vor sich hin betend stapfte er durch den Schlamm. Henry Fisher hingegen war damit beschäftigt die Reste seines Gartenmobiliars von seinem Truck zu entfernen. Wild vor sich hin fluchend scheuchte er seinen Sohn Billy ins Haus, der gekommen war um das Spektakel zu betrachten. Er musste grinsen und winkte Harper zu als er ihn erblickte. Harpers Grinsen wurde noch breiter, er winkte zurück und schlenderte weiter. Aus der Ferne erklang erneut Harpers Name, er drehte sich um und sah Robert, er stand in Vorgarten ihres Hauses und fuchtelte aufgeregt mit seinen Armen. Wiederwillig schlenderte Harper mit seinen nackten Füßen durch das Chaos. Er ging nicht auf einem der Gehwege, die zu beiden Seiten der kleinen Straße gepflastert waren, er ging direkt auf der Fahrbahn, warum auch nicht, sie war ohnehin kaum befahren und wer fuhr mitten in der Nacht bei solchem Wetter mit dem Auto? Im fahlen Schein der Laternen, die sie wie eine Allee aus Metall und Glas säumte, leuchtete sie wie ein flüssiges Band aus geschmolzenem Silber. Bei jedem Schritt spritzen silbrige Tropfen von Harpers Füßen und schlugen kleine Wellen, so nass war die Straße. Das Wasser war zwar kalt und es regnete und stürmte immer noch, doch daran störte sich der kleine Harper nicht wirklich, viel zu schön war der Anblick der sich ihm darbot. Harper liebte die Nacht und er liebte Gewitter, das tat er schon immer, aber kaum eine Nacht war bisher so faszinierend wie diese gewesen. Das Gewitter hatte mit nahezu apokalyptischer Wucht die scheinbare Perfektion dieses Ortes binnen einer Nacht über dem Haufen geworfen, die Illusion zerstreut und ihre Teile in den Gärten der Nachbarn verteilt wie auch ihren Müll, ihre Zäune und einige ihrer Habseligkeiten. Er sog den kühlen Geruch der Nacht und des Regens so tief ein, dass er sich beinahe daran verschluckt hätte und ging noch langsamer als zuvor. Seine Pyjamahose war an den Enden vollgesogen mit Regenwasser und dreckig vom Schlamm, bei jedem Schritt den er tat tropfte Matsch und Wasser von ihr. Seine Füße waren klamm und prickelten als würden tausende Ameisen daran hochkriechen. Noch immer tobte in seinem Kopf der Feuersturm aus seinem Traum, dies war höchst verwunderlich, denn für gewöhnlich träumten Menschen doch von verschiedenen Dingen. Der kleine Harper hingegen wurde seit dem Erfolg seines ersten großen Projektes von dem gleichen Traum gejagt und er nahm von Traum zu Traum an Intensität zu. Es war in der Tat höchst fragwürdig warum er seit seinem Erfolg nur noch von Untergang zu träumen vermochte und je mehr er über diesen Traum nachgrübelte, desto weniger verstand er seinen Sinn oder seine Aussage. So vieles spukte in seinem Kopf herum als er in dieser Nacht durch die verwüstete, mit Regen bedeckte Straße wandelte. Langsam aber sicher kam er immer näher an sein Haus, die Gestalt seines Bruders der ihm zuwinkte wurde größer und erschien aus der Nähe nicht mehr ganz so unwirklich. Seine Stimme schallte schon von weitem zu ihm herüber. „Josh, bist du okay? Scheiße hast du DAS gesehen? Das is ja der Wahnsinn!“ „Ja, es ist wahrhaftig großartig, sieh nur, alles ist hinüber!“ Harper strahlte seinen Bruder verschmitzt an. „Ich wäre beinahe in meinem Zimmer ertrunken Robert!“ Er lachte. Robert riss entsetzt die Augen auf. „Dein Zimmer is auch hin? Is dir was passiert? Wir haben nach dir gerufen bis wir heißer waren, aber du hast gepennt! Hier war die Hölle los, Mom hat mich aus dem Bett geholt um ihr zu helfen, unten im Wohnzimmer is ein fetter Ast durch die Scheibe gekracht! Voll gruselig, das Wohnzimmer is im Arsch.“ „Robert…“ „Tut mir leid, ich weiß schon, Robert, du redest wie ein Bauer, das sagst du mir öfter Josh.“ „Nun, weil es doch wahr ist! Du sprichst schlimmer als der alte Pop!“ Er seufzte, sein Bruder besaß wirklich das begrenzte Vokabular eines senilen alten Narren. Er hatte sich auch Sorgen um Harper gemacht, das konnte er aus seinem Gesicht ablesen, generell konnte Harper in seinem Bruder lesen wie in einem Buch, keine seiner Sorgen oder Ängste, kein Geheimnis und selbst der kleinste Gedanke seines großen Bruders blieben ihm nicht verborgen. Bei Harper selbst war das genaue Gegenteil der Fall. Ihm sah man niemals an wie er empfand, was er von etwas hielt, ob er Sorgen hatte oder nicht. Harper sagte zwar seine Meinung frei heraus, äußerte sich jedoch nie über seine Gefühle und trug eine emotionslose, undurchdringliche Maske die seine Gedanken vor anderen verbergen sollte. Er hielt alles was in seinem Kopf vorging streng unter Verschluss, selbst Robert wusste nie was in Ihm vorging und Robert war mit Abstand der einzige Mensch dem Harper annähernd vertraute, ihn wertschätzte und mochte. Wahrlich, so lag Harper viel an seinem Bruder, nie hätte er gedacht, dass er ihn nicht nur für seine Zwecke benutzen, sondern auch ins Herz schließen könnte. Wie sie so dort standen und sich unterhalten, wurde Harper eines klar, Robert brauchte ihn, mehr als nur dringend. Ihm fehlte ganz offensichtlich ihr Vater, auch wenn er dies nicht zugab, dazu war er viel zu stolz. Noch so eine unnötige Eigenschaft, wie Harper fand. Stolz war die erste Stufe der Treppe des Fallens, und er war zumeist die Ursache warum man fiel. Was dies betraf, so zweifelte Harper keine Sekunde daran, dass sein Bruder des Öfteren zu Stolz war ihm zu sagen was Sache war, so versuchte er auch in der Schule seinen Ruf zu wahren und hielt Distanz zu seinem jüngeren Bruder. Zugegeben, es war durchaus jämmerlich, doch wenn er es so wollte, bitte, Harper war dies Herzlich egal denn schließlich wusste er wie es wirklich um den großen Robert Harper stand. Also half er ihm ohne ein weiteres Wort das Wohnzimmer wieder halbwegs in Stand zu setzten, sprich er schleppte sich dumm und dämlich, karrte die Trümmer in den Garten und half Robert, das riesige Loch mit Paketpapier und Isolierband zuzukleben. Bis morgen sollte es halten, dann würde Aida in die Stadt gehen um einen Firma mit dem Einbau einen neuen Monsterscheibe beauftragen. Gegen halb zwei Uhr morgens wankte Harper todmüde die Stufen zu seiner Dachkammer hinauf. Mit zittrigen Händen öffnete er die Tür und blieb wie angewurzelt auf der Schwelle stehen. Der Boden war bedeckt von vielen, vielen Pfützen, die wie silbrige Spiegel im hereinfallenden silbernen Schein des vollkommen runden Mondes strahlten. Der Rest des dunklen Ebenholzbodens glänzte wie blank polierter Anthrazit. Es war kälter geworden, Harpers Atem schwebte wie Rauch aus seinem Mund und seiner Nase. Gebannt starrte er auf den Mond der durch sein Fester schien und seine Welt in einen gespenstischen Hauch hüllte. Leise vernahm er das tropfen von Wasser, das in kleinen Tröpfchen von seinem Bett sickerte. Wie gläserne Tränen sammelte es sich am Holzrahmen des Bettes und sammelte sich schließlich in einem kleinen silbrigen Tränensee unter seinem Bett. Bedächtig schritt er zwischen den Pfützen hindurch zum Fenster. Er legte die Hände auf das glitschige Brett und zog sich daran hoch. Harper setzte sich auf das nasse Fensterbrett und sah hinaus, von hier aus konnte er das Szenario der Nacht bestens überblicken. Von dem Gewitter war nun keine Spur mehr wahrzunehmen, der Donner war längst verhallt, die Blitze waren erloschen und des Himmels Schleusen waren versiegt. Die Welt lag vor ihm, still, friedlich, erschöpft schlummernd unter den Trümmern des Gewitters. Sie ruhte im fahlen Schein des Mondes, der wie ein gigantischer Spiegel aus Silber am Himmel thronte und auf die Szenerie hinabblickte und über das Chaos wachte. Sein fahler, silbrig glänzender Schein warf tanzende Schatten an die Fassaden der Häuser und zauberte gespenstisches Leuchten und Flimmern hinter die Trümmerhaufen. Harper lehnte seinen Kopf gegen die kalte Fensterscheibe und genoss gerade die fast vollkommene Stille, als plötzlich die Tür zu seinem Zimmer leise geöffnet wurde. Er fuhr herum um zu sehen wer es wagte ihn zu stören und fiel dabei fast von seiner Fensterbank. Gerade wollte er seine Stimme zu einer bitteren Schimpftirade erheben, als er in die schimmernden Augen seines Bruders blickte, die im Mondlicht glänzten wie zwei Juwelen. Noch bevor er seine Lippen öffnen konnte meldete sich sein Bruder mit zittriger Stimme zu Wort. „Ich hab Angst, Josh.“ „Angst? Wovor denn Bitte?“ Harper wusste, dass Robert Gewitter nicht mochte, doch das Gewitter war allem Anschein nach nicht die Ursache für die Angst seines Bruders. Verwirrt Blinzelte er ihn an. „ Josh, was sind eigentlich Träume?“ „Träume? Nun ja Robert, Träume sind im Prinzip nur Regungen deines Unterbewusstseins. Es verarbeitet im Schlaf alle Sinneseindrücke deiner Selbst und projiziert sie mittels Träumen auf deine Wahrnehmung. So verarbeitet man unbewusst das, was einen bedrückt, Träume drücken deine größten Sorgen, Ängste, deine sehnlichsten Wünsche und Begierden, deine schlimmsten Befürchtungen und deine schönsten Erinnerungen und noch so unsagbar vieles Mehr aus. Träume sind nichts Schlimmes Robert, jeder träumt. Manchmal träumt man auch von seltsamen oder wahrhaft grausigen Dingen die unser Unterbewusstsein uns vorwirft, was wir dann als Alpträume bezeichnen. Doch kein Traum kann dir böses tun Robert, das müsstest du mittlerweile wissen.“ „Schon, aber Josh, ich hatte den Schlimmsten aller Träume! Es war wirklich furchtbar weißt du… Glaubst du an Träume Josh?“ „An Träume glauben? Inwiefern Robert?“ „Du weißt schon, an ihren Sinn und daran dass sie wahrwerden könnten.“ „ Weißt du, Träume können uns insofern beeinflussen, dass wir selbst jene Kraft sind, die sie wahr werden lassen. Wenn man sich etwas so sehr wünscht, dass man sogar davon träumt, liegt die Wahrscheinlichkeit sehr nahe, dass man alles daran setzt es zu verwirklichen. Nicht nur das, überdies zwingen Träume uns manchmal, uns unseren Ängsten zu stellen, oder sie zeigen uns ungeahnte Seiten an uns, Seiten denen wir uns sonst nicht bewusst stellen. Also ja, theoretisch und praktisch können Träume wahr werden, doch dies bewirkt dann keine höhere Macht, sondern einzig und allein wir selbst. Weißt du, du solltest dich von ihnen nicht irritieren lassen, gut, ich glaube daran, dass Träume von Relevanz sind, jedoch glaube ich nicht, dass du dir von ihnen Angst einjagen lasen solltest, das ist Humbug Robert, sie können dir nichts tun, denn im Prinzip bist du Herr deiner Träume, und nicht umgekehrt. Was hast du überhaupt geträumt wenn es dich so sehr mitnimmt?“ „Naja, ich denke ich weiß es nichtmehr so genau… is egal, denke ich. Josh?“ „Hm?“ „Danke“ „Schon okay“ Harper musterte seinen Bruder als er das Zimmer verließ, natürlich erinnerte er sich noch an seinen Traum, zudem hatte er öfters diesen einen, schlimmen Traum das wusste Harper, er sah es seinem Bruder an. Ja er konnte es förmlich riechen. Doch er wollte Robert nicht zwingen ihm sowas zu erzählen, dafür mochte er seinen Bruder zu sehr. Andererseits grämte es ihn, Robert so aufgelöst zu sehen und zu wissen dass er nichts dagegen unternehmen konnte. Irgendwann würde er schon kommen und es ihm erzählen, dessen war Harper sich sicher, nur ob er so lange warten konnte stand noch in den Sternen. Mittlerweile war der Morgen hereingebrochen, die aufgehende Sonne wärmte die Erde mit ihren schwachen Strahlen und warf einen orange-roten Schleier über das Chaos. Der kleine Harper war nicht müde, es wunderte ihn wenig, er war selten müde und brauchte wenig Schlaf. Generell verbrachte er seine Nächte damit, in die Welten einzutauchen, in die seine Bücher ihn entführten, seinen Gedanken nachzuhängen und elendslange Monologe mit sich selbst zu halten. In den seltenen Fällen, in denen er schlief, suchte ihn immer wieder dieser eine Traum heim, ähnlich wie bei Robert, nur dass Robert auch von anderen Dingen träumen konnte, im Gegensatz zu Harper. Er grübelte sich seinen Verstand zu Brei, ohne Erfolg, er kam nicht hinter den Grund dieses Traumes. Gut, er hatte eine Schwäche für Feuer und einen Hang zum Chaos, ebenso war er der Meinung, dass er Parasit Mensch ausgelöscht werden sollte, dies waren zwar Wünsche, Sehnsüchte und Vorlieben, doch sein Unterbewusstsein konnte unmöglich all dies in einen Alptraum verwandeln, dies war der Stoff aus dem Harpers schönste Träume gesponnen werden könnten, doch nein, sein einziger Traum musste ein Alptraum sein. So versank er mit dem untergehenden Mond in einem seiner inneren Monologe gegen sich selbst.
Der Himmel strahlte in einem hellen Blau, keine einzige Wolke war zu sehen, die Sonne strahlte und es war herrlich warm. Robert hatte Harper zum kleinen Fluss in der Nähe des Parks mitgenommen und nun saßen sie auf der hohen Brücke und warfen Steinchen ins Wasser, zumindest Robert tat dies, sein jüngerer Bruder war der Ansicht, dass dies nur sinnloser, von Zerstörungslust und Aggressionen geprägter Zeitvertreib war, ein Ausdruck der Unzufriedenheit und der Langeweile. Er hingegen saß mit einem Buch in der Hand an einen dicken Brückenpfeiler gelehnt da und las etwas, was Robert ohnehin nicht verstand. Er verstand seinen kleinen Bruder in dieser Beziehung überhaupt nie, er fand es höchst eigenartig, dass er mit seinen fast zwölf Jahre mehr wusste, nein, viel mehr wusste als er. Es störte ihn zwar nicht, in Gegenteil, es half ihm, Josh hatte immer eine Lösung oder eine Antwort auf alles parat und war nicht nur schlau, sondern auch sehr geschickt wenn es darum ging, seine Intelligenz, oder Schlauheit wie Robert immer sagte, einzusetzen. Heute ging es ihm jedoch auf die Nerven, der kleine sollte sich gefälligst mit ihm beschäftigen, nicht mit seinem dummen, schlauen Wissensbuch. Immerhin hatte er ihn mühsam überredet hierher zu kommen, er hatte sogar vor den Augen seiner Mutter gebettelt, welche dann immer sagte, dass Josh auf seinen großen Bruder hören sollte und Josh fügte sich dann meistens Robert zu liebe und auch, weil er Aida auf Dauer nicht ertrug. Das war aber bei alles Menschen der Fall, Josh suchte immer ein Plätzchen wo er abgeschieden war, er mochte die Leute nicht, wie er Robert anvertraute. Nur ihn duldete Josh in seiner Nähe, und das macht ihn stolz, sehr stolz sogar. Aus diesen Gründen machte es ihn heute wütend, dass Josh sich lieber mit diesem dämlichen Buch beschäftigte als mit ihm. Er beschloss, sich einen kleinen Spaß zu erlauben. Langsam und vorsichtig schlich er seinen Bruder zu, kauerte sich hinter ihn und entriss ihm blitzartig sein Buch. Sein Bruder fuhr zu ihm herum und funkelte ihn Böse an. „Was zur Hölle fällt dir ein? Gib mir mein Buch zurück Robert, ich warne dich!“ Robert fuchtelte mit heller Freude im Gesicht ein bisschen mit dem dicken Buch vor der Nase seines Bruders herum. Er hatte keine Chance gegen ihn, Robert war größer und viel stärker als Josh. „Hol’s dir doch Robbie, komm schon! Spring dann hast du’s, höher!“ Robert sah, dass sein Bruder immer wütender wurde, was ihn nur noch mehr anstachelte. Er kletterte auf einen der Brückenbalken, die als Geländer fungierten und forderte Harper auf, ihm zu folgen. „Ach komm Robbie, komm zu mir hoch und hol dir dein Büchlein, langsam wird’s schwer!“ Er wusste nur zu gut, dass Josh seinen ersten Vornamen hasste wie die Pest, die Modifikationen dessen konnte er aber noch weniger ausstehen. Empört sprang Josh also ebenfalls auf das Geländer. „Verflucht, Robert! Gib mir mein Buch! Hast du denn eine Vorstellung davon wie viel ich dafür zahlen muss wenn ich es nicht in die Bücherei zurückbringe?! Im Ernst, du benimmst dich wie ein kleines Kind!“ „Im Ernst, du benimmst dich wie ein kleines Kind, määäh!“ „Toll Robert, sehr erwachsen! Das tut deiner Ernsthaftigkeit überhaupt keinen Abbruch! Sicher…HEY bist du Wahnsinnig?! Untersteh dich, nimm sofort deine Hand überm Wasser weg, wenn nun das Buch hinunterfällt!“ Das störte Robert herzlich wenig, frohlockend und seinen Bruder nachäffend schwenkte er das Buch über dem Wasser. Die Sonne malte kleine Lichtpunkte auf das wütende Gesicht seines kleinen Bruders, was Robert nur noch mehr Anlass zu Neckereien gab. Doch irgendwann war es zu viel, Josh stürzte sich auf ihn und versuchte das Buch an sich zu bringen. Wie zwei betrunkene Landstreicher balancierten sie auf dem schmalen, bedrohlich wackelnden Brückengeländer. Unter ihnen gähnte der Abgrund, durch den sich der kleine Fluss schlängelte. An diesem schönen Tag war er jedoch reißend, die heftigen Regengüsse er letzten Zeit hatten den kleinen gemächlichen Fluss in eine hungrige Sammlung aus Stromschnellen und spitzen Felsen verwandelt. Josh angelte weiterhin nach seinem Buch und Robert versuchte ihn festzuhalten. Josh klammerte sich an Roberts Arm und bekam schließlich sein Buch zu fassen. Robert versuchte sich auf ihn zu stürzen um das Buch wiederzuerlangen doch Josh geriet ins Wanken. Verzweifelt versuchte Josh sich an seinen ihn zu klammern, dich Robert wich vor Schreck gelähmt zurück. Die Augen seines kleinen Bruders weiteten sich, nackte Angst war darin zu sehen. Die nächsten Augenblicke liefen wie in Zeitlupe vor Roberts Augen ab. Josh kippte nach hinten, versuchte sich an Robert festzuhalten, doch er entriss sich dem Griff seines Bruders. Seine Füße fanden keinen Halt mehr auf dem schmalen Geländer, seine Hände griffen ins Leere. Josh stürzte rücklings in den reißenden Strom, verzweifelt schrie er den Namen seines Bruders, immer und immer wieder. Robert versuchte ein letztes Mal nach ihm zu greifen, doch die kleine Hand seines Bruders glitt wie Sand durch Roberts Finger. Er fiel in die Tiefe, sein Buch flatterte hinter ihm her. Seine Schreie wichen wie sein Körper immer weiter in die Tiefe, bis sie schließlich mit einem dumpfen „Platsch“ in den Fluten verschwanden. Der Fluss spülte seinen geliebten Bruder hinfort, schwemmte ihn fort von ihm, auf Nimmer Wiedersehen. Robert war unfähig sich zu rühren, noch immer hallte der verzweifelte Schrei seines Bruders in seinem Kopf, obwohl er schon längt verklungen war. Panik keimte in seinem Inneren auf, doch sie wurde von der lähmenden Trauer erstickt. Tränen sickerten aus Roberts Augen und tropfen in den Fluss, fast so als wollten sie zu Josh fließen. Josh, er war tot! Weg, für immer! Nein, das konnte, es durfte nicht Wahr sein! Er konnte doch ohne seinen geliebten Bruder nicht sein! Robert kauerte sich auf der Brücke zusammen, blickte hinab in die Fluten, die nun, dank ihm, das Grab seines Bruders geworden waren. Und es war allein seine Schuld. Robert hatte einzig und allein schuld am Tod seines Bruders. Er war es gewesen, der ihm das Buch entrissen hatte, er war derjenige gewesen, der es über den Fluten geschwenkt und Josh aufgefordert hatte, es doch zu holen. Dabei hatte er das doch nicht gewollt! Robert wollte nie, dass es so endet! Verzweifelt rollt er sich auf der Brücke hin und her, tigerte auf und ab wie ein Tier in einem Käfig und überlegte fieberhaft, was tun konnte. Doch ihm fiel nichts ein, sein Kopf war leer, noch viel leerer als sonst. das Einzige was Robert in diesem Augenblick spürte war die nackte Trauer, die seinen gesamten Verstand erdrückte und seinen Körper lahm legte. Nur die Tränen flossen wie Sturzbäche aus seinen geschwollenen Augen. Er zitterte am ganzen Leib, wie sollte er nur bloß jemals ohne seinen Bruder sein? Unmöglich, er konnte gar nicht ohne ihn sein! Niemals, niemals, nie! Schluchzend und wimmernd schleppte Robert sich zum Geländer und begann sich daran hochzuziehen. Endlich stand er oben, an genau der Stelle, an der Josh in die Tiefe gestürzt war. Seinetwegen. Immer noch dröhne der letzte Schrei seines lieben Bruders in seinen Ohren, doch nun hatte sich auch ein leises flüstern hinzugesellt. „Warum, warum hast du mir das nur angetan Robert? Was habe ich mir zu Schulden kommen lassen, dass du mich so hasst? Erzähl es mir Robert, na los, sag schon! Wie konntest du nur, dabei habe ich dich doch so geliebt!“ Es war die Stimme seines Bruders die dort flüsterte. Mit jedem Wort brachte sie Robert ein bisschen mehr um den Verstand. „Ich habe dich geliebt, ich habe das nicht gewollt! Bitte, glaub mir doch Josh! Es tut mir so leid!“ Die Stimme in seinem Kopf nahm einen leisen, gehässigen Unterton an. „Warum hast du mich dann von der Brücke gestoßen? Warum, wenn du mich dich so geliebt hast?! Es tut dir leid…nun davon kann ich mir nun auch keine Bücher mehr leisten, nicht wahr? Reinkarnation ist nichts als Fiktion, mein lieber Robert! Sie es ein, du hast mich getötet.“ „NEIN! Bitte Josh, BITTE! Es war ein Unfall, bitte, so glaub mir doch! Ich brauche dich, Josh, ich brauche dich doch so sehr!“ Verzweifelt reif Robert immer weiter nach seinem Bruder, flehte ihn an, bat um Verzeihung bis er heißer war. Doch die Stimme, Harpers Stimme, in seinem Köpf höhnte weiter. „Nun denn Brüderchen, ich würde sagen, du brauchst mich immer noch, doch nun bin ich weg. Tot, durch deine Hand gestorben! Welch Tragödie, mein lieber Robert, nun musst du wohl oder übel ohne mich auskommen.“ „Ich kann aber ohne dich nicht sein! Josh, bitte!“ Die Stimme in Roberts Kopf brach in höhnisches Gelächter aus, er presste sich mit aller Kraft die Hände auf die Ohren, doch die Stimme dachte nicht daran zu verklingen, sie wurde lauter und lauter. Die Sonne strahlte noch immer hell vom Himmel, nun sogar heller als zuvor, wie zum Hohn strahlte sie vom blauen Himmel. Robert weinte, nun mehr in blanker Hysterie als in bloßer Trauer. Das Lachen in seinem Kopf verklang allmählich und schon bald hob sich daraus erneut die Stimme seines Brüderchens. Nun hatte sie jedoch kaum mehr etwas mit der Stimme gemein die Robert kannte, sie hatte etwas, gespenstisches, dunkles an sich haften und ihr Tonfall war Robert durchweg unbekannt. So hatte er Josh nie sprechen hören. Die Änderungen der Stimme waren keineswegs positiv, nein sie jagten ihm einen Schauer über den Rücken und er begann trotz der Sonne zu frieren. „Mein lieber Robert, du kennst mich doch. Zumindest glaubst du das. Wie du vielleicht weißt, so werde ich das nicht ruhen lassen, ich werde DICH nicht ruhen lassen, verstehst du? Nein, das tust du nicht, ich kenne dich. Was ich dir sagen will mein Brüderchen ist Folgendes: Du kannst nicht ohne mich sein, das sagtest du bereits, doch das musst du auch nicht! Ich werde mich, Überraschung, an dir rächen, auch du sollst vergehen wie ich es tat!“ Robert blieb beinahe das Herz stehen, um ihn wurde es spürbar kälter, plötzlich verdunkelte ein Schatten die Sonne. Er drehte sich um, in diesem Moment setzten zwei nasse, kalte Hände auf seiner Brust auf und stießen ihn in die Tiefe. Das letzte was Robert sah, war das tote, grinsende Gesicht seines Bruders. Er schrie seinen Namen, immer und immer wieder. Beim Aufprall teilte sich das Wasser, nichts desto trotz fühle es sich an als würde Robert auf Granit prallen, die Fluten schlugen über seinem, von Angst, Trauer. Schock und Verzweiflung zu einer schaurigen Maske verzerrten, Gesicht zusammen. Die Wassermassen öffneten seiner Mund mit ihren eisigen Fäusten und das kalte Nass füllte seine Lungen. Beklommen versuchte er der golden glänzenden Oberfläche näher zu kommen, doch er glitt immer tiefer hinab, bald schon kollidierte sein Rücken mit dem harten Flussboden und…
Robert schlug die Augen auf, sein Herz raste, seine Augen waren tränennass und er schwitzte am ganzen Körper. Panisch rasten seine Augen hin und her, um zu ergründen wo er war. Durch den Schleier seiner Tränen nahm er verschwommen die Umrisse seines Mobiliars wahr, sein Trophäenschrank, die vielen Poster an den Wänden, die Wände! Sie gehörten zu einem Zimmer, seinem Zimmer! Keuchend richtete er sich vom Boden auf, er war zeit seines Alptraumes aus dem Bett gefallen, langsam rüttelte sein Realitätssinn die letzten Schuppen des Traumes von Roberts Augen und er konnte allmählich wieder klar denken. Ein Traum, es war alles nur ein Traum gewesen! Großer Gott, das durfte nicht wahr sein! Doch…es war alles so real gewesen, so plastisch! Er hatte die Kälte und die Nässe des Wassers gefühlt, den Schlamm und Schmutz geschmeckt als es in seinen Mund drang und ihm die Luft aus den Lungen presste, Gott, er hatte geglaubt ersticken zu müssen! Er hatte klar und deutlich Joshs Hand auf seiner Brust gespürt, den irren, entschlossenen Ausdruck in seinen Augen gesehen als er ihn hinabgestoßen hatte und bei Gott, dies Stimme! So fremd und doch so furchtbar vertraut! Robert konnte keinen klaren Gedanken fassen, er fror fürchterlich so sehr hatte er geschwitzt, sein Hemd klebte an seinem Oberkörper, er rang immer noch nach Luft und die Stimme flüsterte selbst jetzt, als er schon längst wach war immer wieder seinen Namen, erst säuselte sie ihn, dann verwandelte sie sich in ein gehässiges Zischen, was mit Abstand am Schlimmsten war, und gegen Ende, was ebenfalls grausam war, tönte sie in heller Verzweiflung und nackter Todesangst seinen Namen. Robert. Immer und immer wieder. Nie hörte sie auf. Konnte man denn sowas grausames träumen? Was wenn er nicht geträumt hatte? Eine dunkle Ahnung formte sich wie eine Gewitterwolke in seinem Kopf und entlud sich schließlich mit voller Wucht auf seinen, ohnehin schon gemarterten, Verstand. Er war klitschnass, das bedeutete, er musste aus dem Wasser entkommen sein, er lebte! Wie er den Sturz überlebt hatte war ihm zwar schleierhaft, es war ihm aber auch egal. Josh hatte ihn nicht getötet, er liebte ihn doch! Er liebte ihn selbst als Gespenst noch zu sehr um ihm wehzutun. Bei diesem Gedanken schossen ihm erneut die Tränen in die Augen. Dann begann die Hoffnung in ihm aufzukeimen dass Josh, wenn er überlebt hatte, vielleicht auch noch am Leben war! „Oh bitte, bitte lieber Gott, lass ihn am Leben sein! Ich könnte nicht ohne Josh!“ Keuchend, mit rasselnder Atmung sprang er auf, seine Beine drohten nachzugeben, doch er hielt sich am Bett fest, zog sich in den Stand und stürmte aus seinem Zimmer. Er stolperte über seine Decke und fiel zu Boden, ein stechender Schmerz fuhr durch seine Knie, aber das scherte ihn recht wenig. Schluchzend, mit tränenverhangenen Augen und blutigen Knien rannte er zur großen Treppe, Robert erklomm sie, halb kriechend, halb fallend und erreichte endlich die Tür zum Zimmer seines Bruders. Kurz davor packte ihn noch einmal die nachte Angst. Was, wenn das Bett leer war? Wenn Josh weg war? Wenn er tatsächlich TOT war? Gehetzt blickte er sich um, tausend Gedanken schwirrten in seinem Kopf herum, die Stimme höhnte, flehte und zeterte weiter, die Tür begann vor seinen Augen zu verschwimmen und er klammerte sich krampfhaft an den Türgriff, weil er fürchtete sie sei nur eine Illusion die verschwand wenn er die Augen wieder öffnete. So stand er eine Weile da, noch nie hatte er solche Angst davor gehabt, eine Tür zu öffnen. Die Tränen kullerten von seinen Wangen und er fror erbärmlich, er heulte wie ein Schlosshund und in seiner Angst und Verzweiflung begann er sogar zu beten. Robert hatte nie wirklich gebetet, er glaubte zwar an Gott, ganz anders als Josh, der das alles für Humbug hielt, doch noch nie in den dreizehn Jahren seines Lebens hatte Robert inbrünstiger gebetet als in diesem schier endlosen Augenblick. Schließlich überwand er sich, Robert nahm all seine Kraft zusammen und riss die Tür auf.
Harper war noch in seinen Monolog mit sich selbst, seinem inneren Ich und seinem Überich vertieft. Sein Überich schalt ihn gerade einen Taugenichts, einen faulen, unfähigen Klotz, da er noch immer keinen neuen Plan erdacht hatte, und sein inneres Ich kicherte über die Tatsache, dass sein Gevatter so sehr über das angebliche Nichtstun ihres gemeinsamen Körpers pikierte. Seit Monaten hatte es keine Arbeit mehr für sie gegeben! Sein Überich lechzte nach neuen Aufgaben, es verging fast vor Verlangen nach einem neuen Projekt. Dieser Teil Harpers gab sich nicht mit dem bloßen „Instrumentalisiere deinen Bruder-Müll“ zufrieden, er wusste, dass dies nur eine Ausrede seiner selbst war, um sich Ruhe zu gönnen und sein inneres Ich über seinen Mangel an Ideen hinweg zu täuschen. Es stimmte zwar, Robert war ihnen nützlich, doch so konnte das nicht weitergehen, er wurde anhänglich und das schlimme war, der Großteil seiner selbst fad Gefallen daran, Harper mochte seinen Bruder, doch ein Teil von ihm, sein Überich, wusste, dass dies im späteren Verlauf seiner Planungen nur Probleme ergeben würde. Doch momentan war Harpers inneres Ich, der Teil, der seinen Bruder mochte und sich über seine Gegenwart freute, der leitende Part. Harper wusste, dass ihm dies zum Verhängnis werden konnte, aber er ignorierte geflissentlich sein Überich und lauschte Robert und seinem inneren Ich, die ihm das Gefühl gaben, gebraucht zu werden, ja, unersetzbar zu sein. Sein Überich schalt ihn gerade ein weiteres Mal einen Narren und er mühte sich ab, es zum Schweigen zu bringen als plötzlich ein Krachen ertönte das ihn aus seinem Monolog mit sich selbst riss. Die Tür flog fast aus den Angeln und Robert stürmte herein als würde der Leibhaftige höchstpersönlich mit seinem Lieblingsfußball hinter ihm her rennen um ihn damit zu erschlagen. Dem kleinen Harper zerriss es fast sein, überdies schon genug strapaziertes, Herz in der Brust und er setzte gerade dazu an Robert anzubrüllen als dieser auf ihn zustürzte, ihn an sich riss und so fest drückte, dass Harper fürchtete ihm würden die Augen aus den Höhlen quellen. Harper war für einen kurzen Moment vollkommen perplex. Tausend Fragen überschlugen sich in seinem Hirn und er brauchte eine Weile um diese zu ordnen. Es war gottverdammt noch mal, sechs Uhr morgens, an einem Sonntag! Was zum Teufel war in Robert gefahren, war nun völlig wirr im Kopf geworden oder… Halt, irgendwas stimmte nicht. Robert war nass, er muffelte nach kaltem Schweiß, sein Körper zitterte und bebte, er schluchzte wie eine hysterische Hausfrau. Die aufgehende Sonne zeichnete feucht glitzernde Spuren auf seinen ungewöhnlich blassen Wangen ab, er hatte geweint. Jetzt war es um Harpers Logik geschehen, sein Bruder hatte geweint? Nein, das war zu diffus um wahr zu sein! Er wollte gerade erneut dazu ansetzten, etwas zu sagen, als plötzlich Worte aus Roberts Mund zu sprudeln begannen wie ein Wasserfall. „Josh! Du, du lebst! Du bist am Leben, oh Gott sei Dank, du bist nicht tot!“ Wieder schluchzte er, Harper spürte, wie Tränen den Kragen seines Pyjamas tränkten, Robert drückte ihn nur noch fester an sich. Genug, jetzt war es Harper zu viel. „Was zur Hölle redest du denn da?! Warum sollte ich tot sein? Wenn das ein Scherz sein sollte, dann ist er dir gänzlich misslungen! Außerdem, wie oft habe ich dir gesagt, dass du gefälligst anklopfen sollst wenn du mein Zimmer betrittst? Herrje Robert, hast du denn nun völlig den Verstand verloren?!“ Robert trat einen Schritt von seinem Bruder zurück und strahlte ihn an, nun, er weinte uns strahlte gleichzeitig, ein recht amüsanter Anblick. „Das hast du mir fast eine Million Mal gesagt, du redest wie ein Lehrer und du nörgelst, dem Himmel sei Dank, du bist es wirklich!“ Nun hatte Harper die Schnauze gestrichen voll, das ganze Gerede von Himmel, Gott, Danken und Tot ging ihm allmählich gehörig auf die Nerven. „Noch etwas, wage es NIE WIEDER mich anzufassen!“ Er schüttelte sich demonstrativ, als Zeichen seiner Abneigung. Harper hasste es, von Menschen berührt zu werden und vermied tunlichst jeden Kontakt mit ihnen, selbst seinem einzigen Verbündeten, seinem Bruder, gestattete er nicht, ihn zu berühren. Nachdem seine anfängliche geistige Lähmung verflogen war, merkte Harper, dass etwas ganz und gar nicht stimmte. Die Intensität dieses Gefühls, dieser Ahnung schwebte fast greifbar zwischen den beiden Brüdern im Raum. Etwas hatte Robert wieder den Schlaf geraubt, ein weiteres Mal, möglicher Weiße ein und der Selbe Traum der ihn des Öfteren heimsuchte. Harper sah, dass in Roberts Innerem ein Aufruhr vom feinsten Tobte, er hatte ihn noch nie so aufgelöst erlebt. Bei Boron, er hatte sogar geheult! Zu allem Überfluss war er nun, zu ihm ins Zimmer gestürmt gekommen und hatte auf Gedeih und Verderb behauptet, er sei tot! Mit einer Mischung aus Sorge, Verwirrung und tiefer Neugierde mustere Harper seinen Bruder sorgfältig von oben bis unten. Dann, wie aus heiterem Himmel, brach es aus Robert heraus. „Josh, erinnerst du dich, was du mir über Träume erzählt hast? Naja, ich hab dir doch gesagt, dass ich einen Schlechten Traum hatte… Ehrlich gesagt, ich habe oft schlechte Träume, es sind verschiedene, aber im Grunde ist der Kern immer gleich..“ Mit schräg gelegtem Kopf lauschte Harper den Worten seines Bruders, soso er wurde also von Alpträumen geplagt, er lag also richtig. Doch was konnte so furchtbar für seinen Bruder sein, dass es ihn so zerriss? „Robert, du spricht von einem immer gleichen Kern, der in vielen verschiedenen Gestalten auftaucht, was ist das für ein Kern, wovon träumst du Robert?“ Sein Bruder starrte auf den, von Pfützen übersäten Fußboden. Nun schimmerten sie nicht mehr so schön silbrig, die aufgehende Sonne hatte die atemberaubend schönen Silberspiegel in grausige rote Tümpel verwandelt, wie Blutlachen sahen sie nun aus. Robert starrte weiterhin in den Boden als wolle er ein Loch hinein starren und kniff den Mund zu einem schmalen Schlitz zusammen. „Robert…“ Roberts Gesicht verlor scheinbar seine Form, die Tränen kehrten zurück, und er schluchzte. „Du stirbst, okay!“ Seine Stimme war heißer, verwandelte sich in ein kaum hörbares Flüstern. „Ich träume von deinem Tod, Josh, immer wieder, jede Nacht, auch heute….Zwei Mal! Josh, heute träumte ich sogar, ich hätte dich getötet! Ich..“ Seine Stimme versagte, sie brach und wurde zu einem heißeren Schluchzen. „Es is okay Robert, jeder hat Alpträume, das hatten wir schon… Du weißt, dass sie aus unseren Ängsten entstehen und nur dann wahr werden, wenn wir es darauf anlegen. Willst du denn, dass ich sterbe?“ Roberts Augen wurden so groß wie Teller, seine Stimme schrillte wie eine Sirene in Harpers Ohren. „NEIN! Niemals, niemals nie! Ich könnte nicht ohne dich sein!“ Er blickte Harper mit einem so unsagbar verzweifelten, ehrlich traurigen Blick an, dass ihm das Herz in der Brust gefror. In diesem Moment wurde Harper schlagartig bewusst, dass sein Überich, der Teil von ihm der stets in bitterer Realität weilte, recht hatte. Ihm war klar gewesen, dass Robert ihn brauchte, das wurde ihm im Laufe der Zeit klar, doch nun keimte in ihm eine schreckliche Erkenntnis auf. De Stimme seines Überichs meldete sich in seinem Kopf, sie sprach mit wissendem Ton das aus, was Harper in seinem Schock fühlte. „Er braucht dich nicht. Er ist von dir abhängig.“ Lange, zu lange hatte er diese Erkenntnis verdrängt, doch da sie nicht nur da, sondern fast greifbar war, raubte sie Harper den Atem. Als hätte er seine Gedanken gehört, schluchzte Robert: „Ohne dich würde ich sterben Josh, ehrlich.“ Robert hätte ihm genauso gut ins Gesicht schlagen können, anstatt ihm das zu sagen. Harpers Überich rebellierte, sein inneres Ich weinte, er sank in die Knie und seufzte, rang nach Luft und seufzte wieder. Er hatte keine Ahnung wie lange er dort hockte und seinen Gedanken beim Untergang zusah. Fieberhaft wog er die Vor und Nachteile der Situation ab, setzte sie in Bezug zueinander und überlegte krampfhaft was er nun tun sollte. Er kam zu dem Schluss, dass es das Beste war, alles auf sich beruhen zu lassen und erst einmal abzuwarten wie diese heikle Situation sich entwickelte. Vielleicht war das nur eine Phase, viele Teenager durchleben solche anhänglichen Phasen in denen sie irgendjemanden idealisierten. In Roberts Fall war eben Haper das Idol geworden, der kleine Bruder. Er betrachtete ihn vermutlich als Vaterersatz oder sowas in dieser Art. Es würde vorübergehen, bestimmt. Vorerst würde er sich nicht anmerken lassen, dass er wusste, dass Robert von ihm abhängig war. Vermutlich merkte Robert dies nicht, zumindest nahm er es nicht der Selben, drückenden Weiße wahr wie sein jüngerer Bruder. In Zukunft musste Harper allerding höllisch aufpassen, was er sagte und was er tat, sein Bruder war zweifellos leicht zu manipulieren, das war er schon immer gewesen, doch nun war er eine Tickende Zeitbombe. Harper hatte die Zeit vergessen. Wie eine Puppe kauerte er am Boden und philosophierte vor sich hin bis ihm bewusst wurde, dass Robert noch vor ihm hockte. Zum Teufel, er hockte in der gleichen Position am Boden wie Harper selbst und blickte ihn mit einem debilen Grinsen an, das seinesgleichen suchte. Harper kam das Bild einer dieser unheimlichen Marionetten mit ihrem schaurigen roten Dauergrinsen die einen immerzu anstarrten in den Sinn. Seelenlose Hüllen, Abbilder von Irgendetwas. Puppen, gespielt von der Hand eines Unbekannten. Er fröstelte, an eine solche Puppe erinnerte Robert ihn, als er dahockte, ihn angrinste und mit seinem leeren Blick Löcher in Harpers dürren Körper starrte. „Großer Gott, nein!“, entfuhr es ihm, doch Robert schien es nicht gehört zu haben, es war mehr ein Hauch als ein Fluch gewesen. Der junge Harper schluckte schwer, langsam warf er einen verstohlenen Blick auf Roberts Armbanduhr. Harper selbst besaß keine Uhr, er hielt nicht viel von solchen Dingen. Wozu sollte er die Zeit beobachten können, wenn er ohnehin nicht in der Lage war, sie aufzuhalten? Zeit war für ihn überdies irrelevant, er tat was er wollte, wenn ihm danach war. Die Zeit war verflogen wie ein Schwarm Krähen wenn man auf sie zu rennt, mittlerweile war es neun Uhr geworden, die Sonne strahlte draußen am Zenit, es war ein herrlicher Julitag. Nicht nur das, es war Robert Joshua Harpers zwölfter Geburtstag. Wunderbar. Er hasste diesen Tag. Resigniert schritt er aus seinem Zimmer, hinunter in die Küche um zu sehen was es zum Frühstück gab. Robert schlich ihm hinterher wie ein Schatten, Sie werden nicht glauben wie froh er war, als sein Bruder in sein Zimmer abbog und endlich dort verschwand. In der Küche angekommen merkte Harper, dass Aida nicht zu Hause war. Sie war in die Stadt gegangen um eine neue Panoramascheibe und Handwerker zu organisieren. Von banalen Dingen wie einer Geburtstagstorte und Geschenken fehlte jede Spur. Wenigstens etwas Positives! Etwas erheitert schnappte sich Harper einen Apfel und schlenderte durch die kleine Ortschaft, er hatte fast das Gewitter der letzten Nacht vergessen! Nun wollte er sich die Schäden noch einmal genauer ansehen und er wollte vor allem eins, weg. Er wollte allein sein.
Harper trat über die Schwelle der Haustür, seine Laune bekam erneut einen üblen Dämpfer verpasst. Die Luft flimmerte und verwischte alles was unmittelbar über der, überraschender Weiße bereits völlig geräumten, Straße zu einem Aquarell. Es ist wohl kaum erwähnenswert, dass man auf dem Asphalt bereits um halb zehn Uhr fast schon seine Frühstücksspiegeleier braten konnte. Schon nach wenigen Schritten klebte Harpers Shirt an seinem Brustkorb fest. Na toll, Harper konnte Hitze auf den Tod nicht ausstehen. Er bevorzugte Kälte, sie war seiner Meinung nach um einiges angenehmer als diese grässliche Hitze. Er mochte folglich auch die kühlen Jahreszeiten wie den Winter lieber als den Sommer. Im Juli kamen als zwei Faktoren zusammen die er nicht ausstehen konnte: brütende Hitze und der Tag an dem er geboren worden war. Sie werden sich nun vielleicht wundern, denn für gewöhnlich mag jedes Kind seinen Geburtstag, mit Ausnahme von Josh Harper.
Wie dem auch sei, bisweilen verlebte er jeden seiner zwölf Geburtstage wie jeden anderen Tag auch, er suchte sich ein ruhiges, abgeschiedenes Plätzchen, fern ab von allen Leuten, wo er ungestört vor sich hin philosophieren, seine Monologe abhalten, lesen oder schlicht und ergreifend seinen Gedanken nachhängen konnte. An jenem neunundzwanzigsten Juli wanderte er durch die widerwärtige, pseudoperfekte Fiktion eines idyllischen Ortes uns hielt Ausschau nach einem entlegenen Plätzchen. Wie er so durch die Straße wanderte sah er einige der Bewohner, wie zum Beispiel Claire Hagott, die offensichtlich nichts Besseres zu tun hatte, als auf ihrer Gartenliege zu faulenzen und dabei ihre silikongepolterten Brüste zur Schau zu stellen. Igitt, diese Frau war ein besonders penetrantes Exemplar von Perversion. Schnellen Schrittes ging Harper weiter, vorbei an dem Haus der Fishers, die über die Ferien in den Urlaub fahren wollten, an diesem Nachmittag würden sie wegfahren, die Glücklichen. Henry Fisher packte gerade eben mit der Hilfe seines Sohnes Billy die letzten Koffer auf das Dach ihres Pick-ups. Billy winkte Harper, wie schon in der vergangenen Nacht, zu nur rief er ihm diesmal einen Geburtstagsgruß entgegen. Höflich bedankte Harper sich dafür, auch wenn es ihm eigentlich egal war ob man ihm gratulierte oder nicht. Es wurde immer heißer, die Straße glühte, die Luft flimmerte, das surren von Klimaanlagen erfüllte den Ort. Harper fühlte sich, als wäre im Kessel einer Hexe gefangen und würde gekocht. Er beschleunigte seine Schritte, doch je länger er durch den Ort wanderte, desto geringer wurde seine Chance, einen Verlassenen Platz für sich alleine zu finden. Der Park war vollgestopft mit Leuten, die zum dort liegenden Badeteich pilgerten, die Bücherei hatte geschlossen und zu Hause wartete Robert. Harper sah sich um, zufällig fiel sein Blick auf einen schmalen Weg, der in die entgegengesetzte Richtung führte. Seltsam, diesen Weg hatte er noch nie bewusst wahrgenommen, nun ja, Macht der Gewohnheit. Ihm war dieser Ort schon viel zu vertraut als das er noch auf die vielen Kleinigkeiten achtete die sich so anhäuften. Aus Neugierde und Langeweile folgte er dem schmalen weg, der durch den bewaldeten Teil des Stadtparkes führte, vorbei an den Rückansichten der Häuser, weg vom Ort, in die gegnerische Richtung. Diverses Unkraut überwucherte den schmalen Pfad, an seinem Rand wuchsen kleine Bäumchen, viele Sträucher und Blumen in allen nur erdenklichen Farben und Arten verströmten einen betörenden Duft. Auf eine seltsame Art und Weiße kam Harper der Weg bekannt vor, ein déjà vu- Gefühl machte sich ihn ihm breit und lastete auf ihm wie ein dunkler Zauber. So sehr er sich auch anstrengte und grübelte, ihm wollte nicht einfallen woher er diesen Pfad kannte. Schmetterlinge flatterten vor ihm herum, Bienen summten und die Vögel zwitscherten als hinge ihr Leben davon ab. Das Buch unter seinem Arm wurde langsam immer schwerer und Harper glaubte nicht mehr daran, es heute noch lesen zu können. Dann fiel ihm etwas auf, irgendetwas war anders geworden, aber was? Gut, er war endlich in einen stark bewachsenen Teil des Weges gekommen, die wild wuchernden Pflanzen spendeten kühlen Schatten, das Gelände wurde unwegsamer und er kam an einen Zaun. Kurzer Hand kletterte er darüber, warum, das konnte selbst nicht sagen. Irgendetwas hatte ihn gepackt und zerrte ihn in diese Richtung, war es Neugierde oder Flucht? Egal. Unentwegt wanderte er weiter, doch nun beschlich ihn ein banges Gefühl. Nun fiel ihm auf, was anders geworden war. Es sah fast so aus, als hätte er mit dem Überqueren des Zaunes die Ortschaft hinter sich gelassen. Kein Laut drang mehr an sein Ohr, die Vögel waren verstummt, die Bienen waren verschwunden und auch die Schmetterlinge schienen wie vom Erdboden verschluckt. Es war eine drückende, unnatürliche, nahezu unheilverheißende Stille. Genau die Art von Stille, die Harper gefiel. Harper war nun am Ende des Weges angelangt, er befand sich unter einer riesigen Trauerweide, deren lange, hängende Äste sich über ihm aufspannten wie ein Pavillon. Sie waren so dicht, dass er kaum hindurchsehen konnte, sie ließen kein Sonnenlicht hindurch, unter ihnen herrschte schummriges Dämmerlicht. Gespannt schob er ein paar der Äste zur Seite, die Welt um ihn herum schien stehen geblieben zu sein, den Atem anzuhalten und ihn zu beobachten. Sein Blick fiel auf eine verfallene Wand, die Wand eines scheinbar sehr alten Hauses, sie war ursprünglich einmal weiß gewesen, nun bedeckten grüne Moospolster die Holzfassade. Sie war mehr grau-schwarz als alles andere, Wind und Wetter hatte sie ihrer Schönheit beraubt und ihr einen makabren, geisterhaften Anschein geschenkt. Seine Neugierde siegte und Harper trat unter den bodenlangen Ästen der Trauerweide hervor. Vor ihm ragte das alte Bennington Inn, das angeblich verfluchte Haus der einst reichen, längst verstorbenen Dolores Bennington und ihrem Mann Ralph in den Himmel. Wie ein lauerndes Gespenst längst vergangener Tage kauerte es auf der Kuppe des Hügels und schaute auf die Ortschaft herab. Die Jahre des Verfalls hatten dem Haus schwer zugesetzt, es neigte sich in Richtung Ortschaft, es erinnerte Harper an eine lauernde Katze die sich zum Sprung beugt um ihre Beute zu fassen. Die trüben Fenster blicken ins Tal wie die Augen eines Blinden, stets offen, jedoch unfähig etwas zu sehen. Bei jedem Windhauch knarrte und heulte das alte Haus, die Blätter der Trauerweide flüsterten miteinander wie alte Schulfreunde, die sich im Unterricht etwas Wichtiges mitteilten. Nun dämmerte Harper auch, woher er den Pfad kannte. Sein Bruder hatte ihn letztes Jahr zu Halloween mitgenommen, als er und seine Clique einer ihrer „Horrortouren“ veranstalteten. Sie erzählten den kleineren des Ortes wie zum Beispiel Charlie George und Wilbur genannt Willie Gillespie die bekanntesten Horrorgeschichten über Dolores Bennington und ihren Mann. Harper hatte nie daran geglaubt. Was würden sie wohl sagen, wenn sie ihn so sehen würden! Er setzte sich frohen Mutes unter die Trauerweide die ihn mit ihren Ästen einhüllte, sie schloss ihn aus der Welt die er so verabscheute, er hatte ein Refugium gefunden. Hier schien alle Last der Erde von ihm abzufallen, er verschwendete keinen müden Gedanken an Robert, seine Mutter oder den Rest der Welt. Die Äste schlossen alles aus, alles außer ihm. Sie schufen einen Raum der Leere, doch es war keine unangenehme Leere, es war die Art von Leere, die Harper mit Freuden mit seinen Gedanken, Ideen, Monologen und Träumereien füllen konnte ohne dass er sich sorgen musste, dass sie entfliehen würden. Glücklich ließ er sich gegen den dicken, knorrigen Stamm der Weide fallen und begann zu lesen. So saß er dort, glücklich und zufrieden in seinem neuen Refugium, und verschlang sein Buch. Und wenn er nicht eines grausamen Todes erlegen ist, dann sitz er noch heute hier, liest sein Buch und ist glücklich, für immer.
Sie ahnen nicht, wie gerne ich diese Worte niederschreiben würde, wie sehr ich dem jungen Josh Harper so ein Ende wünschen würde, nein. Doch wissen sie, geneigter Leser, dies ist nicht das Ende, noch lange nicht! Welch Schmach es für mich doch ist, ihnen nun mitteilen zu müssen, dass dem jungen Josh Harper noch viel bevorstand. Ihm stand in der Tat noch großes bevor, es warteten schließlich neue Pläne, die geschmiedet werden wollten, neue Ideen die nur so darauf brannten ihn zu infizieren, neue Leute die es zu analysieren galt, so viel neues Wissen welches er sich aneignen musste und, oh, so unendlich viele Gedanken die gedacht werden mussten. Oh nein, nun ist leider noch nicht der ersehnte Zeitpunkt eines Endes in Sicht, im Gegenteil. Während Harper unter der knorrigen Trauerweide saß. abgeschottet vom Rest der Welt, raste die Zeit förmlich an ihm vorbei, die Ereignisse außerhalb seines Refugiums türmten sich, bald schon würde es neue Arbeit für ihn geben! Doch von alledem ahnte der junge Harper nichts, für ihn gab es nicht mehr als das kleine, von den herab wallenden Ästen der uralten Weide wie von einem grün-grauen Haarschopf eingerahmte, Blätterzelt und sein Buch. Wort für Wort verschlang er in fast beängstigendem Tempo, tauchte hinab in die Tiefen der Welt in die es ihn entführte und versank darin, blieb dort verschollen bis das letzte Wort der letzten Seite in seinen Augen verlosch, dann schloss er die Augen. Nun saß er hier, das gelesene Buch wog fast so schwer in seinem Schoß wie die Gedanken in seinem Kopf, wahrlich, das Buch hatte ihm zu denken gegeben. Gefühlte Ewigkeiten sinnierte er genüsslich über das, was ihm im Kopf herumschwirrte nach, bis er langsam aber sicher in Morpheus‘ Reich der Träume hinab glitt wo er von tausenden weißen, augenlosen Puppengesichtern empfangen wurde, ihre roten Lippen formten Worte, sie drangen wie Stimmen aus Kristall an seine Ohren. Was sie sagten verstand er vorerst nicht, doch dann merkte er, dass sie genau das aussprachen, was er dachte. In den, in schwarze Tücher gehüllte Gestalten, er kannte er sich selbst, die weißen Kristallgesichter waren Abzüge seines eigenen Gesichtes und er fand sich in einem seiner Monologe mit sich und seinem Überich.
Lieber Leser, ich fürchte sie werde sich nun mehr oder weniger über diese Charaktere wundern, doch seinen Sie unbesorgt, unser junger Harper leidet keines Wegs an Schizophrenie oder dissoziativer Identitätsstörung nein, er philosophierte nur allzu gerne mit sich selbst. Sie wissen bestimmt, dass jeder eine Schwäche hat, einen Feind, einen großen Gegner. Auch Harper hatte so etwas, nur wusste er zu diesem Zeitpunkt noch nicht, wer dies war. Darin besteht schließlich die Herausforderung des Lebens, man kämpft gegen vielerlei kleine Gegner, bis man zum Schluss an den Masterboss, um es so zu nennen, herantritt. Nun ja, nicht ganz, der Masterboss ist der Tod, er ist bekanntlich ein Meister seines Faches, seit jeher ungeschlagen und unerlässlich. Doch jeder hat seinen persönlichen größten Gegner. Blicken wir zum Beispiel auf Robert hinab, sein größter Gegner war die Angst, jemals ohne seinen Bruder sein zu müssen, doch er dachte nicht daran diese Angst zu besiegen, aber das ist eine andere Geschichte. Wie dem auch sei, Harper hatte zeit seines zwölfjährigen Lebens einen Gegner eliminiert, seinen Vater, Robert Harper. Die nächsten sollten schon sehr bald folgen.
Bisweilen saß er jedoch noch in seinem Refugium und dämmerte vor sich hin, gesegnet mit dem Unwissen über das, was sich draußen abspielte. Doch irgendwann erwachte auch der junge Harper aus seinem Dämmerzustand. Benebelt stellte er fest, dass in seinem Unterschlupf fast vollkommen finster war. Himmel, war es denn bereits Nacht? Unfug, das war unmöglich. „Mein lieber Freund, unmöglich ist nur das, was wir selbst dafür befinden, denn wenn wir das unmögliche versuchen würden, so würden wir feststellen, dass es nur deshalb unmöglich war, weil wir es aus Faulheit oder Angst es nicht zu versuchen, dafür erklärt haben!“ schalt ihn sein Überich für diesen Gedanken. Es hatte Recht, wie immer. Wiederwillig rappelte sich Harper auf und streckte sich ausgiebig. Sein Rücken knarrte fast so sehr wie die Äste des Baumes, unter dem er sich aufgehalten hatte. Noch immer vor sich hin träumend schob er mit dem Arm einige Astfäden zur Seite und blickte hinaus. In der Tat, es war Abend geworden, der grau orange Himmel war wolkenverhangen und Glühwürmchen schwirrten durch die Luft wie brennende Schmetterlinge. Die Sonne war fast vollständig hinter dem großen verfallenen Haus verschwunden und eine frische Brise wehte den Geruch von feuchtem Gras und den modrigen Duft des verrotteten Skeletts des Bennington Inn zu ihm herüber. Es wurde Zeit, zu gehen. Fast schon wehmütig trat Harper den Heimweg an, er warf einen letzten Blick zu seinem Refugium hoch und wendete sich heimwärts. Aus einer gemütlichen Wanderung nach Hause wurde aber nichts, als er den Weg zur Hälfte hinter sich gelassen hatte, begann es erneut zu regnen. In einem solchen Fall hätte er für gewöhnlich seine Schritte verlangsamt und wäre vermutlich sogar stehen geblieben um den kühlen Dunst des herabfallenden Regens zu genießen. Doch heute stopfte er sein kostbares Buch wie einen Schatz unter sein Shirt und begann zu laufen als würde ihn Sankt Luzifer persönlich dazu bitten. Wasser war das reinste Gift für Bücher, es zersetzte ihren schützenden Einband, löste ihre hauchdünnen Seiten auf, löschte die Worte von ihnen, raubte ihnen so den Sinn und löste die Welten auf in die sie einen sonst entführten. Mehrmals stolperte er und wäre sogar fast den Hügel hinab gerollt. Als er den Stadtpark erreicht hatte, schüttete es wie aus Kübeln. Der Regen schiene eine einzige Wand zu formen und er hatte alle Mühe sich zu orientieren. Fluchs stürmte er über die Wiesen, vorbei am Badeteich, quer über den Fußballplatz in Richtung Straße. Harper blieb fast die Luft weg, offensichtlich hatte er die Kondition einer neunzig jährigen Rentnerin. Der Wunsch nach einem dieser kleinen, putzigen Mopedautos, wie sie alte Leute fuhren, keimte in ihm auf. Er musste grinsen, schon kamen die Lichter seines Ortes in Sicht, er hatte es fast geschafft. Wie ein Reh sprintete er über die Straße und raste die Auffahrt seines Hauses zu. Harper sprang über das Gartentor, schlich, an die Wand gedrückt um nicht gesehen zu werden, am Haus entlang bis er endlich die Hintertür erreichte. Mit klammen Fingern nestelte er den Schlüssel unter der Fußmatte hervor und schloss die Tür eilends auf. Sorgsam darauf bedacht, kein Geräusch zu machen streifte er die Schuhe ab und schlich in sein Zimmer. Weit kam er allerdings nicht.
„Robert, Schätzchen, du bist ja ganz nass!“ Harper fuhr zusammen, seine Mutter! Verdammt nochmal, er hatte sich beinahe zu Tode erschreckt! Er hatte keine Lust dazu, sich zu rechtfertigen, seit seine Mutter alleine war, war er für sie wieder sichtbar geworden und sie erdrückte Robert und Harper nahezu mit Fürsorge, zumindest Phasenweiße, wenn sie sich wieder mies fühlte. Ansonsten war sie wie immer, nicht da oder zu beschäftigt. „Liebes, du erkältest dich noch, herrje, wo bist du nur gewesen! Ich hab mir Sorgen um dich gemacht!“ Natürlich, sie hatte sich um ihn gesorgt, klar. Harper wusste, dass sie log. Darauf geb es nichts zu erwidern. „Hmhm“. Mehr hätte er auch nicht sagen können, schon ertönte oben aufgeregtes Getrappel und ein Singsang wurde laut. Harper graute es. „Happy birthday to you, happy birthday to you….Sieh mal ich hab ein voll irres Geschenk für dich!“, tönte die Stimme seines Bruders von oben. Resigniert schlurfte Harper seinem Übel entgegen, Robert stand immer noch, oder schon wieder, vor seinem Zimmer und grinste sein Clownsgrinsen. Freudenstrahlend streckte er Harper ein, offensichtlich selbst verpacktes, Päckchen entgegen. „Machs auf! Komm schon, du wirst es mögen!“ Der junge Harper rang sich ein Lächeln ab zu dem er sich nicht einmal zwingen musste, er freute sich wirklich über das Geschenk. Er ging mit Robert in sein Zimmer, das mittlerweile wieder trocken war, setzte sich im Schneidersitz auf den Boden und wartete bis Robert es ihm gleich tat. Wenige Sekunden später hockten die beiden Brüder erneut auf dem Boden und sahen sich an. Harper begann vorsichtig das Päckchen aufzureißen. Dies war leichter gesagt als getan, Robert hatte das, von kleinen Fußballspielern übersäte Papier mit gefühlten drei Rollen Klebeband befestigt. Mühsam wahrte Harper die, für ihn typische Contenance und legte schlussendlich den Inhalt des Pakets frei. Verblüfft stellte er fest, dass unter den vielen Schichten aus Geschenkpapier, der Einband eines seiner absoluten Lieblingsbücher zum Vorschein kam. Nun war es auch um seine Beherrschung geschehen, er riss das Buch in die Höhe und strich ungläubig mit den Fingern darüber, unfassbar, wo hatte Robert ein Exemplar davon herbekommen? Er hielt tatsächlich eine englische Ausgabe von Charles Dickens‘ The mystery of Edwin Drood in seinen klammen Händen! Ungläubig starrte er Robert an, nun war er es, der mit dem debilen Gesichtsausdruck am Boden hockte und nicht fähig war, sich zu rühren. „Ich hab gespart und es dann in einem dieser alten Buchläden gekauft, du sagtest, dass du es toll findest, da hab‘ ich‘s gekauft.“ Er grinste breit. „Toll was?“ Es war wahrhaftig toll, nein es war mehr als das, es war Fantastisch! „Es ist wunderbar Robert, danke!“ „Aber…Josh…“ „Ja?“ „Du musst mir ganz fest versprechen, dass du dieses Buch niemals nach draußen bringst, ja? Nimm es nirgendwohin mit, gib ihm einen festen Platz im Regal und lass es dort! Okay? Versprich es!“ Harper wunderte sich zwar, willigte jedoch ein, er war zu vertieft in den Anblick der vielen Seiten, schon allein der Gedanke an die Geschichten die sie bargen…. „Hm? Ja..ich..verspreche es dir.“Mehr brachte er kaum hervor, er musste lächeln. Mit glänzenden Augen strich er wieder über den dicken Einband, er konnte es kaum erwarten das Buch zu lesen, auch wenn er es schon einmal gelesen hatte, wenn auch im Übersetzungstitel, nun hatte er den Originaltitel! Unfassbar, sein Bruder hatte ihm sein Lieblingsbuch geschenkt! Er war überwältigt und gleichzeitig auch etwas überrumpelt, er hatte Robert nie etwas geschenkt, war nie zu seinen Parties in der Gartenhütte erschienen und doch schenkte er ihm etwas! Was Harper nicht ahnte, so wusste Robert vorerst nicht, dass besagtes Buch das Lieblingsbuch seines Bruders war, blieb die Frage warum er es denn gekauft hatte. Nun mein lieber Leser, sie wissen bereits, dass Robert entsetzliche Angst davor hatte, seinen Bruder zu verlieren und, dass er seit einiger Zeit kontinuierlich von grausigen Alpträumen heimgesucht wurde, die ihm diese Angst vor Augen hielten. Im letzten dieser Träume hatte er seinen Bruder in die eisigen Tiefen eines reißenden Flusses gestoßen, aus Versehen, zuvor hatte er ihn geärgert, indem er ihm sein Buch entwendete und ihn aufforderte es zu holen. Sodann lieber Leser, raten Sie nun, welches Buch Harper in jenem von Roberts Träumen las, welches Buch die Schuld an seinem Tod trug. Ebendieses Buch, das Robert ihm geschenkt hatte, nun wird deutlich warum er ihm dieses Versprechen abgenommen hatte, nichtwahr? Armer Robert, allmählich fraß ihn die Angst Stück für Stück auf und zu allem Überfluss, war er sich seiner Abhängigkeit kaum bewusst, er sorgte sich einzig und allein um das Wohlergehen seines geliebten Bruders. Harper wusste dies zwar zu schätzten, sein Bruder war immerhin sein einziger Verbündeter, sein einziger Freund. Er hielt nicht viel von Freunden, wissen Sie. Freude sind zwar die, mit denen man zu Lebzeiten Whiskey trinkt, doch Freunde sind auch diejenigen die mit euren Feinden Champagner an eurem offenen Grabe trinken wenn ihr endlich dort unten ruht. So dachte Harper. Denn gegen Ende sind es eure Gegner und Feinde, die euch Rosen an den Sarg legen, denn sie brauchten euch ebenso wie ihr sie, ohne euch wären sie nicht das was sie sind und umgekehrt. Sehen sie es doch so: Man hat mehrere Freunde, aber nur einen einzigen Menschen den man wirklich hasst und Hass ist schließlich auch nur ein Gefühl wie jedes andere auch. Harper hatte eine fragwürdige Ansicht von diversen Dingen, doch man kann es ihm nicht verübeln, immerhin war es seine eigene Meinung und er ließ sich von keinem etwas anders erzählen. Nichts desto trotz war Robert der einzige Mensch der ihm wichtig war, so hart es sich auch anhörte, es war so und es war gut so, an diesem Tag war Harper nicht nur glücklich, dank seines Bruders, nein, er war ihm vor allem eins: zutiefst dankbar.
Noch in derselben Nacht begann Harper das Buch zu lesen, er verleibte sich genüsslich Wort für Wort ein als würde er es zum allerersten Mal lesen. Wie im Flug zog die Nacht an ihm vorbei während er sich durch die zahlreichen Vorkommnisse rund um John Jasper zum Finale vorarbeitete. Sie wissen vielleicht, vielleicht auch nicht, dass Charles Dickens und dieses hervorragende Werk unvollendet hinterlassen hat, doch dies war mitunter einer der Gründe warum der junge Harper dieses Prachtwerk so sehr mochte. Das Ende, oder besser gesagt, das Fehles jenes Endes, ließ einen ungeheuren Interpretationsfreiraum, doch Harper war, wie so viele andere Kenner der Meinung, dass John Jasper, Edwin Droods Onkel, der Mörder sei. Wie dem auch sei, die Morgendämmerung brach heran und tauchte Harpers Zimmer in schummriges, rosafarbenes Licht als er gerade an den letzten Seiten hing. Die ganze Nacht hatte er den Blick nicht einmal vom Buch gewendet, keinen Gedanken an etwas anderes verschwendet, nun war er fast fertig. Die Worte tropften ihm fast aus den Augen, seine Lieder drohten jeden Moment zuzufallen, doch er las unentwegt weiter. Wenige Stunden nach Sonnenaufgang hatte er es geschafft, jedes Wort war gelesen, jede Seite umgeblättert. Zufrieden stellte er das Buch in sein spärlich bestücktes Regal, er stockte, plötzlich schossen ihm Roberts Worte durch den Kopf: „Bring es niemals nach draußen, stell es ins Regal und lass es dort! Versprich es!“ Eigenartig, höchst eigenartig… Nun ja es hing vielleicht mit seiner Verlustangst zusammen, ganz sicher sogar. Er schauderte, hoffentlich nahm das Ganze nicht noch abstrusere Formen an. Viel Zeit zum grübeln blieb ihm allerdings nicht, Robert hatte sich nämlich in den Kopf gesetzt, dass er Harper unbedingt bei seinem heutigen Match dabeihaben will. Wiederwillig seufzend fügte sich Harper, er konnte Robert nicht im Stich lassen. Auf diese Weiße verstrichen die restlichen Ferientage, Harper versteckte sich so oft es ging in seinem Refugium, manchmal begleitete er Robert zu seinen Matches und unternahm etwas mit ihm und seinen Freunden. Diese waren zwar wenig begeistert von Harpers Anwesenheit, doch Robert, der la Chef der Clique das Sagen hatte, bestand auf Harpers permanente Gegenwart. Schon sehr bald fiel Harper bei Roberts Freunden in Ungnade, was sie ihn spüren ließen wann immer Robert nicht in der Nähe war. So hatte er durch Robert nur noch mehr Feinde gewonnen, bis auf Billy Fisher konnte niemand den jungen Harper leiden. Markus und Paulie Lichter waren mit Abstand die Schlimmsten von allen. Dies waren auch die beiden Rowdies denen Harper vor Jahren, Sie erinner sich sicher, die Torte die seinen Bruder Robert außer Gefecht setzten sollte, gegeben hatte. Markus und Paulie waren eineiige Zwillinge, und so verhielten sie sich auch. Des Öfteren vollendeten sie gegenseitig ihre Sätze und man erwischte sie praktisch immer nur im Doppelpack. Wie ihre Eltern diese beiden nur aushielten war Harper immer schon ein Rätsel gewesen, doch dieses Rätsel ließ sich recht einfach klären. Sonya Lichter war eine sehr angesehene Managerin, sie war selten zu Hause, verdiente aber sehr gut, ebenso wie ihr Mann John Lichter, er war einer der best bezahltesten Anwälte der Stadt. Das erklärte auch, warum er seine, der Kriminalität frönenden, Söhne aus allem Ärger heraus kaufen konnte, sie hatten offiziell keinen Dreck am Stecken und galten als Musterhaft. Eine weitere perfekte Familie also. Nun, den Lichter Zwillingen fehlte es also nicht an Rückendeckung und Geld, dafür aber, welch Überraschung, an Gehirnmasse. Sie zogen es vor ihre Tage damit zu verbringen, Mülleimer in der Stadt anzuzünden, schwächere zu verprügeln und, Sie werden es nicht glauben, kleinere Dinge aus diversen Läden zu entwenden. Dies zeugt wiederum von ihrer außergewöhnlichen Intelligenz, denn wenn man knapp hundert Mäuse Taschengeld pro Monat erhält, hat man schließlich nicht genug um sich, halten sie sich fest, Limonade und Kaugummis zu kaufen, nein, man muss sie stehlen! Herrje, so etwas brachte Harper fast zur Verzweiflung, was ihn noch mehr aufregte, war die fast schon impertinente Dummheit, mit der sie ihre „Verbrechen“ begingen, sie ließen sich erwischen, bei den banalsten Dingen! Über solche Begebenheiten konnte Harper sich stundenlang die Seele an die er nicht glaubte aus dem Leib ärgern. Also wirklich, wenn man denn schon um anzugeben stehlen musste, was er ohnehin für den mit Abstand debilsten Humbug hielt, dann sollte man es doch anständig machen. Er war generell der Ansicht, dass man Dinge, egal welcher Art, entweder bestmöglich oder überhaupt nicht erledigte und wenn man schon zu dumm oder zu faul war sie selbst zu tun, so sollte man andere dazu bringen sie für einen zu erledigen, ohne dass sie es bewusst merkten, das war die Kunst an der Sache. Einmal kam Harper sogar höchst persönlich in den Genuss ihrer Künste. Eines schönen Montag Nachmittages begleitete er seinen Bruder und seine Clique in die Stadt, um zu beweisen, wie cool sie waren, „besorgten“ Markus und Paulie Bier. Zumindest versuchten sie dies, mittels eines glorreichen Planes, welcher wie folgt lautete: Sie marschierten in den Krämerladen in der Stadt, der Rest der Clique wartete draußen und spähte gespannt durch das große Schaufenster von dem aus man in den gesamten Laden Einsicht hatte. Harper musste heute noch grinsen, bei dem Gedanken an das folgende Szenario, welches er wie durch einen überdimensionalen Fernsehbildschirm beobachten konnte. Markus und Paulie streiften durch die Regale wie zwei räudige Katzen, an dem Regal wo das Bier stand, blieben sie stehen und zögerten eine Weile, bis sie sich dann doch einen Sechserträger mit Bier schnappten den sie mit eingezogenen Köpfen und gebeugten Schulter zur Kasse trugen. Dort angekommen, fragte die Kassiererin, ob sie denn schon volljährig wären, oder ob ein Erwachsener das Bier für sie kaufte. Nun zu ihrem Plan. Sie sprachen die alte Mrs. Shatter, die vor ihnen an der Kasse gestanden hatte und sich gerade zum gehen wandte, als ihre Großmutter darstellten. Nun, zumindest versuchten sie dies, was allerdings gewaltig misslang, denn die gute alte Mrs. Shatter, möge sie in Frieden in der Hölle schmoren, empfand dieses flegelhafte Verhalten als Belästigung und als die beiden Superkriminellen dann noch versuchten sie zu überreden, sie sollte doch bitte Mitspielen und der Kassiererin erzählen, dass sie ihre Großmutter sei, packte die etwas sehr betagte Frau die Angst vor den beiden großen aggressiven Jungen und sie rief kurzerhand den Ladenbesitzer zu sich, welcher empört die Polizei alarmierte. Welch ein Augenspektakel! Es erinnerte Harper fast an eine dieser Soaps über schwierige Teenies die dauernd im Fernsehen liefen. Köstlich, Amüsement vom Feinsten! Zu schade, dass die gute alte Mrs. Shatter schon knapp ein Jahr unter der Erde weilte. Sonderlich gravierende Folgen hatte die Aktion aber nicht für die beiden Profigangster, Mummy und Daddy kauften sie frei, wuschen mit Geld ihre befleckten weißen Westen wieder rein und erteilten ihnen eine Woche Hausarrest, an den sie sich sowieso nicht hielten, da ihre Eltern nicht da waren um dies zu Kontrollieren. Tja, seine Kinder nicht zu erziehen ist auch eine Form von Erziehung, zwar eine recht Fragwürdige, aber eine sehr häufige Form davon. Wie dem auch sei, die beiden waren zwei der besten Freunde die Robert hatte, und darum versuchte Harper, sie nicht zum Ziel einer seiner Pläne zu machen, so schwer es ihm auch manchmal fiel. Er ertrug ihre Gegenwart, wie auch die Gegenwart der anderen nur, weil er seinem Bruder damit einen Gefallen erwies, er fand er war es ihm schuldig, warum wusste er zeitweilen selbst nicht genau. So verbrachte Harper zahllose Tage mit Robert und seinen grenzdebilen Freunden, sah ihnen zu wie sie Mist bauten, Fußball spielten und manchmal gelang es ihm auch, in sein Refugium zu entfliehen. Dieser Ort war ihm in der Tat immer mehr ans Herz gewachsen, er verstand immer weniger warum andere ihn so abstoßend fanden. Viele, viele Stunden verbrachte er also unter der knorrigen, alten Trauerweide die ihre langen, mit federähnlichen Blättern bestückten, lianenartigen Äste über sich gen Erde neigte wie ein kaputter Regenschirm, dessen Schirmfläche nach unten gestülpt worden war. Nach seinem dritten Besuch wagte er sich auch näher an das überraschend gut erhaltene viktorianische Haus heran. Er entsann sich noch so, als wäre es gestern gewesen… An einem wolkenverhangenen Augusttag war er zum dritten Mal in sein Refugium geflüchtet, Aidas plötzlich aufkommende Phase der Überführsorglichkeit, die Harper so sehr verabscheute, war erneut eingetreten. Noch vor dem Frühstück flüchtete er sich, ein Buch und eine Tafel Schokolade im Schlepptau, in sein geheimes Refugium. Bisher hatte er immer behauptet, er sei in der Bibliothek, im Park oder sonst wo gewesen, es hatte auch prima geklappt. Niemand schöpfte je Verdacht, denn der junge Harper konnte erstens sehr gut Lügen, und zweitens, war er ohnehin fast unsichtbar für den Rest der Welt. Er konnte also unbeschattet weilen wo er wollte, was er zu seinem Vorteil nutze. Auch an jenem Tag an dem er das Haus erkundete fiel ihm etwas auf, selbst auf den unzähligen Horrortouren zu Halloween, hatte niemand je das Haus betreten. Da Harper nicht wirklich Angst vor dem Haus hatte, entschloss er sich an jenem Tag, zu versuchen, es zu betreten. Was sollte es ihm auch großartig antun? Sollte es ihn fressen? Himmel, es war ein Haus, das einzige was dieses Haus konnte, war es, eventuell einzustürzen und ihn zu begraben und das konnten alle anderen Häuser auch. Es war also beschlossene Sache, Harper wollte das Haus von innen sehen. Mittlerweile konnte er den Weg zu seinem Refugium schon Blind finden, es dauerte also nicht lange bis er dort angelangt war. Er hatte auch ein Loch im Zaun entdeckt, welches ihm die nervtötende Kletterei ersparte, wie ein Wiesel kroch er durch die Öffnung im stählernen Zaun, dessen Stäbe wie die Spitzen einer Satansgabel gen Himmel zeigten. An dieser Stelle war einer dieser Pfeiler aus seiner von Rost zerfressenen Metallhalterung gebrochen und steckte nun wie ein, ins Nichts zeigender, abgebrochener Zeigefinger im Erdreich. Alle paar Meter wurde diese Konstruktion von massiven Ziegelsäulen unterbrochen, die dem Zaun wie eine Wehrmauer wirken ließen. Nachdem er den Zaun passiert hatte, stelzte er das letzte Stück des Hügels hinauf, was leichter gesagt als getan war. Der Hügel war zwar nicht besonders Steil, doch er von wild wuchernden Rhododendronbüschen, allerlei anderen Sträuchern und Bäumen überwachsen. Wilder Efeu bedeckte stellenweiße die Erde wie ein Teppich aus Blättern , wilde und gezüchtete Rosen wuchsen überall und ihre Dornen gruben sich wie Zähne kleiner Ungeheuer in Harpers Waden. Wenn alles in voller Blüte stand, fand man sich in einem Meer aus verschiedensten Blüten, man kam sich vor als stünde man im Garten einer Fee. Einst, als die Gärtner hier noch ihre Arbeit verrichtetet hatten, mochte es wahrlich einer der prunkvollsten Gärten gewesen sein, doch auch nun, als die Natur selbst ihr eigener Herr und Meister war, haftete diesem Garten immer noch der Schein an, als wäre er irgendeinem Märchenbuch entsprungen, wer weiß welche Geheimnisse er barg? Ein schmaler gepflasterter Weg schlang sich durch die dicke Grasdecke, hin und wieder verschwand er unter einem Moosteppich oder einem Efeubüschel, doch er führte Harper stets sicher durch sein Reich, vorbei an gigantischen Bäumen deren gewaltige Kronen Teile des Gartens in stetiges Dämmerlicht tauchten. Das Licht fiel schummrig durch ihre Blätter und warf einen geisterhaften, goldenen Schein auf das darunterliegende Gras. Schmetterlinge tanzen im Licht und unter einer alten Eiche stand einsam und verlassen eine halb überwucherte Bank aus Stein, als würde sie dort seit Jahrzehnten auf jemanden warten, der jedoch niemals kommen würde. Der Weg endete an einem, erstaunlicher Weiße noch vollkommen intaktem Rosenbogen und von dort aus begab sich der junge Harper mit pochendem Herzen zur hintern Veranda des Hauses. Er stieg die Stufen der steinernen Treppe empor bis er auf dem halbkreisförmigen Marmorareal stand, das wohl einst die Terrasse des Bennington Inn gewesen war. Von dort aus schlich er langsam auf das hintere Portal zu. Wie das Maul eines Fisches gähne die ebenfalls halbkreisförmige Doppeltür, sie bestand aus massivem Ebenholz und war kaum von Verfall gezeichnet. Plötzlich vernahm Harper ein Geräusch. War ihm jemand gefolgt? Himmel, es hörte sich an wie Schritte! Gehetzt blickte er sich um und lauschte. Wenn nun einer der Rowdies ihm gefolgt war, wenn es ein unbekannter war der es auf Kinder abgesehen hatte...wenn… Moment. Harper lauschte weiter. Dann erkannte er das pochende Geräusch und identifizierte es als das Pochen seines wild hämmernden Herzens. Schamesröte stieg ihm ins Gesicht, seine Wangen brannten. Sein Überich schalt ihn wiederholte Male einen Narren und machte sich über ihn lustig. „Von wegen, du hast keine Angst! Du weißt genau, dass dir nichts passieren kann, und dennoch stellst du dich an wie ein kleines Kind! Sowas Lächerliches, ich bitte dich! Schande über unsereinen….“ Beschämt legte er die Hand auf den silbernen Türknauf der die Form eines Löwenkopfes hatte und drehte ihn vorsichtig. Ein leises Klicken ertönte, Harper drückte und die Tür öffnete sich, ihr lautes Knarren zerriss die Stille. Behutsam setzte Harper einen Fuß nach dem anderen in das alte Haus. Die Tür führte ihn in ein kuppelförmiges Areal, welches nahezu vollständig möbliert war. An den Wänden hingen unzählige Bilder von Dolores Bennington, ihrem Mann Ralph und anderen Leuten, die Harper nicht identifizieren konnte. Durch einige Lücken fiel Sonnenlicht in den großen Rau, Staubflocken tanzten wie Feen im schummrigen Licht. Zugegeben, das Haus hatte etwas gespenstisches an sich und das lag nicht nur an den teils zerbrochenen, knirschenden Bodendielen, den blinden Spiegeln und den vielen vergilbten Bildern an den Wänden. Er kannte Dolores‘ Bilder aus den alten Zeitungen, die er im Laufe seiner Recherchen gelesen hatte. Sie war, selbst in ihren alten Tagen, eine recht ansehnliche Frau gewesen, die ihr schulterlanges, lockiges Haar stets adrett zu einem Knoten gebunden hatte, in dem wertvoller Perlenschmuck steckte. Ihre vollen Lippen waren auf jedem der Bilder mit rotem Lippenstift betont, und sie trug immer äußerst wertvoll anmutende Kleider. Ihr erhabener Blick ruhte schwer auf Harpers Schultern und schien ihn zu verfolgen als er durch das Areal schritt. Es führte ihn in ein weites, ebenfalls kuppelförmiges Areal, welches aber um einiges größer war als das vorherige. Um genau zu sein, es war so groß, dass Robert locker eines seiner Fußballspiele darin hätte austragen können. Er befand sich anscheinend im Festsaal des Anwesens. Die hohe Decke war vollständig aus Gas, das Licht der Nachmittagssonne überflutete den Raum mit goldenem Schein und lies die Seidenvorhänge, die die gigantischen Fenster an den Seiten des Raumes verdeckten, glitzern als wären sie mit Diamanten besetzt. Einige der, im Schachbrettmuster angeordneten, schwarzen und weißen Marmorfließen waren zerborsten, andere waren herausgerissen worden. Überall knisterte und flüsterte, knarrte und raschelte es, als würde sich in jedem Winkel ein anderes Gespenst verstecken. Harper bekam eine Gänsehaut, doch die Neugierde siegte und er schlich weiter durch das Haus. Jeder Raum schien einen anderen Schatz zu hüten, so fand er zum Beispiel im Salon ein altes Klavier das immer noch funktionierte, er tippte vorsichtig mit einem Finger auf eine der Tasten und fuhr vor Schreck zusammen als tatsächlich einen tiefer Ton erklang. In einem anderen Rum fand er eine alte Küche vor, in einem weiteren einen Speisesaal und noch zahllose andere, faszinierende Dinge. Schließlich gelangte er in ein Studierzimmer, ein Jammer, die Bücher dort waren dem Zahn der Zeit längst erlegen, er umrundete den großen Schreibtisch aus Ebenholz und wandte sich gerade zum Gehen, al hinter ihm eine leises klirren ertönte. Er drehte sich um und erblickte einen kunstvoll gefertigten Silberschlüssel. Behutsam hob er ihn auf und drehte ihn zwischen den Fingern. Sein Griff bestand aus einem mit Ranken verschlungenen Herzen, die Ranken zogen sich über seinen dünnen Stiel bis hin zum höchst seltsam geformten Schlüsselkopf, welcher aus so vielen Kerben, Rillen und Fugen bestand, dass Harper schon beim bloßen Hinsehen schwindelig wurde. Alles in allem war der Schlüssel jedoch nicht länger als sein kleiner Finger, der Kopf war gerade mal so groß wie sein halber Fingernagel. Fasziniert musterte Harper den Schlüssel und begann sich zu fragen, was er wohl aufschließen mochte, Er entschloss sich, es auszuprobieren. So schlenderte er durch den Raum und probierte herum, als er hier kein passendes Schloss fand, suchte er im restlichen Haus weiter. Raum für Raum arbeitete er sich voran, doch im Erdgeschoss und im Keller fand er nichts Passendes. Von Ehrgeiz und Neugierde gepackt, entschloss er sich, auch im oberen Stock nachzusehen. Er schritt wiederum durch den großen Ballsaal, bis er in der Haupthalle angekommen war, von dort aus nahm er eine kleine Tür, die geradewegs in ein überraschend großes, kreisrundes Areal führte. Harper blickte sich um, fasziniert stellte er fest, dass er sich im Turm des Hauses befand, welcher das Highlight der viktorianischen Villa war. Er musterte den Raum mit großer Sorgfalt, doch was sich seinen Augen darbot, überschritt alles, was er sich erwartet hatte. An Wand schlang sich wie eine gigantische Boa Konstriktor eine Wendeltreppe hinauf, sie war ebenfalls aus schwarzem Ebenholz und war scheinbar einst in die Mauern eingelassen worden. Ein kunstvoll verziertes, Geländer umrahmte die Treppe und ließ sie nur noch beeindruckender wirken. Der junge Harper blickte nach oben, konnte jedoch nichts erkennen, außer den goldenen Schein der Sonne, der den oberen Part des Turmes in samtenes Licht hüllte. Dies war nur einer von zwei Türmen gewesen, doch der andere war schon mehr als zerfallen. das einzige was von ihm noch übrig war, waren einige Reste der Treppe, die sich aus den Trümmern erhoben und ins nichts führten. Der Trum in dem Harper sich befand, war fast vollständig erhalten, nur das spitze silberne Dach das ihn entfernt an die Spitzen eines russischen Palastes erinnerte, war zur Hälfte eingestürzt. Durch das Skelett aus hölzernen Balken das von ihm übrig war, warf das Licht der Sonne einen goldenen Kegel in das Areal. Blätter säumten den Boden und flatterten im sanften Zug des Windes, Harper kam sich fast vor, wie im Inneren eines Schneckenhauses. Er fragte sich, wo diese Treppe wohl hinführen mochte. Vorsichtig versuchte er, ob sie sein Gewicht tragen konnte und erklomm zwei Stufen. Es klappte, sie trug ihn! Seine tapsenden Schritte hallen vielfach von den Wänden wieder und er fühlte sich mit einem Mal irgendwie…beobachtet. Es mag seltsam klingen, doch wie er so die massive Ebenholztreppe im Treppenturm, wie er ihn fortan nannte, erklomm, fühlte er sich, als würde er von etwas begleitet, das hoch oben in der Turmspitze hockte und auf ihn herabblickte, wie um über ihn zu wachen und aufzupassen, dass er nicht fiel. Um ihn herum erklang das Flüstern des Windes und der Blätter, welche vor seinen Füßen tanzten. Stufe für Stufe schritt er so empor, dem gleißenden Licht der Sonne entgegen. Oben angekommen, blickte er furchtsam hinab, er war höher in der Luft als er geahnt hatte. Die Treppe mündete in einen flachen Aufgang und als Harper sie letzte Stufe hinter sich gelassen hatte, befand er sich in einem leeren, kreisrunden Raum. Über ihm erhoben sich die Reste des prunkvollen Daches des Turmes, an einer Seite ragten Holzbalken wie gebrochene Rippen unter dem, mit einem Fresko gezierten Kuppeldach hervor. Doch zu Harpers Enttäuschung war der Raum leer. Resigniert wanderte er an der Wand entlang und erblickte hinter dem Aufgang eine schmale schlichte, schmale Tür die sich dunkel vom Rest des Raumes abhob. Neugierig trat er auf sie zu, doch zu seiner Enttäuschung hatte sie kein Schloss. Harper öffnete sie und wollte hindurchtreten, doch dies wäre ihm fast zum Verhängnis geworden. Die Tür schwang auf und unter Harper gähnte der Abgrund. Die Außenwand des Turmes fiel kerzengerade vor seinen Füßen ab und unter ihm erstreckte sich der Garten. Die Tür führte ins nichts. Mit rasendem Herzen stolperte er zwei Schritte zurück, schloss die Tür und setzte sich vor Schreck auf den Hosenboden. Was zur Hölle… eine Tür die ins nichts führt! Was für eine Wahnwitze, aber doch irgendwie faszinierende Idee. Harper rappelte sich auf und machte sich auf den Weg, den Rest des Hauses nach einem Schloss für seinen Schlüssel zu durchsuchen. Als die Abenddämmerung hereinbrach hatte er jedes Schloss das er finden konnte ausprobiert, doch keines passte. Seufzend legte er den Schlüssel an seinen Platz zurück und drehte sich um. Erneut fiel der Schlüssel wie durch Geisterhand zu Boden. Harper schauderte, langsam wurde es unheimlich. Er legte den Schlüssen ein letztes Mal auf den Tisch, genau in die Mitte und wandte sich erneut zum Gehen. Er hatte gerade zwei Schritte getan als hinter ihm wieder das altbekannte „Kling“ ertönte. Langsam drehte er sich um und blickte auf den Tisch. Der Schlüssel war verschwunden, er lag zu Harpers Füßen im Staub und funkelte im Licht der untergehenden Sonne. Verblüfft und furchtsam betrachtete Harper das kleine Ding, dann entschloss er sich, es aufzuheben. Um ihn herum säuselte der Wind sein Lied durch die Fensterritzen und mit einem Schlag fühlte Harper sich beobachtet. Ja, er fühlte förmlich die Anwesenheit eines anderen Wesens, etwas…unterschwellig Wahrnehmbares. Er blickte sich um, doch er erkannte nichts Ungewöhnliches. Merkwürdig, er hatte keine Angst, er fühlte sich durch das etwas im Raum keineswegs bedroht, im Gegenteil, es schien ihm freundlich gesinnt zu sein. Er hielt den Schlüssel ins Licht und drehte ihn zwischen den Fingern, er glänzte, anscheinend war er vollkommen aus Silber. Ein helles „kling“ erklang, entsetzt lies Harper den Schlüssel fallen. „Schluss mit dem Unfug! Wer oder was ist hier?! Hallo..?“ Nichts, kein Laut. Was hatte er sich auch erwartet? Er befand sich in einem leeren Haus, niemand war hier. Harper seufzte, er stellte sich an wie ein kleines Kind, so ein Unfug, er schämte sich vor sich selbst als er sich um die eigene Achse drehte, seine Augen wachsam durch den Raum schweifen ließ und mit gespitzten Ohren lauschte. Erneut nahm er den Schlüssel an sich, diesmal blieb alles still. Die Sonne strahlte durch das Fenster und überschwemmte den Raum mit ihrem warmen, goldenen Licht, der Schlüssel schien zu strahlen. War es denn Diebstahl wenn er ihn mit sich nahm? Nein…immerhin war der Schlüssel drei Mal vom Tisch gefallen als Harper ihn wieder hingelegt hatte. Es schien fast so, als wollte das Haus oder was auch immer hier noch hausen mochte, ihm den Schlüssen schenken. Geschenke lehnt man nicht ab, das wusste der junge Harper. Mit einer Mischung aus schleichender Furcht und überschwänglicher Freude verließ er das Haus. Allem Schrecken zum Trotz hatte er sich im Haus nicht wie ein Endringling gefühlt, nein, anstatt ihn zu Tode zu ängstigen, war er wie ein Gast behandelt und sogar beschenkt worden. Beflügelt schritt er heimwärts, den kleinen Schlüssen wie einen unsagbar wertvollen Schatz an die Brust gedrückt. Irgendwie war er das auch, unsagbar wertvoll, denn wer besaß schon einen Schlüssel, von dem es nichts in der Welt gab, das er aufschloss? Von nun an hütete der junge Harper den mysteriösen Schlüssel wie seinen Augapfel, er erzählte niemandem, nicht einmal Robert von seinem Fund, geschweige denn von seinem Aufenthalt im alten Bennington Inn. Dies war jedoch nur eins der wenigen Geheimnisse die Harper sich im Laufe der Jahre an diesem Ort zu eigen machte. Mit der Zeit schlich er sich öfter, fast bei jedem Besuch in seinem Refugium auch in das alte Haus und jedes Mal fühlte er sich, als würde ihn jemand oder besser gesagt, etwas auf seinen ausgedehnten Streifzügen begleiten und ihn beobachten. Es war ein durchweg merkwürdiges Gefühl, er glaubte nie an Dinge wie Geister, doch der junge Harper war der Überzeugung, dass der Geist, als solcher al unterschwellig wahrnehmbare Kraft verweilt, selbst wenn sein träger längst von dannen geschritten war. So fragwürdig es sich auch anhören mochte, so haftete dem Haus ein schwerer Hauch von etwas an, das Harper zwar spüren, jedoch nicht beschreiben konnte. Es dauerte nicht lange, bis ihm dieser Hauch auch bis hinaus in den Garten folgte, selbst vor dem Blätterzelt der alten Trauerweide machte es, was immer es auch sein mochte, ob es nun existierte oder nicht, keinen Halt. Stundenlang ruhte es scheinbar wie um auf ihn aufzupassen, mit Harper unter dem grünen, flüsternden Zelt aus Blättern und wachte über ihn. Den Schlüssel trug Harper nach wie vor immer bei sich, nur beim Duschen nahm er ihn ab und versteckte ihn sorgfältig. Er wurde zu seinem Talisman, zu seinem wertvollsten Besitz. Doch die Neugierde, was er wohl einst aufgeschlossen hatte, oder ob es überhaupt je etwas derartiges gegeben hatte, ließ ihn niemals los, wie ein Schatten hing sie an dem Schlüsselchen und mit jedem Mal das Harper ihn betrachtete, legte sie sich wie ein sanfter Hauch um seinen Verstand. Es erschien ihm unsinnig einen Schlüssel zu schaffen, der nichts aufschließt. Dieser Gedanke hatte dennoch etwas faszinierendes, denn Schlüssel schließen bekanntlich Dinge auf, zu jedem Schlüssel gibt es ein Schloss. Ein Schlüssel ohne Schloss war… einfach nur ein Schlüssel, der seinen Namen nun nicht gerecht wurde, ein freies Utensil das jedoch schwer befangen mit assoziativen Bedeutungen war. Harper hatte noch nie zuvor so etwas gesehen, nun besaß er ein Unikat, dieses Ding hatte eine größere Bedeutung als ihm es ihm anzumaßen schien, doch darüber wurde sich Harper erst viele Jahre später Bewusst. Es dauerte nicht lange und das Gefühl des zweiten Anwesenden in Harpers Umgebung verfolgte ihn auch nach Hause. Sonst war es immer hinter dem Zaun geblieben der das Anwesen des alten Bennington Inn umgab, doch nun ließ es nichtmehr von Harper ab, es schien ihm anzuhaften wie ein zweiter dunkler Schatten, mit dem Unterschied, dass es niemals von seiner Seite wich. Schatten verschwinden bekanntlich mit dem Licht, doch dieses „Es“ blieb selbst in vollkommenster Dunkelheit dicht an Harpers Seite. Anfangs war es ihm unheimlich gewesen, doch mittlerweile hatte er sich an das Etwas gewöhnt, dass ihn zu führen schien. Bald schon war der letzte Tag der Ferien verstrichen, die vergangenen Tage nur noch Schatten der Erinnerung und es wurde wieder Zeit, in die Schule zu gehen. Harper hatte nichts gegen die Schule, er sog förmlich alles Wissen auf was man ihm nur vorsetzte, einige Themengebiete mochte selbstredend mehr als eine anderen. Irgendwie hatte er sich auch schon auf die Schule gefreut, er würde knappe sechs Stunden ruhe vor Robert haben, bis auf die Pausen, in denen er wieder mit ihm und seinen Schulholfrowdies den Hof unsicher machen musste. Nun gut, er stand meistens daneben und sezierte ihre Verhaltensmuster um sie sich einzuprägen. Halbwegs gut gelaunt betrat er also das Schulgelände und suchte seine neue Klasse, Raum 146. Doch als er, fast zu spät, in seine Klasse kam, schlug ihm der Anblick den er dort vorfand wie eine Eisenfaust in den Magen. Robert saß, breit grinsend, bei bester Laune auf einem der Pulte, winkte Harper zu und deutete auf das freie Pult neben sich. Harpers Augen nahmen die Form von Aidas guten Riesenporzellantellern an, er schnappte nach Luft wie ein Fisch auf dem Trockenen.
Robert war früher in die Schule aufgebrochen, er wollte Josh überraschen, dass sie nun in ein und derselben Klasse waren. Eigentlich sollte Robert zwei Klassen über seinem Brüderchen sein, doch da er die Vorschule besucht hatte, reduzierte sich diese Zeit auf ein Jahr. Robert war bekanntlich keine helle Leuchte, wenn Sie verstehen was ich damit sagen will, doch dumm genug um durchzufallen war er auch nicht. Doch oh, Robert war sehr wohl dumm, beziehungsweise naiv und abhängig genug, um absichtlich in der Schule zu versagen, nur damit er ein Jahr wiederholen und somit nicht mehr den halben Tag von seinem kleinen Bruder getrennt sein musste. Diese Idee war ihm in Laufe des letzten Schuljahres gekommen, seine Deutschlehrerin regte sich gerade, fast wie Josh, über seine primitive Ausdrucksweiße auf, da er in jedem Satz das Wort „Alter“ mindestens drei Mal einbaute. Er ignorierte gerade ihre Standpauke und dachte daran, was Josh wohl gerade machte. Er bekam nie Standpauken von Lehrern, außer vielleicht von Mr. Henning, dem Religionslehrer. Die Schule hatte genug Geld für der Mathematiklehrer, aber anscheinend konnte sie sich nur einen Religionslehrer leisten, schade, dachte Robert, Mr. Henning wohnte in ihrem Ort und was mit Abstand der griesgrämigste alte Knacker den er kannte. Für ihn drehte sich alles nur um Jesus, was Robert nicht weiter störte, denn auch er glaubte an Gott. Doch Josh geriet andauernd in neue Konflikte, da er nichts von Jesus-Fans, wie er die Christen nannte, hielt. Ihre Mutter hatte ihn jedoch nie vom Religionsunterricht befreit, Josh sagte immer, dass dies nur ein letzter krampfhafter Versuch ihrer Mutter war, ihn doch noch zum Glauben zu bekehren und ihr Gewissen zum Schweigen zu bringen. Er hatte ihm auch anvertraut, dass er die endlosen Diskussionen mit Mr. Henning ein bisschen mochte, immerhin konnte er ihm die Meinung geigen und das auf einem Nivea das den angeknacksten Religionslehrer immer wieder aus den Socken haute. Sein kleiner Bruder war schon ein kleines Genie, er war sozusagen Roberts insgeheimes Vorbild. Eigentlich nahm jeder Schüler den armen Mr. Henning auf den Arm, ja seine schwarze Nadelstreifenhose die er immer bis zur Brust hochgezogen hatte, das weiße Hemd mit dem Rosenkranz und die Minibibel in der Tasche seines schwarzen Sakkos schrien förmlich „Verarsch mich doch, ich werde euch nicht bestrafen, der Herr wird dies tun!“ Seine große Hornbrille, das billige Toupet das seine Stirnglatze verdecken sollte und die Aussage: „Betet oder brennt in der Hölle!“ trugen auch ihren Teil dazu bei. ja, selbst die Mathegeeks die Robert in den Pausen verprügelte und denen er das Lunchgeld abknöpfte, nahmen Mr. Henning auf den Arm. Ein Grund mehr für Robert, ihn für einen Versager zu halten. Wie er so dasaß und grübelte, fraß ihn der Gedanke, seinen Bruder erst in zwei Stunden zu sehen regelrecht auf. Dann leuchtete ihm die Idee wie ein Scheinwerfer ins Gesicht. Er musste nur in seine Klasse kommen! Dann würde er jeden Tag mit ihm zusammen sein, von morgens bis abends! Brillant, und leicht zu erledigen! Robert wusste, was er zu tun hatte, es war das, was er, neben Fußballspielen und Streberprügeln am besten konnte, gar nichts! Es war so furchtbar einfach, er schreib fünfen bis die Lehrerin schon gar nichtmehr danach fragte, seine Mutter interessierte sich recht wenig dafür, sie meinte, er solle sich Zeit lassen, das Jahr zu wiederholen war okay. Nach den Ferien war es endlich soweit, er konnte Josh endlich an seiner Überraschung Teil haben lassen! In freudiger Erwartung saß er da, er hatte Josh extra ein Pult neben sich reserviert. Dann endlich kam er durch die Tür gelatscht. Man sah ihm die Überraschung an, sein sonst so maskenhaftes Gesicht war von Verblüffung gezeichnet, er starrte Robert ungläubig an. Robert strahlte und winkte ihm. „Hey Josh, setz dich doch! Wir sind nun Banknachbarn, toll was?“ Roberts Grinsen wurde breiter, die Verblüffung seines Bruders wuchs und Fassungslosigkeit zeichnete sich auf dessen Gesicht ab. „Robert? Was in drei Teufels Namen hast du hier zu suchen? Solltest du nicht in deiner Klasse sein?!“ „Ich BIN doch in meiner Klasse Josh, das ist meine neue Klasse!“ Er strahlte, die Überraschung war gelungen. Sein kleiner Bruder fing sich langsam wieder und seine Verblüffung wandelte sich in Ärger. „Was soll das bitte heißen? Sag bloß du bist sitzen geblieben?!“ „Ja, ist das nicht voll toll?“ „Bitte?! NEIN, das ist alles andere als toll Robert! Bist du übergeschnappt? Was hast du dir dabei gedacht? Ach was, gar nichts hast du gedacht, sonst würdest du nicht hier sitzen! Herrje, was sagt Aida eigentlich dazu?!“ Robert war verwirrt, er verstand die Wut seines Bruders nicht. „Jetzt hab dich doch nicht so, freu dich doch! Mom hat gesagt, dass es gut ist, ich brauch eben länger um etwas zu kapieren als du Josh.“ „Ich soll mich FREUEN? Sag, was ist nur in dich gefahren?! Was soll aus dir werden, wie stellst du dir bitte deine Zukunft vor, hm?! Robert, ich bitte dich, sag, dass das nicht dein Ernst ist!“ Josh machte sich Sorgen um ihn! Das war ja noch besser als Robert es sich vorgestellt hatte, er freute sich zwar nicht, aber nur, weil er sich Sorgen machte! „Tut mir ja Leid Josh, ich bemüh mich doch, ehrlich! Dieses Jahr wird alles besser! Du bist hier, du kannst mir helfen! So wird sicher nichts schiefgehen! Ich werde lernen und lernen bis mir das Wissen zu den Ohren rauskommt, versprochen!“ Sein kleiner Bruder setzte gerade dazu an etwas zu sagen, als die Klingel zur ersten Stunde läutete. Mit dem Läuten betrat auch die Lehrerin die Klasse und der Unterricht begann. Verstohlen blickte Robert hinüber zu Josh, dessen Gesicht wieder so unergründlich geworden war wie immer. Er blickte sich in der Klasse um, lauter Streber, das war in seiner alten Klasse besser gewesen, da hatte er seine Clique um sich gehabt. Hier saßen nur die, die er und seine Freunde immer abzogen, jämmerliche Kreaturen, sein armer Bruder musste sich mit ihnen abgeben. Doch nun war er ja da, er saß neben Josh, besser konnte es gar nicht mehr werden. Auch wenn Josh irgendwie betrübt zu sein schien. „Pssst, hey Josh!“ Keine Reaktion. „Pssst Josh!“ Wieder nichts. Robert stupste seinen Bruder mit dem Ellenbogen an. „He Josh!“ Nun reagierte er endlich. „Was ist denn nun los?“ „Bist du mir böse?“ Weswegen?“ „Na, weil ich doch hier bin, in deiner Klasse.“ „Nein, ich bin dir nicht böse, du bist doch nicht mit Absicht sitzen geblieben, nicht wahr?“ Das traf Robert, er wusste nicht was er sagen sollte, Josh würde sauer sein wenn er es erfuhr, er musste Zeit schinden. Schnell stieß er einen Stift vom Tisch. Die Lehrerin drehte sich um wie eine Furie und zischte wutentbrannt. „RUHE! Robert, du sitzt zum zweiten Mal hier, also solltest du Aufpassen und nicht mit Stiften spielen! Still jetzt, sonst setzt du dich AUGENBLICKLICH in die Ecke, verstanden?!“ Es hatte geklappt, Josh war zwar skeptisch, doch er schlug vor, später darüber zu reden. Dumme alte Fuchtel, die Lehrerin hatte Robert noch nie gemocht. Da blieb er schon sitzen und dann geriet er wieder an diesen Drachen, so eine blöde Kuh. Sie war schon immer fies zu Robert gewesen, auch in seiner alten Klasse hatte sie ihn ständig vollgemotzt, Robert war dies, Robert tat das, blah, blah, blah. Er hatte sie immer mit Papierkügelchen und Spuckebällchen beschossen, was sie sich auch immer verdient hatte. Marcus hatte ihr einmal Reißnägel unter das Kissen ihres Leherersessels gelegt, als sie sich mit ihrem dicken Hintern darauf setzte sprang sie auf und jaulte. Robert und seine Freunde hatten Tränen in den Augen vor lauter Lachen, selbst die sechs Stunden Nachsitzen konnten ihnen ihre Freude nicht nehmen. Er überlegte gerade ob er der dummen Gans wieder Streiche spielen sollte, als ihm der drohende Blick seines Bruders auffiel. „Wage es bloß nicht Robert, ich warne dich!“, zischte er, als hätte er seine Gedanken gelesen. Das war häufiger so, es schien als könne Josh seine Gedanken lesen, was Robert manchmal unheimlich war. Er wusste nicht, ob alle intelligenten Leute das konnten, doch da keiner der Mathegeeks das konnte, glaubte er, dass sein Bruder ganz besondere Fähigkeiten besaß, er war anscheinend sowas wie ein junger Huodini. Oder er war schlicht und ergreifend Intelligent, wobei Robert die erste Option besser gefiel. So verstrichen die Stunden und endlich läutete die schrille Klingel das Schulende ein. Deb ganzen Heimweg über sprach Josh kein Wort, erst zu Hause stellte er Robert zur Rede. Irgendetwas war faul an der ganzen Sache, das konnte der junge Harper förmlich riechen. Robert war nicht einfach so sitzen geblieben, das hatte einen Grund, davon war Harper felsenfest überzeugt und ihn beschlich eine ungute Ahnung.
Nun, geneigter Leser, alles geschieht aus gewissen Gründen, nichts in unserer konfusen Welt kommt von ungefähr, wovon auch der junge Harper überzeugt war. So liegt jeder Tat eine Absicht oder auch eben ein Grund zu Grunde, so banal diese Tat oder die Absicht dahinter auch sein mag. Haben Sie sich schon einmal überlegt, warum Sie denn bestimmte Dinge tun? Sie werde sicher Gründe finden. Manche Dinge tut man, weil man es muss, andere weil man es will, wieder andre weil einem nichts andere übrig bleibt oder vielleicht weil andere sie auch tun. Auch das nicht Begründete hat einen Grund, denn etwas zu tun, weil man keinen Grund dazu hat, ist wiederum ein Grund es in Angriff zu nehmen. Sie sehen, selbst kein Grund, ist ein Grund. Manchmal sind die Gründe die uns zu unseren täglichen Taten und Tätigkeiten treiben so banal und offensichtlich, dass man sie übersieht. Warum denken Sie zum Beispiel über das nach, was Sie soeben lesen? Ganz einfach, weil ihr Unterbewusstsein sie dazu zwingt, man denkt automatisch nach oder können Sie mir nichts dir nichts aufhören zu denken? Nein? Sehen Sie, sie versuchen nun an nichts zu denken und müssen zugeben, dass es schwierig ist. Sie fragen sich sicher woher ich weiß, was sie tun. Nun, das Ganze hat einen einfachen Grund, auch ich habe dies versucht und mir ging es wie Ihnen. Also, geneigter Leser, auch Wissen kann ein Grund sein, oder Reflexe die wir nicht einmal mehr bemerken weil sie in den Grundfesten des menschlichen Wesens so tief verwurzelt sind, dass wir sie manchmal vergessen. Auch dies hat seinen Grund. Warum? Nun, weil es so ist, das ist der simple Grund. Wahrlich nicht alles hat ein tiefgründiger Grund anhaften, doch das muss auch nicht so sein. Es sind die für uns unsichtbaren, kaum ergründeten Gründe, die uns ausmachen. Das Schöne daran ist, dass diese Gründe niemandem sonst ersichtlich sein müssen, jedem Selbst steht es frei, aus welchen Gründen er etwas tut oder lässt. Viele Gründe mögen für Außenstehende nicht nachvollziehbar sein, wie Roberts Grund absichtlich sitzen zu bleiben, oder warum Kriege entstehen, warum Rassismus sich noch durchsetzten kann, wie man jemanden willentlich das Leben nehmen kann et cetera, all dies hat seine Gründe, jeder der eine Aktion ausführt, hat einen Grund dazu, jeder der gegen diese Aktion ist, hat ebenso einen Grund dafür. Wissen Sie, jeder hat eigene Gründe, daher könnte man es wagen, zu behaupten, dass die Wahl der Gründe eines jeden, einen Schluss auf die Persönlichkeit zulässt. Es wäre jedoch vermessen zu behaupten, dass der Charakter einer Person, die aus Gründen handelt, die im Auge des Betrachters negativ erschienen mögen, böse ist, denn sehen Sie es doch von der Anderen Seite: Was für Sie ein böser Grund sein mag, könnte für den Anderen pure Notwendigkeit sein. Denken Sie doch darüber nach, bevor Sie Leute aufgrund ihrer Taten verurteilen, dazu haben Sie nicht das Geringste Recht, da sie ihre Gründe nur erahnen, jedoch keineswegs wissen können. Verurteilen Sie niemanden, solange Sie nichteinen Grund dazu haben. Nun werden Sie vermutlich sagen, dass der Grund, dass sie dieses und Jenes glauben, Grund genug sein muss. Doch um jemanden zu verurteilen, sollte man nicht nach den eigenen gründen gehen, sondern vielmehr die Gründe des Verurteilten suchen und diese als Stütze annehmen, dann, lieber Leser werden ihnen einige Dinge in einem völlig anderen Licht erscheinen. So mag es auf Sie vielleicht grausam gewirkt haben, dass der kleine Harper seinen Vater eliminieren wollte, doch da sie wissen, weshalb dies in seiner Absicht lag, sehen Sie vielleicht ein, dass er es nicht aus Spaß an der Freude tat, sonder aus Relevanz und Selbstschutz, vielleicht auch ein bisschen weil er seine Mutter erlösen wollte, wer weiß? Sehen Sie es doch so, auch wenn sie es, aus welchen Gründen auch immer, nicht verstehen, so habe ich Ihnen zumindest einen Grund zum Nachdenken beschert.
Umso schmerzlicher war es auch für den jungen Harper, als seine Vermutung über die Beweggründe seines Bruders zur Tatsache wurde. Es traf ihn wie ein Schlag ins Gesicht, als Robert ihm herzerweichend dreinblickend seine düstere Ahnung bestätigte und zugab, dass es absichtlich sitzen geblieben war. Harper konnte es nicht fassen, wie konnte man nur so entsetzlich dumm sein?! Offenbar hatte Robert keine Sekunde über die Folgen seiner Schnapsidee nachgedacht, oder, sie waren ihm, was viel schlimmer war, egal , scheinbar war ihm die Aussicht auf sechs bis sieben Stunden pro Tag, die er mit seinem Bruder verbringen konnte wichtiger als seine Zukunft. „Verdammt noch mal Robert, warum hast du das getan?!“ „Ich… Ich wollte dir eine Freude machen Josh! Ich dachte echt du würdest dich freuen! Versteh doch…ich wollte bloß bei dir sein, ich hab’s für dich getan!“ „Du hast WAS?“ Harpers Stimme schnellte in die Höhe als sich sein Verdacht bestätigte. Er war nun vollkommen in Rage. „Robert, sag mir nicht du hast es für mich getan, hast du denn völlig deinen ohnehin schon begrenzen Verstand verloren?! Das kann doch nicht dein Ernst sein!“ „Ist es aber, hörst du, ich dachte du freust dich! Sie mir nicht böse Josh, bitte!“ „Nicht böse sein, du sagst das so einfach, warum um alles in dieser verkorksten Welt hast du denn nichts gesagt?!“ „Ich wollte dich damit überraschen, ich hätte nicht gedacht, dass du mich anschreist!“ In der Tat, Harper schrie seinen großen Bruder an, das Ausmaß seines Ärgers zeigte sich jedoch erst, als er in ein gefährlich leises flüstern überglitt. Seine Stimme war kalt, durchdringend und drohend. Robert bekam Gänsehaut. „Robert, das ist krank, verstehst du? Weißt du denn überhaupt was du getan hast? Mein Freund, du hast anscheinend nicht die leiseste Ahnung was das bedeutet. Du verhälst dich wie ein kleines Kind das sich an den Rockzipfel seiner Mutter klammert. Scheinbar bist du nicht darüber im Klaren, dass du eine krankhafte Abhängigkeit mir gegenüber entwickelt hast, du projiziert deine Idealen auf mich Robert. Doch eins sollte dir klar sein, hör gut zu, ich sage es dir nur ein einziges Mal, EIN EINZIGES MAL, hast du verstanden?“ Und ob er das hatte, Robert nickte. Harper begann mit zischender Stimme fortzufahren seinen Bruder zurechtzustutzen. „Ich bin nicht dein Vater Robert, ich bin dein Bruder. Was ich noch weniger bin als dein Vater ist dein Idol, ist das klar? Wir sind Brüder und du bedeutest mir sehr viel, doch ich warne dich ein letztes Mal, von nun an ist Schluss, ich werde nicht Dad für dich spielen.“ Er sah ihn durchdringen an, Roberts Augen tauchten in einem feuchten Schimmer unter, er richtete sie zu Boden, er hielt Harpers durchdringenden Blick nicht Stand, zu sehr hatte ihn seine Aussage aufgewühlt, doch auch Harper fühlte sich erschöpft. Endlich brach Roberts Antwort das Schweigen. „Ja, ich verstehe.“
Harper war vollkommen durch den Wind, er brauchte dringen Ruhe und, was am Wichtigsten war, er brauchte Distanz zwischen ihm und Robert. Es hatte ihn schockiert, dass sein Bruder bereit war seine Zukunft für ihn in den Müll zu werfen und das auch noch freudenstrahlend und ohne jeden Zweifel. Nun war es offensichtlich, er hatte ein Monster geschaffen, er hatte unbewusst seinen Bruder zu einer völlig von ihm abhängigen Marionette gemacht, und das ohne es bewusst zu wollen. Mit einem Schlag wurde dem jungen Harper klar, dass er zu Dingen fähig war, die er selbst nicht geahnt hatte. Er wollte Robert nicht wehtun, dazu mochte er ihn viel zu sehr, doch er musste irgendetwas unternehmen, sein Bruder brauchte Hilfe. Der junge Harper flüchtete sich in sein Refugium, in der Hoffnung, dort Ruhe zu finden. Wie Sie sich sicher denken können, war seine Hoffnung zum Scheitern geweiht, ihm wollte die Sache einfach nicht aus dem Kopf gehen. Verzweifelt wanderte er im Blätterzelt der alten Trauerweide hin und her, stets begleitet von der Stimme seines Überichs und der ständigen Gegenwart des Etwas, das ihn nie loszulassen schien. „Ich habe dir immer gesagt, dass Nähe nichts als Ärger bringt, von Anfang an. Jetzt sehen wir, was wie davon haben. Du hättest ihn nie so nahe an dich heranlassen sollen, die Nähe zu Menschen hindert uns an unseren fachlichen Eigenheiten, vor Jahren hättest du ihm noch gesagt, er solle verschwinden oder hättest ihn gar beseitigt, doch nun! Sieh uns doch an, wir kriechen erbärmlich unter einem gottverlassenen Baum auf und ab und suhlen uns in Selbstmitleid, ist denn das zu fassen? Jämmerlich, nun haben wir Angst ihm weh zu tun!“ „Verdammt, ich weiß! Es ist hart, wir hätten anders handel können, dann wäre alles anders gekommen!“ Bestürzt über ihre Härte, rechtfertigte er sich gegenüber der zischenden Stimme seines Überichs. Doch sie war eindeutig nicht auf Kooperation aus. „Hätte, wäre, wenn! Jetzt ist es zu spät mein Freund! Nun hängt er uns an den Lippen wie ein Junkie an der Nadel, gut gemacht, wunderbar! Was wird nun aus unseren Plänen? Was, wenn er anfängt sich einzumischen?“ „Ich weiß, ich weiß…. Aber er ist mein Bruder! Ich kann ihn doch kaum aus dem Weg räumen… Ach zum Teufel, wir müssen und etwas einfallen lassen!“ Die Stimme wurde anmaßend, hohn stieg in ihr auf. „Wie bitte? Wir? Das ich nicht lache, wir haben mich doch geflissentlich ignoriert, wenn ich mich recht entsinne! Nun, du wusstest, dass ich Recht habe, ich bin immerhin du und du bist ich. Wir teilen uns diesen Kopf, also sollten wir schleunigst zusehen, dass wir ihn auf der Schlinge ziehen.“ „Das klingt einleuchtend, aber was um alles in der Welt sollen wir tun?“ „Nun denn, das ist wiederum recht simpel. Wir unternehmen gar nichts.“ „Bitte? Inwiefern soll und das helfen?“ „Unterbrich mich nicht, wir unternehmen nichts, denn wenn wir versuchen ihn beiseite zu schaffen, was wir nicht können, wir lieben ihn, schon vergessen? Nein, wir werden schlicht und ergreifend mitspielen, ihn in Sicherheit wiegen, wir können nicht zulassen, dass er uns anmerkt, wozu wir in der Lage sind. Noch ist er und nützlich.“ „Das mag sein, doch das ist krank, diese Abhängigkeit!“ „Stell dir vor, wir wandel sie um in Hass, was unweigerlich der Fall sein wird sollten wir einschreiten, dann, mein Freund, sitzen wir im Höllenfeuer. Wir sollten lernen damit umzugehen und uns erst bei Zeiten um den weiteren Verlauf scheren, gut Ding braucht Weile. Vergiss nicht, Dummheit und Ärger sind keine gute Mischung, du siehst zu was er fähig ist.“ „Du hast Recht, wir sollten auf ihn aufpassen, nur nicht in einer Form, die ihn an Dad erinnern kann. Denn ob es uns passt oder nicht, uns bleibt keine andere Wahl.“ „Ich weiß… es ist ohnehin bald vorbei.“ Sein Überich hatte Recht, Harper konnte nichts gegen die Abhängigkeit seines Bruders unternehmen ohne ihn zu verletzten, was er nicht wollte. Also entschloss er sich zu warten bis sich die Spannungen gelegt hatten. Er rechnete damit, dass es lange dauern würde, sehr lange ebenso rechnete er damit, dass es noch größere Dimensionen annehmen würde, doch vorerst verdrängte er es und gab sich alle Mühe, für seinen Bruder da zu sein ohne ihm einen Anlass zu geben ihn in irgendeiner Weiße abzustoßen. Dies war die erste Lektion die Harper lernen musste. Er hatte gleich zwei Kröten zu schlucken, er beging den Fehler, sich für einen andern zugänglich zu machen. Harper hatte gegen seine erste Richtline verstoßen. So lernte er seine erste Lektion: Nähe hindert dich am ausführen deiner Pläne, sie lähmt dich mit Skrupeln und einem Gewissen. Von diesem Tage an fingen Zweifel an in Harper zu keimen und Laufe der Jahre wuchsen sie, mit jedem Tag ein bisschen mehr.
Wissen Sie, geschätzter Leser, Zweifel sind die mit Abstand schlimmsten Verräter die einem Menschen in den Weg treten können, denn sie rauben uns die Chance auf das, was wir gewinnen könnten, das wir Aufgrund ihres Einwirkens auf uns jedoch verlieren. Dies musste auch unser junger Freund Josh Harper mehr als nur schmerzlich erfahren. Dies wird Ihnen im weiteren Verlauf der Handlung klar werden, wie es auch dem jungen Josh Harper im Laufe der Jahre klar wurde.
Harper hatte es sich eigentlich schlimmer vorgestellt, mit seinem Bruder die selbe Klasse zu besuchen, doch nach wenigen Tagen stellte es sich als recht amüsant heraus, wobei besonderes Augenmerk auf die Religionsstunden zu legen war, in denen Harper und Robert nun gemeinsam den armen Mr. Henning zur Weißglut brachten. Harper wusste gar nichtmehr wie oft er mit seinem Bruder nachsitzen musste, es störte ihn auch nicht, denn er nutze die so gewonnene Zeit, um seinen Gedanken nachzuhängen oder zu lesen. Doch mit der Zeit ging ein Wandel in Robert vonstatten, seine Clique begann mit Dingen, die Harper ganz und gar nicht geheuer waren, doch Robert war stets vorne dabei. Bald schon fand Harper heraus, was diese minderbemittelten Hobbygangster trieben. Der Winter war längst hereingebrochen, eine dicke weiße Schneedecke hatte sich über den kleinen Ort gelegt als wollte sie all die Geheimnisse die seine Bewohner bargen, verdecken, ihnen eine weiße Weste überstreifen. Auch die kahlen Bäume trugen Hauben aus weißem, glitzernden Schnee, mit denen sie aussahen, als hätte ihnen jemand einen Klecks Sahne aufgesetzt. Die Gärten waren ebenfalls mit einer dicken Schicht aus weißem Glitzer begraben, nun konnte man die Häuser nur noch mit Hilfe der Täfelchen die an jeder Tür prangten und den Namen der Familie die im entsprechenden Haus wohnten, trugen. Harper liebte den Winter, er genoss die Kälte und die grauen, düsteren Tage und das weiß des allesbedeckenden Schnees das alles unter sich begrub und ihm im so viel Interpretationsfreiheit bot, doch diese Monotonie drohte ihn um den Verstand zu bringen. Es hatte sich nicht viel verändert, er flüchtete noch immer fast täglich in sein Refugium, die alte Trauerweide hatte ihre Blätterpracht im Gegensatz zu allen anderen Bäumen, bis auf diverse Tannen, nicht abgestreift und hielt so den Schnee draußen. Allerdings war der knorrige alte Baum selbst mit einer dicken Schicht aus weißem Schnee überzogen und sah somit aus wie ein überdimensionales Iglu. In dessen inneren war es jedoch stets ein paar Grade wärmer als draußen und hier war es trocken da keine einzige Schneeflocke das undurchdringliche Dach besiegen konnte herrschte hier immer der Selbe Zustand. Es faszinierte Harper immer wieder, dass hier den Anschein hatte, dass weder Zeit noch irgendetwas anderes diesen Ort beeinflussen konnten. Mehr denn je schätzte er diesen Ort, nicht nur aus dem Grund, dass er ihn für sich allein hatte und dass er ihm Schutz bot, nein, auch weil er hier fernab von allen anderen in Ruhe und Frieden in sich gehen konnte, was mit jedem Tag der verstrich von größerer Relevanz für ihn wurde, warum würde sich schon bald zeigen. Auch das alte Haus hatte sich nicht verändert, es sah in seinem Mantel aus Schnee und Eis nur noch imposanter aus. In seinen blinden Fenstern blühten unzählige Eisblumen, die silbernen Dächer waren mit einer dichten Schicht aus makellos weißem Schnee überzogen der im Licht der Februar Sonne strahlte wie ein Elfenbeinschloss. Der Garten hatte selbst im Winter etwas magisches, der Rosenbogen war zu einem Schneetor geworden und der kleine Teich den Harper später entdeckte war zugefroren und schimmerte in Sonnenschein wie eine blank polierte Silberscheibe. Wenn er näher an ihn herantrat, konnte er seine Reflektion darin erkennen, die ihn mit freudiger Miene anstarrte. Haben sie sich jemals die Frage gestellt, ob das Speigelbild im gefrorenen Wasser Real ist, und Sie nur ein Spiegelbild von ihm sind? Nun, Harper stellte sich diese Frage jedes Mal wenn er in den Zugefrorenen kleinen Teich blickte und die emporsteigenden Luftblasen bewunderte, die dort eingeschlossen waren, fast als hätte jemand die Zeit angehalten. Die steinerne Bank unter der großen Eiche wirkte in ihrem schimmernden Kleid aus Schnee wie aus Elfenbein gehauen, doch auch das täuschte nicht über den verlassenen Eindruck hinweg der an ihr Haftete wie der Efeu der sich selbst jetzt, bei eisigen Temperaturen, ungestört an ihr hochrankte. Das allgegenwärtige Flüstern und Rauschen war erstorben und einer allumfassenden, namenlosen Stille gewichen die den Garten und das alte Bennington Inn in einen Mantel des Schweigens hüllte. Im Winter schien hier alles zu schlafen, selbst die Bäume und Sträucher ruhten in Stille und auch die sonst so frechen Raben hielten sich bedeckt wie Räuber die in der Angst schwebten, erwischt zu werden. Linien aus Abdrücken von Harpers Schuhen durchzogen den Garten wie feine Adern und dokumentierten jeden Schritt den er tat, genauso wie damals, als er zum ersten Mal in die alte Villa getreten war und seine Schritte Spuren in den Staub zogen. Seither was er nicht noch einmal in das Haus gegangen, irgendwas sprach dagegen, doch er konnte nicht genau sagen was.
Der Schlüssel ruhte seither auf seiner Brust, er hatte ein schwarzes Band daran befestigt und trug ihn daran um den Hals, er hing tief, damit Harper ihn unter seinem Shirt verstecken konnte und ihn so niemand sah. Dies war sozusagen sein kleines Geheimnis, sein geheimer Talisman. Ich will nicht behaupten, dass der junge Harper abergläubisch war, nein, ganz und gar nicht, doch der kleine Silberschlüssel der nichts in der Welt aufschloss schien ihn vor Unheil zu bewahren und ihm in irgendeiner Weiße Glück zu bringen. So abstrus es auch klingen mag, der junge Josh Harper fühle sich dem Schlüssel verbunden, als wäre er ein fixer Teil von ihm geworden, überdies schien sein Es mit dem Schlüssel verbunden zu sein .Denn immer noch wurde er von jenem undefinierbaren Es begleitet und Es streifte auch am besagten Tag mit ihm durch die Stadt, auf der Suche nach Robert. Er war nichts nach Hause gekommen, was zutiefst untypisch für ihn war, außerdem gab es wieder ein Mal sein Lieblingsessen, das er hierzu nicht erschienen war, ließ den jungen Harper stutzig werden. Noch hatte er keinen triftigen Grund besorgt zu sein, immerhin sind Teenager nicht immer pünktlich, sowas kann passieren… Doch allen Wiedersprüchen zum Trotz machte Harper sich Sorgen, denn er spürte, dass etwas nicht in Ordnung war. Er kannte Robert viel zu gut um zu glauben, dass er mir nichts, dir nichts, einfach dem Essen fernblieb, zumal er schon immer recht verfressen gewesen war, besonders wenn es sich um Schnitzel mit Pommes handelte setzte sein primitiver Fresstrieb in exorbitanten Formen ein. Wahrlich, Robert fraß wie ein Schwein, er konnte Tonnen von den verschiedensten Dingen essen vor denen es Harper schon beim bloßen Hinsehen graute, geschweige denn der Anblick, seinen Bruder beim Essen zu beobachten! Stets nahm er mindestens doppelte, wenn nicht dreifache Portionen inklusive Nachschlag, widerlich, Harper fragte sich insgeheim, ob sein Bruder statt einem Menschlichen Magen, die vier Mägen einer Kuh besaß…. Dies war zwar anatomisch unmöglich, doch seine, verzeihen sie diesen Gossenjargon, Fressweiße ließ genau dies anmuten. Von banalen Fähigkeiten wie Tischmanieren, oder dem Reflex zu kauen, war keine Spur auszumachen. Es war verwunderlich, dass der gute Robert nicht fett wurde, er hatte zwar die Statur eines Kleiderschrankes, galt aber wegen seiner Muskeln, seiner Größe und auch genau wegen dieser Schrankstatur bei den Mädchen als attraktiv. Mädchen, wider ein Kapitel des Lebens, welches Harper völlig egal war, er sah die Mädchen an seiner Schule als das, was sie waren an. Da gab es zum Beispiel die modebewussten, schlanken, hübschen Mädchen. Sie waren beliebt und fanden Freude daran, andere Mädchen herabzuwürdigen. In den Augen der Jungs waren sie attraktive, starke Mädchen, doch Harper war in der Lage sie zu durch schauen. Er wusste, dass sie sich mit Markenkleidern, ansehen erhofften, er wusste, dass sie sich jeden Abend ihr kleines, Make-up verklebtes Köpfchen darüber zerbrachen, was sie am nächsten Morgen anziehen sollten, wie sie ihre Haare, von denen keine der Mädchen sie mehr in ihrer Naturhaarfarbe trug, richten sollten und wie sie andere, die sich nicht mit den selben Gedanken quälten und einfach sie selbst waren, herunterputzen konnten. Nach außen hin, mochten sie zum scheinperfekten Ort passen, in dem sie lebten, doch der junge Harper hatte schon früh durchschaut wie es in ihrem Inneren aussah. Statuieren wir ein Exempel an drei dieser Damen, die im selben Ort wohnten wie der junge Harper. Eine von ihnen war Willie Gillespies große Schwester, Veronica. Sie war der, nicht ganz natürlich blonde, Kopf der mit Abstand „coolsten“ Mädchenclique der Schule. Veronica war, wie sie alle in diesem Ort, perfekt, sie hatte lange natürlich künstliche blonde Haare, von denen niemand wusste, ob sie nun gelockt oder glatt waren, denn Veronica bearbeitete sie jeden Morgen mindestens eine Stunde mit dem Lockenstab oder dem Glätteisen bevor sie sich ins Badezimmer begab, um sich ihre mit Selbstbräuner zugekleisterte Haut mit einer Tonne extra dunklem Make-up einzustreichen. Wenn dies erledigt war, klatschte sie sich bis unter die Augenbrauen mit blauem, pinken, gelben, oder gar grünen Liedschatten voll. Noch etwas bordstenschwabenroten, rosaroten oder farblosen lippenverklebenden Gloss dazu, die Wimpern zwischen einer Zange quetschen damit sie gleich aussahen wie zuvor, besagte Wimpern tuschen bis sie fingerdick waren und Klümpchen trugen, voilá! Nach nur zwei Stunden war sie zum anziehen fertig. Darauf stand sie noch eine Weile vor ihrem doppeltürigen xxl-Kleiderschrank der bis obenhin mit dem neuesten, teuersten Kram gefüllt war, und warf ihrer Mutter vor, sie hätte nichts zum anziehen. Ihre Mutter war eine der glücklichen Frauen, die sich einen reichen alten Knacker geholt hatten, der sie und ihre verdammenswerte Brut versorgte, abscheulich, nicht wahr? Sie trug, wie alle anderen auch, das, was die Zeitschriften die sie einmal in der Woche kaufte, für „in“ erklärten. Wenn sie dann endlich etwas zum Anziehen gefunden hatte, was man meistens in der aktuellen Ausgabe der WasweißichisdochehallesMüll zu sehen war, stolzierte sie in die Schule um sich dort mit einer ihrer zwei besten Freundinnen, Sally Polt, zu treffen und sich über ihre gemeinsame beste Freundin Carolyn Allister das Maul zu zerreißen solange sie nicht vor Ort war. Bei Carolyn und Sally sah es ähnlich aus wie bei ihrer Busenfreundin Veronica, ihre Mütter waren ebenfalls mit reichen Männern verheiratet und arbeiteten nicht. Harold Gillespie, Timothy genannt Tim Polt und Samson-Sam Allister waren Geschäftsfreunde und waren allesamt Manager und Teileigentümer einer großen Firma in der Innenstadt. Ihre Frauen, Rosie Gillespie, Nathalie – Ly Allister und Susannah – Suzie Polt waren, wie auch ihre verkommene Brut, beste Freundinnen. Auch sie zerrissen sich über die jeweils abwesende das Maul, doch wenn sie dann da war, war alles scheinbar perfekt. Sie alle lebten im selben Ort wie Harper und Robert, wie gesagt wusste Harper so einiges über sie. Sie überschminkten die Makel sie an sich hässlich fanden und jeden Abend wenn sie mit erbrechen fertig waren im Spiegel beweinten, schufen sich mit Arroganz und Ignoranz gepaart mit Markenkleidung und dem Geld ihrer Daddys einen Unantastbaren Mantel der ihre Unsicherheit nach außen hin überdeckte. Sie alle hatten Dinge an ihren Perfekten Körpern, die sie verunsicherten. So wünschte Carolyn sich, ihre ebenen Weiten in ein Silicon Valley, wie Claire Hagott es mit sich herumschleppte, verwandeln zu lassen, damit sie sich morgens nicht immer Silikonpölsterchen in ihren Büstenhalter stopfen musste. Sally Polt hingegen kämpfte mit Tonnen von Pillen gegen ihre Monsterakne die nur das teuerste Make -up verdecken konnte und schluckte Hormontabletten, um ihre maskuline Stimme unter Kontrolle zu bringen. Auch Veronica hatte zu kämpfen, sie zog täglich einen Trainingsplan mit einem Hochbezahlten Trainer durch um gegen die Fettpolster vorzugehen die Chirurg sonst immer entfernte, da Daddy keine Mrs. Piggy als Töchterchen will. Sie verhielten sich, als gehöre ihnen die Welt, doch in Wahrheit hatten auch sie ihre Macken und sie überspielten dies indem sie andere erniedrigten. Dieses Wissen sollte Harper bald nützen, doch zuerst musste er Robert auftreiben. Er sollte ihn schon bald finden, doch was er sah, übertraf alles, was er sich hätte vorstellen können. Ihm bot sich ein gar grauenhafter, entsetzlicher Anblick: Robert stand am großen Brunnen in der Mitte des Hauptplatzes , ihm gegenüber stand Veronica Gillespie in einem kurzen Rock und viel zu hohen Schuhen. War denn das zu fassen, er traf sich mit dieser...dieser Nachwuchsbordsteinschwalbe! Harper blieb die Luft weg, ihm war Speiübel und auch sein Es schien vor ekel zu wabern. Wie er sie angaffte, sein Blick war (kaum zu glauben, dies war tatsächlich möglich!) noch um einiges debiler als sonst! Veronica hingegen hatte ihr 08/15 freundlichkeitfürjedermann-Gesicht aufgesetzt und bedachte Robert mit prüfenden Blicken. Womöglich kleidete sie ihn in Gedanken gerade nach dem neuesten, beliebtesten Teeniestar ein, wünschte sich, er hätte eine dieser Surferboy-Frisuren anstatt seines Military-cuts und unterzog ihm einer optischen Generalüberholung. Harper sah auf den ersten Blick, dass sie ihn wegwerfen würde wie ein gebrauchtes Taschentuch sobald sie ihn nichtmehr brauchte. Fieberhaft, überlegte er, was der Grund ihres Interesses sein könnte… Natürlich! Warum hatte er nicht schon vorher daran gedacht. Veronica war zuvor mit einem Jungen aus einer der höheren Klassen gegangen, sie brauchte Robert nur, um den anderen Jungen eifersüchtig zu machen. Dieses verlogene Miststück, was für eine Farce! Sein Bruder bekam dies nicht einmal mit. Harper war unschlüssig, ob er nun Abscheu oder Mitleid für Robert empfinden sollte, denn im Grunde war er selbst schuld. Doch herrje, der junge Harper wusste sofort was dort vonstattenging! Sein Bruder hatte sich in die größte Modepuppe der Schule und des Ortes verguckt! Harper hatte immer schon gewusst, dass Robert nicht unbedingt helle war, doch DAS übertraf wahrlich jede Grenze seiner Dummheit! Selbst Harper konnte sehen, warum sie sich an Robert heran geschmissen hatte, sie benutzte ihn als Statussymbol. Jede Barbie brauchte bekanntlich ihren Ken und wer eignete sich besser dazu als ein beschränkter, leicht zu instrumentalisierender Schrankmann, der als Kapitän des Fußballteams und berüchtigter Streberschläger hohes Ansehen seitens der Kinder in der Schule genoss? Das konnte sogar Harper sehen, warum also nicht Robert? Liebe macht bekanntlich blind, anscheinend machte sie auch noch blöd. Fantastisch, Harper wünschte seinem Bruder zwar alles Glück dieser Welt und auch Liebe, doch DAS würde er selbst seinem schlimmsten Feind nicht wünschen! Sie trafen sich heimlich, warum denn bloß? Robert mochte vielleicht glauben, dies sei romantisch, doch in Wahrheit schämte sich Veronica für ihn, sie liebte ihn schließlich nicht, er war nur ein weiteres Accessoire in ihrer Sammlung. Harper schauderte, er mochte sich nicht vorstellen was wohl passieren würde, wenn er nicht einschritt. Dass er einschreiten musste, darin bestand für ihn kein Zweifel, immerhin ging es um das Wohl seines Bruders und wenn er nicht früh genug von diesem Miststück wegkam, würde sie ihm unweigerlich wehtun. Angewidert machte er sich auf den Heimweg, doch als er an der, nun von Schnee bedeckten und somit unsichtbaren Gabelung ankam die zu seinem Refugium führte, entschloss er sich, in sein Reich zurückzukehren um dort in Ruhe nachzudenken. Wie besessen stürmte er durch die gewaltigen Schneemassen, wohl das einzige Mal ohne die atemberaubende Schönheit der Landschaft zu bewundern, dazu war er zu beschäftigt. Anscheinend traf er sich schon länger mit Veronica, mehrere Wochen vielleicht, Harper wusste es nicht. Er machte sich Sorgen um seinen Bruder, wenn er sich mehr mit Veronica beschäftigte, dann würde seine Noten weiter fallen, Robert würde wieder sitzen bleiben, er würde seinen Abschluss in den Sand setzten und Aida würde für ihn sorgen müssen bis er vierzig war und sie an einem Herzinfarkt starb! Nun gut…dies war tatsächlich etwas übertrieben, aber durchaus möglich. In Anbetracht der jetzigen Lage, musste Harper dringend mit seinem Bruder sprechen, er musste ihn behutsam aufklären, was es mir Veronica auf sich hatte, möglichst ohne ihn zu verletzten und möglichst bald, bevor sie ihn verletzte. So tigerte er unter dem Iglu aus Eis und den Blättern der Trauerweide auf und ab wie ein Tier im Käfig und grübelte. Sein Es schien ebenfalls in hellem Aufruhr zu sein, er spürte dass Es sich anders verhielt als sonst. Lieber Leser, ich weiß, dass dies sich zutiefst amüsant und abwegig anhört, doch man kann nicht immer alles logisch und zur Gänze erklären. Viele Stunden verbrachte der junge Harper unter seinem Baumiglu ohne zu merken, was draußen vonstattenging. Die Temperaturen waren eisiger geworden, viel kälter als es Ende Februar üblich war und es hatte wieder zu schneien begonnen. Der Winter bäumte sich noch ein letztes Mal mit all seiner Kraft gegen das Aufkeimen des Frühlings auf und entlud seine Wut in einem tosenden Schneesturm. Harper spürte wie es um ihn herum merklich kälter wurde, sein Schlüssel schien plötzlich aus Eis zu sein und seine Kälte brannte auf seiner Brust. Sein Es war anders als sonst, es schien aufgeregt, vielleicht auch Ängstlich zu sein, jedenfalls war es schier außer Rand und Band. Harper fühlte sich plötzlich, als wolle Es ihn zerreißen oder fortzerren. Dann offenbarte ihm sich der Grund für den Aufruhr. Er trat nach draußen und befand sich mit einem Mal in einem weißen Meer, rund um ihn tobten dicke weiße Flocken, der Wind war scheinbar aus körperlosem Eis und toste in einem unbändigen Tanz durch die Welt. Der junge Harper sah nichts, nicht einmal die Hand vor Augen, die Abenddämmerung war längst hereingebrochen und hatte ihre tintenschwarze Decke über das Land gelegt. Der Sturm heulte und zischte bedrohlich, wie eine Schlange und der Schnee war brauste umher, nahm Harper jede Sicht und ließ sein Gesicht zu einem Eisklumpen erstarren. Klirrende Kälte kroch an seinen Füßen hoch und ergriff nach und nach Besitz von seinem ganzen Körper, ließ seine Hände taub werden und seine Beine schienen am Boden festgewachsen zu sein. Er hatte alle Mühe, nicht zu stolpern, seine Orientierung hatte er verloren als er den Zaun hinter sich gelassen und den Hügel hinab gekullert war. Harper war heilfroh, sich nichts gebrochen zu haben und irrte so weiter durch die Nacht. Blind stolperte er durch die Landschaft ohne zu wissen wohin er trat. Er folgte einzig und allein dem eigenartigen Gefühl, das sein Es ihm gab. Instinktiv folgte er diesem Gefühl bis er in der Ferne verschwommene Lichtpunkte ausmachen konnte. Seine Arme und Beine kribbelten vor Kälte als würde eine Armada von Ameisen daran hochkrabbeln und er riet mehr wohin er trat, als dass er es wusste. So stolperte er unentwegt auf die verschwommenen orangen Kleckse zu, in der Hoffnung, dass dies die Laternen des verhassten Ortes waren, in dem er lebte. Wie ein Betrunkener taumelte er durch den Schnee auf die Lichter zu und endlich konnte er im Schneegestöber auch die verschwommenen Umrisse der Häuser erkennen. Ihre dunklen Schatten hoben sich wie graue Marmorblöcke vom weißen Schnee ab und ihre Lichter rissen helle Löcher in das Schwarz der Nacht. Nach einer gefühlten Ewigkeit erreichte Harper sein Haus und stürmte zur Hintertür herein. Seine Glieder waren taub und kribbelten vor Kälte, er zitterte am ganzen Körper und seine Zähne klapperten wie Knochen im Wind. Er blieb einige Minuten mit dem Rücken an die Tür gelehnt stehen um sich zu fangen und um zu warten bis sein Herz, das scheinbar eingefroren war und langsamer geschlagen hatte als sonst üblich, aufgetaut war. Auch sein Es hatte sich mittlerweile beruhigt und Harper war einmal mehr dankbar dafür, dass es da war, gleich ob er es sich einbildete oder ob es tatsächlich existierte, es war da, in welcher Weiße auch immer und Es hatte ihn hierher geführt, sicher und unbeschadet. Er tastete nach dem Schlüssel, sein Herz rutschte ihm in die Hose, er war fort! Fort, möglicher weiße für immer verloren im eisigen Schnee! In Panik tastete er weiter, oh, welch Freude! Er war doch noch da! Harper seufzte, er war viel zu erschöpft und überreizt um noch klar denken zu können, sein Verstand gaukelte ihm allerlei Absurditäten vor und seine Augenlieder und Glieder schienen aus Blei. Im Haus war es fast vollkommen Still, nur das Ticken der Küchenuhr war unnatürlich Laut zu vernehmen. Tick, Tack, Tick, Tack… Verwundert schleppte Harper sich vorsichtig in die Küche, kein Licht brannte. Er stieß die Tür auf, der Raum lag in völliger Dunkelheit vor ihm. Nur das Licht des Mondes war einen kümmerlichen Schein durch das Küchenfenster, die Küchenzeile hob sich nur als schwarze Silhouette vom Rest des Raumes ab und zum Ticken der Uhr gesellte sich das Summen des Kühlschrankes. Harper blickte zur Uhr, halb Ein Uhr morgens. Wie lange war er fort gewesen? Er war kurz nachdem er das Mittagessen geschwänzt hatte aufgebrochen, aller Wahrscheinlichkeit nach um halb Zwei. Wahrlich, sein Refugium verschlang die Zeit wie ein unersättliches Monster. Harper wusste nie wie lange er in seinem reich verweilte, ihm kam es höchstens vor wie ein, zwei Stunden doch in Wahrheit hatte der junge Harper schon ganze Tage dort verbracht, ohne sich dessen bewusst zu sein. Er entschloss sich, zu Bett zu gehen um sich auszuruhen und seine weitere Vorgehendweiße zu überdenken. Schweren Schrittes schleppte er sich mühsam die Treppe hinauf, wie ein Geist war er durch das schlafende Haus gestreift. Er fand sein Zimmer verlassen vor, doch irgendetwas stimmte nicht, etwas war anders, jemand war hier gewesen, das konnte Harper ganz deutlich fühlen. Misstrauisch, doch zu müde um dem nachzugehen, ließ er sich auf sein Bett sinken, welches nach dem schweren Unwetter im Sommer mit einer neuen Matratze bestückt worden war. Er sank fast augenblicklich in einen tiefen, traumlosen Schlaf. Am nächsten Morgen wandelte er schlaftrunken in die Küche hinab, um sich sein Frühstück zu holen, er hoffte auch Robert dort anzutreffen, da es Samstag war, standen seine Chancen gar nicht schlecht. Wie er erwartet hatte, fand er Robert beim Frühstück vor, er verschlang gerade das seine vermutlich dritte Portion Eier und Speck als Harper die Küche betrat. Robert war heiter und gut gelaunt, wüste seinem Bruder einen Guten Morgen und setzte dann unbeirrt seine Nahrungsaufnahme fort. Harper musterte ihn gründlich, augenscheinlich hatte er sich nicht sagbar verändert, auch seine Einstellung hatte noch nicht gelitten. Gut, das war wenigstens etwas. Aida werkelte während dessen weiter in der Küche herum, ihr war gar nicht aufgefallen, dass ihr zweiter Sohn anwesend war. Harper war dies allerdings herzlich egal, er grämte sich schon ewig nicht mehr über die Gleichgültigkeit mit der seine Mutter ihm begegnete, Harper hatte schon von Kindesbeinen an gelernt, auf sich allein gestellt zu sein, die Achtlosigkeit seiner Mutter war für ihn reine Gewohnheit, nichts besonderes. Der junge Harper hatte schon früh aufgehört um die Aufmerksamkeit seiner Mutter zu buhlen, schon mit sechs Jahren war er der Ansicht, sie sei zu nichts nützte. Auch heute hatte sich seine Einstellung gegenüber Aida nicht redlich verändert, er begegnete ihr mit frostiger Kälte und Gleichgültigkeit, sprach nur dann mit ihr wenn es unausweichlich war und lebte sonst an ihr vorbei. Dies mag sich in Ihren Ohren vielleicht fragwürdig und grausam anhören, für den jungen Harper war es jedoch Alltag. Er trat an den Küchentresen, sammelte Brot, Marmelade und ein Glas Wasser ein und begab sich wortlos zum Tisch zurück. Er schmierte sich etwas Marmelade auf seine dünne Brotscheibe und würgte sie hinunter, eigentlich hatte er keinen Appetit, doch er brauchte Energie für den bevorstehenden Tag, und er musste Zeit schinden, egal wie. Er aß ohnehin nur sporadisch, Hunger war für ihn ein Gefühl wie jedes andere auch, dementsprechend lerne er schon früh, auch dieses hinderliche etwas unter Kontrolle zu bringen. Nun musste er hier sitzen und warten, bis Robert seine Fressorgie beendet hatte und sich in sein Zimmer begab, Harper wollte einen geeigneten Zeitpunkt abpassen um mit ihm zu sprechen. Erneut begann er ihn zu mustern wie er nun von Eiern und Speck zu seinem schon zweiten Toast mit Marmelade und einer dicken Schicht Butter übergegangen. Harper konnte sich jedes Mal aufs Neue dumm und dämlich wundern wohin sein Bruder all das Zeug aß. Unglaublich, er setzte kaum Fett, sondern nur Muskelmasse an, das lag wahrscheinlich an seiner überdurchschnittlichen Sportlichen Aktivität, neulich hatte er sich Hanteln gekauft mit denen er täglich trainierte. Absurd, Harper verstand die Begeisterung die Robert dem Sport entgegenbrachte mitnichten. Er sah darin nicht geringste Relevanz, was machte es denn schon, ob man nun Muskeln hatte oder nicht? Das hatte schließlich keinerlei Einfluss auf den Charakter eines Menschen! Einmal mehr fühlte er sich in dieser Welt mehr als schlicht und ergreifend fehl am Platz. Diese Narren verschwendeten ihre Zeit mit ihrem Aussehen, auf das man heutzutage ohnehin nichts mehr geben konnte, da man mittels Pharmazie und Chirurgie die Zeit überlistete, doch anscheinend war keinem von ihnen klar, dass sie die Zeit zwar überlisten, jedoch nicht ausschalten konnten. So grübelte er vor sich hin bis Robert endlich Anstalten machte, sich zu erheben. Harper erhob sich ebenfalls, stellte sein Geschirr in die Spülmaschine und folgte seinem Bruder nach oben. Er wartete noch einige Augenblicke bis dieser in seinem Zimmer verschwunden war und rang sich schließlich dazu durch, an die Tür zu klopfen. „Ja?“ Harper seufzte, holte tief Luft und trat ein. „He Josh! Was gibt’s?“ Harpers Kopf war wie leergefegt, er wusste mit einem Mal nicht mehr, was er sagen sollte. „Robert, ich weiß, dass du dich mit Veronica Gillespie triffst…“ „Ja, ist das nicht der hellste Wahnsinn?! Toll, was?“ Kaum zu fassen, er war auch noch stolz! Resigniert seufzte Harper, das konnte was werden… „Nein Robert, das ist nicht toll!“ „Warum nicht, bist du eifersüchtig?“ Er grinste anzüglich, den jungen Harper packte der nackte Ekel. „Ich bitte dich Robert, dieses Mädchen ist widerwärtig, sie ist nicht mehr als eine hohle, hinterhältige verlogene Modepuppe! Überdies benutzt sie dich nur, sie liebt dich nicht!“ Das hatte gesessen, Robert war wütend und sprang wie von der Tarantel gestochen aus seinem Bett. Er baute sich vor dem jungen Harper auf und ihm wurde schlagartig klar, warum die anderen Angst vor seinem Bruder hatten. „Pass bloß auf was du da sagst, ja? Nur weil du mein Bruder bist, kannst du nicht schlecht über Veronica reden! Wie kommst du dazu, solchen Mist zu behaupten?! Woher weißt du überhaupt von uns, sie will es doch geheim halten!“ Harper verdrehte die Augen, Liebe machte wirklich Blind, selbst wenn sie nur einseitig war. „Robert, hast du dich denn je geragt warum es geheim halten will und nur mit dir zusammen ist, wenn die Jungs aus der höheren Klasse da sind?“ „Das ist ihre Vorstellung von Romantik, sie liebt mich basta!“ „Romantik, dass ich nicht lache! Komm schon Robert, so dumm kannst selbst d nicht sein! Merkst du denn nicht, dass sie nur diesen größenwahnsinnigen Jungen eifersüchtig machen will?“ „Das ist überhaupt nicht wahr! Du willst nur nicht, dass ich glücklich bin! Du…du bist eifersüchtig, das ist alles!“ Harper platzte langsam der Kragen, das konnte nicht sein Ernst sein! Er blockte komplett ab, wie ein kleines Kind, dabei wollte er ihm doch bloß helfen! Doch Robert weigerte sich weiterhin das einzusehen. Harper musste seine Taktik ändern. „Sieh mal Robert, sie wird dir wehtun, willst du das? Ich denke nicht, oder? Sie wird dich behalten solange sie dich braucht, dann wird sie dich fallen lassen als wärst du ein heißer Stein!“ Er sah ihn durchdringend an. Roberts Gesicht hatte einen verzerrten Ausdruck angenommen, er war stocksauer, doch Harper glaubte auch, die zarte Spur aufkeimender Zweifel zu erkennen. „ Du hast sie nicht mehr alle! Sie würde so etwas niemals tun! NIEMALS hast du gehört!? NIE!“ „Robert, bitte….“ „Raus, VERSCHWINDE!“ Robert war außer sich, sein Gesicht glühte und war kurz davor zu explodieren. Auch Harper hatte die Wut gepackt, wie konnte Robert nur so furchtbar ignorant sein?! Seine Stimme wurde bedrohlich leise. „Glaub mir Robert, ich weiß wovon ich spreche. Sie wird dir wehtun, bald schon. Wenn es soweit ist, sag nicht ich hätte dich nicht gewarnt, ich meine es nur gut.“ „Hau ab“ Sofort!“ Robert brüllte, in diesem Moment erinnerte er Harper mehr denn je an seinen verachtenswerten Vater. Er stürmte aus dem Zimmer, Robert donnerte die Tür hinter ihm zu und Harper tat es ihm in seinem Zimmer gleich. Wütend und enttäuscht warf er sich auf sein Bett, verschränkte die Arme hinter seinem Kopf und dachte nach. Schon nach kurzer Zeit kam er zu dem Schluss, dass jeder erneute Versuch Robert dazwischenzureden vollkommen wiedersinnig war, er musste anscheinend die schmerzhafte Wahrheit selbst herausfinden. So tröstete Harper sich mit dem Gedanken, dass sein Bruder aus Erfahrung lernen würde und genoss das Gefühl, recht zu haben. Er musste nur noch abwarten, bis sich seine Ahnung bestätigte, bis dahin konnte er nichts tun. Also schloss er seine Augen und vertiefte sich in einen Monolog mit seinem Überich.
Der Frühling brach herein, der Schneesturm in den der junge Harper geraten war, war tatsächlich das letzte Aufbäumen des Winters gewesen, seither gewann die Sonne täglich an Kraft und schmolz den Schnee hinweg. Das Gras begann zu spießen und die Welt erwachte aus dem Schlaf in den der Winter sie gewiegt hatte, die Stille wich und die Luft war erfüllt vom grässlichen Gezwitscher widerlicher Vögel, deren Hinterlassenschaften die Autos der Leute bedeckten. Harper verstand nicht, was die Leute an dieses Kreaturen fanden, er empfand sie lediglich als nervtötend. Er mochte den Frühling nicht, es war zu warm, zu bunt und überhaupt, alle verhielten sich durchweg seltsam. An allen Ecken und Enden blühten Blumen, Aida verbrachte Stunden im Garten um dieselben Blumen zu pflanzen wie alle anderen auch. Bei der letzten Sitzung des Nachbarschaftsrates hatte man sich auf eine abstoßende Kombination aus gelben und rosafarbenen Tulpen gemixt mit irgendwelchen blauen Blumen, die kleine Kügelchen als Blüten trugen, geeinigt. Jeder Garten wurde nach demselben schnöden Muster bepflanzt, die Monotonie kannte keine Grenzen, die Zäune wurden weiß gestrichen, die Hecken akkurat auf hüfthöhe getrimmt und die identischen Gartenmöbel wurden aus den ebenfalls identischen Garagen geholt. Harper machte diese Umgebung krank, er verachtete die Leute, ihre Art, ihre Gewohnheiten und den ganzen Ort. Mit jedem Tag wuchs die Antipathie etwas mehr und in ihm reifte das Bedürfnis, ihre heile Scheinwelt in Schutt und Asche zu legen. So verstrichen die Tage und es wurde Mai, als Robert völlig aufgelöst in Harpers Zimmer gestürmt kam. Er hatte letzten Endes doch recht behalten, es hatte länger gedauert als er erwartete hatte, doch es war eingetreten wie er es vorhergesehen hatte. Es war einer der letzten Maitage und Robert platzte mit erschütternder Mine in Harpers kleines Dachgemach. Er sah wahrlich erbärmlich aus, den Tränen nahe kam er mit hängenden Schultern herein wie ein geprügelter Hund und klagte Harper sein Leid. „Oh Josh, du hattest Recht! Du glaubst nicht was passiert ist, echt es ist Furchtbahr!“ Ein Hauch von wissender Zufriedenheit machte sich Harper breit und seine Freude über das Leid seines Bruders erschütterte ihn fast selbst. Aber eben nur fast. Er musterte Robert von oben bis unten, überraschender Weiße hatte ihn dieses allzu vorhersehbare Ereignis tatsächlich sehr getroffen. Harper seufzte, setzte die mitleidigste Miene auf die er sich abringen konnte und kramte seine sanfteste Stimme hervor. „Ach Robert, das ist wahrlich eine Schande! Wie ist es nur dazu gekommen?“ „Ich weiß nicht…ich hab sie doch geliebt Josh, aber sie hat Schluss gemacht, sie war so komisch in letzter Zeit und ich glaub‘ sie hat mich nicht so geliebt wie ich sie…“ „Wie schade, was hat sich nur zugetragen, dass sie jemanden wie dich aufgibt?“ Er musste sowohl Brechreiz als auch höhnisches Kichern unterdrücken, was leichter gesagt als getan war. „Ich hab sie doch geliebt, verstehst du! Echt, im Ernst!“ Armer Robert, er hatte wirklich sehr viel für dieses jämmerliche Miststück empfunden, wie er das fertiggebracht hatte, war Harper zwar völlig schleierhaft, doch an Tatsachen war nicht zu rütteln, und Roberts Naivität und seine Dummheit waren zwei von dieses Tatsachen. Herrje, er war wirklich bestürzt, er gab einen erbärmlichen Anblick ab, der selbst Harper etwas ehrliches Mitleid entlockte. „Warum denkst du denn, hat sie dich verlassen Robert, hm?“ „Sie hat einen anderen! Sie ist wieder zu diesem…diesem Jungen aus der Höheren zurückgegangen! Sie hat mich benutzt Josh, einfach nur benutzt! Wie kann sie nur, dabei hab ich sie echt gemocht!“ Nun war er den Tränen endgültig erlegen. Herrje, schlimm genug, dass er auf sie hereingefallen war und nicht auf ihn gehört hatte, nein, jetzt heulte er auch noch wie ein Baby. Ein bisschen Würde bitte, war denn das zu viel verlangt?! Harper schüttelte den Kopf, nun keimte auch leider Zorn in ihm auf, dass dieses Weibsstück seinen Bruder so erniedrigte… „Das Schlimmste daran ist ja noch Josh, ich hab dir nicht geglaubt und war fies zu dir! Bitte verzeih mir! Es …es tut mir leid, so furchtbar schrecklich leid!“ Das schlug dem Fass den Boden aus. „Ist schon gut Robert, gräm dich nicht, wir sind Brüder… ich vergebe dir..“ Robert sprang auf und schlang Harper die Arme um den Hals, nun war es endgültig um seine Fassung geschehen, Schluss mit Contenance, und Haltung. Dies war eindeutig zu viel, sein Bruder lag heulend in seinen Armen und zu allem Überfluss hatte Haper auch noch Mitleid mit ihm. Genug war genug, Harper schauderte und schob Robert sanft von sich. „Danke Josh, es war dumm von mir, nicht auf dich zu hören… Sie hat mit wehgetan weißt du.“ Teufel noch eins, hatte diese Farce kein Ende? „Es ist okay Robert, wirklich…“ „Gar nichts ist okay, sie hat mich dazu gebracht, dir nicht zu glauben, das ist unverzeihlich!“ Humbug, ich sagte doch, dass alles gut ist, ich vergebe dir, aus basta.“ „Danke Josh...“ „Was gedenkst du nun zu tun?“ „Wie meinst du das?“ Harper war fassungslos. „Wie ich das meine? Herrje Robert, sie hat dich bloßgestellt, das wirst du doch nicht dulden!“ „Ja was soll ich denn machen? Sie is’n Mädchen, ich kann ihr ja nicht wehtun.“ „Ach, nur weil sie ein Mädchen is? Sie ist ein Mädchen und hat dir wehgetan, ohne Rücksicht auf Verluste. Denkst du, sie hat einen klitzekleinen Gedanken daran verschwendet wie es dir ergeht? Mitnichten, mein Freund, mitnichten!“ Harper genoss es, seinen Bruder gegen Veronica aufzubringen zumal er dieses Miststück nie hatte leiden können. „Du hast Recht…sie muss büßen, aber was kann ich denn schon tun?“ „Nun, mein lieber Robert, dazu würde mir an deiner Stelle so einiges einfallen…“ Er hatte Roberts Neugierde geweckt, er war einfach zu leicht für etwas zu begeistern. Erst nach und nach wurde Harper klar, dass er wieder die zentrale Rolle in Roberts Leben spielte, seine Abhängigkeit wuchs mit jedem Tag mehr und nahm schier beängstigende Ausmaße an. Robert wurde mehr und mehr zu einer Marionette Josh Harpers und der junge Harper entschloss sich dazu, auszutesten, wie weit Roberts blinder Gehorsam ging. Er hatte nun auch endlich einen Grund, er war ihm praktisch auf dem Silbertablett serviert worden! Wie töricht wäre es doch gewesen, wenn er diese fantastische Gelegenheit nicht beim Schopf gepackt hätte! Verstoßene Liebe war eine trockene, Angelegenheit, sie brannte wie Zunder, ihm fehlte nur noch ein Funke der das lodernde Feuer entfachen konnte. „Wie soll ich denn das anstellen? Wie kann ich ihr wehtun?“ Tatsächlich, Robert sprang darauf an. „Nun, sie hat dir das genommen, was dir zeitweilen am liebsten war… Was wäre also das Logischste? Ganz einfach, nimm ihr das, was ihr am meisten am Herzen liegt.“ Er bedachte Robert mit einem tiefschwarzen, kalten Blick mit dem er bis in die Tiefen seiner Seele zu blicken schien. „Sage mir Robert, was ist es, das ihr am meisten am Herzen liegt?“ „Ich weiß es nicht genau… ihre Kleider? Ihr Schminkkram? Nein… sie hat noch einen Hund, so einen kleinen Zwergspitz, sie hat ihn immerzu in ihrer Handtasche herumgetragen und sie hat ihn nie aus den Augen gelassen. Ein dämliches Vieh sag ich dir! Sie hat ihm immer mehr Aufmerksamkeit geschenkt als mir, diesem elendigen Köter. Andauernd hat sie ihn herumgeschleppt wie eine Puppe, dieses dumme Vieh!“ Harper wurde hellhörig, natürlich, auch er kannte diese abscheuliche Kreatur. Nun hatte er einen Ansatzpunkt, er war wahrhaftig extrem, doch das würde es ihm ermöglichen, den Grad von Roberts Abhängigkeit einzuordnen. Zugegeben, es war… hart, aber nur so konnte er sich ausrechnen wie es um seinen Bruder stand. Wie sehr war Robert ihm hörig? Wie weit würde er gehen? Würde er tun was Harper sagte? All diese Fragen brannten ihm in der Seele an die er nicht glaubte. „Was würdest du tun Robert?“ „Alles was du mir sagst, du bist das Genie von uns Josh…was soll ich tun? Was soll ich mit dem Hund anstellen, ihn kidnappen?“ „Nein…das wäre zu einfach.“ „Was denn dann, na los sag schon, ich tue alles! Was soll ich mit dem Köter anstellen?! “ Ein letztes Mal sah Harper seinen Bruder durchdringen ans, musterte ihn scheinbar ewig. „Töte ihn.“ Roberts Gesichtszüge engleisten für einen kurzen Moment, Harper musterte ihn immer noch eindringlich, er erkannte, wie leise Zweifel sich in seine Augen schlichen, er schien zu überlegen, sein Gesicht war ausdruckslos, dann nahmen seine Augen einen durch und durch entschlossenen Blick an. Er schaute Harper in tief in die Augen, Harper starrte zurück. Dies spielte sich binnen weniger Sekunden ab, dann war es soweit. „Gut ich töte ihn“ Robert hatte eingewilligt, ohne zu zögern. Das Ausmaß seines Einflusses hatte Harper bis zu diesem Zeitpunkt nie überdacht doch nun wurde es ihm klar, Robert war Harpers Marionette geworden, es war um ihn geschehen. Wie aus der Ferne drang Roberts Stimme an Harper Ohr. „Wann soll ich es tun?“ „Wann immer du willst“ wisperte Harper lächelnd. „Ach und Robert?“ „Was?“ „Sieh zu, dass sie ihn dann findet.“ „Wird ich machen!“ Zufrieden erhob sich Harper und verschwand.
Es war kaum zu fassen, Robert tat, was immer er ihm sagte! Sein Überich feixte, wieder ein Mal hatte es Recht behalten. Die Idee mit dem Hund war zwar brutal, er mochte Tiere für gewöhnlich gerne, bis auf wenige Ausnahmen, doch dies war nun nicht von Belang. Noch immer war er fassungslos wie einfach es gewesen war, er hatte ihm einen Vorschlag unterbreitet, einen Befehl erteilt und Robert würde ihm Folge leisten, zumindest behauptete er das. Der Ausdruck blanker Entschlossenheit, der reine Gehorsam den er ihm entgegenbrachte war überwältigend. Nun galt es nur noch, abzuwarten und zu sehen, ob er es tatsächlich auch in Angriff nehmen würde, Harper zerriss es fast vor Spannung, doch er war geduldig, sehr geduldig. Jeden Tag hielt er fortan Ausschau nach Anzeichen, die ihm Aufschluss über Roberts vorhaben gaben, doch momentan befand sich dieser noch in einer Phase der Vorbereitung. Egal, bald würde sich zeigen ob Harpers kleines...Experiment glücken würde. Bald.
Robert war völlig fertig, Veronica, seine erste große Liebe hatte ihn verlassen, einfach so! Josh hatte Recht gehabt als er ihn einige Zeit zuvor aufgesucht und gewarnt hatte, doch er wollte schließlich nicht hören, das hatte er nun davon. Er war selbst schuld, hätte er auf Josh gehört, hätte sie ihm nicht wehgetan. Doch er hatte die Warnung seines Bruders ignoriert und was auch noch gemein zu ihm gewesen, weswegen ihn nun ein exorbitant schlechtes Gewissen geplagt hatte. Dennoch war Josh auf seiner Seite, er hatte ihm Mut zugesprochen, ihm sein Ohr geliehen und ihn getröstet. Er war ihm so unendlich dankbar, wie hatte er Josh nur jemals anschreien können! Robert fühlte sich abscheulich, widerwärtig und verdammenswert, einfach nur mies. Sein geliebter Bruder hatte es aber geschafft, ihm neuen Mut zu geben, ja er hatte ihm klargemacht, dass er etwas gegen diese dumme Kuh Veronica unternehmen musste! Sie hatte ihm wehgetan, oh ja und das konnte er nicht auf sich sitzen lassen! Niemals, nein. Josh hatte wie immer Recht, er musste ihr auch wehtun, was er zu tun hatte, hatte Josh ihm schon gesagt, er musste seinen Auftrag nur noch ausführen. Trotzdem, ganz wohl war ihm nicht bei der Sache, schon allein der Blick mit dem Josh ihn bedacht hatte, ließ ihn jetzt, mehrere Wochen später noch schaudern. Wie er ihn angesehen hatte, fast so, als könne er in die Tiefen seiner unsterblichen Seele blicken und dort sehen, was in Robert vorging. Er schüttelte sich, das war doch Unfug, Josh wollte ihm schließlich nichts Böses, im Gegenteil, er hatte ihm geholfen! Robert selbst wusste, dass er von allein niemals auf eine solche Idee gekommen wäre. Vermutlich wäre er im Saft seiner Trauer und Enttäuschung vor sich hin gegammelt bis er irgendwann an irgendetwas gestorben wäre, doch dank Josh hatte er nun ein Ziel. Ja, Josh wendete immer alles zum Guten, er wusste für jedes Problem eine Lösung und er war immer für Robert da. Die Bewunderung die er für seinen kleinen Bruder empfand wuchs mit jedem Tag mehr und mehr, er glaubte schon fast, irgendwann würde sie aus ihm herausplatzten weil in seinem Herzen nicht mehr genug Platz für die unendliche Zuneigung und Bewunderung für seinen kleinen, geliebten Bruder war. Die nächsten Wochen verbrachte er damit, seinem Bruder auf Schritt und Tritt zu folgen, nur einige wenige Stunden in denen Josh nicht da war und er ihn nicht finden konnte, verbrachte er damit, an seinem Plan zu schmieden. Josh hatte ihm geraten, sich einen genauen Überblick über Veronicas Leben zu verschaffen, er sollte alle ihre Schritte vorausberechnen können und er musste wissen, wann sie was mir ihrem Hund unternahm. Dieser dämliche Köter, Robert hasste ihn wie die Pest! Es würde ihm eine Freude sein, ihn den Hals umzudrehen, ihm die Kehle durchzuschneiden, was auch immer. Er würde dieses Mistvieh schon irgendwie zu Fassen bekommen, dann würde Veronica schon sehen, was sie davon hatte und die Hauptsache war, Josh würde stolz auf ihn sein, das war alles was für Robert jemals zählen würde. Ja, er würde selbst dieses Miststück Veronica erschlagen, wenn Josh es für gut befand. Es war ihm egal, er würde alles tun um seinen geliebten Bruder stolz zu machen. Völlig egal was. Die Zeit verstrich wie im Flug und der Sommer machte sich langsam bemerkbar. Robert hatte seither oft versucht, Josh um Rat zu fragen, im Bezug auf seine Aufgabe, doch Josh hatte immer nur gesagt, dass er es möglichst gründlich, ohne viele Spuren zu hinterlassen und ohne erwischt zu werden, machen sollte, wann, das hatte Josh Robert nicht gesagt, es war ihm vermutlich egal. Robert nahm sich dir Ratschläge seines Bruders zu Herzen und gab sein Bestes, Veronicas Tagesablauf zu sezieren. Während der Schulzeit war stets rege Betriebsamkeit im Hause Gillespie, jeden Tag kamen irgendwelche Leute zu Besuch, nie war der Hund unbeobachtet. Langsam beschlich Robert das Gefühl der Unfähigkeit, er hockte Stundenlang hinter der Hecke uns spähte durch ein kleines Loch. Er sah vieles, er sah, wie Veronica mit ihren verlogenen Freundinnen im Garten saß und sich die Fingernägel lackierte bis es ihnen zu luftig wurde und sie ins Haus stolzierten um dort zu besprechen, was sie denn am nächsten Morgen tragen könnten. Robert bekam sogar ihre Gespräche mit die sich ausnahmslos um Jungs, Kleidung, Tratsch, irgendwelche Popstars die er nicht kannte und Lästereien über Leute die nicht anwesend waren drehten. Hatten sie denn nichts Besseres zu tun? Das war doch Zeitverschwendung, sie sollte lieber aus dem Haus gehen und ihren dummen Köter alleine lassen! Mit jedem Tag der verstrich fühlte Robert sich immer nutzloser, er musste bald Erfolg haben, ansonsten würde er Josh enttäuschen! Das durfte nicht passieren, er würde ihn vielleicht für unwürdig befinden, ihn verabscheuen, nie mehr mit ihm sprechen! NEIN! Soweit durfte es nicht kommen! Er hatte nun so lange und hart um das Vertrauen und die Zuneigung seines Bruders gekämpft, diese kleine Hure sollte ihm nicht auch noch das wegnehmen! Er musste bald eine Gelegenheit finden, er musste! Josh würde ansonsten jeden Respekt vor ihm verlieren, er entzog sich doch schon jeden Tag für Ewigkeiten seiner Gegenwart, er verschwand einfach, puff, auf und davon, weg! Vielleicht hatte er schon genug von ihm? Ja, vielleicht glaubte er nicht daran, dass Robert es noch durchziehen würde, er hielt ihn sicherlich für Schwach, Unfähig und betrachtete seine Gegenwart als Zeitverschwendung. Derlei Gedanken keimten in ihm auf und seine innere Stimme säuselte sie ihm kontinuierlich vor, jede Minute wurde sie lauter, bis Robert es nichtmehr ertrug und versuchte, dagegen anzuschreien. „Nein, nein, nein! Er liebt mich okay, er liebt mich! Er hält mich NICHT für Zeitverschwendung! Er vertraut mir, er glaubt an mich!“ „Ach…und warum greift er dann nicht ein? Er lässt dir Zeit bis du soweit bist, sagt er… Er glaubt nicht, dass du dich traust…er denkt sicher, dass du zu feige bist und zögerst…hach…“ „NEIN! Ich schaffe das! Ich, ich…Er will mir bloß Zeit geben, dass ich es bestmöglich mache, er will dass es PERFEKT ist okay?! Ich werde es perfekt machen! Er wird stolz auf mich sein, er wird es müssen!“ Oh du naiver, kleiner Robert…“ säuselte die Stimme. Robert war außer sich, sein Schädel pochte, er kaute sich aus Angst und Verzweiflung, dass sie Recht haben könnte, die Fingernägel ab bis er Blut schmeckte, er kratzte sich wund, in der Hoffnung, das grässliche Jucken der Ungeduld und der Scham loszuwerden. Nacht für Nacht schreckte er aus seinem immer gleichen Alptraum hoch, nur um dann in verzweifelter Wut gegen sein Kopfkissen zu dreschen, manchmal stieß er einfach so lange mit dem Kopf gegen die Tür, bis er wieder von alleine einschlief. Doch was er auch tat, der Drang, seine Aufgabe endlich zu erfüllen stieg mit jedem Wort, das die Stimme in seinem Kopf säuselte. Aber die Zeit schritt unerbittlich voran und Robert hatte sich nicht eine Gelegenheit geboten, seine Aufgabe endlich zu erledigen. Josh war immer seltener zu sehen, manchmal verschwand er auf dem Schulweg, oder er verschwand nach dem Mittagessen, noch bevor Robert überhaupt seinen Nachschlag verputzt hatte. Viel zu oft fragte er sich, wo sein Bruder war und was er denn dort trieb, konnte es denn interessanter sein als er? Niemals! Vielleicht beobachtete er Robert um ihn zu überwachen, ob er auch wirklich das tat, was er ihm aufgetragen hatte, ja genau, das war es! Josh war immer da und beobachtete ihn, er konnte ihn nur nicht sehen, aber er war da, davon war Robert felsenfest überzeugt! Nachdem er zu diesem Schluss gekommen war, begann er ständig vor sich hin zu brabbeln, er besprach alles was er gerade tat, mit Josh, von dem er glaubte er sei in seiner unmittelbaren Nähe und könne ihn hören. So saß er zum Beispiel hinter Hecke der Gillespies, zusammengekauert wie eine Puppe, grinste bis über beide Ohren, starrte durch das Loch und brabbelte vor sich hin. „Sieh nur Josh, das Miststück“ Da ist sie, da ist auch der Hund! Oh Josh, bald ja bald, was wird sie sagen wenn ich ihn töte. Dann bist du stolz auf mich, nicht wahr Josh? Ja, dann bist du stolz auf deinen geliebten Bruder, ganz, ganz stolz!“ Manchmal kicherte oder lachte er auch, doch es war kein fröhliches Lachen. Es war die Art von Lachen, mit der man lacht, wenn man eigentlich keinen lustigen Grund dazu hat. Es war die Art von lachen, die nur die beängstigende Leere der Stille füllen soll die einen manchmal umgibt. So hockte Robert da, kicherte, lachte, schaukelte vor und zurück, sprach mit seinem geliebten Bruder, der nicht da war, und beobachtete Veronica Gillespie. Selbst wenn es regnete saß er dort und wartete auf einen günstigen Moment, doch er wartete wochenlang, ohne Erfolg. Seine Zweifel und Ängste wurden immer schlimmer, seine Alpträume nahmen immer grausigere Dimensionen an und sein Bruder schien Tagelang zu verschwinden. Dann brachen die Sommerferien herein und am Tag vor dem Geburtstag seines Bruders, hörte er die erlösenden Worte im Haus der Gillespies. Es war ein wolkenverhangener Tag im Juli, es sah verdächtig nach Regen aus und die dicke graue Wattewolkendecke schluckte fast das ganze Licht der Sonne, somit war es recht frisch und Robert fror als er im Gebüsch hockte und lauschte. Plötzlich schallten Stimmen aus dem Haus zu ihm herüber. „Veronica, Schätzchen, beeil‘ dich doch ein bisschen, wir kommen zu spät zum Frisör!“ „Boah Mutter! Ich komme ja schon, dann soll der doch warten, mein Nagellack ist noch nicht trocken!! Außerdem ist mein Make-up jetzt verwischt, so KANN so nicht aus dem Haus!“ Das sah ihr ähnlich, stets gereizt, unhöflich und auf ihr Aussehen fixiert, das war Veronica wie sie leibte und lebte. Robert wurde hellhörig, dies konnte seine Chance sein! „Aber Schätzchen, du weißt wie viel Daddy bezahlt hat um diesen Termin für dich zu bekommen, nun hab dich doch nicht so Prinzessin, du siehst fabelhaft aus!“ „Jetzt sei endlich still! Du gehst mir echt sowas von auf die Nerven, mir ist egal wie viel Dad für diesen Termin bezahlt hat, er soll mir lieber Nagellack kaufen, der schneller trocknet und Make-up das besser hält! SOFORT!“ „Natürlich Liebes, Daddy wird dir das kaufen, doch nun komm, wir müssen los! Ich lass nur noch schnell Coco raus, dann fahren wir!“ „Mach doch, aber sieh zu dass ich meinen Lack bekomme! Ich will in hörst du? ICH WILL! Jetzt komm endlich Mom, du trödelst wieder so herum, wegen dir komm ich noch zu spät zu meinem Termin! Echt, du bist zu nichts gut, du nervst voll!!“ Das war genau die Art von Unterhaltung, die Josh zur Weißglut bringen würde! Robert kicherte, das war seine Chance! Nur noch ein paar Minuten, dann würde er seine Aufgabe erledigen, und er würde es perfekt machen! Nur für Josh, er würde ihn dafür lieben! Sein ganzer Körper prickelte und kribbelte vor Aufregung, er konnte förmlich fühlen wie das Adrenalin durch seine Adern schoss und seine Sinne schärfte. Da! Da war der dumme kleine Köter, er stakste mit seinen kurzen Beinchen durch das nasse Gras, scheinbar ekelte er sich vor der Nässe. Er begann aufgeregt zu kläffen als Veronica und ihre Mutter endlich in ihr überteuertes Auto einstiegen und der Chauffeur Vollgas gab. Wie ein geölter Blitz raste der Sportwagen mit quietschenden Reifen davon und bretterte die schnurgerade Straße entlang Richtung Stadt. Robert war gespannt wie ein Bogen, er sammelte seine Kräfte und wollte sich erheben, doch er war wie gelähmt. Die Stimme begann erneut zu zischen. „Ha, ich wusste es! Du kneifst! Du traust dich nicht! Feigling, elender Feigling! Wie jämmerlich, jetzt hast du deine heiß ersehnte Gelegenheit und nutzt sie nicht! Warum denn bloß…pfui, pfui!“ Robert wurde wütend, ja er war stocksauer und er hatte Angst. Die Stimme hatte Recht, er traute sich nicht wirklich. Nein, sie würde nicht gewinnen, er lachte schallend, er würde es jetzt tun! Die Stimme würde verschwinden und Josh wäre stolz auf ihn! „Das glaubst du doch selbst nicht Robbie…so ein Feigling…“ Robert nahm all seine Kraft zusammen, seine Zweifel waren ertrunken in den roten Fluten gleißender Wut die seine Eingeweide zu einem Ball verformt hatte und schmerzlich von innen nach außen drückte. Mit einem Ruck rappelte er sich auf, sprang aus seinem Versteck und preschte auf den kleinen Hund zu. Das kleine Fellknäuel bellte erfreut, fälschlicher Weiße hielt es Robert für einen Spielkameraden der Mit ihm „fang das Stöckchen“ spielen wollte. „Du tust es ja doch nicht, niemals, niemals nie….pfui, pfui Feigling, pfui, pfui….“ Die Stimme höhne immer noch in seinem Kopf, lauter und lauter. Wutentbrannt schwenkte er den Ast, den er schon seit Wochen neben sich im Gebüsch gehortet hatte, er stammte von einem der Bäume aus der Allee und war daher dicker als sein Oberarm und recht robust. Er schwenkte ihn wie ein Kriegsbeil als er auf den Hund zumarschierte wie ein Soldat im Krieg. „Mach dich nicht lächerlich, du bringst es ohnehin nicht fertig, nein… zu feige sage ich zu feige!“ Noch immer höhne die Stimme, Roberts Wut stieg bis ins unermessliche, er schnaufte und ächzte wie eine Dampflokomotive. Der Hund sprang heiter um seine Beine herum, verdammt, wie sollte er ihn so nur erwischen? Voller Freude umtänzelte er Robert und wedelte mit dem Schwanz. Dummes Vieh! Wie naiv konnte man nur sein? Merkte das kleine Biest nicht, dass er ihm Böses wollte? „Willst du doch nicht, du tust nur so als ob du ihm was antun willst, du bist zu feige, darum lebt das Vieh noch. Selbst der Hund tanzt um dich herum und verhöhnt dich! Himmlisch…was würde Josh nur dazu sagen…pfui, pfui, pfui…“ Es reichte, er hatte genug. Das Vieh sollte doch endlich still halten, nur einen Augenblick! Panik keimte in ihm auf, was wenn jemand kam…? „….dann holen sie dich Robbie, dann hast du verloren, verloren hast du! Pfui, was für eine Schande!“ Genug, es war genug, er fing an zu brüllen. „SITZ, verdammte Scheiße, sitz!“ Es funktionierte, der Hund kläffte uns setzte sich vor seinen Füßen auf den nassen Boden. Er sah Robert mit seinen kleinen, von Fell fast verdeckten Knopfaugen an, in seinem Fell blitze eine pinke Schleife mit Strass in der Mitte auf. Mit schief gelegtem Kopf sah das Fellknäuel Robert an, es kläffte unentwegt mit seinem hellen, überzüchteten Stimmchen. Man würde ihn hören, schoss es Robert durch den Kopf, bald würde Mrs. Hagott nachsehen was los war. Verdammt, er musste sich beeilen. „Du bist ja langsam…sogar der Hund wartet nun schon auf dich! Du Feigling, Hasenfuß, du NICHTSNUTZ! pfui, pf..“ Robert platzte der Kragen. Er brüllte und ließ den Ast auf das Köpfchen des Hundes hernieder sausen. „Sei still, verdammte Scheiße sei endlich STILL!!“ Wütend und verzweifelt schlug er auf den Hund ein. Schon der erste Schlag war ein Volltreffer, mitten zwischen die keinen Knopfaugen. Das Bellen verwandelte sich in ein Winseln, durch die Wucht des Schlages wurde der Hund von seinen kleinen Pfötchen gerissen und nach hinten geschleudert, wie ein Stofftier flog er durch die Luft und landete auf dem Rücken. Erneut hob Robert den Ast und ließ ihn mit aller Kraft herab sausen. „Das soll ein Schlag gewesen sein? Das Vieh lebt noch! Das ich nicht lache!“ höhnte die Stimme. Sein Knüppel kollidierte wieder mit dem Köpfchen des Hundes, ein fürchterliches Knacken ertöne, der Schädelknochen barst in tausend Stücke, eine feine Wolke aus hellrotem Blut spritzte in die Lüfte. Roberts Wut war ungebrochen, wie in Trance schlug er auf das Hündchen ein und brabbelte vor sich hin. Knack, der Schädel teilte sich, das Gehirn des Hundes spritze in alle Himmelsrichtungen. „Für dich Josh, es ist alles nur für dich! Auf das, dass du stolz auf deinen Robert bist!“ Bei jedem Schlag ertönte ein schmatzendes Geräusch, weiße Knochensplitter ragten aus den Zerborstenen Überresten des Hundes, es knirschte erbärmlich als Robert wiederholt mit voller Wucht seinen Knüppel auf das Hündchen hernieder sausen ließ.“ Bist du nun stolz auf mich Josh? Hast du gesehen? War ich denn gut? Was sagst du Josh, das ist alles nur für dich, weil ich dich liebe Josh, hörst du? Sein Brustkorb zersprang unter der Wucht von Roberts Schlägen, Rippen brachen unter markerschütterndem Krachen und Knacken wie Zahnstocker, Fell wurde von Fleisch gerissen als wäre es nur ein dünner Mantel. Das dumpfe Geräusch seiner Schläge hallte durch die nachmittägliche Stille und mischte sich mit seinen wahnwitzigen Schreien, dem Knirschen, Knarren, Schmatzten, wüsten Flüchen und Gebeten an seinen Bruder zu einer grausigen Sinfonie die der Wind trug es in seinem sanften Hauch verstohlen hinfort. Noch immer hatte Robert nicht genug. Ein weiteres Mal schlug er mit aller Kraft auf die Brust des Hundes, sie hielt der Belastung nicht länger stand, zerbarst unter dem Druck und offenbarte durch ein klaffendes Loch die Eingeweide des Hundes. Der nächste von Roberts donnergleichen Schlägen ließ das Innenleben des Hündchens wie rot, bläuliche Girlanden und Luftschlangen durch die kühle, mit einem Sprühregen aus Blut erfüllte, Luft tanzen bis sie schließlich zu Boden flatterten und im nassen, von Blut rotem Gras liegen blieben. Nach gefühlten tausend Schlägen die den, nun nicht mehr als solchen identifizierbaren, Hund zur Strecke gebracht hatten, holte er ein letztes Mal aus und rammte den Ast wie einen Speer dort in die Überreste des Hündchens, wo er das Herz vermutete. Er stieß ihn tief hinein, so tief, dass er im Boden stecken blieb und aus dem Kadaver ragte wie ein Fahnenmast. Noch immer fühlte Robert sich als schwebe er in einer Art Trance, einem fürchterlichen Wachtraum, er taumelte wenige Schritte zurück und betrachtete sein Werk. Von Veronicas einstigem kleinen Liebling waren kaum noch intakte Reste vorhanden. Die Stimme in Roberts Kopf war verstummt, nun herrschte dort wieder die übliche, schwammige Leere, nur dass diese nun von einem Gefühl drückender Stille übertüncht wurde. Er seufzte, stütze die Arme auf die Knie und betrachtete den kleinen Haufen aus zermalmten Knochen, die umherliegenden Innereien und das Fellbüschel das in einer schimmernden roten Blutleche badete. Mitten aus seinem zerschlagenen Herzen ragte der Ast in den Himmel. Wieder brach Robert in dieses Gelächter aus, das er nicht lachet weil er etwas lustig fand, sondern weil er damit nur diese quälende Stille durchbohren wollte die sich wie ein schwerer Mantel aus Blei auf die Welt herabgesenkt hatte und Robert unter seiner Last zu ersticken drohte. Es war vollbracht, er hatte es getan! Er rang nach Luft und lachte, lachte sich heißer mit diesem wirren Lachen bis er fast daran erstickte. Schließlich wandte er sich ab und machte sich kichernd und glucksend auf den Heimweg. Er rannte so schnell er konnte nach Hause, er konnte es nicht erwarten Josh davon zu erzählen! Er würde so stolz auf ihn sein! Wie der Wind rauschte er die Straße entlang, der herab rieselnde Regen wusch ihm den feinen Blutfilm vom Gesicht, durchdrang seine blutbefleckte Kleidung bis sie ihm wie eine zweite Haut am Leibe klebte und kühlte seinen Körper. Die Luft roch wie frisch gewaschen, alles schien ruhig und verlassen, offensichtlich hatte ihm niemand gehört. Schneller und schneller wurden seine Schritte, er flog förmlich die lange Straße entlang bis er am Haus mit der Nummer sieben angelangt war, seinem Haus. Atemlos, mit wild pochendem Herzen und dem brennenden Verlangen, seinem Bruder zu erzählen was geschehen war, stürmte er um die Ecke und spähte aufgeregt durchs Küchenfenster. Niemand da, Mom war anscheinend Einkaufen gegangen. Wunderbar, so konnte er den Moment mit seinem Bruder allein verbringen. Mit zitternden Fingern suchte er nach dem Schlüssel der unter Fußmatte verborgen war, er hatte Schwierigkeiten ihn ins Schloss zu bekommen, seine Hände versagten vor Euphorie und Freude den Dienst. Nach einigem Hin und Her hatte er es endlich geschafft, den Schlüssel ins Schloss zu befördern und ihn umzudrehen, beschwingt drückte er die Türklinke herunter stemmte sich gegen die Tür, doch die Hintertür bewegte sich kein bisschen. Robert versuchte erneut, den Schlüssel zu drehen und bemerkte den Wiederstand, er hatte in die falsche Richtung gedreht! Er war wirklich durcheinander, erneut versuchte er es, dieses Mal mit Erfolg. Die Türklinke gab nach und Robert stürmte durch die Tür noch bevor sie richtig geöffnet war. Im Haus war es totenstill, kein Laut war zu vernehmen, alle Lichter waren gelöscht, das Haus war leer. Irritiert hechtete Robert mit donnernden Schritten die Treppe hinauf, vor der Tür die zum Zimmer seines Bruders führte blieb er stehen. Freudig rief er seinen Namen und riss die Tür beim Öffnen fast aus ihren Angeln, doch als er einen Blick in das Zimmer warf, fühlte es sich an, als wäre er gegen eine unsichtbare Wand gerannt. Der Raum war leer, das einzige was sich darin befand waren Bücher, ein Bett und das hereinfallende Dämmerlicht. Josh war nirgends zu sehen, er war fort, wie so oft. Robert starrte den leeren Raum an, das Geräusch seines Atems hallte unnatürlich laut als einziges Geräusch durch das Zimmer. Weg, nicht da, fort! Wo war Josh? Wie konnte er ihm das jetzt nur antun! War er fortgegangen weil es ihm zu lange gedauert hatte? Hatte er Josh doch enttäuscht? Oh wie furchtbar! Roberts Freude wich aufkeimenden Zweifeln und Angst die schon an eine handfeste Panik grenzte. Josh war fort, er konnte ihm nicht von seinem Werk berichten! Seine Augen hüllten sich in einen verschwommenen Schimmer, er blinzelte, die Tränen rannen über seine Backen sammelten sich an seinem groben Kinn, wo sie kurz verweilten bevor sie auf seine, sich unruhig hebende und senkende Brust tropften. Seine Knie gaben nach, er fühlte sich plötzlich unsagbar schwach und erschöpft, Robert sank zu Boden und verweilte so, den Blick zum Fenster, ins unendliche Nichts des Horizontes gerichtet und wartete verzweifelt auf seinen Bruder.
Es nieselte als Harper sich unter dem Schutz seines Refugiums herauswagte um sich auf den Heimweg zu machen, Er genoss die Gischt des sanften Regens auf seinem Gesicht, Wassertropfen sammelten sich auf den Halmen der Gräser, den Knospen der Blumen, den Blättern der Bäume und glänzten wie abertausende Kristalle im schwachen Licht der, von grauen Wattewolken verdeckten Sonne. Für einen Tag im Juli war es recht kühl, genau richtig für Harper. So friedlich die Welt auch im sanften Dämmerlicht ruhte, so war doch nicht alles wie immer, der junge Harper vermochte zwar nicht zu deuten was, doch etwas stimmte nicht. Auch sein Es war in Aufruhr, seit dem frühen Nachmittag schien es nahezu vor Aufregung zu vibrieren, noch immer war er nicht in der Lage, zu definieren ob Es wirklich da war, oder ob es nur ein Gespinst seiner überreizten Sinne war. Je mehr Zeit verstrich, so tendierte er dazu, erstere zu glauben, er wollte auch ersteres glauben, auch wenn es für ihn unerklärlich war. Harper fühlte sich besser seit dem der den Schlüssel trug, seit dem Es da war, sein Es wie er die unbestimmte, doch zweifellos vorhandene, Nähe des unterschwelligen Wesens nannte, seit dem fühlte er sich nicht mehr ganz so einsam. Selbst wenn ihn die Einsamkeit sonst nie gestört hatte, er war daran gewohnt, sie ließ einem jedem Raum zum Arbeiten, sie hinterfragte niemals seine Gedanken, sie gab ihm Zeit für seine endlosen Monologe und sie war ständig präsent, wie kein Freund es jemals sein konnte. Sie forderte auch nie etwas von ihm, genauso wenig wie sein Es, auch es forderte nichts von ihm und es wiedersprach auch nie, geschweige denn hinderte Es ihn nie am arbeiten, nein. Ohne, dass er es mitbekommen hatte, war Es immer mehr ein Teil seiner selbst geworden, er hörte auf dieses unterschwellig wahrnehmbare Es wie auf sein Überich und auch jenes kooperierte fortan damit. An besagtem Tag war Es schon längerer Zeit merkwürdig, schon als der Junge Harper unter der Weide saß fing Es an zu zerren und zu reißen, was sich wie ein grummeln und gurgeln in seinem Körper anfühlte. Harper war sich noch immer nicht sicher, ob sein Es dem Schlüssel folgte und vom Haus unabhängig war, oder ob der Schlüssel es ihm nur ermöglichte, das Haus zu verlassen, Es aber immer noch an das alte Bennington Inn gebunden war, denn je weiter er sich davon entfernte, umso mehr Kraft schien sein Es zu verlieren. Dies war der Hauptgedanke als er an diesem Julitag langsam und bedächtig zu seinem Haus zurückwanderte. Harper ließ sich alle Zeit der Welt, schlenderte gemächlich durch den Stadtpark als die Sonne bereits unterging und dachte nicht im Entferntesten daran, seine Schritte zu beschleunigen. Viel zu schön war der Anblick der Wolkendecke die im Licht der untergehenden Sonne wie eine rosarote Schicht aus Zuckerwatte über dem Horizont hing und die Sonne verbarg. Bei diesem Bild stellten sich Harpers Nackenhaare auf, er hasste Zuckerwatte wie die Pest. Zu gut erinnerte er sich, wie ihm Robert einst, als er noch sechs Jahre alt gewesen war, auf dem Maifest Zuckerwatte gegeben, oder besser gesagt, in seine Haare geklebt hatte. Widerwärtig, es hatte seine Haare zu kleinen Filzstränchen geformt und Aida wollte mit ihm zum Frisör gehen um sie abzuschneiden, doch Robert Harper Senior, diese verachtenswerte Verschwendung an Haut und Knochen, hatte im Haus seinen Rasierer ausgepackt und ihm den selben Schnitt verpasst, den sein Bruder und er getragen hatten: militärisch kurz. Man kann sich vorstellen, dass der kleine Harper dagegen protestiert hatte und sich vehement dagegen aufgelehnt hatte, doch es setzte ein paar Schläge und schon rieselten seine langen braunschwarzen Haare auf den Küchenboden wo Aida sie wortlos wegfegte. Seither hatte er nur noch dann einen Frisör aufgesucht, wenn das Familienfoto kurz bevor stand, um genau zu sein, seither war der junge Harper nur noch einmal im Jahr zum Haareschneiden gegangen und lebst dann hatte er nur wenige Millimeter, höchstens einen Zentimeter abschneiden lassen. Niemals mehr wollte er so aussehen wie Robert Senior oder Robert Junior, niemals! An diesem abscheulichen Minidrama war nur diese widerwärtige Konstellation aus watteförmigem Zucker schuld. Ihm entfuhr ein leider Fluch bei dem Gedanken an besagtes Szenario. Noch immer nieselte es, Nebel zog in dichten Schwaden über den Boden, ein dünner Wasserfilm ließ die Wiesen glänzen als wären sie aus Smaragden und Diamanten gefertigt. Der Weg, auf dem Harper entlang marschierte war übersät mit kleinen Pfützen in denen sich die Umgebung spiegelte, zahlreiche Schnecken und Regenwürmer waren aus ihren Verstecken gekrochen und ließen Harper einen wahren Slalomlauf vollführen, da er sich bemühte, auf keines der Geschöpfe zu treten. Wenn er genau darüber nachdachte, war dies schon recht amüsant und auch etwas fragwürdig, dass er Tieren niemals etwas zu Leide tun würde, Menschen jedoch zutiefst verabscheute und ihnen auf Gedeih und Verderb ein schmerzhaftes Leben und einen grausamen, schleichenden Tod wünschte. Tiere hatten ihm immerhin nichts getan, darum hatte er auch keinen Grund ihnen zu schaden. Menschen hingegen, als ignoranteste Rasse dieser Welt, hielte sich für Gottkupfer und krempelten die Erde nach ihrem Wünschen um, ohne dabei auf die Folgen oder die Auswirkungen die dieses Unterfangen auf andere hatte, zu bedenken. Des Weiteren scheuten sie nichts und niemanden, wenn es darum ging ihre Visionen zu verwirklichen war jedes Mittel recht. Sie schufen sich Ideale und wer diesen nicht entsprach, wurde gezwungen sich ihnen anzupassen oder er wurde exterminiert, letzteres vielleicht nicht sofort und nicht im extremen Sinne, doch nach und nach, schleichend und unauffällig wurden jene so lange ausgegrenzt, verfolgt, benachteiligt und einer nach dem anderen ausgelöscht. Der Mensch verstieß alles was anders war als sein Ideal, als fremd, falsch und schlecht. Wer nicht war wie sie, wurde passend gemacht oder als minderes Mitglied ausgestoßen. Man musste lernen, im Strom der Gesellschaft zu schwimmen, ansonsten würde man in den Fluten untergehen. Unser junger Harper hatte derlei Dinge schon sehr früh gelernt und nun wurden sie ihm auch immer mehr zu Nutze. Er war mit seinen 13 Jahren bereits in der Lage, Menschen zu instrumentalisieren, sie nach seiner Pfeife tanzen zu lassen und sie zu durchschauen als wären sie aus Glas. Dies alles hatte er in einem Experiment zu testen gedacht, welches vermutlich immer noch im Gange war. Er fragte sich, ob Robert getan hatte, wie er ihn geheißen hatte, doch er ging nicht viel weiter darauf ein. Viel mehr plagte ihn der Gedanke, dass er noch immer keinen richtigen, großen Plan hatte. Er musste sich schleunigst etwas einfallen lasse, sein Überich dürstete nach Arbeit, es verging fast unter der Qual der Untätigkeit, Robert war ihm nicht gut genug, nein das mit Robert war viel zu einfach gewesen, es gierte nach einer Herausforderung! Viel zu viele Gedanken wie diese spukten mit rasender Geschwindigkeit durch Harpers Kopf als er durch die Landschaft wanderte. Langsam kam er seinem Haus immer näher, bis zum Bennington Inn waren es schließlich nur wenige Minuten Fußmarsch, höchstens eine halbe Stunde, brauchte der junge Harper für besagte Strecke, doch er ließ sich stets mehr Zeit als er eigentlich brauchte, er genoss die Einsamkeit und schätzte die Zeit, die er alleine verbringen konnte sehr, nur sein Es war sein ständiger Begleiter, doch dies freute Harper mehr, als dass es ihn störte. Mit jedem Schritt den er sich der Ansammlung von gleichen Häusern die in gleichen Gärten saßen, näherte, schwand seine gute Laune und machte dem Gefühl des Überdrusses, der Beklemmung du selbstverständlich der Verachtung, Platz. Vor seinem Haus angekommen, blieb er stehen, irgendetwas Seltsames lag in der Luft und umschloss das Haus wie eine dunkle Wolke. Etwas war anders als sonst, etwas war passiert, nur was? Die Tür war nur leicht angelehnt und öffnete sich wie von Geisterhand als er den Schlüssen ins Schloss stecken wollte. Seltsam, Aida war sehr paranoid, sie schloss immer ab, drehte den Schlüssel so lange im Schloss, bis der Wiederstand es ihr unmöglich machte, dann erst zog sie ihn heraus. Es war ganz und gar nicht ihre Art, die Tür angelehnt zu lassen… Verwundert und mit einem flauen Gefühl im Bauch trat Harper auf leisen Sohlen ins Haus. Aidas Schuhe waren fort. Robert Schuhe fehlten, doch das war nichts ungewöhnliches, entweder lagen sie in seinem Zimmer, an der Vordertür oder sonst irgendwo im Haus verstreut. Auf dem Haus lastete eine unnatürliche Stille, der Hauch von schwerwiegenden Ereignissen lag in der Luft, Harper konnte ihn förmlich riechen, und eine gewaltige Spannung war zugegen, sie war fast greifbar. Unheimlich, niemand war hier, zumindest nicht im unteren Stockwerk. Harper schlich durch den Flur und achtete auf jedes noch so winzige, leise Geräusch. Nichts, kein Laut war zu hören. Mit bis zum zerreißen gespannten Nerven huschte er die Treppe zu seinem Zimmer hinauf. Schon vom letzten Absatz aus konnte er mit Schrecken sehen, dass seine Tür offen stand, ein breiter Spalt klaffte dort, wo sie sein sollte. Merkwürdig, er hatte sie geschlossen bevor er ging, mit jedem weiteren Schritt wurde ihm klarer, in welche Szenerie er gerade furchtsam hineinstolperte. Als er vor der Tür stand, und eintreten wollte, blickte er in die, unheilverheißend funkelnden, starr zur Tür gerichteten Augen seines Bruders, der am Boden kauerte wie eine lauernde Katze und sich bedrohlich flink erhob als er Harper sah. Seine funkelnden Augen waren rot, verheult und dunkel gerändert, auf seinem Shirt und seiner Hose zeichneten sich dunkle Flecken ab. Blut. Robert grinste von einem Ohr zum anderen, es war ein markerschütterndes Grinsen, das Harpers Herz in einen Eisklumpen verwandelte und seinen Körper mit Gänsehaut überzog. Seine Stimme war ungewohnt hoch und hatte einen wirren Unterton der Harper bis in die Tiefen seines Geistes erschütterte. „Oh Josh, du bist wieder da! Ich habe es getan Josh, ich habe es getan! UND: Ich habe es NUR für DICH getan!“ Ein grausiges Lachen entfuhr Roberts Kehle und er trat wenige Schritte auf Harper zu, sodass sie sich direkt in die Augen schauten, ihre Nasen stießen fast aneinander und Roberts wahnsinniges Lachen betäubte Harper, ließ seinen Körper erstarren und sein Es zog und zerrte, Es wollte fort. Harper schluckte schwer, ihm dämmerte, was sein Bruder meinte. „Ich hab ihn getötet Josh, heute Nachmittag! Bist du jetzt stolz auf mich?“ Er blickte ihn erwartungsvoll an, in seinen weit aufgerissenen Augen lag eine tiefe Unruhe. Harper sog erschrocken die Luft zwischen den Zähnen hindurch ein. „Ja…Ich bin…wahrlich stolz auf dich Robert!“ Er konnte es nicht fassen. Er war entsetzt… aber vielmehr begeistert. Robert grinste wirr, er war den Tränen wieder nahe und lachte sein irres Lachen. „Ich…ich hab ihn erschlagen Josh, ich hab es so lange getan bis er nur noch..Brei war. Überall was Blut Josh…alles flog durch die Luft, eine Sauerei!“ Harper klopfte ihm mit einer Mischung aus Freude über sein gelungenes Projekt und leider Furcht vor dem Ausmaß dessen, was er angerichtet hatte, auf die Schulter. „ Gut gemacht, ich bin stolz auf dich!“ Mehr brachte er nicht hervor. Roberts Augen wurden tellergroß, die Tränen strömten ungehindert hervor und er achte noch irrer, lauter und schriller als zuvor. So stand er da, die Hand auf die Stelle gelegt, wo Harper ihn berührt hatte, wankte, lachte sein irres Lachen, schluchzte und weinte, alles zugleich. Harper wurde flau im Magen, Robert war verloren, dessen war er sich bewusst. Ein für alle Mal.
Harper hoffte inständig für Robert, dass er keine Spuren hinterlassen hatte, denn eines war sicher, Veronica Gillespie hatte ihren Hund bereits gefunden und sie würde alles daran setzten, zu erfahren wer ihrem geliebten Hund das angetan hat.
Harper behielt Recht, gegen sechs Uhr abends kam Veronica von ihrem Frisörbesuch nach Hause, sie war ausnahmsweise gut gelaunt, das viele Geld, das ihr Vater für ihr neues Blond und die neue Haarverdichtung bezahlt hatte war ihrer Meinung nach gut angelegt worden. Sie telefonierte gerade mit Sally und erzählte ihr, wie teuer doch der Frisör gewesen war als sie die Treppe zu ihrem Zimmer im ersten Stock hinaufstieg. Die Hausdame trug ihre Tasche, ihre Einkaufstüten und ihren anderen Kram die Stufen hinauf, was sich einfacher anhört, als es tatsächlich war, denn Veronica reiste niemals mit leichtem Gepäck, selbst dann nicht, wenn sie nur wenige Stunden in die Stadt fuhr. Während sie telefonierte, rief sie nach ihrem Hund und keifte die Hausdame an, sie solle sich doch gefälligst beeilen. Als sie Coco nicht in ihrem Zimmer vorfand, trippelte sie aufgebracht wieder ins Erdgeschoss und quietsche den Namen ihres Hundes. Sally Polt erzählte ihr zeitweilen, wie viel Geld ihr Vater für ihr neues Handy ausgegeben hatte. Veronica hatte ihr Hündchen immer noch nicht gefunden, nun war sie sauer. Genervt brüllte sie nach ihrem Hund, sie brüllte das gesamte Haus in Grund und Boden und auch Sally hätte beinahe einen Gehörschaden erlitten. Doch weit und breit war keine Spur von ihr zu sehen. Sie begann, sich bei Sally über das Hundeproblem zu beschweren. „Meine kleine Coco ist verschwunden, dieses Mistvieh ist wieder irgendwo, wo ich sie nicht finde und diese unnütze Kuh von einer Putze ist auch keine Hilfe. Vorhin hat sie fast drei Minuten gebraucht um mir meine Sachen die Treppe hoch zu schleifen, ist denn das zu fassen?!“ „Unglaublich, gutes Personal findet man leider nicht überall, du glaubst nicht was meine Köchin angestellt hat, sie hat mir Brot MIT Rinde Serviert, das ist doch unbegreiflich!“ „Nein! Das ist ja widerlich! Was hast du dann gesagt?“ „Tja, ich hab‘ Daddy gesagt, dass er sie entfernen soll, sie hätte mich immerhin fast vergiftet!“ „Unfassbar!“ Mittlerweile hatte sie sich entschlossen, im Garten nach Coco zu suchen, ihren Namen rufend, trat sie hinaus in das quadratische Areal. „Was hat dein Vater gemacht, hat er sie rausgeworfen?“ „Sicher, ich mein Hallo? Sie hätte mich umbringen können!“ „Gutes Personal ist wie gesagt echt schwer zu finden, warte nur bis ich dir erzähle, was meine Putze gemacht hat…“ Sie brach mitten im Satz ab und starrte auf das Ding das zu ihren Füßen im nassen Gras lag. Ihre Augen weiteten sich, sie schnappte nach Luft, ein gellender Schrei entfuhr ihrer Kehle. Entsetzt ließ sie das Handy fallen, Sallys Stimme drang aus dem Hörer, sie fragte, was passiert war. Doch sie sollte keine Antwort bekommen, Veronica starrte kreischend auf das breiartige Etwas, das vor ihren Designerschuhen lag. Sie rang nach Luft und brach in ersticktes Schluchzen und hysterisches Weinen aus als sie erkannte, in wessen Gedärme sie zuvor getreten war. Coco. Veronica kreischte und schluchzte, bis ihre Mutter aus dem Haus gerannt kam um zu sehen, was ihre Tochter so sehr aufregte. Als sie sah, was sich im Garten ereignet hatte, stimmte sie in das Gekreische ihrer Tochter mit ein. Nach und nach versammelten sich Schaulustige die das Geschrei gehört hatten am Gartenzaun. Die Erste, die das Szenario betrachtete war Claire Hagott, danach kamen Barbara Dale, Pater George, seine Tochter und Billy Fisher hinzu. Sie alle waren entsetzt von dem Anblick der sich ihnen bot. Die gute Claire Hagott, ihrerseits so fein und zimperlig, dass sie nicht einmal Blut sehen konnte, stand in der ersten Reihe und verteilte anschließend ihr wieder hochgekommenes Mittagessen in der Hecke der Gillespies. Pater George, der dies für den Akt einer gottlosen, satanisch verseuchten Person hielt, betete noch vor Ort für das Seelenheil dessen, was von der kleinen Coco übrig geblieben war. So sprach er ein Ave Maria nach dem anderen, während der Rest der Schaulustigen, denen ihr Durst nach Neuigkeiten nun gehörig vergangen war, um die arme kleine Veronica standen und ihr Trost zusprachen. Doch es half alles nichts, sie weinte als gäbe es kein Morgen und ihre Mutter verlangte partout nach einer Nachbarschaftssitzung. So geschah es dann auch, noch am selben Tag wurden die Notwendigen Vorkehrungen für eine Nachbarschaftsversammlung getroffen, alle sollten anwesend sein, selbst die kleinsten der kleinen, um keine Möglichkeit unausgeschöpft zu lassen. Rosie Gillespie verständigte augenblicklich die Polizei, die die Sitzung leiten sollte. Die Neuigkeit, vom grausamen Mord an Veronica Gillespies Hund verbreitete sich noch an diesem Abend wie ein Lauffeuer und bereits bei Einbruch der Nacht wussten alle davon. Wissen Sie, geneigter Leser in einem so kleinen tückischen Vorort bleibt nichts lange verborgen. Die Leute lechzen nach Geheimnissen und brisanten Neuigkeiten die sie hinausposaunen und über die sie tratschen konnten, es war auch irrelevant, ob sie wahr waren oder nicht, sie mussten aufregend sein, das allein zählte und wenn einmal nichts passierte, erfand man eben etwas. In diesem Fall kam der Tod des Hundes des reichsten Mädchens des Ortes gerade recht. Die Leute zerrissen sich die Mäuler über dieses Ereignis, rieten um die Wette, wer es wohl warum getan haben konnte und ob der Schuldige gefunden wurde. Die Tatsache, dass die Polizei einschritt war das Sahnehäubchen, denn das machte die Sache erst offiziell. Die Polizei sah man hier nämlich so gut wie nie, nur Marcus und Paulie Lichter hatten Erfahrung im Umgang mit Bullen, was natürlich niemand wusste. Es keimten die wildesten Vermutungen auf, wer denn Schuld an diesem Verbrechen war, einige verdächtigten sogar die Putzfrau der Gillespies oder Claire Hagott, da sie sich über das Gebell des Hündchens aufgeregt hatte. Doch niemand vermutete auch nur im Geringsten, dass Robert Harper, der Star des Ortes, auch der Mörder von Veronica Gillespies Hund war.
Am nächsten Morgen, als Harper in die Küche kam, stand seine Mutter aufgeregt hinterm Tresen und telefonierte lautstark mit Barbara Dale, die sie über die Ereignisse des vergangenen Abends informierte. Mit offen stehendem Mund lauschte sie Barbaras Erzählung und bemerkte nicht einmal wie später ihr Lieblingssöhnchen, Robert, in die Küche stolperte. Harper musterte ihn, er sah ganz gut aus, ganz anders als er in der Nacht zuvor ausgesehen hatte. Er wurde erst unruhig, als er hörte worum es bei Aidas Telefonat ging. Entsetzt starrte er Harper an, dieser stand auf und ging nach draußen, in den Flur. Robert folgte seinem Beispiel und begann dann, ihm seine Zweifel zu klagen. „Was, wenn sie uns erwischen Josh?“ Harpers Überich begann sich zu regen. „Uns? Nun mein verehrter Freund, WIR haben damit nicht direkt etwas zu tun. Immerhin, wer kann beweisen, dass wir ihn manipuliert haben, wenn er es nicht einmal selbst weiß? UNS können sie also gar nichts anhaben, nur keine Sorge, ich hoffe nur, dass Brüderchen keine Spuren hinterlassen hat, doch diese unterbelichteten Hinterwäldler sind ohnehin zu beschränkt um Hinweise zu entdecken, überdies, wenn sie die Polizei einschalten, ist der Junge so oder so geliefert.“ Harper musste ihr unweigerlich recht geben. „Nein Robert, sie werden uns nicht erwischen.“ „Bist du dir sicher?“ „Ja, hundertprozentig sicher. Jetzt geh wieder in die Küche uns iss, sonst fällt Aida etwas auf!“ Robert tat wie Harper ihn geheißen hatte uns marschierte betont gelassen in die Küche zurück. Der junge Harper blieb noch einen Augenblich stehen und dachte nach. „Uns werden sie garantiert nicht erwischen, doch ob du davonkommst, dessen bin ich mir nicht sicher…“, dachte er und begab sich ebenfalls zurück in die Küche. Während des restlichen Frühstücks kam Harper fast zu der Überzeugung, dass er es mit seinen vierzehn Jahren wohl doch geschafft hatte, Robert zur Magersucht zu verhelfen, denn sein Bruder quälte sich mit Müh und Not ein halbes Marmeladebrot hinunter. Das war ein minimaler Bruchteil dessen, was er sonst verschlang. Harper aß, wie so oft, gar nichts, er aß generell nicht viel, manchmal vergaß er einfach darauf ansonsten hatte er wichtigere Dinge zu tun. Ab nun grübelte er unentwegt über den weiteren Verlauf der Handlung, er machte sich überraschender Weiße mehr Sorgen als er sich gedacht hatte und zerbrach sich den Kopf darüber, was passieren würde, wenn man Robert auf die Schliche kam. Bedauerlicher Weiße war keiner seiner Einfälle gut für Robert, die Gillespies konnten zum Beispiel die Polizei einschalten, sie würde Robert wahrscheinlich erwischen. Sie könnten im günstigsten Fall eine Entschuldigung und Schadensersatz verlangen. Im schlimmsten Fall könnten sie Robert jedoch vor Gericht zerren und ihn wegen schwerer Sachbeschädigung, Hausfriedensbruch, oder etwas ähnlichem verklagen, er wusste nicht, ob man jemanden wegen des Mordes an einem Hund verklagen konnte, beziehungsweiße ob dafür die selbe Strafe verhängt wurde wie für Homozid, fahrlässige Tötung oder Körperverletzung mit Todesfolge. Harper hoffte inständig, dass dem nicht so war, denn ansonsten winkten Robert die schwedischen Gardinen, was er mit Sicherheit nicht überleben würde, nicht in seinem Zustand. Auch wenn die Familie Gillespie sie auf ihr gesamtes Hab und Gut verklagen würden sah es nicht sonderlich rosig aus, Aida war zwar, durch die Alimente die Robert Harper Senior zahlte, ihr kürzlich erhaltenes Erbe und Co. recht vermögend, doch die Gillespies würden sie armklagen. Aida hatte in der Tat ein sehr umfassendes Vermögen geerbt, da sie das einzige Kind ihrer Mutter war und auch ihre Mutter vom Geld des Staates lebte, denn sie genoss eine sehr reiche Witwenpension. Harper wunderte es nicht, dass sein Großvater die Kugel geschluckt hatte, beim Wesen dieser Frau hätte das jeder vernünftige Mann getan. Ja, Harpers Großmutter war wahrlich eine grauenvolle Person gewesen, sie war so knauserig, gewesen, dass sie selbst Teebeutel recycelt und an allen Ecken und Enden gespart hatte. So hatte sie nur zum Spülen etwas warmes Wasser, dass sie im Wasserkocher erhitzte, da Geschirrspüler teuer waren und überdies eine Menge Strom fraßen, also spülte sie händisch ab. Sie kochte auch selten warme Speisen, der Herd brauchte schließlich auch Strom! Zudem besaß sie kein Telefon, da Großmutter Harper der Überzeugung gewesen war, dass Telefongesellschaften einerseits teuer, andererseits kommunistische Geheimverbände waren, die sich Informationen aus den Gesprächen der Leute holten. Ich denke, man braucht ihre Paranoia nicht extra anzuführen, auch wenn sie recht ausgeprägt war. Sie hatte auch für ihre Enkel nichts übrig, stets meckerte sie an ihnen herum, sie könnten doch arbeiten, anstatt die Schule zu besuchen, zu ihrer Zeit war man mit elf schon gut genug gewesen um auf einer Farm auszuhelfen und ein bisschen Geld nach Hause zu bringen. Harper hatte diese von Dekadenz, Narzissmus, Kapitalismus und Paranoia geplagte alte Hexe niemals leiden können. Sie hatte unentwegt auf dem kleinen Harper herumgenörgelt, wehe man hatte das Wasser zu lange aufgedreht gelassen, sagte einmal nicht bitte oder danke. So betrachtet, war ihr Tod und somit auch das Erbe ihrerseits das Beste was diese Frau jemals von sich gegeben hatte. Aida war trotzdem vom Verlust ihrer Mutter betroffen gewesen und war zu ihrer Beerdigung gereist, Robert hatte sie mitgeschleift, bei Harper war sie jedoch gescheitert, ihm wiederstrebte nichts mehr, als sich mit einem Haufen Jesusfans auf einem Leichenfeld abzugeben und um den ach so tragischen Verlust einer Freu zu trauern, die er weder besonders gut gekannt, geschweige denn gemocht hatte. Doch wie so oft, spielte auch diese von Harpers Erinnerungen keine sonderlich tragende Rolle im Verlauf des Falles Robert Harper. Wie immer behielt er Recht, auch wenn er sich dieses Mal viel lieber geirrt hätte. Schon bald wurden alle zur Nachbarschaftsversammlung in das Haus von Max Hagott, dem Mann, der den Vorsitz über den Nachbarschaftsrat innehatte und somit auch die provisorische „Verhandlung“, als kurzfristig eingesprungener Richter, vollführte. John Lichter stand ihm als Unterstützung zur Seite, sowie auch Pater George und Henry Fisher, der als sehr ehrlich und verlässlich galt. Wer’s glaubt. Man mochte zwar behaupten, dass er den saubersten Schrottplatz der Stadt hatte, was auch der Wahrheit entsprach, doch wie er ihn so sauber und frei von giftigen Abfallölen und Dergleichen hielt, wusste niemand. Der ganze Ort saß akkurat aufgereiht in Max Hagotts Keller, in welchem Reihen aus Stühlen platziert worden waren, an der Frontwand befanden sich, gegenüber den andren, vier größere, wuchtige Stühle, auf denen Max Hagott selbst, Henry Fisher, Pater George und John Lichter Platz genommen hatten. Der Rest des Abschaums saß unruhig auf den Klappstühlen, fast jeder Bewohner des Ortes war anwesend. Harper saß neben Robert, der unruhig auf seinem Sessel hin und her rutschte. Neben ihm saß Aida und unterhielt sich mit Barbara Dale und Sonya Lichter. Ihre beiden Söhne Marcus und Paule saßen vor ihr und tuschelten mit Robert und Billy Fisher. In der ersten Reihe saßen Amelie und Harriett George, direkt neben Charlie George. An der Seite des Raumes standen ebenfalls ein paar Stühle, welche von Veronica, Rosie und Willie Gillespie ausgefüllt wurden, Mr. Gillespie war, ebenso wie der gute Mr. Polt und Mr. Allister nicht anwesend. Die hinteren Reihen wurden von Sally Polt, ihrer Mutter Susannah, Carolyn und Ly Allister sowie besetzt. Neben der Pfarrersfrau hatte sich Alfred Henning, der Religionslehrer niedergelassen. Claire Hagott besetzte den letzen Platz der Letzten Reihe, sie war, wie immer, zu spät gekommen. Als alle eingetroffen waren, erhob Pater George das Wort und das geschäftige Murmeln verstummte augenblicklich. Nur Veronicas schluchzen war zu vernehmen, sie weinte und ihre Tränen zogen dicke, schwarze Schlieren aus Wimperntusche und Make-up über ihre mit Rouge bepuderten Wangen. Harper musterte sie mit einer Mischung aus Verachtung und bittersüßer Genugtuung. Aufmerksam beobachtete er die Leute während er Pater Georges Worten lauschte. „Wie Sie alle wissen, haben wir uns heute hier versammelt, um dem grausigen Verbrechen dem die kleine Coco vor wenigen Tagen zum Opfer fiel, auf den Grund zu gehen. Ich hoffe doch sehr, dass Sie sich darüber im Klaren sind, dass auf Wunsch vom verehrten Mr. Gillespie und seiner geschätzten Frau, niemand diesen Saal verlässt, bevor der, oder die Schuldige nicht gefunden und bestraft worden ist. Sehen Sie sich nur das kleine Mädchen an! Wie kann jemand der noch bei Verstand und Gottglauben ist, ihr etwas Derartiges antun?“ Alle Blicke richteten sich auf die heulende Veronica, ein kollektives, mitleidiges und zustimmendes Raunen zog durch die Reihen wie ein kalter Windhauch. Auch Robert starrte Veronica an, doch seine Augen waren leer und wanderten kontinuierlich durch den Saal. „Diese arme, miss geleitete, verwirrte, satanische Seele muss gefunden und auf den rechten Weg zurückgeleitet werden. So leid es mir ach tut meine lieben Freunde, so muss ich euch sagen, dass es jemand aus unseren eigenen Reihen gewesen sein muss! Jemand, den wir alle kennen und schätzen, jemand, der mitten unter uns lebt und den wir Tag für Tag begegnen.“ Er ließ seinen strengen Blich reihum gleiten, blickte jedem in die Augen und wartete. Aus dem anfänglichen Murmeln wuchs ein handfester Krawall, alle brüllten durcheinander, zankten sich bang mit ihrem Sitznachbar und diverse Sorgen und Vermutungen wurden durch den Raum geschleudert. „Was, wenn der Köter nur der Anfang war? Vielleicht hat dieses Biest ja noch vor, einen von uns umzulegen?!“, bemerkte Billy Fisher. Robert wurde blass und blickte Harper ängstlich und fragend an. Harper schüttelte den Kopf und legte ihm die Hand auf die Schulter. „Was ist, wenn er bereits andere getötet hat?“, fragte Sally Polt. „Vielleicht hatte er es nicht auf den Hund abgesehen, wer weiß, möglicher Weiße will er das Mädchen töten!“, brüllte Ly Allister. „Um Himmels Willen, er könnte uns alle töten wollen, und er ist heute hier und sucht sich seinen Nächsten aus!, schallte es aus der ersten Reihe nach hinten und Amelie George sprang auf und fügte hinzu:„Gott stehe uns bei!“. Auch Barbara Dale äußerte sich selbstredend dazu. „Wir sind alle dran! Einer nach dem Anderen!“ Der alte Mr Henning richtete sich auf und erhob drohend seinen Zeigefinger in Richtung der aufgebrachten Menge. „Ihr seid alle selbst schuld! Dies ist die Strafe, die der gütige Herr auf euch hernieder schmettert weil ihr und Sünde lebt! Der Satan höchst selbst brachte das Geschöpf hervor, das nun in unseren Reihen wütet und an einen nach dem anderen von euch Gerechtigkeit üben wird! Der Hund war nur eine Warnung, ihr sollet euch in Acht nehmen, denn der Tag des Gerichtes ist nicht fern!“ Seine krächzende Stimme hörte sich an wie das Quietschen eines alten Friedhofstores als er seine Flüche in die Menge predigte. „Genug, Ruhe bitte, RUHE!“ Pater George hatte erneut seine Stimme erhoben. Meine lieben Freunde, ich sehe, dass ihr aufgebracht seid, zu Recht muss ich sagen, wahrlich zu Recht. Doch all das Zetern hilft uns nicht weiter! Es mag schockierend sein und es ist schwer für die arme Veronica, darum hat ihr Vater uns heute hier her zitiert, um den Schuldigen zu finden. Einige von euch mögen dies für unnötig befinden, schließlich war es nur ein Hund. Aber…“ „Coco war MEIN Hund, MEINER und ich hatte sie LIEB!! Daddy wird euch nicht gehen lassen bis der Bastard gefunden ist, der sie ERMORDET hat ERMORDET!“, kreischte Veronica dazwischen, ihre Mutter begann eifrig, ihr das, mit schwarzen Wimperntuscheschlieren verschmierte Gesicht abzutupfen. Harper verdrehte die Augen, wahrlich es wurde zu viel Aufheben gemacht, nur wegen einem zu Brei geschlagenen Fellknäuel. „Dem auf dein Anraten zu Brei geprügelten Köter einer REICHEN Göre, mein Freund, niemand würde sich darum kümmern, wenn es nicht der Hund einer REICHEN Göre wäre, mein Lieber, du hast in deinem Plan ein wichtiges Adjektiv unterschlagen…“, murmelte Harpers Überich erzürnt. Gut, es hatte wie immer Recht, doch Harper hoffte auf einen Guten Ausgang für Robert, denn er würde unbescholten davonkommen, dessen war er sich sicher. Der Pater erhob erneut die Stimme und richtete seine Worte nun direkt an Veronica. „Mein Kind, ich bin zuversichtlich, dass wir das Monster finden werden, der deinem geliebten Hündchen das angetan hat. Wir setzten ebenso wie dein Vater, alles daran ihn zu finden und zu bestrafen. Darüber hinaus, ruht die gute Coco nun bei Gott dem Allmächtigen und befindet sich sicher schon längst im Himmel, von wo sie auf dich herabblickt, sie wäre nicht erfreut dich weinen zu sehen! Ich werde ihr die nächste Sonntagsmesse widmen und aufgrund der großzügigen Spende, die dein Vater an die Kirche gestiftet hat, werde ich fortan für sie und ihre Familie im Gottesdienst beten.“ Harper wurde langsam ungeduldig, ihn langweilte dieses sinnlose, übertriebene Gerede zu Tode, doch ihm blieb nichts anderes übrig, als brav dazusitzen und abzuwarten, wie es denn weitergehen würde. Erneut forderte Pater George die Masse auf, den Schuldigen zu finden und bat sie, genau nachzudenken, wer ihrer Meinung nach in Frage käme und warum. Sofort brachen wieder stürmische Diskussionen unter den aufgebrachten Leuten aus, die wildesten Vermutungen wurden den angeblichen Schuldigen an den Kopf geschmettert. Unter andrem behauptete Barbara Dale, dass Max Hagott den Hund umgebracht hatte, weil er dessen ständiges Kläffen und die Kothaufen auf seinem Rasen unausstehlich fand und nach Rache sann. Gloria Fisher, Henry Fishers Frau äußerte den Verdacht, dass die Lichter-Zwillinge die Mörder sein könnten, da sie Tiere nicht mochten und sich mit diesem „Streich“ brüsten konnten, worauf Sonya Lichter empört Einspruch erhob und Billy beschuldigte, den Hund getötet zu haben, weil er so sein wollte wie ihre Söhne. John Lichter wiederum war der Überzeugung, dass Barbara Dale Coco in die ewigen Jagdgründe befördert hatte, weil sie vor längerer Zeit das Hauskaninchen der Dales als Spielzeug missbraucht hatte, worauf von dem Kaninchen nicht mehr allzu viel übrig war. Erbost über diese Behauptung bezichtigte Lennard Dale die Lichter-Zwillinge des Mordes an Veronica Gillespies Hund. Die beiden wiederum klagten Mr. Henning an, welcher jede Tierart verabscheute, insbesondere Hunde, das sie für ihn als sündige Tiere galten. Auch Veronicas Mutter wurde beschuldigt, im Prinzip beschuldigte jeder jeden. Das Stimmengewirr wurde lauter und undurchdringlicher, Harper saß inmitten der tobenden Menge und wartete, bis sie anfangen würden sich gegenseitig zu zerreißen. Ihn hatte niemand beschuldigt, wohl aus dem simplen Grund, dass niemand sich seiner Anwesenheit bewusst war. Auch Robert war bislang verschont geblieben, nur Aida wurde angekreidet, dass sie Coco erlegt haben könnte, da sie das Tier einmal beinahe überfahren hatte, als es auf der Straße streunte. Die Argumente der Menge wurden mit jedem Wort absurder, als wäre diese Szenerie nicht schon absurd genug, nein die Leute setzten dem ganzen mittels ihren grenzdebilen Ängsten und Schuldzuweisungen noch die Krone auf. Dies ging scheinbar ewig so weiter, selbst Pater George hatte sich in das Gezanke gestürzt, da man behauptet hatte, Amelie wäre für den Tod des Hundes verantwortlich. Nur Claire Hagott ward bisweilen unbeschattet gewesen, doch dann beging ihre insgeheime Erzfeindin, Gloria Fisher, den Fehler, die Schuld auf sie zu laden, womit sie allgemeine Zustimmung fand. Plötzlich ballte sich Menge zusammen und stellte sich gegen Claire Hagott. Harper musterte sie, sie war ständig zu Hause, sie hätte Robert sehen können. Pater George erhob erneut das Wort und forderte Claire auf, ihm und den Anwesenden ihre Sicht zu schildern. Hoch erhobenen Hauptes und mit kampflustig vorgestrecktem Kinn begann sie ihr Verteidigungsplädoyer.“Ich habe den ganzen Tag in meinem Haus verbracht, Max kann das bezeugen, ich habe ihm Mittagessen gekocht und mich mit der Putzfrau unterhalten, auch sie war den ganzen Tag über im Haus, auch wenn man dies dem Zustand meines Hauses nicht ansieht, ich frage mich ernsthaft, wozu ich diese Frau überhaupt bezahle.. Am späten Nachmittag, wenn nicht schon gegen Abend habe ich seltsame Geräusche gehört, die mich bei meinem Bad störten, hier hat man anscheinend nicht einmal seine wohlverdiente Ruhe, wenn man sich seine Gesichtspackung auflegen will.“ Nachdem sie eine schiere Ewigkeit damit vergeudet hatte, den Anwesenden ihren Tagesablauf zu schildern und Harper schon kurz davor war, einfach aufzustehen und zu gehen, fuhr sie mit Details fort, die Harpers Aufmerksamkeit auf sich zogen und seine Alarmglocken schrillen ließen. „Ich beabsichtigte nichts Böses als ich zur Hecke ging, die Rosies Garten von meinem trennt, um zu sehen, woher diese seltsamen Laute stammten und hab‘ mich über die Hecke gebeugt um herauszufinden, was passiert ist. Also duckte ich mich hinter die Hecke und spähte aufmerksam in den Garten, was ich dort sah, haute mich fast aus meinen Pumps, das kann ich euch sagen! Eine Gestalt hatte mit einer Art Stock, oder einem großen Ast auf irgendetwas eingeschlagen, Fetzten von nicht identifizierbaren Dingen flogen in hohem Bogen durch die Gegend und die Gestalt forderte irgendjemanden ständig auf, still zu sein. Sie lachte, kicherte und schrie wie ein Irrer, sagte dauernd etwas wie „Sei still, sei endlich still! oder „Nur für dich, bist du jetzt stolz auf mich?“ worauf sie nur wieder in ein fürchterliches Lachen ausbrach“ Sie ließ ihre Worte eine Weile wirken und blickte siegessicher in die Menge. Harper schielte u Robert, dieser Idiot! Er seufzte, sein Bruder saß neben ihm, die Augen groß und dunkel vor Angst, nervös blickte er sich um. Harper konnte förmlich sehen, wie es in seinem Kopf arbeitete. Bevor Robert ihn irgendetwas fragen konnte, hob Claire ihre Stimme und fuhr fort. „Ich wunderte mich, dachte mir aber nichts böses, bis die Gestalt sich abwandte und mein Blick in Robert Harper Juniors Gesicht fiel. Er sah mich nicht und machte sich aus dem Staub. Zuerst dachte ich nicht, dass er etwas Böses getan hatte, doch als wenige Stunden später die arme kleine Veronica nach Hause kam und Coco fand, wurde mir klar was ich gesehen hatte. Robert Harper hat sie getötet!“ Sie spuckte die letzten Worte förmlich in Roberts Richtung. Stille und Entsetzten breitete sich im Raum aus, die Wut der Menge zog sich zurück, wie das Meer das sich vor einem Tsunami zurückzieht, nur um dann mit voller Wucht über Roberts Kopf hinweg zu spülen und ihn unter wüstesten Flüchen zu begraben. Aida erhob Einspruch, doch auch ihre letzten Zweifel wurden hinfort gewaschen als Robert aufstand und versuchte zu flüchten. Harper beobachtete die Eskalation der Lage, er hatte sich nichts anderes erwartet. Veronica kreischte, beschimpfte ihn unter Tränen aufs übelste und wurde nicht müde zu fragen, warum er das getan hatte. „Er ist ein Monster! Man möge ihn hängen, verbrennen oder Kreuzigen! Ein liederlicher Satanist ist er“, keifte Mr. Henning, „Man muss ihn wegsperren, er ist Wahnsinnig!“, schrie Barbara Dale. Die Menge entlud all ihren Zorn auf Robert, ihre Augen durchbohrten ihn fast mit ihren verächtlichen Blicken. Rosie Gillespie spie ihm Drohungen entgegen und schlussendlich zogen sich Pater George, John Lichter, Henry Fisher und Max Hagott zur Beratung zurück. Zeitweilen versuchte die Menge den armen Robert, der verloren und verzweifelt in einer Ecke gefangen war zu zerreißen. Harper war der einzige, der auf seinem Platz verweilte, er saß, wie eine vornehme Dame im Theater, mit schräg geneigtem Kopf da und sah sich das Melodram an, welches er verursacht hatte. So betrachtet, war es schon etwas seltsam, er hatte nicht beabsichtigt, dass sein Experiment diese Ausmaße annehmen würde, doch andererseits zeigte diese Eskalation, dass auch nicht perfekt geplante Dinge, einen perfekten Ausgang haben können. Irgendwie tat Robert ihm schon leid, doch er hatte ihn des Öfteren gewarnt, dass er sorgfältig und bedacht handeln sollte, doch Robert war kein Genie, er hatte eine Winzigkeit übersehen und ebendiese Winzigkeit hatte ihm letzten Endes das Genick gebrochen. Nun, auch wenn die Komik der Tragik dieses Dramas den jungen Harpers wahrlich amüsierten, so vermochten sie es nicht, ihn über die Irrelevanz dieser Satire hinwegzutäuschen. Überdies schmälerte es seine, ohnehin schon verschwindend geringe, praktisch nicht vorhandene Achtung für den Menschen, indem es ihn in seiner Theorie bestätigte, dass der Mensch sich liebend gerne gegen seinesgleichen verbündet, sobald dieser etwas Differentes getan hat. Dies zeigte sich hier ganz deutlich: Der Star, jedermanns Liebling hatte Rache genommen und nun wurde er zum allgemeinen Prügelknaben. Der Held war zum Missetäter geworden, weil sein Rechtschaffen nicht dem Sinn der Allgemeinheit entsprach, worauf die Masse ihn verdammte und ins Exil schickte. Nun, willkommen in der Realität Robert.
Nun denn, lieber Leser, an solchen Orten wie diesem, herrscht eine andere Form von Justiz und Gerechtigkeit wie an allen anderen Orten der Welt. Wissen sie warum? Nun ja, das ist ganz einfach, an diesen perfekten Orten wird die Polizei nicht gerne gesehen und so etwas wie ein Gerichtsverfahren würde die pseudoreale Idylle nur in Schutt und Asche legen. Aus diesem Grund, regelt man Fälle wie den des Robert Harper viel lieber intern, da alles andere, ein schlechtes Licht auf den strahlenden Sauberschein des Ortes werfen könnte. So entschloss man sich also, Robert klammheimlich zu bestrafen um den Schein des Friedens aufrecht zu erhalten, denn an einem Ort, an dem die Leute so viel Dreck am Stecken haben, ist man gerne bereit eine weitere Lüge in das Netz zu spinnen und den Vorfall zu schlucken, auf das er verschwinde. Man behielt sozusagen alles für sich, der Betreffende wurde isoliert und alle lebten ihr Leben, wie sie es zuvor getan hatten. Die Bestrafung erfolgte meist, wie auch in diesem Fall, dezent in Form einer unmenschlich hohen Summe, die aus „Wohltätigen Gründen“ in die Ortskasse gezahlt wurde. Sie müssen wissen, dass man hier, an diesem Ort besonders streng nach seinen Scheinregeln spielte, warum wusste niemand, doch alle wussten, dass es so war und so nahmen sie es hin und fügten sich bereitwillig in das, bereits vorgegebene, Muster. So musste niemand über sein Handel nachdenken, sich den Kopf über Recht und Unrecht, adäquat oder unschicklich und derlei Formalitäten zerbrechen. Jedermann wusste, dass er fortan den Mund über das Geschehene versiegeln musste um es zu verdrängen und unter Verschluss zu halten. Der Betreffende selbst wurde ausgegrenzt als wäre er der übelste aller Delinquenten dieser Welt, man mied ihn wie Pest und Pocken auf einem Haufen. So erging es auch Robert, nur für Aida änderte sich nichts, zumindest nicht in dieser Weise, sie war nach wie vor von der Unschuld ihres einzigen, geliebten Sohnes überzeugt und verteidigte ihn vehement, doch ihr selbst begegnete man in der selben Monotonie wie immer. Harper wurde nach wie vor kaum wahrgenommen, was er allerdings nicht als störend empfand. Aida zahlte brav Monat für Monat ihre „kleine Spende“ an die Ortskasse und lebte ihre Illusion weiter. Harper hingegen verfolgte fasziniert und auch ein klein bisschen konsterniert, wie der Ort und dessen Bewohner das Ereignis binnen kürzester Zeit absolviert und es somit schier ungeschehen gemacht hatten. Selbst Veronica schien nach außen keinerlei Animosität gegen Robert zu hegen geschweige denn über den Verlust ihres Hundes zu trauern, nein nur wenige Tage später wuselte ein fast äquivalenter Hund durch den Garten der Gillespies. Nur eines war anders, es war eine kollektive Abneigung gegen den gefallenen Stern des Ortes, Robert, endstanden. Selbst dies war noch übertrieben ausgedrückt denn, um es mit wenigen Worten für Sie auszudrücken, lieber Leser, so wurde Robert nicht nur insgeheim geächtet und verschmäht, nein der Ort bediente sich einer anderen Taktik um seine Tat ungeschehen scheinen zu lassen, sie ignorierten Robert vollkommen. Seine Freunde wandten sich von ihm ab, sein Team schloss ihn aus und keine Menschenseele sprach ein Wort mit ihm, geschweige denn, dass man ihn ansah. Nur Aida überschüttete ihren kleinen verkommenen Liebling, das Spielzeug ihres längst vergessenen Sohnes, Joshua Harper, mit so viel Aufmerksamkeit wie sie selbst zu Zeiten seiner frühen Kindheit nicht getan hatte. So ward Robert für den Ort und dessen Bewohner schlicht und ergreifend nicht mehr vorhanden. Des Öfteren zweifelte er selbst an seiner Existenz, was er nur seinem kleinen Bruder anvertrauen konnte. Ja, Harper war immer noch für Robert da, er konnte sich selbst nicht recht erklären warum, befand es letzten Endes aber für sinnlos sich gegenüber sich selbst und seinem Überich zu rechtfertigen, da er sich sonst auch vor nichts und niemandem rechtfertigte. So hatte die Eskalation seines kleinen Experimentes eine recht widrige Nachwehe. Harper wurde zum einzigen Menschen, den Robert noch hatte, somit begann dieser ihn in seiner infantilen Art noch mehr zu idealisieren und seine Abhängigkeit gegenüber dem jungen Harper wuchs ins unermessliche. Man könnte sie als völlig fanatische Manie bezeichnen, wenn überhaupt nicht als Sucht oder dergleichen. Nach und nach wurde Josh Harper klar, dass er sich, wenn auch wieder seines Willens, zum Protagonisten in Roberts Leben erhoben hatte und er konnte nichts dagegen unternehmen, denn über die Jahre die verstrichen wurde Robert von Tag zu Tag labiler und verlor sich selbst immer mehr. Es dauerte nicht lange, nur einige wenige Wochen, da reichte es Robert nicht mehr, seinem Bruder überall hin zu folgen, er verging schier vor Sehnsucht und Angst wenn Harper sich in sein Refugium flüchtete. Bald schon begann Robert sich so zu kleiden wie sein geliebter Bruder, er verbrachte Stunden damit, vor Harpers Bett zu sitzen und zuzusehen wie er schlief, wenn er den einmal schlief, denn der junge Harper schlief zeitweilen immer seltener. So wurde Schlaf zum fast unleistbaren Luxus, den sich beide Brüder kaum leisten konnten, sei es aus Angst vor den Alpträumen die beide Parteien stets ereilten oder der Furcht, dass Harper verschwinden würde, sobald Robert seine Augen schloss. Harper kämpfte mit dem gegenteiligen Szenario, ihm graute bei dem Gedanken, dass Robert an seinem Bett warten würde bis er wieder erwachte. Auch Harpers Es litt unter Roberts ständiger Präsenz, er war selbst Thema, wenn der junge Harper in seinem Refugium hockte und darüber nachgrübelte, was er unternehmen sollte. So verwandelten sich Sekunden in Minuten, Minuten in Stunden, die Stunden in Tage, die endlosen Tage in Wochen und diese Wochen wurden langsam, zu langsam, zu Monaten, welche nach Ewigkeiten zu Jahren wurden. Mit jedem vorbeiziehenden Augenblick wuchs die Szenerie zu einem Melodram und der junge Harper bekam im letzten Jahr seiner Zeit an diesem Grässlichen Ort, einen Grund mehr zu gehen. Robert wurde unerträglich und begann ihm Schritt für Schritt zu folgen, doch dem jungen Harper gelang es beinahe jedes Mal, sich irgendwie von seinem neuen Schatten zu lösen und heimlich und verstohlen wie ein flüchtiger Mörder in sein Refugium zu huschen. Im Endeffekt war er nichts anderes, er hatte sich den Geist seines Bruders zu eigen gemacht, seinen freien Willen exterminiert und ihn zu einem Schatten seiner selbst bewogen, er war eine Marionette Josh Harpers geworden, doch das Erschreckende daran war nichts, dass er es nicht verhindert hatte, das wirklich Erschreckende war, dass er es nicht einmal bemerkt hatte. Es war gekommen wie ein schleichender Tod, nach und nach, und dann ganz plötzlich. Doch wenn Sie denken, dies sei der Höhepunkt von Roberts Irrsinn, dann haben Sie sich geirrt, mein lieber Leser. Nein, es sollte noch viel schlimmer kommen, denn im letzten Jahr das Harper an diesem unsäglich verkommenen Ort verbrachte, unterlief ihm ein fataler Fehler, der ihm sein Liebstes kosteten sollte.
Josh war wieder abgehauen, doch dieses Mal hatte er die Rechnung ohne Robert gemacht, ja dieses Mal war Robert schlau gewesen, oh ja. Er hatte an seinem Fenster Ausschau gehalten, wann sein geliebter Josh sich wieder aus dem Staub machte und war ihm dann mit einigem Abstand gefolgt. Seltsam, eine dunkle, schemenhafte Erinnerung an diesen überwucherten Weg keimte in Robert auf, er war zuvor schon hier gewesen, glaubte er zumindest. Hastig stolperte er seinem Bruder hinterher, der federnden Schrittes über das wogende Gras, die verdorrten Reste der Blumen und das Kraut schritt, das den schmalen entlegenen Pfad Richtung Nirgendwo überzog wie ein Teppich aus vertrocknetem, braun-gelben Fell. Robert hatte alle Mühe, mit seinem, überraschend flinken, kleinen Bruder Schritt zu halten, was war nur in Josh gefahren, noch nie hatte Robert ihn so beflügelt erlebt. Selbst dann nicht, wenn er in seiner Gegenwart war. Was hatte das zu bedeuten? Gab es für Josh denn etwas Wichtigeres auf der Welt als ihn? Nein, niemals, daran wagte Robert nicht zu glauben. ER war das Zentrum von Joshs Welt, ER allein und sonst nichts und niemand. Niemand hatte mehr Zeit mit Josh verbracht, niemand liebte ihn mehr als Robert es tat, nein, auch nicht Aida, niemand! Eine tiefe Beklemmung begann schleichend von Roberts Herz Besitz zu ergreifen, er fühlte sich wie ein Verräter, weil er einem geliebten Bruder, den einzigen Menschen auf der Welt, der für ihn da war, nachspionierte wie eine desolate Hausfrau die befürchtet, von ihrem Mann betrogen zu werden. Genau wie Mom von Dad betrogen wurde. Josh würde so etwas niemals tun, er liebte ihn doch mindestens genauso wie Robert ihn liebte, oder? Natürlich tat er das. Energisch wischte er alle Zweifel bei Seite, er hatte ohnehin schon alle Hände voll zu tun, um Josh in diesem Dickicht nicht zu verlieren. Je weiter Josh ging, desto seltsamer, finsterer und unheimlicher wurde die Atmosphäre. Gänsehaut überzog Roberts, von Zweigen, Sträuchern und Ästen zerkratzte Arme, es wurde merklich kühler. Das sanfte Gelände ging in eine harsche Steigung über, anscheinend befand er sich auf einer Art Hang, oder einem Hügel. Mit jedem Meter den Robert hinter sich ließ wuchs sein Unbehagen weiter, bis es sich schließlich in eine handfeste, körperlose Furcht wandelte. Er war zwar Paranoiker geworden, hielt sich selbst jedoch nur für vorsichtig, keineswegs aber für ängstlich nein, er war seiner Meinung nach mutig, weil er keine Skrupel hatte, zu tun was immer Josh verlangte, das war seine Definition von Mut. Soweit die Theorie, doch nun hatte Robert tatsächlich Angst. Diese Umgebung kam ihm sonderbar bekannt vor, doch warum dem so war, dies war Robert durchweg schleierhaft. Die Erinnerung an diesen unbekannten Ort schwebte greifbar in seinem Kopf, entglitt ihm jedoch jedes Mal, wenn er versuchte, sie zu fassen zu bekommen. Es war zwecklos, so sehr er sich auch bemühte, er kam der Sache nicht auf den Grund. Nun war er an der Kuppe des Hügels angelangt und vor ihm erstreckte sich ein weitläufiges, dicht mit Bäumen und Sträuchern bewachsenes Areal, in dessen Mitte ein gigantisches, altes Haus emporragte. Robert stockte der Atem, ihm wurde schlagartig bewusst, wo er sich befand, er stand vor dem halb verfallenen Zinnen des Bennington Inn, dem fürchterlichen Ort, an dem Dolores Bennington ihrem Mann getötet haben soll. Hier hielt sich Josh also ständig auf, wenn er verschwunden war. Er hatte Josh aus den Augen verloren, er war fort… Himmel hoffentlich war er nicht in das verfallene Haus gegangen! Doch selbst wenn, er war oft hier gewesen, davon war Robert felsenfest überzeugt. All die unzähligen, langen Stunden und Tage, die er hätte mit ihm verbringen können, hatte er aller Wahrscheinlichkeit nach in diesem absonderlichen, befremdenden Anwesen verbracht. Lautlos wie ein Schatten legte sich glühende Wut über Roberts Gemüt, er konnte es nicht fassen! Wie um alles in der Welt konnte sein Bruder es wagen, ein verfallenes Bauwerk seinem einzigen, allerwichtigsten großen Bruder vorzuziehen? Unfassbar, er hätte weiß Gott was mit ihm unternehmen können! Doch nein, Josh versteckte sich lieber unter einem alten Baum oder in einer alten Villa! Es reichte, Robert platzte vor Eifersucht, er musste etwas unternehmen, aber was? Was könnte er tun, um die Aufmerksamkeit seines Bruders zurückzugewinnen? Fieberhaft überlegte er hin und her, bis er einen Entschluss fasste. Wenn er nicht die bedingungslose Aufmerksamkeit Josh Harpers innehaben konnte, dann sollte es nichts und niemand tun. Auch dieses Versteck nicht. Er war bitter enttäuscht und wütend, ja in seinem Inneren brodelte glühend heiße Wut wie in den Untiefen der Hölle, doch sie galt nicht Josh, nein, er würde ihn niemals vernachlässigen, nie. Roberts Wut galt einzig und allein dem alten Haus, das auf der Spitze dieses Hügels thronte und auf den Ort herabschaute als würde es auf Beute lauern. Er war überzeugt, dass das Haus daran schuld war, dass sein geliebter Josh ihn vernachlässigte, er selbst könnte ihm nie derartiges antun. Das Haus allen trug die Schuld, ja es hatte seinen lieben Bruder verhext, in seinen Bann gezogen! Es lag an ihm, dem ein Ende zu setzen, da dieses gottlose Monument Schuld an alldem trug, sollte auch es für all das büßen, was es Josh zu tun bewogen hatte. Roberts Entschluss stand somit fest, er würde das Haus beseitigen und er hatte schon eine brillante Idee. Wieder begann er zu kichern und zu wispern, er stimmte einen makabren Singsang an den der Wind in alle Weiten verstreute. Er saß noch eine Weile da und summte, bis die Dunkelheit ihn einhüllte wie ein schwarzer Schleier, es war Zeit zu gehen. Er drehte sich noch ein Mal zum Bennington Inn und flüsterte sein Versprechen, er hauchte es in den Wind, ein einziges Wort, doch es sollte genügen, um das erhabene Bennington Inn für immer von Antlitz der Erde zu wischen: Feuer.
Harper war auch heute wieder in sein Refugium geflüchtet, er hielt Roberts Präsenz kam mehr stand, er war schier allgegenwärtig, was den jungen Harper unsägliche Sorgen bereitete. Er war ohne es zu wollen, die kapitale Figur in Roberts Leben geworden und im Laufe der Jahre hatte Roberts Manie für ihn drastische Ausmaße erreicht. Nur zu gut entsann sich Harper über eine, glücklicher Weiße, längst vergangene Nacht, die sich wie heißes Eisen in seine Erinnerung eingebrannt hatte. Es war knapp ein Jahr, nachdem Robert vom Ort verschluckt worden war, Harper hatte gerade sein neuestes Buch zu Ende gelesen und blickte aus dem Fenster. Der Mond stand hoch am Himmel, die Nacht war klirrend kalt uns Sternenklar. Er war erschöpft gewesen, sehr erschöpft, darum dauerte es nicht lange bis er in einen sanften Dämmerzustand glitt. Harper hatte nicht geträumt, er hatte auch nicht wirklich geschlafen, das tat er höchst selten. Doch er hatte nicht lange so dahin gedämmert, als ihn sein Es plötzlich erwachen ließ. Auch er hatte ein absonderliches, ja gar schrulliges Geräusch vernommen. Langsam dämmerte ihm was es gewesen war, beklemmt stellte er fest, dass es sich um eine Art…ja verhaltenes Kichern gehandelt hatte. Verwundert blinzelte Harper, er öffnete langsam die Augen, ein Schrecken durchfuhr ihn wie der Blitz und ließ seine Augen groß werden. Er schreckte hoch, ihm schnürte es die Kehle zu. Robert saß, in Harpers Nachtgewand gehüllt, vor dessen Bett und beobachtete ihn grinsend. Hin und wieder kicherte er, keine Sekunde ließ er den jungen Harper aus den Augen. Sein Atem stand in weißen Wölkchen vor seinem Mund, er hatte die Knie zur Brust gezogen und summte ein Lied, das Harper nicht kannte. Noch immer hielt er ihn in seinem Blick gefangen. Das Mondlicht zeichnete scharfe Kanten und dunkle Schatten auf sein Gesicht, die es fragwürdig verzerrt, wenn nicht sogar surreal wirken ließen und seinem unheimlichen Clownsgrinsen etwas Gespenstisches verliehen. Ein eisiger Schauer jagte Harpers Rücken hinab, breitete sich auf seinem gesamten Körper aus und ließ ihn frösteln. Mit weit aufgerissenen Augen und unter fassungslosem Schnauben starrte Harper seinen großen Bruder an. Zur Hölle, wie lange hatte er schon da gesessen? Hatte er ihm aufgelauert? Grundgütiger, tat er dies denn öfter? Harper wagte gar nicht, seine Fragen zu beantworten, sein Es pulsierte und vibrierte um ihn herum wie ein Schwarm aufgebrachter Bienen. Ob er es nun zugeben wollte oder nicht, Robert jagte ihm langsam aber sicher ein stetiges Grausen ein. Die Zeit schien still gestanden zu sein, Robert sprach kein einziges Wort, nur hin und wieder entfloh ein obskures Kichern seiner Kehle. Dann erhob sich Robert plötzlich wieder, baute sich vor Harper auf, schaute ihm ein letztes Mal in die Augen, wandte sich ab und verschwand ohne ein Wort. Seither häuften sich Zwischenfälle wie dieser, Harper fühlte sich mehr und mehr von Robert eingeengt und verfolgt. So war es auch nun, als er sich auf den Weg zu seinem Refugium gemacht hatte. Er liebte diesen Ort, es war seine Welt geworden, er konnte sich nicht vorstellen, sie jemals zu verlieren, nicht solange er sie nicht selbstständig verließ. Dieser Tag rückte immer näher, Harper war, wie auch Robert, in seinem Abschlussjahr und Harper plante, nach seinem Abschluss so bald wie möglich das Weite zu suchen, ja er wollte fort, wohin war ihm egal. Schon auf dem Weg zum Bennington Inn fühlte er eine fragwürdige Beklemmung, er hatte das schleichende Gefühl, verfolgt zu werden. Humbug, er war allein, sein konfuser Verstand spielte ihm lediglich wieder Streiche, ein Überich war noch immer unterfordert und aufgebracht. Doch selbst an dem einzigen Ort, an dem er sich zu Hause fühlte, hielt dieses Gefühls sein Herz in einer drückenden Umarmung fest und schien nicht im entferntesten daran zu denken, ihn jemals wieder los zu lassen. Es war das erste Mal, dass er sich hier nicht richtig wohl fühlte, er kam einfach nicht zur Ruhe, seine Gedanken kreisten einzig und allein um Robert, egal wie sehr er sich auch abmühte, sie in den Untiefen seines Unterbewusstseins zu vergraben, sie fanden stets eine Ausflucht und kehrten zu ihm zurück, mit neuer, verehrender Wucht. Sie zerstreuten alle Pläne die er ausheckte, nun denn, die er auszuhecken versuchte viel eher und ließen ihm keine Ruhe, bis er schließlich befand, dass es genug für heute sei und es Zeit war, sich auf den Rückweg zu machen. Als er sich durch das Loch im alten Zaun wand, fiel auch die Spannung von ihm ab, das Gefühl der Überwachung begann allmählich zu weichen. Merkwürdig, höchst merkwürdig, Harper warf, wie zum Abschied, noch einen Blick auf den einzigen Ort auf dieser Welt, an dem er sich jemals wohl gefühlt hatte. Die untergehende Sonne malte lange Schatten unter die orange-roten Bäume, der Herbst hatte Einzug gehalten und sein Refugium in ein Meer aus roten, orangen und gelben Blättern verwandelt das langsam von den Bäumen rieselte und den Boden mit einem dicken Teppich bedeckte. Es sah so aus, als würden die Kronen der Bäume und Sträucher brennen, wie gigantische Fackeln ragten sie zum goldenen Himmel empor. In den blinden Fenstern spiegelte sich die Umgebung und das Silberdach schimmerte im Schein der dahinschwindenden Sonne wie flüssiges Gold. Im Teich unter der alten Eiche schwammen zahlreiche bunte Blätter und auch die einsame Bank war unter ihnen begraben worden. Die vergangenen Jahre hatten dem Bennington Inn zugesetzt, man sah es ihm zwar nicht direkt an, doch Harper wusste, dass der fast regenlose, trockene Sommer und dessen Hitze das alte Gemäuer ausgetrocknet hatten und es nun dürr und trocken war wie Wüstensand. Bei jedem Windhauch knirschte und knarzte es, der Wind pfiff durch zahlreiche neue Nischen und Löcher und verursachte dabei ein flüsterndes Geräusch, es hörte sich nahezu so an, als wollte es einen Abschiedsgruß flüstern. Die warme Oktobersonne war nun so gut wie verschwunden, nur noch ihr goldener Schein strahlte hinter der alten Villa hervor und ließ sie wie im Scheinwerferlicht erstrahlen. Harper berührte seinen Schlüssel, er war warm und wog überraschend Schwer auf seiner Brust. Sein Es war still geworden, Es schien sich ebenso an dem Anblick zu erfreuen wie Harper auch. Er versank in einer leicht melancholischen Trance als er so dastand und seinen Blick über sein Refugium schweifen ließ, wie viele glückliche Momente er hier doch verlebt hatte! Zeit war auch nun kein Begriff, der an diesem Platz von Bedeutung zu sein schien, Harper wusste nicht, wie viele Wochen, oder Monate er in Summe hier verbracht hatte, er glaubte ohnehin, dass es ganze Jahre gewesen waren. Nie hätte er gedacht, dass er sich jemals irgendwo annähernd wohl fühlen würde, bis er hier her gekommen war. Was hätte er nur ohne seinen Ruhepol getan? Nun, vermutlich hätte er seinen Verstand verloren. Er dachte an all die Zeit die hier verstrichen war wie nur ein einziger Tag. Glücklich und von innerer Ruhe erfüllt, schenkte er seiner persönlichen kleinen Welt ein sanftes Lächeln bevor er sich abwandte und von dannen zog. „Auf bald!“, flüsterte er, „Auf bald…“
Wie beklagenswert es doch war, dass der junge Harper zeitweilen nicht wusste, dass dies sein letzter Besuch im Bennington Inn gewesen sein sollte und er dies nicht im Entferntesten ahnte. Anders betrachtet weicht die vorangetragene Tragik, einem Hauch sarkastischer, ironischer Komik, da er im Prinzip derjenige war, der das Unheil, das seiner Welt drohte, herangezüchtet hatte, nicht in dieser Absicht, doch nicht gänzlich durchdacht und Kugelsicher. Sie werden sich nun vielleicht denken, dass unser Freund Harper sich ein neues Heim suchen sollte, doch dazu will ich Ihnen sagen, dass nicht jedes Haus ein Heim ist, wie sie hier sehen. Man mag zwar meistens, im Allgemeinen, das Haus als sein zu Hause betrachten, in welchem man mit seiner Familie lebt, in dem man das Licht der Welt erblickte oder später im eigenen Haus, das man sich nach Jahren des mühsamen Bauens und Sparens endlich geleistet hat, doch dem ist nur in den glücklichsten Fällen so. Ein zu Hause ist ein Ort, an dem man sich wohl fühlt, der einem Schutz und Zuflucht bietet, was immer auch geschehen mag. Sie und viele andere mögen das Glück gehabt haben, in einen solchen Ort praktisch hineingeboren zu werden, doch bedenken Sie auch, dass nicht jeder sich in diesem Glück wiegen kann. So auch Harper, ihm war das Haus in dem er mit Aida und Robert lebte zutiefst suspekt, wie auch die Umgebung, er fühlte sich nur im Bennington Inn sicher, was zeigt, dass ein zu Hause im Grunde ein Ort, wie jeder andere ist. Kein besonderer Platz, kein Palast, kein Herrenhaus nein, ein einfacher Ort, der erst dann besonders wird, wenn eine Persönlichkeit ihn bezieht, die ihn zu ihrem zu Hause macht. Man muss ihn nur finden, was auch seine Tücken birgt, denn dieser spezielle Ort, den man erst dann erkennt, wenn man ihn findet, befindet sich in dieser Weise auf keiner Landkarte. Oder haben sie ihr Heim jemals rot markiert auf einer Landkarte, einem Globus oder dergleichen Gefunden? Nun, möglicher Weise haben Sie es selbst gekennzeichnet, doch man bekommt gewiss keine „Der Weg zu meinem zu Hause-Karten“ zu erwerben. Manche Menschen reisen durch die ganze Welt, auf der Suche nach ihrem zu Hause, finden ihn jedoch nie, andere verweilen in dem, das sie kennen. Doch hat es denn einen Sinn, etwas zu suchen, das möglicher Weise gar nicht von Ihnen gefunden werden will? So kann man Jahre damit verbringen, nach einem idealen, existenten Heim zu suchen, ja man kann die Welt bereisen in der Hoffnung in einem fernen Land sein lange ersehntes zu Hause zu finden, doch man wird kaum fündig werden, nein. Man kann nichts finden, dass nicht die Absicht hegt, gefunden zu werden. Warum nicht? Nun, denken Sie nach, geneigter Leser, glauben Sie denn daran, dass irgendwo ein Haus steht, welches Ihren Wünschen entspricht und die Menschen beherbergt, die sie lieben und nur darauf wartet, dass Sie kommen und es finden? Ich werde Ihnen ein Geheimnis verraten, ein zu Hause ist kein Ort den man finden kann, nein keineswegs. Warum nicht?, Nun, man muss bekanntlich erst etwas schaffen, denn was nicht geschaffen worden ist, kann man nicht finden. Sie allein haben die Macht, einen Ort zu schaffen den sie zu Hause nennen können. Das tat auch der junge Harper, wenn auch unterbewusst. Er schuf sich aus einem verschrienen, alten Bauwerk und einem knorrigen Baum einen Ort, an dem er sich wohl fühlte, an dem er die Zeit vergaß und vor seinen Sorgen und Ängsten flüchten konnte. Ein Ort, fern ab von der pseudorealen Idylle seines monotonen, lügendurchflochtenen Ortes, an dem er lebte, jedoch niemals zu Hause gewesen war. Sein zu Hause war damals das Bennington Inn gewesen und wahrlich, es gab keinen zweiten Ort auf dieser Welt an dem er so heimisch gefühlt hatte. Auch wenn unser junger Freund es zeitweilen nicht wusste, Sie jedoch nun im Wissen, dass dieser Ort bald nur noch Staub sein wird, auf die Geschehnisse blicken, so erfüllt es einen doch fast mit leichter Trauer, zu wissen, dass der einzige Ort an dem Josh Harper zu Hause war schon bald nur noch Asche im Wind sein wird. Es war der erste Ort den er sein Heim nannte, und ich verrate Ihnen ein Geheimnis, es war auch der letzte.
Harper kehrte erst spät nach Hause zurück, ewig lange war er im Anblick des alten Monuments versunken gewesen. Wie wunderschön es doch war, das Silberdach, die vielen Fenster, die kunstvolle Fassade und erst der Garten in dem sein Baum stand, die Trauerweide! Noch immer schmunzelte er bei dem Gedanken daran, wie viel Zeit er dort doch verbracht hatte, ohne sich dessen bewusst gewesen zu sein. Wahrhaftig, er war glücklich, wann immer er nur durch das Loch der Zinnen schlüpfte und seine eigene, kleine Welt betrat die er nur mit seinem Es teilte. Das war der nächste Punkt, nun, mit mittlerweile fast achtzehn Jahren, was sein Es noch immer dicht an seiner Seite, obwohl er sich bis heute noch nicht über seine Existenz im Klaren war, doch er hatte ohnehin schon vor langer Zeit beschlossen, Es zu akzeptieren, er hatte auch in Erwägung gezogen, ihm einen Namen zu geben, diesen Gedanken hatte er jedoch bald wieder verworfen, Namen binden, sie bilden nur eine Grenze, sind eine Fessel welcher wir uns bedienen um uns Dinge zu eigen zu machen, darauf verzichtete er und somit bezeichnete er diese Wesenheit oder was auch immer es war, einfach als sein Es. Dieses Es hatte ihm seit seinem ersten Besuch im Bennington Inn nicht mehr verlassen, es war mit dem schlosslosen Schlüssel zu ihm gekommen, es schien ihm anzuhaften wie nun auch der junge Harper selbst. Sein Zimmer war ebenfalls noch das selbe alte Dachkämmerchen wie schon seither, es hatte sich nicht viel verändert, Harper schlief im selben Bett, holte seine Bücher aus dem selben Regal, sogar das Buch, das Robert ihm vor Ewigkeiten geschenkt hatte, stand noch am selben Platz. Es war zwar noch nicht sonderlich Dunkel, doch gewiss war es schon späterer Abend, doch Harper fiel schon nach wenigen Minuten des Grübelns in einen tiefen, Schlaf. Lange war es her, dass er richtig geschlafen hatte, aus Sorge, Robert könnte ihn wieder beobachten schlief er meistens nicht und verbrachte die Zeit lieber damit, sich über Roberts Stadium den Kopf zu zerbrechen. Mittlerweile trug er dieselben Kleider wie Harper und er hatte ihn schon mehrmals erwischt, wie er im Badezimmer vorm Spiegel stand und sein rundes, grobschlächtiges Gesicht zwischen seinen großen Händen zusammen presste, um zusehen, ob es auch so schmal und kantig werden würde, wie das Harpers. Auch um seine hohen Wangenknochen beneidete er ihn, doch Robert machte sich auch andere Merkmale seines Bruders zu Eigen. Es hatte nicht lange gedauert, da hatte Robert sich seine hellbraunen Haare wachsen lassen, wie es auch Harper tat, er ließ sie sich in das selbe fast schwarze Braun färben wie sein kleiner Bruder es von Natur aus hatte und trug es fortan auch als wilden Wuschel auf seinem Kopf. Robert wich ihm kaum mehr eine Sekunde lang von der Seite, er strolchte ihm hinterher wie ein kleiner wehrloser Hund, was durchaus einen ironischen Beigeschmack hatte. Er wusste, dass dieses Verhalten Folgen haben würde, welche, das konnte er nicht sagen, doch er wusste, dass Robert nicht erfreut sein würde, wenn Harper dieses Jahr nach ihrem Abschluss endlich verschwand. Robert hatte zwar, dank Harpers Hilfe, ein Sportstipendium an einer Eliteuniversität bekommen, ob er alleine klarkommen würde, stand jedoch noch in den Sternen. Auch heute träumte er wieder seinen einzigen Traum, doch heute hatte er etwas anderes an sich, diesmal stand Harper nicht im Mittelpunkt, nein, er beobachtete das Geschehen wie eine Zweitperson. Er erkannte den Protagonisten nicht, der in dieser, neuen Version seines Traumes vom Feuer verschlungen wurde, er hörte seine markerschütternden Schreie der Qual, sah seine, sich am Boden krümmende Gestalt doch erkannte nicht wer es war. Mühsam gelang es ihm, sich zu dem Schatten vorzukämpfen der die Höllenqualen durch litt, die sonst immer allein Harper vorbehalten gewesen waren. Endlich erreichte er die Gestalt die verkrümmt und sich vor Schmerzen windend am Boden lag. Dann erst erkannte er das verkohlte Gesicht. Robert!
Die Nacht war hereingebrochen, Josh schlief tief und fest, dessen hatte Robert sich mehrere Male vergewissert. Er streifte sich eine dunkle Kapuzenjacke über und zog sich die Kapuze tief ins Gesicht, niemand sollte ihn erkennen, er musste Josh von seinem Fluch erlösen bevor es zu spät war, dafür würde er ihm ewig dankbar sein und er würde nur noch für ihn allein da sein, nicht für das verhexte Haus. Lautlos wie ein Schatten glitt er aus dem Haus als alles schlief, seine dunkle Kleidung ließ ihn mit der Umgebung verschmelzen, er wurde Teil der sternklaren, überraschend warmen, Herbstnacht. Das Lang war dürr und ausgetrocknet, der Weg glich einer einsamen Steppe die im Mondlicht mehr an einen Geisterpfad erinnerte, als an einen Weg der durch den Stadtpark führte. Auch dieser erschien Robert nun durchweg fremdartig und ihm mutete etwas Wundersames, Furchteinflößendes an. Im Gegensatz zu seinem lieben Bruder scheute er die Dunkelheit und die Nacht für gewöhnlich, denn sie brachte allerlei Dinge, die ihm ganz und gar nicht geheuer waren. Die Dunkelheit schuf Platz für alle möglichen Wesen die sich als schemenhafte Schatten und Umrisse in den finsteren Ecken versteckten und ihn mit unsichtbaren Augen beobachteten. Sie gab seinem naiven, paranoiden Naturell viel zu viel Stoff für Illusionen und Ängste, er bevorzugte das Tageslicht, wo er alles sehen konnte, wenn die Sonne schien und ihn wärmte. Robert blickte sich gehetzt um, etwas hatte geknackst. Wurde er verfolgt? Sein Herz pochte wild, er wagte es kaum, zu Atmen. Nein, da war nichts, er war wahrscheinlich nur auf einen Zweig getreten. „Reiß dich zusammen, du tust es immerhin für Josh, denk daran!“, schalt er sich und schlich leise fluchend weiter. Das Gelände wurde immer unwegsamer, gut, das bedeutete, dass er sich dem Hügel näherte. Der Mond versteckte sich hinter Nebelschwaden, die sein Licht aufsogen als gönnten sie es Robert nicht. Die Nacht war beinahe stockfinster, er konnte nur knapp sehen, wohin er ging. Immer wieder stolperte er über kleine Vertiefungen im Boden, prallte gegen Steine und spitze Dornen langten nach seinen Armen, schlangen sich wie Ketten um seine Beine, zerrissen ihm seine dunkle Hose und stachen ihm blutige, kleine Löcher in die Haut. Er begann langsam zu fieren, wenn er nicht bald an sein Ziel kam, musste er umkehren. Nein, er musste es heute erledigen, er musste! Es war eine wahre Blitzidee gewesen, aus purem Zufall hatte er Josh erwischt wie dieses unsägliche Bauwerk ihn in seinen Bann gezogen hatte, er konnte nicht zulassen, dass er auch nur einen Augenblick in dieser Villa verschwendete. Das unwegsame Gelände gewann immer mehr an Steigung, der Wildwuchs verdichtete sich, perfekt, er war also ganz in der Nähe. Bald war Robert an dem hohen, gemauerten Zaun mit seinen Eisenzinnen angelangt, dieser stelle ein überraschend beachtliches Hindernis dar. Nach kurzem Überlegen, entschloss sich Robert, darüber zu klettern, was sich als komplizierter als gedacht erwies. Doch auch dieses Hindernis war im nu überwunden und er schlurfte weiter, in Richtung Bennington Inn. Der Garten lag im schummrigen, milden Licht des Mondes still und friedlich da, nur die trockenen Blätter flüsterten einander zu und der dicke Blätterteppich, der den Boden bedeckte wie ein samtener Läufer raschelte bei jedem Schritt. Robert zitterte wie Espenlaub, hier war es plötzlich so jäh um einige Grade kälter geworden, überhaupt, dieser wundersame Ort schien seine eigene Zeitzone zu haben. Es wehte ein leichter Wind, ansonsten war alles still und regungslos. Dennoch, irgendetwas war hier, Robert spürte seine Anwesenheit wie eine grabeskalte Klaue auf der Schulter. Robert hob den Kopf gen Himmel und sein Blick fiel auf das alte Bennington Inn. Die Wolken hinter denen der Vollmond sich versteckte, lichteten sich einen kurzen Augenblick lang und ein Strahl silbriges Mondlicht fiel auf das verfallene Monument wie der Kegel eines Scheinwerfers. Dunkel und bedrohlich ragte es vor Robert in den wolkenbedeckten Nachthimmel, es neigte sich gefährlich über die Hügelkuppe, wie eine alte, gebrechliche Frau, die in ihrem Lehnstuhl eingeschlafen ist und droht vorne über zu kippen. Die Wolken zogen sich wieder vor dem Mond zusammen wie ein grauer Vorhang. Robert wurde immer unwohler zumute, er hatte Gänsehaut und er verstand nicht, warum sein geliebter Bruder, dieses grauenvollen Ort ihm vorzog. Ein Fluch lastet auf diesem Haus ein böser Geist lebte hier, der von Josh Besitz ergriffen hatte, dessen war Robert sich sicher. Erneut packte ihn die Wut, die Stimme in seinem Kopf wurde wieder laut und hieß ihn, seinen Bruder endlich zu erlösen. Wild entschlossen marschierte er auf das Haus zu und stellte sich direkt vor eines der großen Fenster. Er zog seinen Rucksack vom Rücken und begann, nach den Streichhölzern und den Flaschen mit dem Treibstoff zu suchen. Flasche für Flasche füllte er mit Benzin, steckte ein Tuch tief hinein und begann auch, die Fassade des Hauses mit der Flüssigkeit zu besprengen. Er lief einmal um das ganze Bauwerk um es mit dem Benzin zu benetzen, es war größer als es erschien. Seine Hände waren klamm, die Ärmel seines Kapuzenpullovers trieften, sie waren vollgesogen mit der stinkenden Flüssigkeit. Nun kamen die Streichhölzer zum Einsatz. Robert puhlte eines davon aus der Verpackung und riss es an. Ein leises, zischendes Geräusch erklang und schon war ein kleines Flämmchen zu sehen. Eilig hielt Robert es an die Spitzen der Tücher, die aus den treibstoffgefüllten Flaschen ragten. Sie fingen fast augenblicklich Feuer, eine nach der anderen warf Robert sie durch die Fenster, eine an der Frontseite, die andere an der Nordseite und so weiter. Dann hielt er sein Streichholz an die Fassade, Flammen sprossen wie Blumen aus dem knochentrockenen, benzingetränktem Holz. Sie breiteten sich rasend schnell aus, kleine Flämmchen zügelten empor, leckten an der hölzernen Fassade des Bauwerks und fraßen sich durch, bis auf die Grundmauern aus uraltem Backstein. Auch innen tobte schon bald eine Feuersbrunst, zahlreiche Fenster zersprangen in tausende blinde, rußschwarze Scherben, die Dachbalken knarrten und barsten. Das alte Haus ächzte und knarrte markerschütternd. Robert war wie erstarrt, gebannt betrachtete er das Spektakel. Die Flammen wuchsen rasend schnell, schon bald stand das ganze Haus in Brand. Teile der Fassade brachen, Stützbalken knickten ein und donnerten nach unten, das große, gläserne Kuppeldach, das im Mondlicht schimmerte wie ein gigantischer Spiegel, hielt der Hitze nicht länger stand. Es zerbarst und rieselte in einem glänzenden Regen aus schimmernden Scherben unter lauten Klirren auf das brennende Bennington Inn. Mit offenem Mund stand Robert vor der Front des Hauses, er schien festgewachsen zu sein, denn seine Beine rührten sich nicht vom Fleck als er versuchte davonzurennen. Das Feuer tobte indes ungestört weiter, nun war auch vom, einst so prachtvollem Silberdach nicht mehr viel übrig. Auch einer der Türme war eingestürzt und der andere glich einer gigantischen Fackel. Ein tosender Wind kam auf und trug den Funkenregen hinfort, direkt in die dürren Kronen der Bäume. Die Funken fraßen sich in die dürren Blätter und diese brannten schon nach wenigen Augenblicken lichterloh. Entsetzt hielt Robert seinen Rucksack umklammert und drückte ihn fest gegen seine Brust, in der sein Herz so stark pochte, dass er fürchtete, es würde jeden Augenblick zerspringen. Doch so fest ihn die Angst auch im Griff hielt, in seinem Inneren keimte leise Freude auf, die Stimme in seinem Kopf begann zu summen und zu säuseln und auch Robert begann sein Kichern zu kichern, das Kichern, dem keine Freude zu Grunde lag. Er summte und johlte den Namen seines geliebten Bruders, schrie ihn in den Himmel und drehte sich auf der Stelle im Kreis. Hinter ihm ertönte ein grauenvolles Kreischen und zischen, das Feuer hatte die Kupferrohre erhitzt und das in ihnen enthaltene Wasser war zu dampf geworden, welcher nun unter einem entsetzlichen Kreischen entwich. Wahrhaftig, es klang wie der Todesschrei einer verbrennenden Hexe. Robert fuhr entsetzt herum und starrte schockiert in den Feuerturm. Eine Wolke aus Funken stob in den Himmel als der Dachstuhl nachgab, wie tausende Glühwürmchen tanzten sie im Wind und zerstoben zu Funkenstaub. Dicke Rauchschwaden quollen aus dem flammenden Inferno und waberten in einer schwarzen Säule gen Himmel. Es stank fürchterlich nach verbranntem Gummi, brennendem Holz und anderen verbrannten Dingen, deren Ursprung Robert ganz und gar nicht erfahren wollte. Beißender Qualm raubte ihm den Atem, die sengende Hitze des Feuers ließ seine Haut unangenehm spannen und ziehen. Das Feuer war nun im vollen Gange, es war vollkommen außer Kontrolle und hatte nun auch schon begonnen, den Garten zu verschlingen. Ein ohrenbetäubendes Krachen ertönte hinter Robert und ein das einst so prunkvolle Schild aus Silber auf dem die Aufschrift „Bennington Inn’s Place“ prangte polterte, begleitet von einem gewaltigen Grollen, zu Boden und schlug als verrußtes Etwas vor Roberts Füßen auf. Nun war es für ihn an der Zeit, zu verschwinden. Robert hatte sein Werk getan, ja er hatte es nahezu perfekt erledigt. Ihm wurde langsam übel, der beißende Rauch, die sengenden Flammen und sie unsagbare Hitze raubten ihm all seine Kräfte. Doch die Flammen kannten kein Erbarmen, sie züngelten gierig nach allem, was nur in greifbarer Nähe war, selbst vor ihrem Meister, der sie entfacht hatte, machten sie nicht halt. Ihre Gier war unersättlich, lüstern züngelten sie nun auch nach Robert, endlich fiel seine Schreckstarre von ihm ab und er nahm seine Beine in die Hand und rannte so schnell sie ihn trugen. Ohne einen weiteren Blich zurück zu werfen, rannte Robert davon, weg von der Katastrophe die er verursacht hatte. Nun fühlte er sich besser, ja er fühlte sich wahrlich wie neu geboren! Er hatte den Fluch von seinem Bruder genommen, nun würde sein über alles geliebter Josh seine Zeit ausschließlich mit ihm verbringen! Von diesem Gedanken beflügelt preschte er über das dürre Gras und den holprigen Weg heimwärts.
…Robert! Um Himmels willen, Robert war der Protagonist seines Alptraumes geworden! Das Feuer hatte ihn nahezu bis zur Unkenntlichkeit verstümmelt, doch seine, von Qual verzerrten wasserblauen Augen erkannte Harper überall. Qualm füllte seine Lungen als er nach Luft schnappte und ein dunkler Schatten schwebte auf ihn zu. Harper schreckte hoch, es war alles nur ein Traum gewesen! Die Sonne stand bereits hoch am Himmel und ließ seine Dachkammer in einem zarten Orange strahlen. Keuchend rang er nach Atem, er schwitze am ganzen Körper und sein Kopf fühlte sich an, als würde jemand mit einem Metallbolzen darauf einhämmern wie Robert seinerzeit auf die kleine Coco. Er fühlte sich, als wäre er von vier Rössern in vier Teile zerstückelt worden, auch seinem Es schien es nicht anders zu gehen. Auch es war seltsam, heute hatte sein Es etwas… ja Tottrauriges an sich, es wand und krümmte sich in unsäglicher Qual. Was war nur los? War Robert tatsächlich etwas zugestoßen? Mit einer tiefen, inneren Unruhe stolperte er aus seinem Zimmer und schlich zu Roberts Schlafraum. Behutsam öffnete er die Tür und schielte ins Zimmer seines großen Bruders. Robert schlief tief und fest, mit dem Hauch eines Lächelns im Gesicht. Harper schloss die Tür und seufzte, Robert war also nicht tot. Nun ja, man kann nicht alles haben. Einerseits erschütterte ihn dieser Gedanke, doch andererseits, war er froh, dass sein großer Bruder noch lebte. Immerhin war es Harper, der sich für ihn verantwortlich fühlte und sich um ihn kümmerte. Betreten schlurfte er die Treppe hinab um zu sehen, was es zum Frühstück geben könnte, doch er fand weder Brot noch sonst etwa vor, die Küche war leer. Aida war nicht da, doch das war nicht das fragwürdigste. Erst jetzt merkte er, dass es fast totenstill im Haus war, auch draußen war es nicht anders, kein Vogelgezwitscher war zu vernehmen, weder Autos noch Rasenmäher tönten. Nun war Harper klar, dass hier etwas ganz und gar faul war, es stank nahezu nach einer Tragödie. Misstrauisch trat er vor die Haustür und wanderte in nichts als seiner Pyjamahose durch den Vorgarten Richtung Straße. Im Garten lagen winzig kleine, graue Flöckchen. War es Schnee? Schnee im September? Unfug aber, warum auch nicht?. Je näher er der Straße kam, desto mehr graue Flöckchen säumten den Weg. Ein paar rieselten vom Himmel und auch in den Bäumen sah man sie. Der Geruch von Rauch lag in der kühlen Luft, nun erkannte Harper auch, was die kleinen Flöckchen waren: Asche. Fassungslos ging er auf die Straße, wo auch alle anderen Einwohner des Ortes versammelt waren und in den Himmel starrten. Auch Harper hob den Kopf und erkannte eine Rauchfahne, die vom großen Hügel aufstieg. Sein Herz blieb stehen, der Rauch kam vom Bennington Inn! Um ihn herum klangen Stimmen, Wortfetzten drangen an sein Ohr. „Es ist abgebrannt!“ „Ja, die Feuerwehr konnte es nicht löschen.“ „Wirklich? Wann?“ Heute Nacht!“ „Ja, ich habe es auch gerade er gehört, ungeheuerlich!“ „Wie wahr, nun ist es endlich weg!“ „Was machen wir nun?“ „Gar nichts, wir sollten dankbar sein.“ Allerlei solcher Aussagen drangen in sein Ohr, jedoch nicht an sein Gehirn. Das konnte nicht sein, unmöglich! Das durfte nicht sein! Erschüttert rannte Harper wie von allen guten Geistern verlassen in sein Refugium, er scherte sich nicht darum, dass er barfuß war und nur eine Hose trug. Er schürfte sich die Schienbeine auf, stieß sich die Zehen an Steinen, spitze Felsen zerrissen ihm die Fußsohlen, doch er rannte unentwegt weiter. Seine Lungen brannten, heißer Schmerz erfüllte seine Brust und seine Beine, aber das war ihm egal. Er musste sich überzeugen, dass alles in Ordnung war, er hoffte inständig, dass dem so war. Schon von weitem erfüllte der beißende Gestank nach verbranntem Gut die Luft, als er am Fuße des Hügels stand merkte, er dass der Boden warm war. Er blicke nach oben, der ganze Hang war fast zur Gänze ausgebrannt. Eilig hastete er nach oben, doch der Anblick der ihn dort ereilte traf ihn mit der Wucht eines Donnerschlages. Unvermittelt blieb er stehen. Vor ihm war nichts als Asche, Qualm und Trümmer. Das Bennington Inn lag nun als Ruine vor ihm. Bis auf einige Reste der Grundmauern war nichts mehr zu sehen. Reste der Ostwand erhoben sich vom aschebedeckten Grund, die Hälfte des linken Turmes und Rückstände von dessen Wendeltreppe zeigten wie ein verkohlter Finger gen Himmel. Die mächtige Treppe die den Großteil der Haupthalle eingenommen hatte ragte noch hoch empor, ihre einstige prunkvolle Verkleidung war verbrannt und gab die Sicht auf ihr metallenes Skelett frei. Am Ende der Treppe, auf der Plattform ragte eine einzelne Säule in die Luft wie der Zeigefinger eines jenen, der sich gegen den Schuldigen erhebt. Eine Treppe ins nichts, ein halber Turm und Reste von ehemals wunderschönen Wänden waren alles, was von seinem zu Hause übrig geblieben war. Auch seine Trauerweide war nun nicht mehr als ein verkohlter Stummel inmitten eines Meeres aus Asche. Die Mauerreste glommen noch vor Glut und hin und wieder stoben Funken auf. Die Bank unter der alten Eiche, die ebenfalls nur noch als glimmender Stift, vorhanden war und nun einem Zigarettenstummen ähnelte stand noch da wie zuvor. Sie würde wohl ewig auf jemanden warten der dich auf sie setzt. Es war unfassbar, es war tot, sein zu Hause war tot, verkommen in der Flammenbrut! Harper konnte es nicht fassen, er war unfähig zu denken, sein Kopf drehte sich, alles wirbelte durcheinander. Ein stechender unsagbar qualvoller Schmerz durchfuhr seine Brust, als würde man ihm sein Herz herausreißen. Er brach in die Knie und starrte auf das Skelett seines Heims. Harper vergrub sein Gesicht in der Asche seiner Welt, krallte sich mit seinen Händen darin fest als könnte er sie so zusammenhalten. Ein jämmerliches Schluchzen entrang seiner Kehle, seine Hände zitterten, er rammte sie in den Boden und ihm entfuhr ein markerschütternder Schrei, der aus dem tiefsten Inneren seiner Selbst entfahren war. Sein Körper zitterte und bebte, das Echo seines Schreies hallte in seinen Ohren und verklang nur stockend. Er konnte es immer noch nicht glauben, wollte es gar nicht wahr haben, doch er konnte es nicht länger leugnen. Nun, wo er in der Asche des einzigen Ortes kniete, an dem er je zu Hause gewesen war, wurde ihm bewusst, dass er Heimatlos war. Der Schmerz der ihn erfüllte, war anders als alles was er bisher gefühlt hatte, Trauer und Qual waren kein Ausdruck für das, was er fühlte. Sein Es wand sich in Gram und grauenvollen Qualen, sie hatten ihr Refugium verloren. Tränen quollen aus Harpers Augen und zogen saubere Spuren durch sein aschebedecktes Gesicht. Sie sammelten sich an seinem Kinn, verweilten dort eine Weile und fielen in den Staub wie kleine, flüssige Diamanten. Mit jeder träne die den aschebedeckten Boden benetzt, stob eine kleine Wolke aus Staub auf, die Asche saugte seine Tränen mit unbändiger Gier auf, doch irgendwann war auch ihrer überdrüssig und es bildete sich ein winziger Tränensee unter Harpers Haupt. Jede neue Träne die sich zu ihren Vorgängern gesellte, zog konzentrische Kreise und brachte die winzige Pfütze in Wallung. Die Zeit verstrich, ohne das Harper es merkte, er war unfähig etwas anders zu fühlen als Gram und Pein. Die Sonne begann den Horizont rot zu färben, ihre ohnehin schon krage Wärme erlosch, wie auch die restliche Glut des Feuers. Nur einige wenige Glutstellen glommen noch schwach im Abendlicht und die Sonne tauchte den Tränensee in ein schimmerndes rotes Licht. Er sah aus wie eine Pfütze aus Blut und Harper konnte eine verzerrte Maske darin erkennen, sie war blass und sah verbraucht aus. Lichtblaue, rot geränderte, geschwollene Augen leuchteten ihm entgegen. Harper blickte sein Spiegelbild unverwandt an, erst jetzt erkannte er, dass dieses Gesicht sein eigenes war und er wünschte sich sehnlichst, dass nicht dies eine Spiegelung von ihm, sondern er nur eine Spiegelung von diesem maskenhaften Gesicht war und es aus einer anderen Welt zu ihm herüberblickte, um ihm zu sagen, dass dies alles nur ein Traum war. Doch es war kein Traum, diese Erkenntnis überkam den jungen Harper wie eine Flutwelle die all sein Glück hinfort schwemmte. Die Sonne stand nun nur noch als Halbkreis hinter dem Skelett seines Heims, die Treppe mit ihrer Säule, der halbe Turm und die Mauerreste hoben sich als dunkle, lichtlose Schatten von ihr ab und erschienen noch trostloser als sie ohnehin schon waren. Es war fort, tot, verbrannt und vom Winde verweht. Mühsam richtete sich Harper auf, seine Glieder schmerzten, sein Rücken ächzte. Mit schmerzerfüllten Augen blickte er auf die verkohlten Trümmer seiner Welt, sein Es wand sich in Qual und Pein und auch ihm ging es nicht besser. Das Schlimmste war jedoch die furchtbare, kalte Leere die nun in seiner Brust gähnte. An der Stelle an der sein kaltes Herz gesessen war, klaffte nun ein dunkles, blutiges Loch das niemals mehr gefüllt werden würde, zwar nur im metaphorischen Sinne, doch Sie können sich vielleicht vorstellen, wie unser junge Freund sich in diesem Augenblick gefühlt haben mag. Eine Weile harrte er noch aus und starrte mit leerem Blick auf die Trümmer seiner eigenen, kleinen, zerstörten Trümmerwelt. So stand er nun da, mit einem Schlüssel um den Hals, zu dem es kein Schloss gab und einem toten Herzen, das kein zu Hause mehr hatte. In diesem Moment ging ein weiterer Wandel in Joshua Harper vor, einer der, zweifellos, gravierendsten Wandel die er durchschritten hatte und noch durchschreiten wird. Josh Harper beschloss in diesem Augenblick, dass es nur hinderlich sei, etwas zu schätzen oder Gefühle für etwas zu entwickeln. Sie ermöglichten es nur, dass man ihm wehtun konnte, auf eine Weise die ihn mehr verletzte als alle Schläge der Welt. Dieser mentale Schmerz, diese fürchterliche Gram, und das Gefühl dieser gähnenden Leere wollte er niemals wieder spüren, niemals. Von nun an würde er nichts und niemanden mehr lieben, nein, nie wieder. Dieses Ereignis hatte ihn wachgerüttelt, seine Trauer war Verdruss, Rage und vor allem einem, nämlich Verbitterung gewichen. Wie sein Heim sich in Asche und Staub verwandelt hatte, so verwandelte auch Harper sich in eine Hülle, er zog eine Mauer um sich, eine Mauer aus Bitterkeit die er von nun an mit sich Trug wie einen Schutzschild. Bald schon würde er diesen Ort für immer verlassen, ja bald. Er atmete tief durch, schloss für einige wenige Augenblicke seine brennenden Augen und verweilte so noch wenige Minuten an Ort und Stelle. Der Wind bedeckte seine nackten Füße mit Aschedünen, er fröstelte, die Sonne war fast verschwunden. Der junge Harper öffnete die Augen um einen letzten Blick auf seine Trümmerwelt zu werfen, der Anblick glich einem apokalyptischen Gefecht. Hier hätte ebenso gut ein epischer Krieg von statten gegangen sein können, nichts war mehr so, wie es sein sollte. Doch wann war dies schon so? Hier war nichts wie es schien, auch sein Refugium bildete keine Ausnahme. Seine leeren Augen schweiften noch ein allerletztes Mal über seinen Ruhepol, dann richtete er sich kerzengerade auf und drehte sich um. Er verließ sein Heim als anderer Harper. Er war erwachsen geworden wenn man dies so sagen kann. Harper hatte sich von seinem zu Hause gelöst, er wandte sich ab und ging, ohne einen weiteren Blick zurück zu werfen, fort, sein Körper löste sich von den Banden, sein Geist litt unter Qualen. Er würde verschwinden, bald. Mit einer gewaltigen Last auf den Schultern verließ er sein totes Reich, doch sein Herz blieb. Es würde hier bleiben, für immer.
Robert schlief noch tief und fest als Harper wieder in seine Dachkammer stieg um nachzudenken, er brauchte Zeit für sich. Noch verschwendete er keinen Gedanken daran, was der Grund für Roberts Müdigkeit war, Harper war nur froh, ihn nicht sehen zu müssen und wenigstens eine Nacht allein sein zu können. Bei jedem Schritt ertönte ein schmatzendes, widerwärtiges Geräusch, das das Tappen seiner nackten Füße unterstrich. Es roch metallisch, der Boden war glitschig, wo immer Harper auch hintrat. Er drehte sich um, um zu sehen was den Boden so merkwürdig machte und was das Geräusch verursachte. Hinter ihm zog sich eine Spur aus blutigen Fußabdrücken durch das Haus. Gleichgültig und völlig unfähig zu realisieren, dass dies seine Fußabdrücke waren, wandelte er weiter. Den ganzen Tag war er auf dem Hügel gekauert, nun war seine Trauer in die Untiefen seines Unterbewusstseins gesackt und hatte einer allumfassenden Taubheit Platz gemacht, die ihn einhüllte wie die Mauer aus Verdruss und Verbitterung. Er schien nun in einem kalten Hauch zu schweben, etwas in ihm war gestorben. Sein Es war nur schwach wahrzunehmen, auch ihm machte all das zu schaffen. Der junge Harper hatte sein Herz in den Ruinen des Bennington Inn gelassen, wo es auf ewig ruhen würde. Er umklammerte den Schlüssel an seiner Brus so fest, dass seine Knöchel weiß hervortraten und ließ ihn auch dann nicht los, als seine Muskeln begannen, sich schmerzhaft zu verkrampfen. Erschöpft ließ er sich auf sein Bett fallen und starrte ins Nichts. Den ganzen Tag hatte er kein Wort gesprochen und auch sein Überich meldete sich nicht. Er hüllte sich selbst in Stille, ließ seine Gedanken schweifen und drückte sein Gesicht in das kühle Kissen bis er endlich wegdämmerte. Selbst in dieser Nacht verfolgten den jungen Harper die Vorkommnisse des Tages, auch in Morpheus‘ Reich sollte er keine Ruhe finden. Gleich ob ihn Alpträume plagten oder nicht, der bleierne Schlaf lähmte seinen Geist und ließ ihn nichts aus den grauenvollen Szenarien erwachen, bis er ein leises Geräusch vernahm. Sofort war Harper hellwach, er richtete sich kerzengerade auf und blickte sich um, ihn befiel die alt bekennte Angst, Robert hier vorzufinden obwohl er seine Tür verschlossen hatte bevor er zu Bett gegangen war. Sorgsam blickte er sich im Raum um, keine Menschenseele war zu sehen, bis auf das Bücherregal, den Spiegel an der Wand und das Bett, in welchem er saß, war der Raum verlassen. Irritiert durchkämmte er seine Kammer mit Blicken, konnte jedoch nichts Verdächtiges entdecken. Nur der Boden war voll mit wundersamen bräunlichen Flecken, welche er erst später als seine Fußabdrücke aus Blut identifizieren würde.Verwirrt seufzte er, schwang mühselig die Beine aus dem Bett und versuchte aufzustehen. Ein brennender Schmerz durchfuhr seine Beine, von den Fußsohlen bis zur Hüfte brannten seine Muskeln. Konsterniert musterte er seine Fußsohlen, und musste feststellen, dass diese von Brandbläschen, kleinen Schnitt- und Schürfwunden überzogen waren. Seine Hände waren ebenfalls etwas in Mitleidenschaft gezogen worden, denn auch sie wiesen leichte Verbrennungen und derlei Blessuren auf. Unschlüssig betrachtete er seine geschundenen Hände, vorerst hatte er nicht die leiseste Ahnung, warum seine Glieder derartige Merkmale aufwiesen. Leicht belämmert starrte er weiterhin seine Hände an, hob sie ins Licht und musterte sie erneut. Nach und nach erschien verschwommen die Erinnerung an den gestrigen Tag vor seinem inneren Auge. Natürlich, Feuer! Daher rührten die Verbrennungen an seinen Händen und Füßen, die Schnittwunden kamen höchstwahrscheinlich daher, dass er barfuß gelaufen war. Doch wohin? Seine Gedanken flossen zäh durch seinen Kopf, als wären sie aus halbstarrem Teer. So sehr er auch nachdachte, sie entglitten ihm wieder und wieder, doch dann sausten sie mit voller Wucht wie der Hammer Thors‘ auf ihn hernieder. Die plötzlich erlangte Gewissheit schmerzte fast, mit einem Mal erinnerte er sich wieder. Das Bennington Inn, seine Welt…Feuer und Asche, es war verbrannt. „Fort, es ist fort!“, wisperte er in die Stille des leeren Raumes. Er starrte ins Nichts. „Fort…“, wiederholte er flüsternd, „Es ist fort, für immer.“ Harper hob den Kopf und starrte sein Spiegelbild an, als wäre es für alles Verantwortlich. Irgendjemand musste doch dafür verantwortlich sein, aber wer nur, wer? Seine anfängliche Trauer war nun vollends eisiger, frigider Kälte gewichen. Seine lichtblauen Augen waren hart und noch viel nichtssagender, tiefer und verschlossener geworden. Sie kennen gewiss die Redensart, welche besagt, dass die Augen das Fenster zur Seele eines Menschen sind. Die Augen Josh Harpers jedoch waren nun unendlich tiefe, dunkle, schwarze Tore in ein finsteres Nichts. Mit grabeskaltem Blich wiederholte er dieses eine Wort, er zischte es seinem Spiegelbild zu:“ Fort.“ Nur ein einziges, kleines Wort, doch dieses Wort füllte den Raum mit einer gewaltigen Schwere und nicht nur das, dieses Wort sollte für lange Zeit das letzte sein, welches Josh Harpers Lippen entfliehen sollte.
Er hatte sich verändert, seit Tagen hatte er kein einziges Wort gesprochen, verkroch sich in seinem Zimmer und besuchte auch die Schule nicht, obwohl es auch sein letztes Jahr war, das vor wenigen Wochen begonnen hatte. Robert fühlte sich schuldig, seit er das Haus abgebrannt hatte, war sein geliebter Bruder nicht mehr der Selbe wie zuvor. Dabei hatte Robert sich doch so viel von seiner Tat versprochen, er hatte gehofft und gebetet, dass Josh nun viel mehr Zeit mit ihm verbringen würde, hatte aber das genaue Gegenteil davon erreicht. Ihm war zum heulen zumute, sein geliebter Josh war anders geworden, er war ein anderer Josh wie zuvor, er war scheinbar weniger geworden. Sechs volle Tage und Nächte waren vergangen, in denen er kein Wort mit ihm gewechselt hatte, auch das Essen hatte er verschmäht. Langsam aber sicher beschlich Robert das Gefühl, einen großen Fehler gemacht zu haben. Womöglich würde Josh verhungern, verdursten oder er würde vor Einsamkeit und Kummer sterben. Wie hatte er nur so dumm sein können, die Stimme in seinem Kopf schalt ihn wieder, sie zischte und wisperte ihm allerlei böse Dinge ins Ohr und wollte nicht verstummen. Auch an diesem Morgen war er anders, ihn umgab ein eiskalter Hauch als er in die Küche schwebte. Josh war nur ein Gespenst dessen, was er einmal gewesen war. Robert stand am Herd, er hatte soeben beide Kochplatten aufgedreht um sich Eier zu braten, als sein geliebter Josh in der Küche erschien. Heute sah er sogar noch viel schlimmer als aus sonst, seine Augen waren eingefallen, unter ihnen lagen dunkle Schatten, Josh hatte offenbar wieder nicht geschlafen. Seine Wangen waren eingefallen und sein Gesicht war aschfahl. Joshs Hände waren voller Blasen und seine Füße hatten am Tage seiner Ankunft, vor knapp einer Woche, blutige Abdrücke hinterlassen, denn auch sie waren voller Blasen, Schnitte und Abschürfungen. Er war barfuß beim alten Haus gewesen, das war die einzige Erklärung. Robert brach es das Herz, seinen über alles geliebten Bruder so sehen zu müssen, doch was ihn noch viel mehr quälte, war die drückende Last der Schuld, die auf seinen Schultern ruhte wie eine tonnenschwere Bürde. Der Anblick, den sein Bruder ihm nun feilbot, ließ Roberts Herz in tausend Stücke zerspringen, nur mit Mühe konnte er die Tränen zurückhalten. Josh schenkte ihm nichts als einen leeren, bitteren Blick voller Gleichgültigkeit, als Robert ihm einen guten Morgen wünschte. Was hatte er nur angerichtet? Seine Freunde darüber, seinen Bruder nun für sich allein zu haben, zerbarst endgültig und er wurde von Trauer und Entsetzten überschwemmt. Robert sah keinen anderen Ausweg, er musste Josh sagen, dass er es gewesen war, der sein Unglück verursacht hatte, auch wenn er ihn dafür hassen würde. Er atmete tief durch, sammelte seine Kräfte und wandte sich seinem geliebten Bruder zu. „Josh, was passiert ist… es ist….“ „Es ist fort Robert, fort.“, murmelte Josh. „Ich weiß… es ist verbrannt, du mochtest es, oder?“ Er blickte Robert mit seinen schrecklichen Augen lange und durchdringend an, nun hatten sie etwas Eisiges, Sezierendes an sich. „Ja, in der Tat.“, erwiderte er. Robert konnte nicht länger hinsehen, er hielt diesem Blick nicht stand. Schuldgefühlte und Schmerz mischten sich mit glühender Wut gegen sich selbst. Er begann zu schluchzen, hatte nicht den Hauch einer Vorstellung was er sagen könnte, was ihn noch wütender machte. Er verdiente es bestraft zu werden, er und nicht sein geliebter Josh! Er ganz allein war schuld, dass sein Bruder so war, ER! „Robert…?“ Wieder begann Robert zu summen, hin und her zu wippen und vor sich hin zu flüstern. „Ich war’s, ich, ich, ich. Ich ganz allein! Nur ich bin schuld…. Es tut mir Leid, Josh! So leid, so furchtbar, schrecklich leid! Strafe… Ja, dein Robert muss bestraft werden Josh, bestraft!“ „Robert, wovon sprichst du?“ Ruckartig wandte sich Robert dem Herd zu und murmelte weiterhin seinen Singsang. Seine Augen wurden groß, sie blickten starr vor sich hin, sein Gesicht hatte einen diffusen Ausdruck angenommen. „Ich hab’s getan Josh, ich! Robert wusste nicht, dass er dir wehtut, nein…Robert wollte dein Bestes, es war verflucht, es hat dich gefressen Josh, gefressen! Du darfst ihm nicht böse sein! Bitte! Er wird bestraft… JA!“
Harper wunderte sich, sein Bruder hatte begonnen, von sich in der dritten Person zu sprechen. Er gab sich die Schuld für seinen Zustand, Harper wusste nicht, wo ihm der Kopf schwebte, seine Gedanken glitten so zäh dahin wie Teer. Bestraft? Wofür bestrafen? Verwundert und skeptisch, beschloss er nachzufragen. „Robert…“, weiter kam er nicht. Mit aller Kraft drückte Robert seine Hände auf die heißen Herdplatten. Ein grausiges Zischen erklang, es stank fast augenblicklich nach verkohltem Fleisch, Roberts letztes Wort verwandelte sich in einen gellenden Schrei, er begann zu Lachen. Harper konnte es nicht fassen, Robert lachte! Und wie er lachte, es war ein furchtbares, scheußliches Lachen. Das Lachen eines jungen Mannes, der sich im Labyrinth seiner selbst verlaufen hatte. Das Gelächter eines Wahnsinnigen. Er wippte vor und zurück, seine Hände presste er kontinuierlich auf die heiße Herdfläche und sein Singsang wurde immer konfuser. „Feuer, feuer… Bestraft, Robert wird bestraft, er hat Josh wehgetan, ja…sehr weh, sehr weh… Brennen muss er, brennen ja… Strafe für Robert! Brenn!“ Ein weiteres grausiges Kichern entfuhr seiner Kehle, Harper stellte es alle Nackenhaare auf. All dies geschah binnen weniger Sekunden, die Harper wie Stunden vorkamen, alles ließ in Zeitlupe ab. Scheinbar ewig hatte es gebraucht, bis er bei seinem Bruder angelangt war, und ihn eilends vom Herd wegriss. Fassungslos starrte er ihn an, schüttelte ihn und wollte ihn anschreien, doch Robert kam ihm zuvor. „Es tut ihm so leid Josh! Robert hat das Feuer gelegt, er war eifersüchtig, er wollte dir nicht wehtun, niemals, niemals, niemals nie!!“ Tränen quollen aus seinen wirren Augen, er schluchzte und zitterte, rang die Hände über seinem Kopf und fuhr fort. Harper war verwirrt, Robert hatte es getan? Verdammt, er musste ihm eines Tages gefolgt sein! Der junge Harper war vollends perplex. Robert hatte sein Refugium niedergebrannt, er hatte es vernichtet, sein Schloss in den Wolken, seine Stadt aus Glas! Aus Eifersucht… Es war beängstigend, Harper wurde nun das volle Ausmaß seines Tuns klar, er hatte nicht nur die primäre Rolle im Leben Robert Harpers eingenommen, nein, er hatte ihn um seinen Verstand gebracht. Er war derjenige, dessen Experiment über Jahre hinweg aus Robert einen völlig von ihm abhängigen, krankhaft fanatischen Anhänger verwandelt. Robert sah sich selbst als das Mindeste, er betrachtete Harper als eine Art Gottheit und klammerte sich krampfhaft an ihn, ja er definierte seine gesamte Existenz nur nach seinem Bruder. Harper wusste nicht, ob er nun wütend auf Robert sein sollte, oder ob er sich besser schuldig fühlen sollte. Er war hin und her gerissen, einerseits quälte ihn der Schmerz des Verlustes, andererseits plagte ihn ein schlechtes Gewissen. „Verzeih doch, bitte verzeih!“, wimmerte Robert. Harper konnte nicht anders, er musste ihm verzeihen, immerhin hatte er ihn herangezüchtet, er war schuld an Roberts Verfassung. Doch nein, einen Moment. SIE waren Schuld daran, SIE! Sie hatten ihn verstoßen weil er Gerechtigkeit geübt hatte, SIE waren alleine schuld daran, dass Robert noch abhängiger von seinem Bruder geworden war, da sie ihn ignoriert hatten. Hätten SIE nicht beschlossen, ihn auszuschließen, hätte Robert sich nicht an Harper geklammert, SIE trugen die SIE alleine. Mit einem Schlag hatte Harper seine heiß ersehnte Aufgabe gefunden, nun wusste er, was er zu tun hatte, bevor er diesen Ort verließ. Er würde ihn zerstören. Sie mussten bezahlen, sie alle.
Die Wahrheit über Josh Harper
Nummer 3: Sie und ihre perfekte Welt.
„Ich verzeihe dir Robert, es ist alles gut… Du trägst nicht die Schuld für deine Taten, nein, Sie sind verantwortlich für all das, was passiert ist.“ Robert starrte ihn an, seine Augen waren glasig vor Tränen undverzerrt vor Schmerz, dennoch fingen sie in diesem Augenblick an zu strahlen, Robert lächelte. Harper wurde immer unwohler, er hatte angefangen, die Hände seines Bruders zu bandagieren. „Du bist Robert nicht böse? Danke Josh, Robert liebt dich!“ Ein eisiger Schauer lief über Harpers Rücken, er hatte noch immer nicht aufgehört, von sich in der dritten Person zu sprechen, ein weiteres Zeichen dafür, dass er sich selbst zur größten Minderheit degradiert hatte. „Es ist vergeben, jedoch nicht vergessen Robert. Was du getan hast…“, er schauderte, “Dies war weit schlimmer als das, was du mit Coco angestellt hast. Doch es zeigt, dass du viel von mir gelernt hast, du hast gelernt, wie man Rache an jemandem nehmen kann, indem man ihm das Liebste nimmt, oder ihn so wieder für sich gewinnen kann.“ Robert starrte ihn fassungslos an. „Du… du hast gewusst, dass Robert sowas macht?“ Eine neue Seite hatte sich für Harper eröffnet. Erneut tat sich die Gelegenheit auf, an Roberts Fäden zu ziehen. Doch hatte er nicht schon genug getan? Immerhin hatte er sich zum Existenzmittelpunkt seines Bruders gemacht, konnte er noch weiter gehen? Nach langem meldete sich sein Überich zu Wort, mit stärkerer Stimme als jemals zuvor begann es zu flüstern: „Wenn das nicht ein Wink des Schicksals ist, an welches wir nicht glauben, mein Freund! Welch wunderbare Opportunität, zu überspielen, wie sehr uns der Verlust unserer Stadt aus Glas schmerzt! Nun sieh‘ mein Freund, wir können uns erneut unserer Marionette bedienen, denk doch nur nach! Wir müssen ihn schlicht und ergreifend gegen die aufhetzten, die ihn verstoßen, glaube mir, er wird tun was wir sagen. Erinnerst du dich, wie er bei diesem Hund gehandelt hat? Seine jetzige Reaktion wird noch besser, denn nun sind wir endgültig das Zentrum seines kümmerlichen, stupiden Lebens geworden. Wie verlockend es doch ist, sich als Überwesen zu erheben…nichtwahr? Reizvoll…nahezu anziehend… und so leicht dazu! Nur drei, vier kleine Wörter…“ Irgendwie hatte sie Recht, es brauchte tatsächlich nicht mehr als ein paar klitzekleine Worte um das Experiment auf den höchsten Level zu bringen. Harper war klar, dass Robert ihm nun vollends hörig war und er Robert mit spielerischer Leichtigkeit zu allem bewegen konnte. Ein paar Worte nur… „Na los, ich bitte dich, ziem dich doch nicht so! Stell dir nur vor, du könntest sie alle bloßstellen, sie alle…“, raunte sein Überich ihm zu. Der junge Harper brauchte nicht lange, um zu wissen, was zu tun war. Er würde sie alle zahlen lassen, jeden Einzelnen in diesem unsäglichen, abscheulichen Ort, er würde ihre pseudoperfekte Welt in Schutt und Asche legen, bis sie den Ruinen des Bennington Inns glich. Er brauchte Robert im Prinzip gar nicht dazu, doch eine Marionette zu haben war zum einen praktisch, zum anderen war dies blanker Zucker für sein Ego. Er blickte auf Robert herab, sammelte sich und suchte nach seiner autoritärsten, finstersten, wissendsten Stimme. „Robert, Robert… Selbstredend wusste ich, dass du so handeln würdest, immerhin habe ich dies so vorhergesehen.“ Er kicherte finster, legte demonstrativ eine kleine Kunstpause ein und sah seinen Bruder herabwürdigend an, bevor er fortfuhr: „Mein lieber Robert, dies war ebenso von mir geplant, wie auch dein halb gescheiterter …nennen wir es „Anschlag“ oder viel besser, „Einschlag“ auf das animalische Herzstück Veronica Gillespies. Auch ich hegte eine Antipathie gegen sie, darum musste sie leiden. Weißt du, das mit Veronica war noch harmlos gegen das, was ich gedenke, mit dem Rest anzustellen. Ich werde sie zermalmen, sie in ihren Grundfesten erschüttern, ihre Welt in Trümmer legen, so wie sie es mit der deinen getan haben Robert.“ Harper senke seine Stimme zu einem zischenden, verschwörerischen Flüstern. „Sie sind an allem schuld Robert, sie ganz allein. Sie fügen uns Schmerzen zu, um den Schein ihrer Perfektion am Leben zu erhalten. Sie nähren sich davon wie Parasiten von ihrem Wirt.“ Ein Grinsen breitete sich auf seinem Gesicht aus, Robert starrte ihn sowohl fasziniert, als auch verwundert und voller Furcht an, wie eine Fliege im Honig klebte er an den Lippen seines kleinen Bruders, welcher diese Macht genoss wie nichts anderes seit langem. Harper leckte sich genüsslich die Lippen, er wollte die Worte schmecken die von ihnen tropften wie bittersüßer, schwarzer Sud. „Pass auf Robert, man muss den Wirt eliminieren, um die Parasiten vergehen zu sehen. Was sagst du Robert, wie sollte ich es am besten angehen? Langsam und qualvoll, oder schnell und schmerzhaft?“ Roberts Blick weitete sich, wurde nachdenklich und er strahlte Harper an. „Langsam und qualvoll!“, feixte er. Harper lächelte. „Schön, langsam und qualvoll. Nun, ich habe auch schon eine Idee, wie wir das anstellen können, doch dazu werde ich vielleicht ab und an deine Hilfe benötigen.“ Robert war wieder vollends auf der Höhe, er strahlte Harper an, grinste von einem Ohr übers andere und zuckte aufgeregt. „Was immer du willst, für seinen überalles geliebten Josh tut Robert alles!“ „Wirklich alles?“ „Wirklich, ehrlich alles!“ Sehr gut, dieser Idiot lief ihm hinterher wie ein Hund, er hatte alles geschluckt. Perfekt, nun war es an der Zeit, sein finales Projekt in Gang zu bringen. Seine Grundidee stand fest, Harper wollte jeden einzelnen, verkommenen dieser verlogenen Parasiten zu Fall bringen, doch wie konnte er dies nur anstellen? Seit Stunden hockte er in seinem Zimmer und starrte aus dem Fenster während er nachgrübelte, welche Möglichkeiten es zu ergreifen gab. So überkam ihn zum Beispiel der Gedanke, dass er einfach ein Gerücht verbreiten könnte, welches dann die Runde machen würde und den Betreffenden in Roberts Status versetzten würde. An sich war dies zwar gar nicht so übel, jedoch war diese Möglichkeit äußerst langwierig, denn er wollte jeden einzelnen von ihnen Schaden zufügen. Er brauchte etwas, dass sie alle erreichte, sie alle erwischte, einem nach dem anderen… Ein andere Option wer es, ihnen allen ihr Liebstes zu nehmen, was allerdings mehr als nur zeitintensiv war, zudem war es auch viel zu variabel, ihm blieb noch ein gutes Jahr Zeit, dennoch war es zu wenig um sie alle so genau zu studieren…. Nein, Harper brauchte etwas, worauf er aufbauen konnte, etwas womit er sie alle treffen konnte, nur was? Verdammt, er konnte doch nicht einfach Nuancen in der Zeitung aufgeben die ein Gerücht über jeden verbreiteten! Moment, so derartig abwegig war diese Eingebung doch gar nicht… Zeitungen, nichts auf dieser Welt transportierte mehr Schund und Schande als sogenannte „Nachrichten“ durch die Welt als diese Blätter! Nun gut, Claire Hagotts Zunge vielleicht, doch auch sie erreichte nicht jeden, ein Glück. Jeder hier verschlang die Zeitung, zumindest die Klatsch und Tratsch-spalten, doch nichts lag Harper ferner, als sich einer solchen, mit Wortmüll und Kommerz verseuchten, Schund verbreitenden, pseudoehrlichen Organisation wie den Journalistengeiern anzuschließen, nein. Josh Harper brauchte etwas neues, das einzig und allein diesen Ort erreichen sollte und das nicht in fixen Rhythmen, sondern dann, wenn ihm danach war und wenn die Leute es am wenigsten erwarteten. Ausgezeichnet, er hatte also eine entfernte Vorstellung von dem, was er vorhatte. Er wollte ein kleines Blättchen, einen Flyer, ein Rundschreiben oder wie auch immer man es nennen möchte ins Leben rufen, anonym selbstredend. Niemand sollte er fahren, wer für alles verantwortlich war und wenn doch, es gab schließlich immer noch Robert… Wahrlich, welch brillante Idee! Von Zeit zu Zeit würde er sie mit einer Neuigkeit schockieren, die jeweils einen oder zwei Bewohner traf und er brauchte sich dazu nicht einmal Gerüchte ausdenken, nein! Die Wahrheiten die diese Leute hier verbargen waren viel brisanter als alles, was sich der junge Harper je hätte ausdenken können. Das war das herrliche daran, jeder hier hatte in Wahrheit so viel Dreck am Stecken, dass kein Gerücht der Welt diese Wahrheiten an Brisanz und Destruktivität übertreffen könnte. Es war also beschlossene Sache, er würde sie alle mittels medialen Mitteln bloßstellen, ihre Idylle würde zerbröckeln und in sich zusammenfallen wie die Trümmer seines geliebten Bennington Inn. Ihm fehlte nur noch ein passender, treffender Name… Wie nennt man so etwas? Von solchen Dingen verstand der junge Harper herzlich wenig, Namen waren schließlich nur Schall und Rauch. Doch es half nichts, er brauchte einen Namen für sein Projekt den diese Narren niemals vergessen würden, einen, der wahr war, einen Namen der sie aufrüttelte, den Kern seines Projektes wiederspiegelte. Die Idee schoss wie eine Sternschnuppe am Horizont seines Gedankenmeeres vorbei, es war treffend, melodisch und auch etwas theatralisch, kurz um, es war perfekt. Schließlich gab es hier genug Stoff für seine Enthüllungen, er musste ihn lediglich ausgraben und verbreiten, dafür würde er aus Zeitgründen Roberts Hilfe benötigen. „Nur zu, er wird doch in der Lage sein, sich in einem Busch oder was auch immer zu verstecken, zu lauschen und da Gehörte niederzuschreiben, das dürfte selbst unsere kleine rückgradlose Marionette schaffen! Worauf warten wir? Die Zeit rinnt wie Sand durch unsere Finger, zum zögern ist es zu spät!“, ließ sein Überich verlauten. „Das mag sein, doch wir müssen alles genau planen, du entsinnst dich sicherlich, dass unser letztes kleines Experiment diverse Folgen nach sich gezogen hat, die wir nun am Hals haben?!“ Harper hatte begonnen, in seiner Kammer auf und ab zu schreiten und mit seinem Überich zu debattieren. „Für wahr… Mit der Extermination Robert Harper Seniors haben wir und den Junior zur Marionette gemacht, was uns zwar so einiges gekostet haben mag, so ist er uns auch nützlich und er ist ein Paradebeispiel für unsere Macht und unsere Talente.“ „Insofern ja, doch er hat uns unseres Refugiums beraubt! Er kann nur zu leicht außer Kontrolle geraten! Du siehst, was passiert ist, versteh meine Zweifel, du musst zugeben, dass sie mehr als schlicht und ergreifend berechtigt sind!“ „Zweifel, zweifel, papperlapapp! Zweifel sind Gift für unsere Ideen, sie verpesten unsere Euphorie mit lähmenden Bedenken und rauben uns die Aussicht auf Erfolg! Vergiss dies nicht!“ Harper seufzte, ihm lief tatsächlich die Zeit davon, sein Überich hatte wieder Recht, Zweifel waren das Letzte was er nun benötigte. „Schon gut… Was liegt denn in unserem Repertoire, das eine Eskalation seitens Robert unterbinden könnte?“ „Nun, das ist simpel, wir müssen ihn lediglich unterschwellig unter Druck setzten, dann wird er sich hüten, auch nur den kleinsten Fehler zu begehen.“ „Wahrlich eine hervorragende Idee… Eine kleine Mahnung würde genügen und er wird sich gebärden wie ein Musterknabe!“ Bei diesem Gedanken huschte der Hauch eines bösartigen Grinsens über sein kantiges Gesicht. Wunderbar, bald konnte es losgehen! Voller Euphorie rief er Robert zu sich, welcher angesprintet kam wie ein Hündchen, das sich freut seine Herren zu sehen. „Wie überaus passend“, gluckste Harpers Überich. Auch Harper musste kichern, er unterdrückte es jedoch als Robert das Zimmer betrat. „Mein lieber Robert, ich sagte dir bereits, dass ich deine Hilfe benötigen werde, nicht wahr? Nun, hör mir gut zu, denn ich habe eine Aufgabe für dich, die es alsbald zu erfüllen gilt. Doch ich muss dich warnen, dieses Mal dulde ich keine Fehler, nicht den Kleinsten Makel, hast du verstanden?“ Er sah ihn durchdringend an, durchbohrte ihn schier mit Blicken und hob mahnend den Zeigefinger. Robert sah ihn an wie ein Götzenbild, in seinen Augen lag ein freudiges, aufgeregtes Funkeln. „Ja, Robert hat alles verstanden, er hat alles gehört und er wird alles tun was Josh ihm sagt!“, flüsterte er mit glockenheller Stimme. „Sehr gut, nun denn auf ein Neues mein lieber Robert, du musst mir beweisen, dass du es wert bist, dass ich dir verzeihe!“, grollte Harper mit seiner autoritärsten Stimme. Robert senkte die Schultern, mit gebeugtem Rücken und im Schoß gefalteten Händen saß er vor Harper wie ein Schuljunge, der darauf wartet, gezüchtigt zu werden. Harper musste sich selbst schelten, er wäre beinahe in lautes, bösartiges Gelächter ausgebrochen. Was für ein Narr Robert doch war! Nachdem, was er mit dem Bennington Inn angestellt hatte, hatte Harper ihm ganz und gar nicht verziehen, nein. Er hatte ihm etwas vorgemacht, weil er ihm sonst möglicher Weise nicht mehr so hörig sein würde. Nun hielt Robert ihn auch noch für gütig und glaubte weiterhin, dass er ihn liebte. Humbug, der junge Harper hatte zwar vor langer Zeit eine gewisse Zuneigung für seinen Bruder entwickelt, doch als Robert sein Refugium niederbrannte, war es hiermit auch vorbei. Mit der letzten Flamme war auch jedes Gefühl, das Harper für seinen Bruder empfunden hatte, sei es Mitleid, Wohlwollen oder Wertschätzung, endgültig erloschen. Geblieben waren nur noch der giftige Dunst der Verachtung und die eisige Kälte der Gleichgültigkeit. Von diesem Tage war Robert in den Augen seines Bruders nicht mehr sein Experiment, nein er war zum Werkzeug, einem reinen Nutzgegenstand verkommen. Doch dies ließ ihn Harper nicht merken, es würde nur sein Vertrauen erschüttern und die, ohnehin schon wünschenswerte Qualität seiner Leistungen, um einiges senken. Dieser Zustand war nichts, was dem jungen Harper nun von Nutzen sein würde, darum erhielt er den Schein der Zuneigung aufrecht um Robert in Sicherheit zu wiegen, jedoch nur, solange er ihn brauchte. Zur Zeit brauchte Harper seinen größeren Bruder wohl oder übel, denn sein finales Projekt war mit reichlich Aufwand verbunden, den er allein in dieser begrenzten Zeitspanne nur mäßig bewältigen konnte. So sehr es ihm auch wiederstrebte, er würde Robert als… nun ja, eine Art Spitzel einsetzten müssen, denn der jung e Harper brauchte viel Stoff um daraus die Wahrheiten zu weben, mit denen er das Netz aus Lügen der perfekten Welt zerreißen wollte. Harper seufzte tief, wie furchtbar desillusionierend! Doch was blieb ihm anderes übrig? Mit Robert ging es um einiges schneller und leichter, er konnte sich ein andermal den Kopf darüber zerbrechen, wie er diese Last loswerden könnte. Aber nun war es endlich an der Zeit, sein heiß ersehntes, allerletztes Projekt in Gang zu bringen! Sein ganzer Körper kribbelte vor Euphorie und Tatendrang, um nichts in der Welt würde nun aufhören, nein, niemals! Dies würde diesem unsäglichen Ort noch ewig in Erinnerung bleiben, auch wenn sie seinen Namen niemals kennen werden, sie werden ihn fürchten! Mit einem gespenstischen Grinsen und flüsternder Stimme richtete er das Wort erneut an Robert, welcher ihn fasziniert betrachtete und scheinbar vor Spannung platzte. „Auf, auf Robert, nun erhebe dich und schenk mir Gehör!“, wisperte Harper in feierlichem Schall. „Du bekommst nun deine Aufgabe, welche wie folgt lautet: Vom morgigen Tage an, versteckst du dich hinter dem Holzstapel von Barbara Dales Haus, dort wirst du, zwischen Mauer und Stapel versteckt, hocken und alles mitschreiben, was sie sagt, ausnahmslos alles! Hast du verstanden?“ Robert blickte Harper an, seine Augen funkelten wie Onyx und seine Hände zitterten wie Espenlaub, wenn er nicht gerade seine Fingernägel blutig kaute. „A-aber natürlich, R-robert tut alles was Josh ihm sagt!“ Er hatte wieder zu kichern begonnen, wippte vor und zurück und verfiel in seinen Singsang aus Kauderwelsch. Harper war unwohl zumute, er hasste es, wenn Robert sich so verhielt, dies zeigte ihm nur das volle Ausmaß dessen an, was er angerichtet hatte. Es ließ ihn schaudern, angewidert sah er seinen großen Bruder an. Wie ein Kind saß er vor ihm, wippte, schaukelte und sang als wäre er geisteskrank. Nun, vielleicht war er dies ja geworden… „Natürlich ist er das, er ist wahnsinnig mein Freund, er hat einen an der Klatsche, nicht mehr alle Tassen im Schrank, er hat den Verstand verloren…und DU bist schuld! Du hast ihm seinen Verstand geraubt, ihn dir zu Eigen gemacht wie ein Seelenfänger…“, zischte sein Überich. „Genug!“, wetterte Harper, er wusste nur zu gut, was er getan hatte, es sollte ihn nicht auch noch von seiner besseren Hälfte vorgeführt werden. Robert blickte ihn fragend und entsetzt an, seine Augen waren geweitet vor Schreck, der Singsang war verstummt und er saß kerzengerade da. „Hat Robert etwas Unrechtes gesagt?“, flüsterte er erschrocken. „Es tut ihm leid, furchtbar, schrecklich, unglaublich leid!“ Harper war nicht bewusst gewesen, dass er seinem Überich dieses Mal laut geantwortet hatte, für gewöhnlich tat er dies in seinem Kopf… Doch hatte er es schon immer laut getan? Darüber war er sich nicht im Klaren, wenn ja, wie lange tat er dies schon? Verdammt, er verlor die Kontrolle! Wutschnaubend fuhr er herum, zum Fenster und starrte in mitten in das aschfahle Gesicht des Mondes, der auf ihn herabblickte und alles in seiner Kammer in silbriges Licht hüllte. Es war Nacht, unglaublich, wie lange saß er schon hier? Erneut entrang seiner Kehle ein tiefes, erschöpftes Seufzen. Zögerlich wandte er sich zu Robert um, der immer noch wie ein geprügelter Hund auf dem Boden kauerte und ihn anstarrte. Seine Knie waren mittlerweile bläulich angelaufen, blutige Schlieren zogen ihre Muster quer über seine Hände und überzogen seine Arme mit einem makabren Muster. Er kaute an seinen Fingernägeln, nicht nur das, er knabberte an seinen Fingern! Wie abstoßend! Angewidert betrachtete Harper seine Marionette, bei diesem kläglichen Anblick den sie ihm darbot wurde ihm speiübel, er könnte Gift und Galle spucken! „Hinfort“, raunte er. „Ach und Robert… begib dich nicht aus deinem Zimmer, ehe ich dich dazu heiße! Ich werde dich morgen holen, sobald der Tag anbricht. Das war alles. Geh.“ Robert nickte, senkte demütig den Kopf und schlurfte aus dem Zimmer. Voller Abscheu sah der junge Harper ihm nach. Er musste verschwinden, er war eine Schande, viel zu leicht war er ihm verfallen. Doch gemach, vorerst hatte er andere Ziele, gut Ding braucht schließlich Weile.
Die Bedeutung dieses Ausdrucks fraß sich für immer in Josh Harpers Gedächtnis, denn er verbrachte die ganze Nacht damit, sich einen Namen für sein Enthüllungsblatt einfallen zu lassen, was sich schwieriger gestaltete als gedacht. Perfektionismus kann sich, so gesehen, vom Segen zum Fluch wandeln und einem gigantische Steinblöcke in den Weg zum Erfolg legen. So verweilte er in der nächtlichen Stille seiner Dachkammer und wälzte Gedanken um Gedanken ab, auf der Suche nach einem Namen, doch alles, was ihm unterkam war die schier allumfassende Stille dieser lauen, finsteren Nacht.
Doch um ehrlich zu sein, so ist Stille nichts Negatives, Verwerfliches oder gar Unnötiges, nein, letzteres am Wenigsten! Selbstverständlich, Stille kann in vielen Situationen zu tiefst unangenehm sein, doch ihr liegt ein viel tieferer Wert zu Grunde als Worten. Worte mögen zwar viel auszudrücken vermögen, doch sie sind an einen Sinn und an das Wesen Mensch gebunden, sei es auf dem Papier oder in gesprochener Form. Es gibt unzählige von ihnen, doch sie existieren auch in anderen Sprachen, deren nicht jeder mächtig ist. Stille jedoch, hat viel mehr auszusagen, so ist sie auch ein bedeutungsschweres Phänomen. Sie existiert in so vielen Variationen, so kann Stille von trauriger Natur sein, von würdevoller Andacht oder Respekt zollen, wenn man sie als Exempel dazu nutzt, einem Anderen die Aufmerksamkeit zu schenken, die ihm gebührt. Sie ermöglicht es uns auch, das Wort des Anderen zu hören, denn ohne Stille, würde die Welt in kontinuierlichem Krawall versinken. Sie verschlingt uns und erstickt alles Hörbare um uns herum, bis es nur noch die Stille ist, die wir zu hören glauben. Jedermann kann die Bedeutung von Stille ermessen, es liegt sehr wohl ein Unterschied in trauernder, bedrückter Stille, als in der Form von Stille, wie sie auftritt, wenn uns vor Glück, Schock oder Dergleichen alle Worte fehlen. Wissen Sie, jedem Krawall liegt eine Stille zu Grunde, aus dem er wächst um zu wüten, doch auch sie ist es, die ihn mit der Zeit wieder erstickt um ihn zur Ruhe zu bringen, sodass er wieder von neuem auferstehen kann. Lärm und Stille sind zwei Seiten von ein und der Selben Medaille. Sie gehen stets miteinander einher, man findet das Eine niemals ohne das Andere. Manchmal, so sagt Stille umso mehr aus, als eine Anhäufung zahlloser Worte, die wir ohnehin täglich so oft benutzen, das ein jedes von ihnen schon abgetragener ist, als das Kleid eines Waschweibes. Der junge Harper hatte Stille schon immer geliebt, sie bot ihm genug Platz, um sie mit seinen wirren Absurditäten, blendenden Visionen und brillanten Ideen zu füllen. Diese illusionistische Leere als solche, faszinierte ihn schon seither, immer öfter hatte er sich gefragt, wie es wohl wäre, wenn für einen Augenblick alle Welt den Atmen anhalten würde, wenn einen winzigen Augenblick nur völlige Stille herrschen würde. Doch vollkommene Stille war etwas, was er noch nie erfahren hatte, immer gab es winzige Geräusche die ihm unnatürlich laut erschienen waren. Doch in dieser Nach war es beinahe vollkommen Still. Er hörte nur das Pochen seines eigenen Herzens und das leise zischen seines Atems. Bald war auch für diese Geräusche taub geworden, er blendete sie aus, hatte sich daran gewöhnt und konzentrierte sich auf seinen Verstand. Alles um ihn herum schien zu verklingen, kein Laut drang an sein Ohr, er schenke nichts und niemandem Gehör, selbst sein Überich war verstummt und lauschte dem Klang der Stille. Nun fühlte sich der junge Harper, als wäre er in einem Vakuum gefangen, was ihn mehr wunderte als ärgerte. Alsbald fing er an über die Stille nachzugrübeln und kam zu einem folgenschweren Schluss. Viel zu wenige bedienten sich der Waffe des geschriebenen Wortes, man machte viel eher Gebrauch von körperlichen Reizen, neigte zu mehr Gewalt und Vandalismus. Doch man konnte Gewalt und Zerstörung auch anders in Angriff nehmen, ein einziges stilles Wort konnte einen Aufruhr vom Zaun brechen wie es keine Tat besser könnte. Diese abscheulichen Narren! Er würde ihnen schon noch beibringen, sich vor Worten zu fürchten, denn sie würden es sein, die ihr aller Leben in Trümmer schlagen würden. Harper schlug die Augen auf, und sog scharf die kühle Morgenluft ein, natürlich! Die Inspiration überkam ihn so plötzlich und überraschend, dass es ihm fast den Atem raubte. Hektisch blickte er aus dem Fenster, die Sonne wagte sich soeben vorsichtig hinter der schützenden Linie des Horizontes hervor, es war noch sehr früher Morgen. Aufgeregt und voller Tatendrang flog er förmlich von seinem Bett aus zur Zimmerpforte, schnappte sich Papier und eine Feder uns stürmte in die Küche. Robert war noch nicht wach, seltsam, es war Montag und Aida war gerade dabei, Frühstück zu kochen. Absonderlich, höchst absonderlich. Aufmerksam blickte er sich um, um festzustellen, ob etwas nicht stimme. So viel er erkennen konnte, war alles wie eh und je. Aida bereitete das Frühstück für ihren Lieblingssohn, die Uhr an der Wand ließ ihr nervtötendes Ticken verlauten und es roch nach gebratenem Speck, Eiern und Dergleichen, sodass es dem jungen Harper vor Grauen den Magen umdrehte. Es war sechs Uhr, Robert müsste bald die Treppe herunter poltern und seine morgendliche Fressorgie starten, er konnte warten, ihm blieb nichts anderes Übrig. Mit einem genervten Seufzen setzte sich Harper an den Tisch, warf einen verächtlichen Blick auf den Propaganda verseuchten, Klatsch gefüllten Schundhaufen der sich Tageszeitung schimpfte und beschloss, sich eine Tasse schwarzen Kaffee zu holen. Diesen Zeitungen glaubte er nicht einmal das Datum, alles was sie zu berichten hatten war, welcher Pseudo-Promi gerade mit wem schlief, welcher Politiker sich gerade wie in der Öffentlichkeit blamiert hat et cetera. Kopfschüttelnd nippte er an seinem Kaffee, eine Schande, dass so etwas in Umlauf gebracht wurde. Nie las man etwas von wichtigen Ereignissen, wie zum Beispiel, was unsere verehrten Politiker so trieben wenn sie sich nicht gerade blamierten, von politischen Problemen war kaum die Rede, man zerriss sich lediglich hin und wieder das Maul darüber, wie viele Steuern dieser und jener hinterzogen hatte. Keine Spur von wichtigen Neuigkeiten, niemand hielt es für notwendig die Bevölkerung darüber zu informieren, wo ihre Steuergelder denn hinflossen, was sie gegen diverse Probleme wie steigende Kriminalität oder kollektiven Betrug unternehmen würden. Nun, warum auch? Immerhin waren es die großen Köpfe an der Spitze die die Steuern hinterzogen, die Leute ausschlachteten wie einen alten Ford, bis höchstens noch skelettartige Überbleibsel vorhanden waren. Die Reichen wurden immer reicher, die Armen immer ärmer, das Volk verkam in Selbstjustiz, Kriminalität war Normalität geworden, doch die Köpfe hoch oben, hielten sich für Gott Kupfer. Unfähig, sich auch nur annähernd zu einigen, rannten sie wie Hühner, denen man den Kopf abgeschlagen hatte, von Sackgasse zu Sackgasse, erhöhten Steuern, erließen Gesetzte, schraubten am Bildungssystem herum und trieben Schindluder mit Staatskrediten. Während Banken verarmten kassierten sie Millionen. Harper hätte Gift und Galle spucken können, Demokratie funktionierte nicht. Warum? Nun, weil jeder Mensch das durchsetzten will, was ihm am meisten nützt, egal was der Andere will. Kompromisse kommen nicht infrage, nein, keineswegs, sie mindern nur den persönlichen Erfolg. So zerfleischten sich die demokratischen Politiker und wurden durch das Leid der Bevölkerung reich. Doch die Bevölkerung war auch nicht besonders helle, anstatt diese Nichtsnutze zu boykottieren und ihr Recht zu fordern, hofften sie auf Besserung und schluckten bereitwillig jedes Wahlversprechen das man leichtfertig dahinsagte. Damit schaufelten sie sich jedoch nur ihr eigenes Grab, denn sie wählten die Selben Idioten wieder, zur Krönung des ganzen beschwerten sie sich dann auch noch, ohne etwas zu unternehmen. Man nahm es schlicht und einfach hin wie es war, denn „es war nun mal so“. Schon allein der Gedanke an diese Umstände ließ Harper innerlich brodeln. Er griff nach der Zeitung und warf sie geradewegs in den Müll, dorthin, wo sie seiner Meinung nach auch hin gehörte. Wo zum Teufel blieb Robert? Nun war es schon fast halb acht! Aida war in die Stadt gefahren um Einkäufe zu erledigen, das Frühstück war mittlerweile kalt. Für diesen Fall hatte sie Brötchen, Marmelade, Kuchen und anderes Gebäck vorbereitet. Man merkte, dass sie nichts zu tun hatte. Die Zeit verstrich, es wurde Acht, dann Neun und schließlich war es halb Elf, als Harper der Geduldsfaden riss. Misstrauisch erklomm er die Treppe und donnerte gegen die Zimmertür seines Bruders. Noch bevor er die Klinke berühren konnte, öffnete Robert die Tür. Er war angezogen, sah frisch und ausgeruht aus, nichts erweckte den Eindruck, dass er zu lange geschlafen hatte. Nein… etwas stimmte nicht. Er hatte nicht geschlafen, nicht lange, er hatte gewartet! Darum hatte er die Tür so schnell geöffnet. Augenblicklich schossen Harper die Worte vom Vorabend durch den Sinn. „Begib dich nicht aus deinem Zimmer, ehe ich dich so heiße!“ Sein Überich kicherte, wie achtlos von ihm! Robert hatte wie ein Hund gehorcht. Er strahlte ihn an. „Guten Morgen Josh, Robert ist bereit!“ Harper wurde speiübel. „Gut, dann geh! Du weißt, was du zu tun hast.“ Eilig drückte er Robert das Papier und das Schreibzeug in die Hand, ehe dieser losstürmte um seine Aufgabe zu erfüllen. Harper war froh, dass er aus seinen Augen war, er ertrug den Anblick dieses abscheulichen Exemplars der Rasse Mensch nicht länger. Er machte sich auf den Weg in die Küche, um eine weitere Tasse pechschwarzen Kaffee zu trinken. Überrascht hielt er im Türrahmen inne, was er sah, verblüffte ihn. Robert hatte seine morgendliche Fressorgie entfallen lassen, keinen Krümel hatte er angerührt. Verdammt, dieser Idiot war auch zu fixiert auf das, was er ihm sagte! Schaudernd machte er kehrt und steuerte auf die Haustür zu, bis ihm bewusst wurde, was er da tat. Unser Freund war in Begriff gewesen, sich in sein Refugium zu flüchten. Schmerzlich kehrte die Erinnerung zurück und traf ihn wie ein Faustschlag mitten ins Gesicht. Es war Fort. Erneut überkam ihn dieses bittere Gefühl von unfüllbarer Leere. Zu tiefst desillusioniert wanderte er in seine Dachkammer, kramte ein Blatt Papier unter seinem Bett hervor und wollte beginnen, zu schreiben. Doch, er konnte nicht mit seiner Handschrift schreiben, dies war zu offensichtlich. Unfassbar, er hatte ein so wichtiges Detail vernachlässigt! Womit sollte er denn nun seine Enthüllungen verfassen? Mit einem Computer, wo man alles genau nachweißen konnte? Sicher. Er seufzte tief und ließ sich auf sein Bett plumpsen. Er starrte an die Decke, die Holzdielen dort waren ihm fast so vertraut wie der Anblick des Himmels. Doch auch dies hielt ihn nicht lange auf. Er war ruhelos, was auch ganz gut war, denn Trägheit machte faul. Er beschloss, in die Stadt zu gehen, vielleicht fand er dort irgendetwas, was er verwerten konnte. Möglicher weise hatte er Glück und wurde sogar überfallen und erschossen, oder gar von einer alten Frau überfahren. Euphorisch machte er sich auf den Weg, schnellen Schrittes eilte er aus der Ortschaft. Nach und nach veränderte sich das monotone Bild seines gewöhnlichen Lebensraumes. Die perfekten Häuser wichen hohen Fassaden, die Straße teilte sich mehrere Fahrbahnen und Gassen und neue Gesichter erschienen auf der Bildfläche, je näher Harper der kleinen Stadt kam. Es war keine Metropole, nur ein kleines Städtchen mit einem Hauptplatz, unzähligen Cafés und ein paar Geschäften. Hier gab es nicht viel zu sehen, Läden quetschten sich aneinander, wie an einer Kette aufgefädelt zogen sie sich um den Marktplatz. Hier wimmelte es nur so von Menschen, es war Markttag. Zahllose kleine Stände von lokalen Bauern und anderen Menschen fanden sich auf dem Hauptplatz wieder. Die Rufe der Händler, die ihre Waren feilboten hallten ihm in den Ohren, der Duft von Räucherwürsten, Schinken, Speck und frischem Brot lag in der Luft. Er wurde verstrickt in ein Gewirr aus Stimmen die er nicht kannte, schnappte diverse Wortfetzten auf, wurde von der Masse mitgetragen und auch mehrmals fast zermalmt. Allmählich fiel seine Unruhe von ihm ab wie ein abgetragener Umhang und er fühlte sich etwas besser. Genüsslich beobachtete er die, nur allzu berechenbaren, Leute, die durch die Straßen wuselten wie Ameisen auf der Suche nach etwas fressbarem. Amüsiert schlenderte er ziellos umher, strolchte von hier nach dort und betrachtete hin und wieder ein Schaufenster. Harper passierte Friseurläden, Barbiere, Drogeriemärkte und gelangte schließlich zu dem Geschäft, in welchem er vor so vielen Jahren die BHs erworben hatte, die seinen verdammenswerten Vater das Glück seiner großen Liebe gekostet hatten. Auch die Verkäuferin war noch die Selbe, durch das Schaufenster konnte der junge Harper sie deutlich sehen. Anscheinend hatte sie ein paar mehr Gramm Silikon vor sich, ja, Silikon Valley war ausgebaut worden. Ihre Lippen waren noch um einiges voller als vor all den Jahren, nicht nur ihr Dekolleté hatte an Volumen zugenommen. Sie winkte Harper zu, doch er bezweifelte, dass sie ihn erkannte. Wie auch, seitdem waren so viele Jahre vergangen, damals war er ein kleines Kind gewesen, nun war er ein junger Mann von fast achtzehn Jahren. Er hatte sich tatsächlich verändert, sein Haar war zwar immer noch lang, für einen Mann zumindest. Er trug es wie immer wuschelig, fransig geschnitten und meist hingen ihm einige Strähnen im Gesicht, was ihm allerding nur recht war. Der junge Harper versteckte sein kantiges Gesicht des Öfteren, zumal es neben den hohen Wangenknochen, den geschwungenen Lippen und dem kleine Ziegenbärtchen, sehr markant war. Auch die strahlend blauen Augen die stets kühl und verschlossen funkelten waren nicht unansehnlich. In der Tat, aus dem kleinen, unscheinbaren Jungen, war ein ansehnlicher junger Mann geworden. Auch dies war etwas, worum Robert seinen kleinen Bruder stets beneidete, er hatte jedoch nie zugegeben. Ohne sich noch länger mit dem Winken der Verkäuferin aufzuhalten, wanderte der junge Harper weiter. Bald kam er in die äußeren, entlegeneren Winkel der Stadt. Er durchquerte verschlungene Schleichwege und von hohen Mauern verdunkelte Gassen. Die Menschenmenge wurde lichter je weiter er sich vom Zentrum entfernte, immer weniger Stände standen im Weg, die Rufe der Marktschreier verklangen allmählich und auch das Stimmenmeer der Masse verwandelte sich in ein entferntes, kaum mehr hörbares Rauschen. In diesem Teil der Stadt war er selten, wenn überhaupt jemals gewesen. Neugierig blickte er sich um, hier gab es kaum Geschäfte, nur ein paar Bars oder Cafés, die auf den ersten Blick auch nicht als solche zu identifizieren waren. Er war in eine, scheinbar von aller Welt vergessene, Zone gelangt, in der sich keine Menschenseele befand. Die bunten, fröhlichen, modernisierten Fassaden waren alten, höchstwahrscheinlich barocken Bauten gewichen, die teils schon verfielen. Unsanierte Steinwände bildeten die Fundamente für brüchige Dächer und verfallene Verzierungen täuschten über den einst sicher prächtigen Stadtteil hinweg. Nach knappen drei Abzweigungen hatte Harper die Orientierung verloren, doch die Neugierde trieb ihn voran. Unentwegt schlenderte er weiter, bis er sich in einer Sackgasse wiederfand. Doch er stand keineswegs vor der klassischen Backsteinmauer, nein, nun befand er ich direkt vor einem alten Laden. Es war ein kleines Gebäude das mit der Wand verwachsen war, seine Fassade war bräunlich und mit Verzierungen geschmückt, die irgendwann einmal golden gewesen sein mussten. Die linke Seite des Hauses nahm ein staubiges Schaufenster ein, auf der rechten Seite befand sich eine kleine, schmale, dunkle Holztür, die reich mit kunstvollen Schnitzereien verziert war. In deren Mitte prangte ein kleines Fensterchen und daneben riss ein Wasserspeier gierig seinen furchteinflößenden Schlund auf, ein seltsames Motiv für einen Türklopfer. Doch Harpers gesamte Aufmerksamkeit wurde von einem einzigen Gegenstand konfisziert. In der Ecke des Schaufensters schimmerte eine silberne Schreibmaschine. Gebannt starrte der junge Harper auf das funkelnde, kleine Artefakt. Ob sie wohl funktional war? Sie war das perfekte Gerät, das er nun brauchte! Er schritt zu dem kleinen Türchen und betätigte mit einem mulmigen Gefühl den abstrusen, jedoch auch beeindruckenden Türklopfer, nur um festzustellen, dass dieser aus rein dekorativen Zwecken vorhanden war, er funktionierte nicht. Großartig. Kopfschüttelnd drückte Harper die abgegriffene, geschwungene Goldklinke der Tür herunter. Als er jene öffnete, ertönte ein filigranes Klingeln, offenbar kam es von dem Glöckchen, das genau über dem verzogenen Türrahmen befestigt war um das Eintreffen von Kunden anzukündigen. Sehr oft schien es allerdings nicht zu Läuten, denn auch im inneren des Ladens schwebte der Staub in kleinen Flöckchen umher. Neugierig blickte Harper sich um, die antike Verkaufstheke war aus dunklem Holz gefertigt, auch sie war verziert als stamme sie aus einem Herrenhaus. Der Rest dieses Geschäftslokals war ausgekleidet mit Bücherregalen, die bis zur gewölbten Holzdecke reichten. Sie alle waren bis zum bersten mit den wunderbarsten, fragwürdigsten Artefakten gefüllt und auch diese waren, was Harper nicht wunderte, unter einer feinen Staubdecke begraben. Hier säumten sich Bücher, Antiquitäten, Kuriositäten und noch so vieles mehr, was den jungen Harper faszinierte. Er nahm so eben eine verstaubte Schatulle unter die Lupe als er hinter sich eine huschende Bewegung wahrnahm. Erschrocken drehte er sich um und musste prompt von all dem Staub niesen, den seine ruckartige Bewegung aufgewirbelt hatte. Nun war der Tresen besetzt, hinter ihm stand ein kleiner, gedrungener Mann der kaum über die Theke hinwegsehen konnte. An den Ellenbögen seines dunkelbraunen Jacketts waren Flicken aufgenäht worden, zwei Hosenträger hoben sich dunkel von seinem cremefarbenen Hemd ab. Anstatt einer Brille klemmte ein Monokel vor seinem rechten Auge, es war mit einer dünnen Goldkette an seiner Hemdtasche befestigt. Trotz des Monokels wirkten seine Augen recht gesund, aufmerksam und gewieft schimmerten sie wie zwei kleine Onyxe aus dem überraschend gebräunten Gesicht des kleinen Männchens. Der Schelm schaute im wahrsten Sinne des Wortes aus diesen alten, erfahrenen Augen, die den jungen Harper neugierig musterten. „Was kann ich für Sie tun, junger Mann?“ Harper erschrak, die krächzende Stimme des alten Herren hatte ihn jäh aus seinen Gedanken gerissen. Der Mann trat hinter Theke hervor, seine blank polierten, braunen Schuhe klackerten auf dem abgewetzten Fußboden. Seine kurzen Beine stecken in einer seltsam gemusterten Hose, die von Hosenträgern gehalten wurde, was Harpers Meinung nach nicht von Nöten war, denn der Mann recht... korpulent. Seine grau-weißen Haare standen in wirren Büscheln von seinem Haupt ab und auch aus seinen Ohren wucherte ein regelrechter Zauberwald. Seine knollenartige Nase rümpfte sich als er erneut die Stimme erhob. „Junger Mann, haben Sie denn ihre Zunge verschluckt?“ Er grinste und entblößte dabei zwei Reihen weißer und auch teilweise goldener, schiefer Zähne. Irgendwie erinnerte er Harper an eine Eule, warum wusste er selbst nicht recht. „Verzeihen Sie, ich.. ich interessiere mich für die Schreibmaschine in ihrem Schaufenster.“ Endlich hatte er die Sprache wiedergefunden, wie überaus erniedrigend. Verwirrt betrachtete er den Alten, der nun lächelte. „Ein wunderschönes Stück, nichtwahr? Sie ist sehr alt, ich habe sie einst, viele Jahre zuvor bei einem Besuch in England erstanden…“ Harper glaubte einen Hauch von Melancholie in den aufgeweckten Augen des Antiquars entdeckt zu haben, welcher alsbald mit seiner Anekdote innehielt, als er merkte, dass Harper ihn analysierte. „Ich bitte um Verzeihung, man hat hier nicht sehr häufig Kundschaft, wissen Sie? Es ist eine Schmach, niemand interessiert sich mehr für alte Dinge, geschweige denn für Bücher!“ Er seufzte tief. Harper fühlte mit ihm, er wusste nur zu gut, wie sehr die intellektuelle Seite der Menschheit verkommen war. „Die Menschheit verdummt mit jedem Jahrzehnt um knappe zehn Prozent mehr, der mentale Verfall nimmt stetig zu, dafür können Sie jedoch nichts“, erwiderte Harper grinsend. Der Alte war sichtlich überrascht über diese Äußerung. Sein anfängliches Grinsen war zurückgekehrt und um einiges breiter geworden. „Sieh mal einer an, der Junge hat Verstand! Sowas ist in der Tat selten! Gute Güte, wie unhöflich von mir, ich vergas mich vorzustellen!“ Aufgeregt watschelte der alte Mann über den Teppich, ergriff die Hand des verblüfften Harpers und schüttelte sie. „Norrin Davis mein Name, Antiquar aus Leidenschaft, seit über fünfzig Jahren Jungchen, über fünfzig Jahren! Wissen Sie, ich mag Menschen, nur sieht man hier keine! Verzeihen Sie, ich schweife wieder ab… Mit wem habe ich die Ehre?“ „Josh Harper, ich mag eigentlich keine Menschen.“ Harper grinste, auch Norrin Davis musste lachen. So verwunderlich es auch war, Harper fand den alten Norrin auf Anhieb sympathisch. „Nun Mr. Harper, was sagten Sie, wünschen sie?“ Sie, wie komisch das klang, es fühlte sich so..alt an. Harper mochte diese Höflichkeitsformen nicht sonderlich. „Zu allererst, nennen Sie mich Josh, des Weiteren gilt mein Interesse der Schreibmaschine.“ „Also gut Josh, dann nenn mich fortan einfach Norrin. Ah, ein besonders schönes Exemplar, sehr alt, weißt du, sie stammt aus England. Ich habe sie dort erworben, bei einem meiner ersten Besuche…“ Wie es schien war der gute Norrin leicht wirr und auch etwas vergesslich. Trotzdem, er wusste offenbar viel, war allem Anschein nach viel gereist und er war, wenn auch etwas senil, auch sympathisch. Harper hätte ihm gerne länger zugehört, doch erst wollte er, weswegen er gekommen war. „Ja, ein wirklich schönes Stück… Wie viel würde sie kosten?“ „Nun, nicht viel, nur schlappe dreihundertfünfundsiebzig Münzchen!“ Harper verschluckte sich beinahe an seiner Zunge, dreihundertfünfundsiebzig?! Verdammt… das konnte er sich niemals leisten. Zum Teufel wie kam er jetzt an dieses Ding, von jedem anderen würde er sich einfach unerlaubt borgen, doch bei Norrin hatte er, aus ihm unerfindlichen Gründen, Skrupel. Der Antiquar lächelte wissend, ihm war die leichte Entgleisung von Harpers Gesichtszügen offenbar nicht entgangen. „Mein Junge, ich weiß, sie ist… teuer.“ Er setzte einen schelmischen Blick auf und musterte den jungen Harper schmunzelnd. Welch klägliches Bild der endgeisterte Harper doch bot! „Aber… du scheinst sie dringend zu brauchen, darum… nimm sie einfach mit!“ „Bitte was?!“ Er konnte nicht glauben, was Norrin sagte. „Zur Hölle, wenn du mich auf den Arm nehmen willst…“ Prompt wurde er von Norrins schallendem Gelächter unterbrochen, was ihn nur noch mehr aus der Fassung brachte. Was bildete der Antiquar sich ein, was hatte er vor? „Jungchen, du sollst sie nicht klauen, ich werde sie dir auch nicht schenken.“ Er bedachte Harper mit einem funkelnden, spöttischen Blick ehe er fortfuhr. „Himmel, sie ist ein höchst seltenes Exemplar… aus England, weißt du. Doch du scheinst mir sympathisch, darum gebe ich sie dir, auch wenn du nicht zahlen kannst. Pst, lass mich ausreden! Du magst zwar kein Geld besitzen, doch arbeiten kannst du, nehme ich an? Ja… du machst einen tüchtigen Eindruck, außerdem scheinst du klug und verschlagen zu sein. Spitz die Ohren junger Freund, der alte Norrin gibt dir das gute Stück und du arbeitest es bei ihm ab, einverstanden?“ Er strahlte den verblüfften Harper an, tatsächlich, der Antiquar hatte einen Knacks. Wunderbar! Harper mochte ihn überraschender Weise auf Abhieb, für gewöhnlich war er verschlossen und kühl, doch Norrins Art war ansteckender als die Pest. „Sie… Sie sind irre Norrin, irre!“ Der alte Mann gluckste. „Ich weiß mein junger Freund, ich weiß. Du bist aber auch nicht ganz bei Trost! Wer würde denn schon eine antike Schreibmaschine erwerben wollen? Vor allem, wozu..? Wer, wenn nicht einer, der etwas schreiben will, was man nicht zurückverfolgen kann?“ Wieder lachte er, auch Harper musste unweigerlich kichern, der alte Norrin dachte ähnlich wie er selbst. „Genug, bist du denn nun einverstanden oder nicht?“ „Selbstredend! Ich danke dir Norrin, vielen Dank!“ Harper strahlte. „Das ist schön Jungchen, schön, schön.“ Fröhlich pfeifend stapfte Norrin zur Auslage und fischte die Schreibmaschine heraus. Keuchend trug er sie zum Verkaufspult, wo er alle Mühe hatte, sie hinauf zu hieven. Mir rot geflecktem Gesicht stemmte er das Gerät über seinen Kopf und stellte es schließlich unbeschadet ab. Der junge Harper grinste verschmitzt, Norrin sah aus, als hätte als hätte er einen Marathon bestritten. Er zog ein besticktes Tüchlein aus der Tasche seines Jacketts und wischte sich damit die schweißnasse Stirn. „Himmel, ich bin zu alt für sowas! Ein Glück, dass ich bald Hilfe von kräftigen Händen bekomme!“ Erneut lachte er. „Mach dir keine Sorgen Junge, das ist das erste Geschäft seit Jahren! Hier sieht man kaum Leute, allzu anstrengend wird deine Arbeit also nicht sein.“ Er wickelte die silbrig schimmernde Maschine in braunes Paketpaier und stülpte einen Jutesack darüber, auf welchem in kunstvoll geschwungenen Buchstaben „Davis‘ Forgotten Treasures“. Vorsichtig, als wäre es aus Glas, nahm Harper die verhüllte Maschine an sich, sie war überraschend schwer. „Vergiss nicht, morgen um dieselbe Zeit, am selben Ort!“ „Mr. Davis… Ich meine Norrin, eine letzte Frage.“ „Nur zu, ich höre.“ „Warum gibt’s du sie mir und lässt mich von dannen ziehen, ohne dass ich sie bezahlt habe?“ „Du gabst mir dein Wort, dass du sie abarbeitest.“ „Wohl wahr, aber ich könnte gelogen haben, sie an mich nehmen und auf nimmer weidersehen verschwinden.“ „Wohl war..“, murmelte Norrin, „Wohl wahr…“ „Woher willst du wissen, ob ich wiederkehre?“ „Ich weiß es nicht Josh, ich weiß es nicht.“ „Warum machst du es dann?“ Harper verstand den alten Mann nicht, er konnte sein Vertrauen ihm gegenüber nicht nachvollziehen. „Ich bin irre, schon vergessen?“ Norrin grinste breit und entblößte wieder seine goldenen-weißen Zähne, die seinen Mund wie ein Mosaik auskleideten. „Jetzt troll dich, es wird schon dunkel, diese Gassen sind des Nachts ein wahres Höllenloch. Auf bald, Josh Harper, auf bald!“ In der Tat, die Sonne versank tatsächlich schon hinterm Horizont. Unfassbar, er hatte den ganzen Tag mit Norrin geplaudert wie ein altes Waschweib! „Ich danke dir, ich werde sie hüten, mein Wort darauf!“ Er drückte das schwere Säckchen wie ein Kind gegen seine Brust und drehte sich zur Tür um. „Auf bald Norrin.“, verabschiedete er sich bevor er geduckt durch die kleine Pforte eilte und sich auf den Rückweg machte. Norrin Davis stand zeitweilen hinter seiner Theke, spitzelte mit seinen wachen Augen darüber hinweg und blickte Harper nach. „Verdammt, wo ist mein Schemel hin verschwunden, ich sehe kaum über dieses verdammte Pult!“ Fluchend stopfte er sich seine Pfeife, stellte sich auf den Schemel und blickte nun endlich vollends über die Theke. Der Junge war verschwunden, doch er wusste, dass er wiederkommen würde, er schätze ihn nicht anders ein. Er war gewitzt, hinterhältig, verschlagen und auch verschlossen, doch eines war er nicht, und das unzuverlässig. Norrin Davis kannte keinen solchen Menschen, bis zu diesem Tage. Immerhin hatte er etwas verkauft, zwar nicht gegen Geld, jedoch gegen Gesellschaft, was ihm weit mehr nütze. Geld hatte Norrin genug, für wahr, doch an Gesellschaft mangelte es ihm arg. Das letzte was er verkauft hatte war ein Buch gewesen, ein schönes Stück. Der alte Mann seufzte. Für wahr, dieser Junge war etwas Besonderes und er hatte offenbar großes vor. Der gute Norrin mochte diesen Harper, er war einzigartig, anders…und er hatte etwas zu verbergen, das gefiel ihm, denn auch Norrin Davis war kein unbeschriebenes Blatt. Erst hatte er ihn nicht erkannt, wie er dort vor seinem Laden stand und durch die Scheiben linste. Auch später, als er eingetreten war und sich umgesehen hatte, war ihm nicht klar gewesen, wer da vor ihm stand. Wie neugierig, fasziniert er sich doch umgeblickt hatte, diesen Blick kannte Norrin nur zu gut. In diesem Moment hatte er ihn so sehr an ihn selbst erinnert, dass es sich angefühlt hatte, als würde er sein vergangenes Ich betrachten, wie es nun die Zukunft seiner selbst inspiziert. Doch dann hatte er ihn erkannt.. Er sog an seiner Pfeife, inhalierte den Rauch und paffte ihn in kleinen Wölkchen wieder aus. Genüsslich paffte er weiter, bis er von blauem Dunst umgeben war, der ihn umwaberte wie der Atem eines Drachen. So stand er dort hinter seiner Theke auf dem Schemel, der es ihm ermöglichte über das Pult zu sehen und rauchte seine Pfeife. Dennoch, ihn ließ die Neugierde nicht los, wozu der Junge die alte Schreibmaschine benötigte. Er hatte sie angesehen, als wäre sie der wertvollste Schatz der Welt. Ungewöhnlich, die heutige Jugend interessierte sich nicht für die alten Schätze, sie interessierten sich für andere Dinge. Auch er war blutjung, gerade erst siebzehn geworden, noch nicht einmal volljährig. Norrin schüttelte den Kopf, er wurde nicht schlau aus dem Jungen. Er trat einen Schritt nach hinten und stürzte dabei fast von seinem kleinen Schemel. Fluchend richtete er sich wieder auf und nahm seine Position wieder ein. „Robert Joshua Harper, so viel habe ich doch von dir gehört, nun lerne ich dich endlich kennen!“ Wunderbar.
Noch immer konnte Harper nicht fassen, was ihm wiederfahren war, es war zu gut um wahr zu sein! Er stellte das Päckchen mitten in seinem Zimmer auf den Boden und begann vorsichtig, den Jutebeutel abzuziehen. „Davis‘ Forgotten Treasures“, wie passend der Name doch war, der kleine Laden war tatsächlich von aller Welt vergessen worden. Doch er war voll mit Schätzen, am liebsten hätte Harper sie alle mitgenommen. Auch der alte Norrin war ein seltenes Relikt, ein Mensch, dem Harper von Anfang an traute. Irgendwie freute er sich schon auf den morgigen Tag, er war neugierig, was der alte Davis ihm erzählen würde, ob es viel zu tun geben würde oder nicht, wenn ja, was er zu tun hatte… Mit spitzen Fingern entfernte er das braune, dicke Paketpapier. Vor ihm stand nun endlich seine Schreibmaschine. Sie glitzerte silbrig im Mondlicht, ihre blank polierte Oberfläche zeigte Harper sein strahlendes Spiegelbild. Sanft strich er über die vielen Tasten, wie kleine, silberne Pilze ragten sie vom Korpus der Maschine empor. Dahinter erhob sich ein kunstvoll verzierter Block, in dem sich wahrscheinlich das Innenleben befand. Er bildete die Basis für die Vorrichtung, in die man das Papier steckte, auf der Seite ragte ein verschlungener Hebel heraus, mit welchem man die Vorrichtung hin und her schieben konnte. Hinter dem Tastenfeld befand sich ein Emblem als Verzierung, es zeigte den Profilschnitt eines Kopfes, ähnlich wie auf einer Münze. Harper ließ seine Finger über die Tasten gleiten, sie klackerten leise, wie Knochen im Wind. Harper konnte es kaum erwarten die ersten Worte auf diesem fantastischen Objekt zu tippen! Doch… wie um alles in der Welt spannte man das Papier ein? Er beschloss, es zu versuchen, doch Harper war kein Experte was Schreibmaschinen betraf. Mehrmals versuchte er, einen Bogen in diese seltsame Vorrichtung zu spannen, vergebens. Zum Teufel! Endlich hatte er sein notwendigstes Utensil erworben und dann war er nicht in der Lage, es zu bedienen! Er stand so kurz vor einem Tobsuchtsanfall, als es plötzlich an der Tür klopfte. Nanu, wer konnte zu später Stunde noch etwas von ihm wollen? Robert, wer denn sonst. Natürlich, es war Robert, keine Frage. „Ja?“ Die Tür öffnete sich und Robert trat ein, in seinen Händen hielt er einen Stoß vollgekritzeltes Papier. „Robert hat getan, was Josh ihm sagte! Er hat alles aufgeschrieben, was die Frau von sich gab, nun ist sie zu Bett gegangen, es gibt nichts mehr, was Robert aufschreiben kann. Den ganzen Tag hab ich hinter dem Holzstoß gesessen, hinter mir die Wand, niemand hat mich gesehen, niemand hat mich gehört. Die Frau hat viel gesprochen, viel telefoniert… Es gab sehr viel, was Robert aufschreiben konnte.“ Er streckte ihm das Papier entgegen und sah Harper Zustimmung suchend an. „Danke Robert, wiederhol dies morgen, allerdings bei einem anderen Haus. Behalte die Hagotts im Auge, fang um sechs Uhr an. Du kannst gehen.“ „Ist gut Josh…“ Aus den Augenwinkeln sah Harper wie Robert mit gesenktem Kopf von dannen schlurfte. Harper hatte ihn keines einzigen Blickes gewürdigt, er konnte Robert nur schwer ertragen. Eifrig begann er, sich durchzulesen, was sein Bruder ihm an Information gebracht hatte, was eine echte Herausforderung war, denn Roberts Handschrift glich den Hieroglyphen in einer ägyptischen Pyramide. Harper hatte eine lange Nacht vor sich, das wurde ihm klar, morgen würde er aller Voraussicht nach um halb sieben aufbrechen, er würde Norrin fragen, ob er ihm erklären könne, wie man mit diesem Ding umgeht. Doch erst führte er sich Roberts Protokoll zu Gemüte. An sich war es nichts Besonderes, es dokumentierte Barbara Dales Äußerungen, sie hatte sich heute offenbar mit ihrem Mann gestritten. Lennard Dale war, laut Roberts Notizen, misstrauisch, er warf seiner Frau eine Affäre vor. Wenn der wüsste… Wenn das kein gefundenes Fressen für Harper war. Er wusste, dass Barbie Dale etwas mit Max Hagott am Laufen hatte, ebenso wie er wusste, wofür Max Hagott jeden Monat einen angemessenen Betrag an Mrs. Dale und die kleine Harriett überwies. Es war das Schweigegeld dafür, dass Barbie Dale den Mund hielt, selbiges gilt auch für die kleine Harriett. Außer dem Streit fand er nichts Nützliches mehr, nur ein paar Informationen über die gute Claire Hagott, auch sie würde er schon kriegen. Jeder kam an die Reihe, niemand würde ausgelassen werden. Hier hatte jeder genug Dreck am Stecken, man musste nur tief genug wühlen, um an ihn heran zu kommen. Er beschloss, es für diese Nacht gut sein zu lassen und sich schlafen zu legen, er brauchte seine Kraft für den morgigen Tag.
Am nächsten Morgen stand Harper früh auf, er verpackte seine Schreibmaschine mit größter Sorgfalt und steckte Roberts Notizen in seine Tasche. Dann beobachtete er seinen großen Bruder, der pünktlich um die befohlene Zeit aus dem Haus schritt und sich auf den Weg zu seinem neuen Auftrag machte. So hatte sich Harper den heiß ersehnten Freiraum geschaffen, den er nun mit dem alten Norrin teilen würde, er war gespannt wie ein Flitzebogen, was der alte Antiquar ihm erzählen würde. Gegen halb sieben packte er die Schreibmaschine und machte sich ebenfalls auf den Weg. Fluchs wanderte er in Richtung Stadt, das Päckchen wog schwer in seinen Händen doch dies störte ihn nicht, er freute sich zu sehr darauf, Norrin wiederzusehen. Seltsam, er kannte diesen Mann kaum, dennoch mochte er ihn, als wäre er sein Großvater. Harper wusste nicht, wie es war einen Großvater zu haben, er hatte seinen nie kennengelernt. Er hatte sich umgebracht, dies war wenig verwunderlich, wenn man nur bedenkt, was für eine Diktatorin Harpers Großmutter doch gewesen war. Nun ja, jeder bekommt, was er verdient, so auch diese alte Fuchtel, sie starb vor einiger Zeit, wie….schrecklich. Wieder war Harper in Gedanken versunken, er wurde sich erst wieder bewusst, wo er sich befand, als ihm der Duft von frischem Gebäck und Kaffe in die Nase steig. Sein Magen meldete sich zeitgleich mit wütendem Grollen zu Wort, er konnte sich nicht entsinnen, wann er zuletzt etwas gegessen hatte. Seine Essgewohnheiten waren ohnehin mehr Launen als fixe Rhythmen. Kurzerhand beschloss er, Kaffee und etwas Essbares zu kaufen, Norrin würde sich sicher ebenso über Kuchen oder ebenbürtiges Zeug freuen wie Harper selbst. Mit selten guter Laune betrat er also die kleine Bäckerei, aus welcher der köstliche Duft drang. Der Gastraum war in freundlichem, sonnigen gelb gestrichen, die hervorragend zum Logo, einer lachenden, gelben Sonne passte. Besagtes Logo fand sich auf jedem Tischen und jedem Stuhl, welche in den verschiedensten Farben vorhanden waren. Bei so viel bunter Fröhlichkeit auf nüchternen Magen wurde ihm übel. Widerwärtig, höchst widerwärtig. Das junge Mädchen strahlte mit dem Emblem und den bunten Möbeln um die Wette und hieß Harper mit einem breiten Lächeln willkommen. „Einen wunderschönen guten Morgen, was kann ich denn für dich tun?“ Sie blickte ihn strahlend an. Ihre Augen musterten ihn, während ihre Lippen in das Dauerlächeln zurückverfallen waren. Harper begutachtete zeitweilen das Gebäck in der Theke, die Auswahl war enorm. Schlussendlich endschied er sich dann für zwei Schokoladencroissants, einen ganzen Apfelkuchen und zwei Becher Kaffee zum mitnehmen. Das Mädchen sah ihn ungläubig an. „Du wirst das doch nicht alles essen! Dafür hast du doch niemals Platz!“ Sie lachte. Was für eine schlappe Anspielung auf seine magere Erscheinung. „Ich habe nicht vor es zu essen, ich kaufe es für diesen Wucherpreis, um ihm beim verrotten zuzusehen.“ Verblüfft musterte sie ihn mit offen stehendem Mund, sie wollte gerade etwas sagen, als Harper das Geld auf den Tresen legte und verschwand. So viel übertrieben klischeehafte Fröhlichkeit verkraftete er nicht, nicht um diese Uhrzeit, nicht mit leerem Magen und nicht in Kombination mit naiven jungen Mädchen. Er schauderte, nichts wie weg hier. Nun schleppte er gleich zwei Pakete mit sich herum, zum einen die Schreibmaschine, zum anderen ein Paket mit Croissants, Kuchen und einem schreiend gelben Sonnenemblem auf der Außenseite. Wunderbar, er sah aus wie der letzte Vollidiot. Mit finsterer Miene stapfte er wie ein Packesel zu den Weg zu „Davis‘ Forgotten Treasures“ entlang.
Schon von weitem sah er Norrin Davis, der gerade aus dem Laden trat und vergnügt vor sich hin pfiff. Bei Harpers Anblick brach er in schallendes Gelächter aus. „Guten Morgen, Sonnenschein! Wenn das nicht der junge Harper ist! Sieh man einer an, du hast den Weg zurück gefunden, wie schön!“ Harper nickte dem Antiquar zu. „Nanu, was haben wir denn hier? Du bringst die Schreibmaschine wieder? Ist sie denn nicht in Ordnung? Tritt erst ein, dann reden wir.“ Er hielt dem keuchenden Harper die kleine Pforte auf wie ein Portier, Harper schritt eilends hindurch und stellte seine Last auf der alten Theke ab. Norrin wuselte wie ein Wiesel um ihn herum. „Ist sie denn kaputt, Junge? Unmöglich, nein, sie muss in Schuss sein!“ Aufgeregt begann er, die Schichten aus Paketpapier herunter zu fusseln. Wie ein kleines Kind an Weihnachten fledderte er Schicht für Schicht herunter. Harper sah ihm atemlos zu, der alte Mann hatte die Energie einer Kompanie. Fluchend begann er, an der Maschine herum zu klauben. „Seltsam… Sie müsste funktionieren…“ Bedächtig musterte er das Artefakt. „Gib mir einen Bogen Papier, na los!“ Harper fischte ein Blatt aus seiner Tasche und reichte es Norrin. Dieser schraubte es geschickt in die dafür vorgesehene Vorrichtung, Harper blieb die Spucke weg. Eifrig begann der Antiquar, jeden Buchstaben durch zu tippen. „Na bitte! Funktioniert einwandfrei! Wo liegt denn nun das Problem?“ Beschämt gab der junge Harper zu, dass er keine Ahnung gehabt hatte, wie man die Schreibmaschine denn einsatztüchtig macht. Erneut lachte der alte Norrin. „Wärst du so freundlich, mir zu zeigen, wie man das macht? Das mit dem Papier, meine ich.“ „Sicher, sicher, tritt näher! Hier, du spannst es in diesen Schlitz und drehst dabei an diesem Hebel…“ Es dauerte eine Weile, bis Harper den Dreh heraus hatte, doch schließlich konnte er seine Maschine bedienen. „Ach und, ich habe und Frühstück besorgt!“ Er holte das Säckchen mit dem abscheulichen Sonnenemblem hervor. „Gute Güte, du bist tatsächlich irre Junge, der Laden führt Wucherpreise!“ „Was du nicht sagst.“ Harper grinste, Norrin tat es ihm gleich. Die beiden setzten sich hinter die Theke und verzehrten sowohl die Croissants als auch den ganzen Kuchen. Sie brachten eine ganze Weile schweigend zu, dann erhob sich Norrin und begann, hinter dem Tresen herumzukramen. Er drückte Harper einen Tennisschläger und eine Schutzbrille in die Hand „Was zur Hölle soll ich damit?“ Norrin blickte ihn Verständnislos an. „Was du damit sollst? Na was wohl, steig auf den Dachboden und mach den Fledermäusen den Gar aus! Aber nimm dich in Acht Junge, die Viecher sind aggressiv!“ „Bitte?!“ Harper starrte den alten Mann an, das konnte nicht sein Ernst sein! Mit offenem Mund und großen Augen saß er da und blickte zu Norrin auf, der auf seinem Schemel stand und mit dem Schläger und der Brille wedelte. „Na wird’s bald? Ich werde nicht jünger Freundchen und die Biester werden immer hungriger!“ Noch immer rührte sich Harper nicht. „Los Batman, worauf wartest du? Schon klar… du willst die Schreibmaschine also wieder loswerden, was?“ „Nein! Himmel, ich mach ja schon… Aber.. muss ich sie denn töten? Die armen Viecher…“ Norrins Blick nahm wieder sein ursprüngliches, schelmisches Funkeln an und er ließ den Schläger fallen als Harper danach greifen wollte. „Herrlich!“, japste er, „Absolut göttlich, dein Gesicht, Junge! Traumhaft, was würde ich für eine Kamera geben!“ Es reichte, nun war es endgültig um Harpers Fassung geschehen. Der alte Norrin rang nach Luft, hielt sich beim Lachen den Schmerbauch und klopfte sich auf die Schenkel. Sein Schemel wackelte gefährlich, schließlich kippte er und Norrin landete auf dem abgewetzten Orientteppich. Langsam dämmerte es Harper, der Alte hatte nicht nur einen Knacks, er nahm anscheinend auch gerne Leute auf die Schippe. Mit aufeinander gepressten Lippen musterte er Norrin finster. „Nein, wie amüsant, wirklich zu köstlich, Norrin.“ „Ich weiß, herrlich! Für wahr… dein Anblick! Göttlich! Verzeih… ich beliebe gerne zu scherzen.“ „Auch was, wäre mir niemals aufgefallen.“ Grinsend streckte er Norrin die Hand entgegen um ihm aufzuhelfen. Immer noch japsend und kichernd ergriff dieser Harpers Hand und er zog den alten Mann auf die Beine. Ächzend richtete Norrin sich auf und seufzte. „Es ist schön, Gesellschaft wie dich zu haben Josh, auch wenn ich manchmal… anstrengend sein kann, so merke dir, ich bin stets froh über deine Anwesenheit!“ „Schon gut, aber mach dich auf Rache gefasst!“ Er grinste unheilverheißend. „Worin besteht denn nun wirklich meine Aufgabe hier?“ „Ach weißt du, mach dich erst mit dem Laden vertraut, hier gibt es nicht viel zu tun, hin und wieder etwas fegen und staubwischen genügt.“ Harper sah sich um. Beides war allem Anschein nach bitter nötig. „Soll ich…“, setzte er an. „Unfug, der Staub ist geduldig! Setz dich wieder hin und erzähl mir lieber, worin deine Interessen liegen! Du liest bestimmt gerne, nicht wahr?“ Mit funkelndem Blick musterte der alte Mann den jungen Harper. „Für wahr, ich bin ein Büchernarr!“ Freudig sah er Norrin an. „Du anscheinend auch!“, stellte mit weit ausholender Geste fest. „Natürlich, ich besitze wie du unschwer erkennen kannst, viele Bücher! Mein Arsenal ist groß und kostbar… wollen wir uns alles ansehen?“ Das musste Norrin nicht zweimal fragen. Den restlichen Morgen verbrachten Harper und der alte Antiquar damit, sich durch Bücher zu wühlen und Harper behielt Recht, der alte Mann hatte in der Tat sehr viel zu erzählen. So erfuhr der junge Harper von Stunde zu Stunde mehr über den alten Norrin Davis. Er war viel gereist, hatte viele seiner Schätze in fernen Ländern erstanden hatte sich so ein enormes Wissen angeeignet und er besaß ein Talent dafür, Geschichten zu erzählen. Harper war überrascht, dass der alte Mann ihm traute und ihm alles erzählte, als wäre sie schon jahrelang Freunde. Der junge Harper genoss es, dazusitzen und ihm zu lauschen, die Zeit verging im Flug und so war auch bald sein allererster Arbeitstag vorüber. Die Nacht verbrachte unser Freund damit, über die Ausführung seiner neuesten Idee nachzugrübeln. Wie um alles in der Welt sollte er alle Exemplare einer Ausgabe fertig bekommen? Es war undenkbar, alle per Hand zu tippen, er brauchte schließlich für ein einziges schon Stunden. Unzählige zerknüllte Blätter sammelten sich und bedeckten die Dielen seiner Dachkammer wie gigantische Schneeflocken. Das waren nur Probestücke! Er hatte sein erstes Opfer noch gar nicht gewählt, geschweige denn wusste er, wie zur Hölle er sein Werk vervielfältigen konnte. Es zu kopieren wäre viel zu riskant, der Einzige öffentliche Kopierer, war jener in der Bibliothek, dort würde es auffallen… Nacht für Nacht wurde er von Gedanken wie diesen heimgesucht und die Zweifel, die sie mit sich brachten, raubten ihm den Schlaf. Morgens begab sich unser junger Harper wieder in den Antiquitätenlanden von Norrin Davis. Dies war mittlerweile zu einer Art zu Hause für ihn geworden, denn der alte Norrin behandelte Harper wie seinen Sohn. Ja, Harper ging gerne zu Norrin und je mehr Zeit verstrich, desto mehr erfuhr er über den alten Mann. Nach einer Weile kannte er Norrin schon so gut, dass man ihn für seinen Großvater hätte halten können.
So war Norrin Davis zwar ein alter, aber aufgeweckter Zeitgenosse, der sich liebend gerne Späße auf Kosten anderer erlaubte und sich zu gerne am Unglück seiner Mitmenschen freute. Zudem war er auch zynisch, sarkastisch, hatte eine Schwäche für Bücher und diverse andere alte Dinge. Norrin liebte das Reisen, er hatte Orte gesehen, von Harper zeitweilen nicht einmal gelesen hatte, hatte Leute getroffen und Freundschaften geschlossen und von den Meistern der Meister gelernt, worauf sein enormes Wissen zurückzuführen ist. Stets hatte er eine amüsante oder nützliche Weisheit parat, die er nur allzu gerne an den jungen Harper weitergab. Dies war auch an diesem Tag der Fall, Norrin hatte gerade angefangen, Harper von seiner Familie zu erzählen. Es war früher Morgen, der Himmel war grau und der Nebel schwebte als blasser Dunst über der Pflastersteinstraße, als Haper und Norrin am Bordstein vor „Davis‘ Forgotten Treasures“ saßen und sich unterhielten. Der alte Norrin war gerade dabei, Tabak in seine seltsame Pfeife zu stopfen, als Harper ihn fragte, was seine Frau von seinen Reisen hielt, wo sie sei und was sie tat. Bedächtig zog er eine Schachtel Streichhölzer aus der Brusttasche seines Jacketts, klaubte eines davon heraus und riss es an. Er zündete seine Pfeife an, paffte einige Male und stieß den Rauch in kleinen Wölkchen aus. Nachdenklich ließ er seinen Blick über die Straße schweifen, bis er schließlich Harper fixierte und mit seiner Erzählung begann. „Ja, auch der gute Norrin hatte eine Frau, ob du’s nun glaubst oder nicht Jungchen!“ Er grinste breit, ehe er fortfuhr. „Doch dies ist lange her… Ich erinnere mich noch gut an sie, fast so als wäre es gestern gewesen. Man kann nicht wirklich sagen, dass ich sie kennen gelernt habe, nicht im eigentlichen Sinne, nein. ich befand mich gerade wieder auf Reisen und eines Tages war sie da, sie tauchte auf wie ein Schatten und ebenso plötzlich, wie sie da gewesen war, war sie auch wieder verschwunden. …“ Sein Blick glitt von Harpers Augen ab und schweifte in eine unsagbare Ferne, zurück zu seiner Frau, wo immer sie auch sein mochte. Harper war neugierig geworden, wagte es jedoch nicht nachzufragen. Norrin seufzte abwesend und begann, gedankenverloren weiterzuerzählen. „Wahrlich sie kam und wie ein Schatten, man konnte sie nicht festhalten, nein. Du glaubst nicht, wie wunderschön sie war, Junge! Meine Runa… Hach, eines wunderschönen Tages, es war Juli, glaube ich zumindest, stand sie also vor mir. Auf meinen Reisen begegnete ich vielen Frauen, schönen Frauen, doch keine einzige unter all ihnen glich meiner Runa… Sie war groß und fadendünn, ihre Haut war von so zartem Braun wie feinste Schokolade und ihr pechschwarzes Haar wallte über ihre schlanken Schultern wie ein Wasserfall aus Finsternis. Ihre dunkelbraunen Augen funkelten wie Spiegel aus poliertem Onyx und ihr Lächeln ließ die Zeit stillstehen. Anfangs schien dieses bezauberndste aller Lächeln nicht von ihrem Gesicht verschwinden zu wollen, doch im nach hinein betrachtet, schmolz es über die Jahre dahin wie Eis in der Wüstensonne. Weißt du Josh, ich hebe nie an die Liebe geglaubt, doch an diesem Tag war das anders, auch in den Jahren in denen ich mit ihr gelebt habe, war dies anders. Du fragst dich vielleicht, was ich getan habe, nun, ich tat, was ich für richtig hielt: Ich heiratete diese Frau die in meinem Leben erschien wie ein Gespenst und blieb bei ihr in Syrakus. Ich fragte sie viele Male, woher sie kam, doch nie hat sie es mir verraten. Mein lieber Josh, glaube mir, eins, ich beging den größten Fehler meines Lebens indem ich bei ihr blieb. Liebe macht bekanntlich blind und bei Gott ich war blind! Natürlich, ich habe diese Frau geliebt… Die Jahre mit ihr verbrachte ich Syrakus, auf einem abgelegenen, kleinen Hof, welcher, fern ab von jeder Gesellschaft, unser zu Hause wurde. Wahrlich, ich verbrachte die schönsten Jahre meines Lebens mit meiner Runa… Nie werde ich vergessen, wie sie durchs Haus schwebte wie ein Gespenst, ihre filigrane Gestalt strahlte immer, wenn sie nachmittags vor dem großen Fenster stand und hinaus auf die Hügel blickte… Das Licht fiel auf ihr samtiges Gesicht und malte feine Schatten auf ihre edlen Züge… Sie war eine wunderschöne Frau, doch sie war auch sehr verschlossen. In all den Jahren, in denen ich mit ihr zusammen gelebt habe, verlor sie nicht ein Wort über ihre Familie, ihre Herkunft, ihre Vergangenheit… Lass dir eines gesagt sein Josh, Frauen sind, wie auch Liebe, das reinste Gift für einen arbeitenden Geist wie den unseren! Sie verwirren unsere Gedanken, lenken uns von unseren Plänen ab und verpesten unsere Ideen mit ihren Versuchungen… Trotzdem, ich habe sie geliebt… meine Runa…“ Dies war zwar alles gut und schön, doch eine Frage brannte Harper auf der Zunge wie heißes Eisen. „Was ist aus ihr geworden?“ Norrin starrte verloren ins Nichts, scheinbar hoffte er, seine Runa so zu finden. „Norrin?“ Er zuckte und wandte sich Harper zu. „Bitte was?“ „Was ist aus ihr geworden? Ich meine, wo ist sie heute? Lebt sie hier? Wo ist sie?“ Sein Blick verfinsterte sich, wurde dunkel und ein Schatten legte sich auf seine, sonst so fröhlichen, Züge. „Sie… Sie ist tot.“ „Oh… woran.. woran ist sie gestorben Norrin? Krebs?“ Es klang seltsam, doch dies war eine weit verbreitete Todesursache, darum riet Harper eben. „Nein, es war kein Krebs, Junge.“ „Woran ist Runa dann gestorben?“ „An drei Kugeln.“ Harper blickte ihn unschlüssig an, ein breites Grinsen hatte sich auf Norrins Gesicht eingenistet, doch dieses Mal hatte es etwas Merkwürdiges an sich. Norrin brach in lautes Gelächter aus, auch dieses hatte etwas Grimmiges an sich. Er scherzte, schon wieder! Zumindest glaubte Harper, dass dem so war. Auch er lachte und so saßen die Beiden da, lachend, von Pfeifenqualm umgeben und auch irgendwie glücklich. Nach einer Weile brach Norrin das Schweigen wieder. „Was ist eigentlich mit deiner Familie? Du hast einen Bruder, Robert, doch was ist mit dem Rest? Na komm schon, erzähl’s dem alten Norrin! Wir haben schließlich Zeit…“ Harper hatte Norrin vor einer Weile erzählt, dass er einen Bruder hatte, doch soweit er sich entsinnen konnte, hatte er seinen Namen nicht erwähnt, oder etwa doch? Er wusste es nicht mehr, sobald Norrin mit seinen Erzählungen begann, verschwand die Welt um Harper herum. Nun wusste er so viel über den alten Mann, er hatte ihm von seiner großen Liebe erzählt und alles was Harper bisher preisgegeben hatte war, dass er einen Bruder hatte. Wie informativ. Mit einem seufzen begann er also, sich dem alten Norrin anzuvertrauen, warum auch nicht, er war klug, sympathisch, leicht misanthrop und sadistisch… „Der Rest der Parasiten, die du als meine Familie bezeichnest, ist auch nicht sonderlich viel besser als die Verkommenheit die sich Robert schimpft. Mein Erzeuger war mit Abstand der schlimmste dieser Idioten. Meine Mutter ist auch nicht unbedingt das, was man sich als Bilderbuchmütterchen vorstellt, nun, nach außen hin vielleicht schon, doch hinter den Wänden ihrer pseudoperfekten Fassade ist sie ein Wrack.“ Harper blickte grimmig vor sich hin und schweifte Norrin nur flüchtig mit seinen Blicken. Doch flüchtig war genug, um zu erkennen, dass er die Neugierde des Antiquars geweckt hatte. „Dein Vater war? Du meinst, er ist tot? Das tut mir leid….“ „Tot? Vermutlich nicht, aber fort.“ Bei der Erinnerung an sein erstes großes Projekt, schlich sich der Hauch eines Lächelns auf Harpers blasses Gesicht, auch dies war dem guten Norrin nicht entgangen. „Fort? Er hat euch also verlassen? Dann war er auch kein sonderlich väterlicher Typ, was?“ „Für mich nicht, für Robert hingegen schon… Er ist das Lieblingskind, ich bin nur das Nebenprodukt.“ Norrin neigte den Kopf und bedachte Harper mit einem vielsagenden Blick. Er stopfte etwas Tabak in seine, immer noch qualmende, Pfeife und sog den Rauch ein. „Glaube mir Josh, ich kenne dies nur zu gut. Mein Vater verließ meine Mutter als ich vierzehn war… Hat es dich nicht belastet, nur die zweite Geige zu spielen?“ „Im Grunde nicht, dies hatte mich über die Jahre hinweg unsichtbar werden lassen, was mir bei meinen Projekten stets von großem Nutzen war…“ „Projekte? Jetzt sag bloß, du hast es dir zur Aufgabe gemacht unsichtbar zu werden, ich meine richtig unsichtbar!“ Norrins Lachen war ansteckend, doch Harper war sich sicher, dass es ihm vergehen würde, wenn er mit der Wahrheit herausrückte, warum auch nicht? Immerhin war es verlockend wenigstens einem einzigen Menschen zu erzählen was er vollbracht hatte… „Nein, mir genügt diese metaphorische Unsichtbarkeit, doch ich habe die Taten meines Erzeugers nicht auf mir sitzen lassen, darauf kannst du Gift nehmen.“ „Soso? Inwiefern das? Komm schon, erzähl! Du kleiner Schuft… Es ist dein Talent, Leute neugierig zu machen!“ „Gut, gut, ich gebe es zu… Ich bin tatsächlich verantwortlich für das Verschwinden Robert Harper Seniors.“ Er beugte sich vor und senkte verschwörerisch die Stimme, ehe er fortfuhr. „Ich habe die Ehe meiner Eltern in den Bruch geführt, indem ich mich einer simplen und –zugegeben- auch etwas klischeehaften, List bediente. In jungen Jahre tat Robert Senior etwas, was meinen Geduldsfaden überstrapazierte, sodann endschied ich, dass er aus meinem Umfeld verschwinden musste, er sollte leiden wie auch ich und Aida.“ „Wer ist Aida?“ „Meine Mutter.“ „Oh… Verzeih, fahre bitte fort!“ „… so machte ich Aida glauben, dass ihr Mann sie betrog, indem ich einschlägige Beweise versteckte, sie die fand. Er hatte keine Ahnung von alledem und wusste somit nicht, wie ihm geschah, als der Rosenkrieg ausbrach. Leider dauerte er nicht lange, nicht einmal eineinhalb Jahre, dann lies sie sich scheiden und er verschwand.“ Auf Norrins Gesicht lieferten sich leise Bewunderung, Unglauben und auch Amüsement einen erbitterten Krieg, was seine Runzeln und Falten nur noch mehr hervorhob und sein Gesicht bekam Ähnlichkeit mit einer Dörrpflaume. Letzten Endes setzte sich das altbekannte Lachen durch und er fing sich kaum wieder, auch dann nicht, als er beinahe seine Pfeife verschluckte. „Du verschlagener, hinterhältiger, kleiner Schuft! Ein wahres Fest! Göttlich, wirklich zu köstlich Josh, Respekt!“ Er klopfte dem jungen Harper kräftig auf die Schulter, für einen gebrechlich anmutenden Mann hatte Norrin überraschend viel Kraft und einen harten linken Haken. Harper rieb sich die schmerzende Schulter und grinste Norrin spitzbübisch an. In diesem Augenblick war es um die Hemmungen des jungen Harper geschehen, von nun an wechselten er und Norrin sich ab, Geschichten zu erzählen und so erzählte Harper dem alten Antiquar auch eines Tages von seinem neuesten Projekt.
Der letzte Tag seiner Arbeit im Antiquariat war fast angebrochen, Norrin jedoch wollte nicht, dass der junge Harper ihn verlies, zu wenig wusste er über ihn, viel zu wenig. Der Junge fraß etwas aus, dessen war er sich sicher, doch er kam nicht darauf was… Die sollte sich schon bald ändern, denn an diesem Tag brach eine Wende in die Geschichte der beiden. Josh Harper war gerade dabei, Staub zu wischen und die alten, persischen Teppiche auszuklopfen –Herrgott nochmal, der Staub quoll in utopischen Wolken aus ihnen, hätte Norrin sie doch besser einmal reinigen lassen- als der Junge etwas verlor. Er hievte soeben einen der schweren Perserteppiche zurück in den Laden, als ihm etwas aus der Hemdtasche fiel. Nanu…was konnte das nur sein? Norrin war nie ein Mensch gewesen, der seine triebe unter Kontrolle hatte, nein, so siegte auch seine Neugierde über ihn. Heimlich, still und leise flitzte er hinaus und fischte das Zettelchen aus der Abwasserrille des gepflasterten Weges. Voller Erwartung, einem Geheimnis auf die Schliche zu kommen, drehte und wendete er das Papierpäckchen zwischen seinen faltigen Händen. Behutsam hielt er es ins Licht der strahlenden Sonne, um zu sehen ob er im Wiederschein des Sonnenlichts ein paar Worte erkennen konnte. Nichts. Verdammt. „Was hast du zu verbergen, mein kleiner, weißer Schatz…? Komm, sag es dem guten alten Mr. Davis…“, murmelte Norrin vor sich hin. Doch das Papier blieb stumm, bis auf leises Rascheln gab es keinen Laut preis. Er musste es wohl oder übel auseinander falten, um an den Inhalt des Papiers zu geraten… Doch irgendetwas hinderte ihn daran. Verblüfft hielt Norrin inne, er empfand…Skrupel! Himmel, wie konnte das sein? In seinem Leben war ihm sowas nicht untergekommen… Obwohl… in seinem Leben war ihm auch noch niemand wie der junge Josh Harper untergekommen. Immerhin hatte er gesehen, wozu dieser fähig war. Er hatte sein Werk höchstpersönlich in Augenschein nehmen können, ja es war in seinen Laden spaziert und hatte ihm alles erzählt. Robert…. Sein eigener Bruder! Damals war es noch im Anfangsstadium, wie es nun um Robert stand…nun daran wollte Norrin nicht erst denken. Schon als er das Buch kaufte, merkte man ihm an, dass etwas nicht stimmte. Norrin hatte gedacht, der Junge hätte ein Rad ab, doch dann hatte Robert begonnen, ihm alles zu erzählen… Robert offenbarte ihm, dass er das Buch für seinen größten Schatz kaufen würde, seinen kleinen, geliebten Bruder, Josh. Nie wird Norrin den Ausdruck in seinen leblosen, leeren Augen vergessen, wie sie zum Leben erwacht waren als er von Josh sprach! Welch furchtbares Lachen seiner Kehle entkommen war, als er begonnen hatte, von seinen Absichten zu erzählen. Alles was er tat, hatte er für seinen Bruder getan… Unheimlich, wie sehr man einen Menschen von sich abhängig machen konnte… Aber auch irgendwie faszinierend… Nun, jedenfalls plante der gute Harper noch so ein Projekt…nur was? Himmel Herrgott, er hielt den Schlüssel dazu in den Händen, traute sich jedoch nicht, ihn zu öffnen! Er hatte einen gewissen Respekt und auch ein erhebliches Maß an Zuneigung für den jungen Josh Harper entwickelt. Teufel noch eins! Norrin konnte das Briefchen nicht öffnen, niemals, nein. Mit einer tiefen, inneren Beklemmung watschelte er zurück in seinen Laden. Wie ironisch, letzte, was Norrin Davis in den vergangenen 7 Jahren verkauft hatte, war ein einziges Buch. Resigniert seufzend machte er sich auf die Suche nach seinem jungen Lehrling. Er fand ihn im Lager, als dieser gerade dabei war, die Bücherstapel zu ordnen. Wie tüchtig er doch war. Norrin Davis setzte wieder sein Markenzeichen, das Dauergrinsen, auf und richtete das Wort an seinen einzigen Freund. „He Junge, ich glaube du hast draußen was verloren. Ist dir womöglich rausgefallen… Ich hab‘s vorhin beim Fegen entdeckt…“ Schweren Herzens reichte er Harper das gefaltete, zerknautschte Stück Papier. Mit wachsendem Entsetzten betrachtete dieser das ihm gereichte Briefchen. Er nahm es an sich und verbarg es hastig in seiner Hemdtasche, wobei er Norrin argwöhnisch musterte. „Ich…danke dir. Du hast es doch nicht etwa...gelesen?“ Der Blick des Jungen bohrte sich durch Norrins Körper, er fühlte sich, als könne der junge Josh ihm bis in die finstersten Winkel seiner Seele blicken. Ihm wurde eiskalt. „Nein, obwohl ich zugeben muss, dass es mich gereizt hat…“ „Soso“ Stille breitete sich aus und legte sich wie eine bleierne Decke über die beiden. Harper wusste, dass Norrin es wollte, er roch es förmlich und Norrin wusste, dass Harper es wusste. Dies war das erste Mal, dass Norrin sich in Gegenwart des Jungen unwohl fühlte. Kalter Schweiß strömte aus seinen Poren, durchnässte sein Hemd und ließ ihn schaudern. „Warum hast du es nicht, gelesen, wenn du es doch wolltest?“ „Ich… Ich konnte nicht.“ Nun war es der junge Josh, der in haltloses Gelächter ausbrach. „Du konntest nicht? Zur Hölle Norrin, du empfindest doch sonst auch keine Skrupel! Warum ziehst du nun den Schwanz ein?“ Norrin Davis Miene nahm einen seltsamen Ausdruck an, ihm wurde schlagartig klar, warum es ihm unmöglich war, in die Privatsphäre des jungen Harpers einzudringen. „Respekt.“ Murmelte er. „Bitte?!“ „Jawohl Respekt und Wertschätzung, darum war es mir versagt, es zu lesen! Dies besiegte meine Neugierde, auch wenn sie noch so loderte.“ Harper sah ihn an, seine Augen ließen keinen Rückschluss auf das zu, was er dachte, wie immer. Diese grabeskalten, finsteren Saphiraugen… Ein zartes Lächeln umspielte seine wohlgeformten Lippen, schließlich entblößte der Junge seine blanken Zähne, von welchen die spitzen Eckzähne besonders hervorragten. Wie ein kleiner Vampir. Norrin musste schmunzeln, er überdramatisierte wieder einmal alles. Dann tat Harper etwas durchweg Unerwartetes. Er faltete den Zettel auseinander, legte ihn auf die Theke und begann zu erzählen. „Du erinnerst dich doch sicher an die Schreibmaschine, dieses wundervolle Stück aus England, nicht wahr? Natürlich tust du das. Seitdem ich das erste Mal durch diese Pforte schritt, hast du dich ununterbrochen gefragt, was es mit mir auf sich hat, ich habe es an deinem Gesicht gesehen. Überdies hast du sie mir aus einem einzigen Grund geschenkt: Eigennutz. Du brauchtest Gesellschaft und dich hat die Neugierde nicht los gelassen, was es mit mir und diesem Artefakt auf sich hat. Doch zugegeben, ich war und bin höchst verwundert über die Tatsache, dass du mich kanntest, woher, will ich gar nicht wissen. Weißt du Norrin, ich bin froh über dein Handeln. Die ganze Zeit, die ich mit dir verbrachte, war äußerst lehrreich und durchweg erquickend. Darum werde ich bei dir bleiben –wenn ich darf- bis ich gehe.“ Er lächelte und Norrin wagte nicht, seinen Ohren zu trauen, der kleine hatte ihn beinahe vollends durchschaut! Beinahe. „Irgendwie traue ich dir, darum will ich dir nun erzählen, was es mit dem Jungen und der Schreibmaschine auf sich hat: Wie du weißt, lebe ich in diesem grauenvollen Vorort, den auch du kennst und verachtest. Du weißt auch um die Leute die dort leben, Scharlatane, Quacksalber, reiche, scheinheilige und schlimmer noch, pseudoperfekte Familien. All diese Leute sind Parasiten der übelsten Sorte, verdammenswerte, abscheuliche Kreaturen die es auszurotten gilt. Viel zu viel haben sie mir angetan, sie sind verantwortlich dafür, dass Robert so wurde, wie er nun ist.“ Finster blickte er in die Ferne. „Doch nun reicht es, der Tropfen, der das Fass zum überlaufen bringt, ist längst gefallen und löste eine Flutwelle aus, die sie alle auslöschen wird. Einen nach dem anderen. Dies mein Freund, ist eine Liste.“ Mit einem bitteren Grinsen voller Hohn schwenkte er den zerknitterten Zettel vor Norrins Nase hin und her wie eine Siegesflagge. „Auf dieser Liste befindet sich der Name der ersten Person, die unter meinen Worten fallen wird. Dies ist mein Plan, lieber Norrin. Ich gedenke die Fassade ihrer perfekten Glasstadt zu untergraben, hinter sie Masken zu blicken, die sie tragen und ihr wahres Gesicht zu enthüllen, damit sie leiden. Jeder einzelne wird demaskiert. Hierfür bediene ich mich der stillen Macht des geschriebenen Wortes. Ich werde sie mit ihren eigenen Waffen schlagen. Denk nur, zu Fall gebracht durch die eigene Heerschar, durchbohrt mit dem Schwert der eigenen Leute. Sie werden sich nach und nach zerfleischen. Darum benötige ich die Schreibmaschine, Diskretion und Anonymität sind das A und O meines Projektes. Denn wie besiegt man etwas, das man nicht sieht? Doch eine Hürde gilt es noch zu überwinden, ich muss einen Weg finden, meine Worte zu vervielfältigen, unter der Hand versteht sich.“ Norrin Davis war sprachlos. Er hatte viel erwartet, doch das… Dies übertraf selbst seine kühnsten Alpträume. Der Junge war wahnsinnig oder ein Genie. Er faszinierte Norrin immer wieder aufs Neue und diesmal konnte er ihm sogar helfen! Plötzlich schoss ihm die alte Druckpresse im Keller durch den Kopf, sie war alt, eine der ersten überhaupt, doch soweit er wusste, war sie noch funktional. Seine Augen weiteten sich vor Freude und Übermut. Er begann wie Rumpelstilzchen umherzuspringen und wuselte aufgeregt um den jungen Harper herum. „Das ist großartig Josh! Absolut wunderbar! Komm schon ich MUSS dir was zeigen LOS doch! Komm!“ Verwundert blickte Harper den alten Mann an, was hatte er nun schon wieder vor? Doch ehe er etwas sagen konnte, hatte der alte Norrin ihn fest an der Hand gepackt und zerrte ihn in Richtung Keller. Zur Hölle, dieser alte Knacker war kräftiger als er aussah! Harper hatte keine Chance, sich aus seinem Griff zu winden, ihm blieb nichts anderes übrig, als sich zu fügen. So stolperte er also dem alten Antiquar hinterher, Stufe für Stufe wurde er über eine klapprige, von Staub bedeckte Wendeltreppe in die Tiefe gezerrt. In rasantem Tempo ging es kreiselnd abwärts, trittsicher fegte Norrin voran und lies Harpers Hand erst los, als er die letzte Stufe überflogen hatte. Keuchend blieb Harper stehen und schnappte nach Luft, was er sogleich bereute, hier in diesem Keller gab es mehr Staub als Sauerstoff. Die winzigen Partikel verstopften seine Lungen und zwangen ihn zum Husten wann immer er nach Atem rang. Verwundert blickte er sich um, der Keller war überraschend groß, wenn man an das Kämmerchen, das als Verkaufsraum diente betrachtete. Er war nicht nur recht groß, nein, das Kellergewölbe war vollgestellt mit allerlei Kuriositäten. Neugierig schlich der junge Harper durch den Raum und begutachtete sorgsam alles, was ihm nur unter die Augen kam. Die hohen Wände waren bis zur Decke mit Bücherregalen bedeckt, vereinzelt stapelten sich auch Säulen von Büchern, die bedrohlich schwankten als Harper an ihnen vorbeischlich. Von Norrin war nichts zu sehen, scheinbar war er von den unendlichen Weiten dieses Kerkers verschlungen worden. Mehrmals rief Harper nach ihm. „Norrin?“, keine Antwort. Egal… Unbeirrt wanderte er weiter, vorbei an schwankenden Bücherstapeln, Regalen voller fragwürdiger Instrumente, dessen Nutzen er besser nicht erfragen wollte, Gebilden aus Glas, verstaubten Kommoden voller unbekannter Relikte und noch vielen anderen merkwürdigen Dingen. Die einzige Lichtquelle bildete ein kleines, vergittertes Fenster am anderen Ende des Raumes, doch das spärliche Licht, das durch die blinde, gesplitterte Scheibe drang, reichte kaum aus um auch nur den Treppenbereich zu erleuchten. Im düsteren Zwielicht schlurfte Harper durch den Keller. Büchertürme, Wälle aus Zeitungen mit Neuigkeiten aus längst vergangen Zeiten, Aktenstapel und zahllose Kästen, Regale und Kleiderständer bildeten ein verworrenes Labyrinth durch das sich der junge Harper nach und nach kämpfte. Er folgte dem geschäftigen Rascheln und dem leisen murmeln Norrins, was das einzige war, was Aufschluss über seinen Aufenthalt war, denn noch immer konnte Harper ihn nicht sehen, nur hören. So folgte er seiner leisen Stimme und dem Rascheln, offenbar war er auf der Suche etwas bestimmten. Doch was zum Teufel suchte er in diesem Kuriositätenbunker? Nun, das würde er nur herausfinden, wenn er Norrin selbst fand. Plötzlich war das Rascheln verstummt, Stille durchflutete das Antiquitätenlabyrinth wie eine eisige Welle. Harper fühlte sich verloren, langsam begann er an Norrins Anwesenheit zu zweifeln. Vorsichtig blickte er sich um, er befand sich inmitten einer Kreuzung, zu seiner Rechten bildeten Bücherwände einen schmalen Gang, links von ihm flankierten zwei mannshohe Steinsäulen einen von Glasskulpturen gesäumten Weg. Die Richtung aus der er gekommen war, war vollgestellt mit Instrumenten, als er sich umdrehte, warf er eine gigantische Tuba um, die mit lautem Getöse auf den Boden aufschlug und neben einer alten Trommel landete. Geschockt trat er automatisch ein paar Schritte zurück, wobei sein Rücken gegen irgendetwas Kaltes, Großes prallte. Erschrocken fuhr er herum, um zu sehen, gegen was er da gestoßen war. Sein Herz pochte so heftig in seiner Brust, als wolle es herausspringen. Vor ihm ragte ein fürchterliches Wesen auf. Mit gierig aufgerissenem Maul aus welchem unterarmlange, messerscharfe Zähne hervorstanden, gespreizten Klauenhänden und einem, zu einer abscheulichen Grimasse verzerrtem Gesicht stand dort eine höchst sonderbare, angsteinflößende Wesenheit. Sie beugte sich leicht vor, ihre Klauenhände schienen nach dem fassungslosen Harper zu schnappen. Sie besaß fledermausartige Flügel und einen Schnuppenschwanz, ihr Körper war fast Menschlich, dennoch war Harper klar, dass es sich um einen Dämon handeln musste. Spitze Dornen wucherten auf dem Rücken der Bestie, ihre Augen funkelten rot wie Blut und glänzten trotz des Staubes. Die Haut des Dämons war pechschwarz wie die finsterste aller Nächte und war, bis auf wenige Schuppige Stellen, aalglatt. Starr vor Angst stand er da und starrte das Etwas an. Die steinerne, schwarze Bestie stand auf einem Sockel, in welchem eine Inschrift gemeißelt worden war. Vor Schreck keuchend, versuchte Harper wieder zur Ruhe zu kommen. Mit auf den Knien abgestützten Händen hockte er da und schnaufte, als plötzlich etwas nach ihm griff. Eine kalte, kräftige Hand packte ihn an der Schulter und riss ihn herum. Sein Herz setzte einen Moment aus, kalter Schweiß brach aus seinen Poren und er sog erschrocken die Luft ein. Was war das? Noch so ein Dämonen-ding? Angstvoll packte er die Hand, die ihm in ihrem eisernen Griff hielt und versuchte panisch, sich loszureißen, doch es gab kein entrinnen. Die Hand drehte ihn um hundertachzig Grad und er blickte in Norrin Davis‘ grinsendes Gesicht. „Schwarzer Marmor, handgemeißelt, aus Paris. Mitte des fünfzehnten Jahrhunderts erschaffen, ein Grabmal. Hübsch, was?“ Harper fehlten die Worte, er war kaum fähig zu sprechen, brachte nur Gemurmel über die Lippen. „Wo in Dreiteufelsnamen sind wir hier?!“ „Im Keller, wonach sieht’s denn aus? Aber jetzt folge mir, ich muss dir etwas zeigen… Komm!“ Dieses Mal riss Norrin ihn nicht an der Hand mit sich, wofür ihm der junge Harper äußerst dankbar war. Immer noch ein wenig perplex und außer Atem folgte er dem alten Norrin, der zielsicher durch das Labyrinth aus Krimskrams wanderte. Bei genauerer Betrachtung, erschien es Harper gar nicht so groß, es war zwar nicht unbedingt klein, doch auch nicht so unendlich wie er anfangs vermutet hatte. Nun war auch seine Neugierde erwacht und erfolgte Norrin schnellen Schrittes, welcher auf einen gewissen Punkt zustrebte. Von fern konnte Harper dass Leuchten einer Lichtquelle erkennen und schon bald konnte der identifizieren, um welche Lichtquelle es sich genau handelte. Nun befand er sich allem Anschein nach im Zentrum des Kellers, einem runden Areal, welches fast frei von Plunder war. Ein einziges Objekt befand sich in dessen Mitte, doch was es genau war, konnte Harper nicht erkennen, denn es wurde von einem grauen, schweren Tuch verdeckt. Freudenstrahlend deutete Norrin auf das klobige Etwas. „Voilá, mein Freund, das ist die Lösung deines Problemchens!“ „Soso…ein überdimensionaler Tisch oder ein eine riesige Kommode sollte meine Lösung sein?“ Fassungslosigkeit machte sich auf Norrins Gesicht breit. „Tisch? Kommode? Herrgott nein!!“ Vehement schüttelte er den Kopf, sein weißer Haarschopf wurde um sein Gesicht geschleudert, auf welchem nun ein triumphierendes Lächeln erschien. Er beugte sich über das Etwas, der goldene Schein der Kerze malte Schatten auf sein runzeliges Gesicht, was ihm und dem Grinsen etwas Koboldartiges verlieh. Im Zuge einer theatralischen Geste zog er mit einem kräftigen Ruck an dem Tuch, welches in hohem Bogen, gleich dem Flügel eines Engels durch die stauberfüllte Luft glitt. Staub wirbelte in einer dicken Wolke empor und raubte Harper erneut den Atem. Das Tuch verschwand und offenbarte das, was darunter verborgen worden war. Erst nach längerem Betrachten viel Harper auf, was dies für ein besonderes Objekt war. Es war eine Vervielfältigungsapperatur, eine der ganz alten Schule, genauer gesagt, so alt, dass sie noch bewegliche, einzeln einsetzbare Lettern und eine Kurbel zum Betätigen besaß. Fasziniert und auch etwas perplex musterte er dieses wunderliche Artefakt, unzählige Fragen surrten durch seinen Kopf und auch sein Überich bombardierte ihn mit Fragenstellungen aller Art. Auch der junge Harper selbst kam ins Grübeln. Wo zum Donner hatte Norrin etwas Derartiges her? Wie um alles in der Welt kam er zu so einem Gegenstand und vor allem. funktionierte dieses verstaubte, steinalte Ding überhaupt noch? Die Stimme des Antiquars riss ihn jäh aus seinen Überlegungen. „Was is Jungchen? Hast du etwa deine lose Zunge verschluckt?“ Sein schelmisches Grinsen war noch um einiges breiter als sonst und seine Augen funkelten vielsagend im goldenen Schein der Kerze. „Eine alte Buchpresse, SEHR alt Junge, sehr alt. Sie stand schon hier als ich diesen Laden vor über fünfzig Jahren kaufte. Du musst wissen, dies hier-„ Er machte eine ausholende Geste, wobei er sich beinahe den Ärmel an der Kerze in Brand steckte. „-Dies war vor geraumer Zeit eine Druckerei gewesen, später hatte hier ein Buchbinder gehaust, von welchem ich dieses Gebäude dann erwarb. Er überließ mir dieses Ding. Seither sind so viele Jahre verstrichen, doch nun werden wir es in Gebrauch ziehen! Stell dir vor, ich kann es sogar bedienen!“ Harper war nach wie vor vollkommen perplex, doch nun riss er sich am Riemen und stelle die eine Frage, die ihm so sehr auf der Zunge brannte, dass es förmlich schmerzte. „Funktioniert sie denn noch?“ Das Glitzern und Funkeln in Norrin Davis‘ Augen wurde zu einem Strahlen, sein Grinsen zog sich mittlerweile von einem faltigen Ohr bis anderen. Seine Goldzähne blinkten und blitzen im Schein der Kerze und seine Stimme zitterte vor Euphorie und Neugierde. „Finden wir es heraus!“, wisperte er und wuselte um die Druckpresse herum wie ein kleines Labormäuschen. Flink begann er, die Platte mit den Lettern heraus zu hebeln. Bei jeder Bewegung knarzten und knirschten die alte Presse und Norrin Rücken um die Wette. Endlich war auch Harper selbst aus seiner Starre erwacht und eilte dem ächzenden Norrin zu Hilfe. Mit vereinten Kräften stemmten sie das Letternblatt auf die Oberseite der Druckmaschine, von wo aus sie diese kritisch beäugten. „Sieht…schmutzig aus, was?“, witzelte Norrin, „Scheint als müssten wir erst Waschweiber spielen, ehe wir uns an die Arbeit machen können. Himmel Arsch und Zwirn, wie das aussieht! Widerlich, Tinte Staub und… was in Gottes Namen ist das?!“ Ein durchweg seltsamer Geruch quoll aus der Öffnung hervor. Harper sog das wunderliche Aroma tief in seine staubverkrusteten Lunge. Der Geruch von rostigem Metall, Alter, Verfall und uralter Tinte mischte sich mit einem widerlich süßlichen, vertrauten Duft. Es roch wie Blumen aus lange vergangenen Zeiten, süß wie der Hauch vergehenden Fleisches und doch vertraut wie frische Erde nach einem warmen Sommerregen. Harper kannte diesen Geruch, es war einer seiner Liebsten. Je tiefer er mit seiner Hand in das Innere der Maschinerie gelangte, desto mehr dieses Geruches strömte aus dem finsteren Schlund hervor. Bald schon gelangte er an den Verursacher dieses Aromas und erstellte mit kindlicher Zufriedenheit fest, dass er Recht gehabt hatte. Harper stieß gegen etwas weiches, matschiges, vermutlich hatte es auch Fell. Als er es packte gab das Etwas nach, seine Hand quetschte das Ding, was immer es auch war, zusammen und eine klebrige Flüssigkeit trat aus. Der süßliche Geruch wurde stärker und stärker, gierig sog der junge Harper ihn in seine Lungen. Mit einem bestimmten Ruck zog er seine Beute heraus und mit ihr entfloh auch eine Wolke des Duftes aus dem Schlund der Maschine. Widerlich süß, erdig, man konnte das Fortschreiten des Verfalls förmlich riechen, es war der Duft nach lange vergangenem, nach unerzählten Geschichten und Geheimnissen. Es war der Geruch nach verfaulendem Fleisch, verwesenden Eingeweiden und getrocknetem Blut, den er so liebte. Der Geruch nach Tot. Siegesgewiss wedelte der junge Harper mit der Ursache dieses Geruchs vor Norrins Nase herum. „Grundgütiger, was in aller Welt…?!“ „Eine tote Ratte, riesengroßes Vieh.“ Harper hielt sie am Schwanz gepackt, von dem einst sicherlich quicklebendigen Tier waren nur verwesende Reste übrig. Ein schleimiges Gemisch aus Blutresten und anderen Säften rann über Harpers Arm und tropfte in einer makabren Melodie auf das Metalldeck der Maschine. Norrin starrte entgeistert auf das Ding das Harper ihm entgegenstreckte wie einen Blumenstrauß. Ihm war speiübel, sein Gesicht war aschfahl geworden, das Grinsen war erstorben und seine Augen weiteten sich vor Ekel und Unglauben. Ratten, hier gab es RATTEN. „Verdammte Scheiße Junge, nimm dieses…dieses…Ding von mir weg! Na los, wird’s bald?! Abscheulich!“ Schwankend trat er ein paar Schritte zurück, er musste sich alle Mühe geben, um nicht seinen Mageninhalt auf dem staubigen Boden zu verteilen. Ratten, wie übel! Norrin hasste Ratten. Schlangen, Krabbeltiere aller Art, Fledermäuse, ja sogar Kinder waren kein Problem, aber Ratten, warum ausgerechnet Ratten?! Harper gluckste vor Lachen, er hatte seinen Spaß. Doch genug des Unfugs, man trieb kein Schindluder mit Toten, egal ob Mensch oder Tier. Er entschloss sich, sie nach oben zu bringen und dort dann zu entsorgen. Norrin wies ihn an, Eimer, Terpentin, Lappen und anderes Putzzeug mitzunehmen, auch die Schreibmaschine sollte er hinuntertragen. So spazierte der junge Harper erneut durch das Kuriositätenlabyrinth, diesmal eben mit einer halb verwesten Ratte im Schlepptau. Der alte Norrin blieb jedoch zurück, keinen Millimeter würde er mit solch einem Vieh schreiten, nur über seine Leiche! Geschäftig begann er hingegen, die Lettern aus der Platte zu pflücken. Heiter summend schwenkte er die Ratte in melodischem Takt hin und her. Nach kurzer Zeit hatte er die Wendeltreppe erreicht, es dauerte erheblich länger, die zahllosen Stufen zu erklimmen, als an der Hand hinunter geschleift zu werden. Vor Erschöpfung keuchend kam er schließlich oben an, wo er sich sogleich auf den Weg nach draußen machte, um sich der Ratte zu entledigen. Er spazierte den Pflasterweg entlang, bis er an eine niedrige Hecke vor einem Haus gelangte, in welchem Norrins Nachbarin lebte. Norrin konnte diese Frau nicht ausstehen, wie er Harper eines Tages erzählt hatte. Harper blickte sich suchend um. Nichts, keine Menschenseele zu sehen. Perfekt. Er holte aus und warf die Ratte möglichst unauffällig über die Hecke. Sie sah ein bisschen aus wie ein Vogel wie sie so über die Hecke segelte… Patsch! Mit einem widerlichen Klatschen prallte sie gegen die hellblau gestrichene Hauswand. Ein weiteres, diesmal dumpferes Klatschen signalisierte Harper, dass die Ratte vor der Haustür der Frau aufgeprallt war. Gut so, hoffentlich trat die alte Schrulle drauf und erlitt einen Herzinfarkt. Gut gelaunt legte er die wenigen Meter zu Norrins Laden zurück, begab sich in die Abstellkammer und klaubte alles zusammen, was er benötigte, um die Druckpresse wieder in Stand zu setzten. Beladen mit Eimern, Lappen, Mittelchen und der Schreibmaschine stieg er erneut die ellenlange Treppe ins Kellerlabyrinth hinab. Stufe um Stufe kämpfte er sich voran, sorgsam darauf bedacht, nicht zu stolpern, denn der Weg hinab war lang, sehr lang und er hatte erheblich wenig Lust, ihn als wirres Knäuel aus Putzzeug, Chemikalien und einer schweren Schreibmaschine zurückzulegen. Eine gefühlte Ewigkeit und tausende Treppenstufen später, erreichte Harper endlich schweißnass das Ende der Treppe. Er verweilte einige wenige Minuten am Fuße der Wendeltreppe um zu verschnaufen bevor er aufs Neue losmarschierte und sich seinen Weg durch das verschlungene Labyrinth aus Büchertürmen, Zeitungsstößen, Regalen und anderen Objekten zu machen. Schon von weitem konnte er den Schein der Kerze sehen, offenbar war diese seit seinem letzten Besuch gewachsen. Der goldene Schein hatte sich ausgebreitet und als Harper ihn erreichte, erkannte er die Ursache dafür. Norrin watschelte geschäftig auf und ab, er hatte seine Zeit sinnvoll genutzt. Harper blickte sich um, er befand sich in einem Meer aus brennenden Kerzen, Petroleumlampen und Kerzenleuchtern. Auf jeder nur erdenklichen freien Fläche fanden sich eine, oder gleich ein ganzer Haufen von Kerzen. Zufrieden betrachtete Norrin sein Werk und hieß Harper in seinem Lichtermeer willkommen. Er nahm ihm das Putzzeug aus den Händen und schraubte sogleich den Deckel der Flasche mit dem Lösungsmittel, welchen Inhalt er vollends in einen der Eimer leerte. In diesen Eimer warf er dann alle Lettern, er hatte auch die anderen gefunden und so musste Norrin feststellen, dass ein Eimer allein zu klein war. Also füllte er auch den zweiten Eimer und versenkte die restlichen Lettern im übelreichenden Chemikaliengemisch. Sodann begann Norrin, die alte Maschinerie genauer unter die Lupe zu nehmen, nicht jedoch, ehe Harper sie auf den Verbleib von Ratten untersucht hatte. Als er keine mehr fand, zog und zerrte er an den diversesten Hebeln, schraubte an den verschiedensten Schrauben herum, drehte und stocherte in all den kleinen Zahnrädchen und Nischen. Später wies er Harper an, die Lettern aus der Lake zu fischen, sie fein säuberlich abzutrocknen und anschließend in die Platte zu stecken, selbstredend in der gewünschten Textformation. Neugierig beäugte der junge Harper einen Letter, er bestand aus einem Bleiquader, aus dessen Korpus ein plastischer Buchstabe gegossen worden war. Er glich einem Stempel, schließlich war das Prinzip auch fast das Selbe. Im glimmenden Schein des Lichtermeeres schimmerte er bronzen, als Harper ihn zwischen seinen tintenverschmierten Fingern drehte. Wie abgenutzt er doch war… Insgeheim fragte sich Harper, wie viele Geschichten dieses kleine, daumennagelgroße Bleistückchen schon gesehen oder besser gesagt, geschrieben hatte… Was würde es ihm wohl erzählen, wenn es sprechen könnte? Vielleicht hatte es schon einmal ein ähnliches Schreiben gedruckt, möglicher Weiße hatte es Nachrichten, Verschwörungstheorien, Bücher oder gar Amtsdokumente zu Papier gebracht? Wer weiß… Ein grausiges Ächzen und Quietschen, das klang wie von tausenden splitternden Knochen und das Kreischen unsagbar vieler verlorener Seelen riss den jungen Harper so jäh aus seinen Gedanken, dass er den Letter fallen ließ. Mit einem leisen, gläsernen Klingeln prallte er am staubigen Boden auf. Aller Schreck ward vergessen, ein fremdartiges, aber doch wohliges Déjà-vu Gefühl erklomm Harpers Geist. Dieses „Kling“ kam ihm so fremdartig vertraut vor… Ein leiser Schmerz begann in ihm zu keimen. Oh wie sehr klang dieser Laut doch nach dem Klingeln des Schlüssels, den er im Bennington Inn gefunden hatte… Harper fasste sich an dir Brust, dorthin, wo der Schlüssen lag. Über seinem Herzen. Dieses leise, fast unhörbare Klingeln war in diesem Moment lauter als das ohrenbetäubende Kreischen und Knirschen der Maschinerie. Für einen kurzen Augenblick nur fühlte er sich um Jahre zurückversetzt, er roch den erdigen, modrigen Duft des alten Hauses, spürte das, durch die großen Fenster hereinfallende, warme Sonnenlicht auf seiner Haut und nahm auch sein Es intensiver war als zuvor. Fast konnte er den Windhauch spüren der ihm damals durchs Haar gesäuselt war… „…hast du denn nicht gehört?! JOSH!“ Erneut wurde er von Norrins Stimme aus seiner kostbaren Erinnerung gerissen. Verdammt! „Bitte?“ „Zur Hölle, du sollst das Letternfeld bringen hab ich gesagt! Wie oft soll ich es denn noch sagen, hm?! Du bist entweder taub, oder von den Dämpfen benebelt… Himmel du sollst das Lösungsmittel doch nicht inhalieren!!“ Harper reichte ihm die gewünschte Platte, doch erneut hatte Norrin seinen Teil zum Meckern gefunden. „Herrje Josh! Sie ist ja noch fast leer! Willst du denn einen einzigen Buchstaben drucken?“ Wie war das? Verwundert starrte Harper auf die Platte. Wahrlich, Norrin hatte Recht, er hatte bisweilen nur einen einzigen Buchstaben eingesetzt. Alle anderen befanden sich noch im chemischen Lösungsbad. Mit einem resignierten Seufzen machte sich Norrin selbst an die Arbeit. „Geh uns schreib den Text, den ich stecken soll. Hurtig, ich werde nicht jünger Freundchen!“ Kopfschüttelnd und grinsend wandte er sich seiner neuen Aufgabe zu, während Harper zur Schreibmaschine stapfte und zu Tippen begann. Nebenbei vernahm er Norrins leises Fluchen und Gemurmel. „Junge, Junge, vor Aufregung ist der kleine ganz wirr… Hach ja, wie lang ist’s her… Gottverdammte Scheiße, bleibst du wohl hier?! Mieses Drecksteil… Ich bin zu alt für sowas, zu alt, viel zu alt….“ Grinsend tippte Harper Wort für Wort, seine tintenschwarzen Finger flogen nur so über das silberne Tastenfeld. „Klick, klick, klack, klick, klick, klack…“, tönte es durch das Kellerlabyrinth und das Klicken mischte sich mit Norrins Fluchen und Gemurmel zu einer eigenen kleinen, geheimen Hymne. Bald schon hatte Norrin seine Arbeit vollbracht und trat hinter Harper, um zu sehen, was er zu Papier brachte. Kritisch beäugte er sein Werk und gab ihm hier und dort noch ein paar Verbesserungsvorschläge. So verstrich der Tag, ohne jeden Hauch von Zeit und Alter saßen die beiden im Lichtermeer des Kellerlabyrinths und schrieben. Wissen Sie, manche schreiben Geschichten, doch sie schrieben an diesem Tag die Wahrheit. Die Erste von vielen.
Es war sonniger Tag, ein weiterer unter all den perfekten Tagen hier. Barbara Dale spazierte soeben durch die akkuraten Häuserreihen nach Hause, ihre Einkäufe schleppte sie in zwei modischen Stoffbeuteln mit sich. Diese Plastiksäcke waren auch zu konventionell für eine Frau von Welt wie sie. Ihre Freundin, Claire Hagott hatte sie ihr empfohlen und sie musste zugeben, diese Frau hatte Geschmack. Hut ab. Schnaufend walzte sie den senffärbig gepflasterten Gehweg entlang, irgendwie kam sie sich dabei vor, wie Dorothy auf dem Weg zum Schloss des Zauberers von Oz. Senfgelb, was für eine Farbe für einen Pflasterweg! Etwas skurril, doch sie passte am besten zu den zartrosa Blüten der Zierbäumchen, die den Gehweg säumten und auch als schmucke Trennlinie zur schmalen Straße fungierten. Dies war schon ein herrlicher Ort, ein perfekt gepflegtes Haus reihte sich ans nächste, sämtliche Hecken waren gleich hoch, die Farben der Fassaden waren gleich, die Briefkästen, die weißen Zäune, ja sogar die Blumen in den quadratischen Vorgärten waren von der selben Sorte und Farbe. Einfach himmlisch, diese Perfektion und ihre Idylle waren schlicht und ergreifen hinreißend. Darum liebte Barbara Dale dieses Ort so, er war perfekt, jeder hier war es. Zumindest, fast jeder, der eine oder andere hegte, wie auch sie selbst, so manches Geheimnis… Doch das war egal, alle anderen waren immerhin perfekt und genau das war der Grund, warum sie ihr Geheimnis um jeden Pries wahren musste! Sie wollte doch nur glücklich sein, war denn das zu viel verlangt? Ihre kleine, heile Welt rund um ihre Ehe war zwar schön, doch heil war sie schon lange nicht mehr. Seit ihr lieber Sohn ausgezogen war um zu studieren hatte auch ihre Ehe den Pfiff verloren. Herrje, wie gerne würde sie doch glauben, dass James in Harvard studierte, wie sie es allen erzählte, und nicht mitten im Nirgendwo versuchte, mit ein paar zwielichtigen Typen reich zu werden. Lennard wollte von ihrem Sohn ohnehin nichts wissen, er war froh, dass er ihm endlich nicht länger auf der Tasche lag. Andererseits schenkte er ihr nun umso mehr Aufmerksamkeit, was an sich gut war, doch es störte sie auch manchmal, wenn sie sich mit Max treffen wollte. Max… Dieser Mann war traumhaft, Lennard war zwar ein guter Ehemann, ja, der Beste den sie bisweilen hatte, doch oh… Max hatte etwas was Lennard nicht hatte: Geld, haufenweiße Geld. Hätte sie Max geheiratet, müsste sie nun nicht in dieser brütenden Hitze nach Hause wandern und ihre Einkaufstüten schleppen. Doch leider hatte ihre beste Freunden Claire ihn geheiratet, aber in gewisser Weiße teilten sie sich Max…nur wusste Claire nichts davon. Kopfschüttelnd und leicht verärgert über ihre kindliche Schwärmerei stellte sie die Beutel vor ihrer Haustüre ab und begann, nach ihrem Schlüssel zu wühlen. Diese verfluchte Tasche! Warum zum Teufel wollte sie dieses riesige Ding überhaupt haben? Lennard hatte sie ihr vor kurzem geschenkt, sie hatte sie unbedingt haben wollen, seit dem Augenblick, als sie sie das erste Mals in der Auslage von „Allister’s Accessoires“ , der Nobelboutique von Nathalie Allister, gesehen hatte. Die gute Nathalie betrieb diese Boutique anscheinend für Leute, die das Selbe Vermögen wie sie und ihre beiden Busenfreundinnen, Susannah Polt und Rosie Gillespie, innehatten. Diese Frauen hatten noch mehr Glück gehabt als Claire, sie hatten sich drei der reichsten Säcke im Umkreis von vielen tausend Meilen geangelt. Doch Barbara wusste, dass es in Ly Allisters Ehe kriselte, sie hatte es von Claire Hagott gehört, jawohl. Was das anbelangte war die gute alte Babs Dale das beste Pferd im Stall, sie war die Meisterin des Klatsches! Darauf war sie auch stolz, sie wusste über alles und jeden etwas zu erzählen. Lächelnd bückte sie sich, um die Einkaufstüten aufzuheben und trug sie dann in ihr perfekt gesäubertes Haus. Man musste hier niemanden besuchen um zu wissen, wie sein Haus aussah, sie waren alle gleich gebaut worden, lediglich der Einrichtungsstil unterschied sie, von außen sahen sie ebenfalls identisch aus. Das gefiel Babs so sehr hier, alles war gleich, alles war perfekt und jedermann bemühte sich, dies aufrecht zu erhalten. Barbara Dale war erschöpft vom Einkaufen, wie hart sie doch geschuftet hatte! Zweimal war sie in den Feinkostladen marschiert, weil sie den Weinessig vergessen hatte! Nun war es zwei Uhr nachmittags, höchste Zeit für ihren Nachmittagsmartini und ein Telefonat mit Claire, womöglich gab es wieder Neuigkeiten, man konnte ja nie wissen. Schmunzelnd begab sie sich zum Kühlschank, doch als sie diesen öffnete, verging ihr das Lachen. Keine Spur von ihrer Flasche, auch das Bier war nicht da, geschweige denn ein Tropfen Sekt. Verdammt! Dabei hatte sie gestern gar nicht so viel getrunken… nicht mehr als sonst zumindest. Empört stapfte sie hinab in den Keller, dort musste doch noch etwas Trinkbares sein! Dieser verfluchte Lennard, nie konnte er einen Tropfen nachkühlen, wenn sie den Kühlschrank geleert hatte! Er wusste ganz genau, dass sie warmen Schnaps hasste, gottverdammt, selbst der beste Champagner schmeckte warm wie Pisse. Säuerlich polterte Barbara die Treppe hinab, in der Hoffnung, dass der Keller wenigstens EINE angenehm temperierte Flasche Feuerwasser bot. Sie wurde leicht schnippisch, wenn es um ihren Glückstropfen ging, bei so etwas verstand sie keinen Spaß. Irgendwie musste sie schließlich dafür sorgen, dass sie bei Laune blieb, was bei Gott nicht einfach war, wenn sie so viele Neuigkeiten verarbeiten musste. Das war ein Knochenjob, doch wenn sie ihn nicht verrichtete, wer dann? Himmel, Claire wäre ohne sie völlig aufgeschmissen, die gute war zwar ein kleines Miststück, doch bei allem Respekt, die Klatschverwaltung lag ihr nicht. Gott sei Dank, im Keller war es angenehm kühl, eine erfrischende Abwechslung zu dieser Affenhitze dort draußen! Barbaras Hoffnung auf einen kühlen Tropfen stieg doch ihre Laune bekam erneut einen Dämpfer als sie sich im Weinregal umsah. Nur billiger Mist! Lennard hatte was Wein anbelangt keinen Geschmack, doch Augenblick, was erblickte sie da? Ha! Lennards guter Pokertropfen! Tja, dann gab heute eben Nachmittagswhiskey. Schulterzuckend angelte sie die große Flasche aus dem Regal und machte sich wieder auf den Weg in die Küche. Als sie gerade im Wohnzimmer ankam, ertönte das schrille Klingeln des Haustelefons. Das musste Claire sein! Aber verdammt, sie musste sich noch ein Glas holen! Wobei… Das Glas müsste sie hinterher wieder abwaschen, was ihre Hände wieder so schrumpelig machen würde, igitt. Sie würde es in den Geschirrspüler geben, doch nein, dann würde sich Lenny wieder künstlich aufregen, wenn es einen trüben Rand bekam… Scheiße, dann eben kein Glas! Sie entschloss sich, einfach aus der Flasche zu trinken, jawohl. Dies war zwar nicht besonders lady-like, aber hey, sie war alleine hier. Zumindest glaubte sie das… Mit geübtem Griff schraubte sie die Flasche auf und nahm einen kräftigen Schluck, bevor sie zum Hörer griff. „Babs Dale hier.“, meldete sie sich. „Hallöchen Barbie, hier ist Claire! Du glaubst nicht, was ich heute Morgen gehört habe…“, tönte es aus dem Telefonhörer. Dies würde ein langer Nachmittag werden, dessen war Babs Dale sich sicher. Sie lauschte Claire Hagotts Stimme während sie die Whiskeyflasche Schluck für Schluck etwas leerer machte.
Als sie am späten Abend den Hörer auf die Gabel legte, hatte sie die Flasche vollends geleert und dich überdies noch zwei oder drei Flaschen Bier einverleibt. Sie hasste Bier, dies war ein Getränk für Männer, Bauarbeiter, Teenies oder alte Männer. Für gewöhnlich trank Babs nur Wein, Champagner, Whiskey oder Schnaps, feines Zeug eben. Doch heute war es ihr egal gewesen, es war ihr immer egal wenn sie schon eine Flasche gutes Zeug getrunken hatte, danach störte sie es nicht, wenn sie dieses braune Hopfenzeug schlürfte. Draußen war es noch nicht einmal richtig dunkel, doch schon jetzt sehnte sich Barbara Dale nach ihrem Bett, sie war müde und ihr Kopf wummerte wie die Boxen im Kofferraum eines Pimpmobils. Herrje, sie sollte sich besser hinlegen… Benommen torkelte sie in ihr Schlafzimmer, doch als sie beim Fenster vorbeiwandelte, schreckte sie in komisches Geräusch auf. Was war das? War etwa jemand im Haus? Nein, es war von Draußen gekommen, vom Holzstoß… Skeptisch blickte sie aus dem Fenster und dort draußen war…nichts. Sie musste sich verhört haben, wahrscheinlich war nur ein Holzscheit heruntergefallen. Schulterzuckend setzte sie ihren Weg ins Schlafzimmer fort, doch sie wurde das Gefühl nicht los, beobachtet zu werden.
Roberts Herz schlug ihm bis zum Hals, seine Gedanken rasten und er schnappte entsetzt nach Luft. Verdammt, fas hätte sie ihn gesehen! Seit Tagen verbrachte er Ewigkeiten hinter diesem Holzstoß, eingepfercht zwischen der Hauswand und den modrigen Scheiten. Nur zwei Millimeter hatte er sich bewegt und zack! Schon war einer dieser modrigen Holzklötze vom Stapel gefallen. Die alte Schnepfe hatte natürlich gehört, sie hatte Ohren wie eine Fledermaus! Wie erstarrt hockte er nun da und presste seinen Körper gegen die kühle Wand. Sie sah aus dem Fenster, er konnte das Scharren ihrer aufgeklebten, langen Fingernägel auf dem Fenstersims hören. Ihre Schritte waren bleischwer und unregelmäßig, natürlich, sie hatte auch getrunken. Sie hatte viel getrunken. Eine gefühlte Ewigkeit stand sie da und blickte hinaus, Robert hielt bang den Atem an. Sie durfte ihn nicht erwischen, oh nein, bitte nicht! Josh würde ihn nicht mehr lieben wenn er seine Aufgabe versaute! Er zitterte wie Espenlaub, das Papier zu seinen Knien raschelte verräterisch. In seinen Ohren schallte es unnatürlich laut, er fürchtete, dass sie es hören konnte. Robert umklammerte den Kuli wie ein Ertrinkender einen Rettungsring, in der Hoffnung Halt zu finden. Sein Blut rauschte in Roberts Ohren, es strömte durch seinen Körper wie ein reißender Fluss und tränkte ihn mit Adrenalin. Was war das? Ein Scharren ertönte, gefolgt vom Poltern unsicherer Schritte. Sie ging, gut. Den ganzen Tag hatte er hier ausgeharrt und sie belauscht, alles niedergeschrieben was sie sagte und das ohne zu wissen, warum er das tat. Josh wollte es so, dass war die Hauptsache, einen anderen Grund brauchte er nicht. Josh, sein geliebter Josh. Mit fahrigen Bewegungen las er die vielen, dicht beschriebenen Zettel vom Boden auf. Er hatte alles aufgeschrieben was er hörte, alles. Wie Josh es gesagt hatte, jawohl, so und nicht anders. Er kicherte. Josh würde sich freuen, ja, das würde er! „Gut gemacht Robert. Das hat Robert sehr gut gemacht!“, murmelte er vor sich hin. Kein Geräusch war mehr zu vernehmen, die Frau war zu Bett gegangen. Gut, sehr gut. Roberts Gelenke schmerzten, er musste sich zusammenkauern wie ein Kind, damit er hinter den Stapel passte. Seine Glieder brannten vor Schmerz und knacken bei jeder Bewegung wie eine alte, dürre Eiche, als er aus seinem Versteck robbte. Vorsichtig blickte er sich nach allen Seiten um, nichts und niemand war zu sehen. Flink wie ein Wiesel krabbelte Robert bäuchlings auf die Hecke zu, die den Garten der Dales eingrenzte. Er hasste Barbara Dale und ihren Mann Lennard, er hasste sie, weil Josh es tat. Das war für ihn Grund genug. Hinter der Hecke richtete er sich auf und offenbarte seine volle Größe. Er war wahrhaftig nicht klein, oh nein. Robert war ein Schrankmann geworden, kräftig, groß doch leider eine Marionette seines Bruders. Erneut blickte er sich sorgsam um. Keine Menschenseele war zu sehen. Schnell faltete er die Zettel zusammen und steckte sie in seine Hosentasche, die Spinnweben die sein Gesicht bedeckten und in seinem Haar hingen wie ein schauriges Netz, ignorierte er geflissentlich. Mochte er Spinnen, oder hatte er Angst vor ihnen? Er musste Josh diesbezüglich fragen, mal sehen was er dazu sagte. Dicke Wolken zogen vor die untergehende Sonne, es sah nach Regen aus, Josh mochte Regen, er demnach auch. Doch der Regen würde die Zettel nass und somit unbrauchbar machen, was Josh sicher nicht gefallen würde. Verflucht! Er musste gute Arbeit leisten, sonst würde Josh ihn nicht lieben! Er hatte viele wertvolle Dinge aufgeschrieben, die Frau hatte viel erzählt. Oh ja, sie hatte sehr viel gesagt, hatte der anderen Frau viel erzählt und er hatte alles aufgeschrieben! Die höhnische Stimme in seinem Kopf meldete sich mit genüsslichem Wispern zurück. Dieses Mal fand sie sogar lobende Worte. Glucksend und Kichernd hüpfte Robert den hässlichen, gelben Pflasterweg entlang. Wie ein junges Reh sprang er von einem Stein, der dunkler war, zum nächsten dunkleren Stein. Die hellen wollte er nicht berühren, Josh mochte keine gelben Sachen, er sagte, sie wären zu pseudofröhlich. Josh mochte zwar Farben, trug aber wenige, oder gar keine. Robert auch nicht, obwohl er immer gerne Farben getragen hatte. So ein Unfug, Robert hasste Farben, ja genau. Er hasste, sie weil Josh es auch tat, was Josh tat war gut, was er sagte war wahr und auch richtig, jawohl. Josh irrte sich nie, er hatte immer Recht. Immer.
Harper hatte sich geirrt, er dachte, es wäre leicht, eine Wahrheit über jemanden zu verfassen. Doch das war es ganz und gar nicht. Der staubbedeckte Boden hatte sich in ein Papiermeer verwandelt noch bevor die Kerzen halb heruntergebrannt waren. Er und Norrin saßen immer noch an dem Flugblatt für das erste Opfer. Sollten sie es in Briefform schreiben? Oder lieber doch als Artikel? Nein, eine Rede wäre doch gut… „Müll, es ist alles Müll! Vermaledeiter, elender Müll!“, zeterte Harper und zerknüllte wutentbrannt das aber tausendste Blatt zwischen seinen tintenschwarzen Händen. Norrin kicherte, wie immer, selbst jetzt fand er irgendetwas lustig. Vermutlich diente Harpers schleichende Wut als Stoff seines Amüsements. Harpers stechender Blich bohrte sich in Norrins Brustkorb. „Ach, hast du etwa eine Idee?“, zischte er fordernd. „In der Tat, die habe ich mein Junge… Die habe ich!“ Der alte Norrin rieb sich die faltigen Hände, wobei er nur die Tinte verschmierte, die daran klebte. Sein grinsen wurde breiter und breiter, das schelmische Funkeln glomm erneut in seinen Augen auf. „Du hast persönliche zu offenbaren, richtig? Nun, dann richte sie doch an diese Person. Form ist nur Schein… Was wir brauchen –was DU brauchst- ist ein letzter, finaler Schliff… lass mich mal!“ Wiederwillig erhob sich Harper und räumte den Platz vor der Schreibmaschine. Wieselflink begannen Norrins faltige, Gichtfinger über die Tasten zu huschen, dass es nur so klackerte. Seine Augen flogen über Harpers Vorlage und nach wenigen Minuten räusperte sich Norrin:“ Hier, mein Vorschlag“ Stolz hielt er Harper den Zettel unter die Nase. Auf ihm stand ein einziger Satz. „Was soll das sein?“ Verwundert musterte Harper das Geschriebene. Norrin funkelte ihn an und erhob feierlich die Stimme: „Das mein Freund, ist der Name. Der Name deines Werkes, er macht es präsent obwohl es unerreichbar ist!“ Tatsächlich… Der alte hatte gute Ideen. Grinsend nahm Harper das Stückchen Papier an sich und setzte sich wieder an die Maschine, nun flossen die Worte aus seinen Händen wie kleine, schwarze Wasserfälle aus Tinte und Buchstaben. Doch dies war nur der Rohtext, er würde noch auf die letzten Seiten von Robert warten müssen. Robert… Beim Gedanken an seinen debilen Bruder zogen pechschwarze Wolken vor seinen, zuvor fröhlichen, inneren Horizont. Seine Miene verfinsterte sich und sein Es ballte sich zu einer grollenden Kugel. Selbst jetzt, so viele Jahre später war es immer noch stets an Harpers Seite, nicht nur das, es schien mehr und mehr zu einem Teil seiner Selbst geworden zu sein. Wie ein zweiter innerer Charakter, der in einem wohnt und einen leitet… Eine bessere Hälfte, ein Gegenstück oder ein zweites Selbst. Harper war über die Jahre zu der Überzeugung gelangt, dass sein Es, wie er dieses Etwas nannte, ein eigenständiges, fühlendes, ja sogar denkendes Wesen, oder vielmehr eine Wesenheit war. Seit dem Tage, an dem er den Schlüssel im Bennington Inn fand, war Es bei ihm. Er glaubte nicht daran, dass diese Begebenheit Schicksal gewesen war, er glaubte nicht an so etwas, doch er war froh, dass es passiert war. Nun strömten die kalten Fluten der Trübseligkeit wieder durch die Schleusen seines Unterbewusstseins, der Verlust seines Refugiums schmerzte wider Erwarten noch immer. Seit Robert das Haus vernichtet hatte, war er nicht mehr dort gewesen. Robert… Erneut kam ihm in den Sinn, dass er ihn unbedingt loswerden musste, doch in diesem Moment fiel ihm auch ein, dass Robert die letzten Informationen hatte, die er für die Fertigstellung seiner ersten Wahrheit benötigte. Resigniert erhob er sich von seinem vertaubten Sessel und verabschiedete sich von Norrin. Es war Zeit, seine Maske aufzusetzen und an den Ort zurückzukehren, den er schon bald zu einem anderen gemacht haben würde.
Robert war nervös, Josh war noch immer nicht zu Hause und es war schon nach Einbruch der Dunkelheit. Für gewöhnlich war er um sieben wieder da, nun war es fast acht Uhr. Was, wenn ihm etwas passiert war? Haben sie ihm etwas angetan? Wo war er? Josh war seit einigen Wochen immer weg. Er verließ das Haus, ohne dass Robert ihn sah. Hektisch führte er seine zittrigen Hände an seine klappernden Zähne. Ein metallischer Geschmack breitete sich in seinem Mund aus, etwas Warmes zog schmale Spuren über seine Arme. Wie besessen kaute er an seinen Fingern, von seinen Nägeln war schon seit langem nichts mehr übrig. Auch nun kaute er auf seinen Fingerkuppen herum bis sie bluteten, doch er merkte es kaum. Robert saß auf seinem Bett und lauschte, er wartete auf Josh. Zu lange hatte er ihn nicht gesehen, viel zu lange. Er hatte die Knie angezogen und wippte vor und zurück wie eine Boje auf hoher See. Seine Zähne klapperten und seine Augen huschten rastlos durch den Raum. Was, wenn sie Josh erwischt hatten? Irgendetwas musste geschehen sein, ansonsten wäre er schon längst da! Josh war immer pünktlich, oh ja, er hasste Unzuverlässigkeit! Das wusste Robert, darum tat er seine Arbeit so gut er konnte. Für Josh, alles nur für seinen geliebten Josh. Doch nun war er nicht da! „Was, wenn er nie wieder kommt? Dann bist du Mutterseelenallein! Ohne Josh…den Rest deines sinnlosen Lebens!“, fauchte die Stimme in seinem Kopf. „Ach Unsinn, du wirst kein leben ohne Josh leben. Du KANNST ohne ihn gar nicht mehr leben!“, säuselte die andere Stimme mit ihrem krächzenden Laut. Ein ersticktes Lachen ertönte. Sie lachten ihn aus! Die Stimmen machten sich über ihn lustig! Doch sie hatten Recht, er konnte ohne Josh nicht leben, niemals, niemals nie! Sollten sie ruhig lachen, Robert lachte mit. Plötzlich kam ihn ein furchtbarer Gedanke. Das Lachen verstummte, er hielt mit dem Wippen und dem Kauen inne. Blitzartig sprang er auf, rannte aus seinem Zimmer und prallte beinahe gegen die Türe zu Joshs Dachkammer. Vor ihr blieb er stehen, sie war geschlossen. Josh hatte ihm verboten hineinzugehen. Robert war ratlos und verzweifelt, er musste dort hinein, er musste! Gehetzt blickte sich um, seine Zunge glitt über seine blutig gekauten Lippen. Im Haus herrschte Stille. Mutter schlief, Josh war weg. „Na los, tu es! Wenn du Recht hast, ist es Vorbei! Tu es für Josh!“, tönten die Stimmen in einem verheißungsvollem Chor. Konnte er das? Sollte er das tun? Er musste. Robert holte tief Luft und drückte die Klinke mit seinen blutigen Händen herunter. Andächtig schritt er mit zittrigen Knien über die Schwelle. Der Mond malte gespenstische Schatten in Joshs Zimmer, in allen Ecken schein etwas zu lauern. Doch das Seltsamste war dieses drückende, schwere Gefühl, da auf einmal auf ihm lastete wie der Blick zweier Augen aus Blei. Hier war es spürbar kälter als im Rest des Hauses. Etwas war hier und es wusste, dass er da war. Es schien ihn zu beobachten. „Josh? Bist du das Josh? Wo bist du…?“, flüsterte Robert in den leeren Raum. Er erhielt keine Antwort. Vielleicht bildete er es sich nur ein, ja, er machte sich Sorgen und sah Gespenster. Mit bebenden, zitternden Händen begann er zu suchen. Es musste hier irgendwo sein, wenn nicht, dann war Josh verloren. Dann würden sie ihn töten, ganz gewiss. Robert schlich zum Bett und blickte darunter. Nicht. Auch unter dem Kissen sah er nach. Ebenfalls nichts. Langsam wurde er unruhig. Seine Zähne klapperten und seine blutigen Hände waren schwer zu kontrollieren. Verzweifelt öffnete er den Schrank, in dem Josh seine Kleidung aufbewahrte. Wieder brabbelte er vor sich hin, doch dieses Mal flüsterte er, er hatte Angst, dass es ihn hören konnte. „Verzeih mir Josh, es ist nur für dich…. Alles für dich!“. Er kicherte, tränen kullerten über seine Wangen, doch er merkte es nicht. Er stand vor dem Schrank und starrte hinein. Es roch nach Josh! Gierig sog er diesen wunderbaren Duft ein. Was war das? Oh Herr! Er erblickte sein Lieblingsshirt! Dieses trug Josh am öftesten! Es war ein schlichtes, weites T-Shirt, auf dessen Rückseite ein großer, silberner Schlüssel aufgedruckt war. Auch auf der Vorderseite, am unteren, linken Rand fand sich ein Schlüsseldruck. Mit großen Augen betrachtete er dieses unglaubliche Stück. Er drückte es an sich, vergrub sein Gesicht darin und sog den Duft tief in seine Lungen. Josh. Nie wieder wollte er es hergeben! „Das musst du nicht… Genau genommen kannst du es an dich nehmen. Nimm es und versteck es, dann hast du ihn immer bei dir!“, säuselte eine glockenhelle Stimme in seinem Kopf. „Komm schon Robbie, du hast es dir verdient. Ein Stück Josh, für immer dein…“ Oh ja, das klang wunderbar! Hurtig knüllte er diese Kostbarkeit zu einem kleinen Ball zusammen und steckte sie in seine Hosentasche. Er schnaufte, noch immer wurde das Gefühl nicht los, beobachtet zu werden. Nun war es stärker denn je und der Beobachter schien nun wütend zu sein. Roberts Magen zog sich zu einem Knäuel zusammen. Er musste weg. Aber zuerst musste noch weitersuchen! Doch wo nur, wo?! Ah, im Regal! Flink wuselte er hinüber und sah sich alle Bücher durch. Hier standen viele Bücher, doch Robert kannte kein einziges von ihnen. Es war nicht da, es war fort! Panisch irrte er durch den Raum, suchte und suchte um sein – oder besser gesagt- um Joshs Leben. Wo war es nur, wo? Er raufte sich die Haare, knabberte heftiger denn je an seinen Fingerkuppen und wandelte durch das Zimmer. Zufällig fiel sein Blick erneut auf das Regal. Da! ganz oben auf dem allerobersten Fach lag einsam und allein ein Buch! Robert stürmte darauf zu und angelte nach dem Buch. Es wog schwer in seiner zitternden Hand, fast so schwer wie das Gefühl dieser bohrenden Blicke. Versonnen las er den Titel „The mystery of Edwin Drood“. Es war da. Erleichtert holte Robert Luft, er konnte gehen. Auf dem Weg zur Tür musste er doch entsetzt feststellen, dass das Zimmer anders war als vorher. Der Kleiderschrank stand offen und Kleidung lag am Boden, das Bett war zerwühlt. Panisch schlichtete Robert die Kleider wieder ein, stieß die Schranktür an um sie zu verschließen und eilte weiter zum Bett. Er richtete alles so her, wie er es vorgefunden hatte, ach das Buch legte er an seinen Platz zurück. Nur das Shirt behielt er… Fluchs sauste er zurück in sein Zimmer, er hörte hinter sich, wie die Tür zu Joshs Kammer ins Schloss fiel. Gut. Nun musste er nur noch auf Josh warten. Es verging kaum eine Minute, da ertönte unten ein seltsames Geräusch.
Dann herrschte wieder Stille. Was war das gewesen? Etwas war gekommen. Josh? Vielleicht. Robert wartete und lauschte kein Laut war zuhören. Ein Schatten huschte an seiner Tür vorbei und kurz danach hörte er, wie eine Tür geöffnet wurde. Joshs Tür. Er war hier.
Josh fluchte, er hatte zu lange in diesem staubigen Kellerlabyrinth gehockt. Dort unten war die Zeit verflogen, mittlerweile war es später Abend und er war zu spät. Viel zu spät. Außerdem hatte er schon den ganzen Heimweg über ein ungutes Gefühl gehabt, sein Es war rotiert. Humbug, er war nur erschöpft. Den ganzen Weg von der Stadt in den verkommenen Ort hatte er gegrübelt, wie er seine erste Wahrheit aufsetzten sollte, schließlich war ihm dann doch eine Idee gekommen. Nun benötigte er nur noch die letzten Notizen. Zugegeben, er war neugierig, was Robert dieses Mal herausgefunden hatte, bald würde er es wissen, bald. Harper hatte über die Jahre ein Talent dafür entwickelt, unerkannt zu bleiben, wie ein Schatten betrat er das Haus und schwebte über die Treppe hinauf zu seiner Dachkammer. Der sanfte Hauch eines Lächelns umspielte seine blassen Lippen als er wie ein Gespenst an Roberts Tür vorbeiglitt. Er wusste, dass er ihn hörte, er wartete auf ihn. Dieser widerwärtige Narr, ein kleiner kümmerlicher Wurm, ja, das war er… Als er die Tür zu seinem Dachkämmerchen aufstieß, hielt er inne. Etwas war…anders. Ein metallischer Duft stieg ihm in die Nase, ganz leicht, kaum wahrnehmbar aber doch war er da. Stirnrunzelnd drückte er die Klinke herunter, und trat ein. Er achtete nicht auf die dunklen, braunen Flecken auf dem abgegriffenen Metall. Vorsichtig betrat er den kleinen, fast leeren Raum. Heute erschien er ihm jedoch voll. Voll mit Seltsamkeiten. Eine drückende Unruhe lastete auf ihm, sein Es zerriss ihn förmlich. Irgendetwas stimmte nicht. Mit zusammengekniffenen Augen blickte er sich um. Sein Blick schweifte über das Mobiliar und streifte dabei auch den Kleiderschrank. Harper blieb abrupt stehen. Die Tür stand eine winzigen Spalt offen. Der junge Harper wusste ganz genau, dass er sie am Morgen fest verschlossen hatte. Nun fielen ihm auch andere Details ins Auge: Das Bett war anders. Das Kissen lag mit den Knöpfen nach außen da, Harper jedoch richtete sie stets nach innen. Auch die Decke war falsch. Was zur Hölle… Er ging zum Bücherregal, auch hier war etwas falsch. Mit finsterem Blick musterte er den hohen Schrank. Alle Bücher standen an ihrem Platz… Halt, fast alle. Ein einziges war bewegt worden. Es lag mit dem schmalen Ende zur Kante, nicht mit dem Rücken. Harper griff danach und begutachtete es sorgfältig. Der staub war verschwunden, kleine braune Flecken zeichneten sich vom Einband ab. Mit geschlossenen Augen sog er die Luft tief in seine Lungen. Sie rochen metallisch. Blut. Nicht irgendjemandes Blut nein, Harper wusste sofort, wessen Blut dies war. „Hallo Robert“, grollte er mir seiner rauchigen, wispernden Stimme. Langsam und bedächtig drehte er sich u, er hatte Recht. Robert stand im Türrahmen und starrte ihn an. Seine Lippen waren zu diesem widerwärtigen, altbekannten Clownsgrinsen verzogen. Seine Hände drehten Knoten in sein Shirt und seine Lippen waren von einer rotbraunen Linie umrahmt. Nervös leckte er sich das Clownsgrinsen und kicherte vor sich hin. Ein eisiger Schauer überlief Harpers Rücken, Robert war…verkommen. Er entglitt der Welt Stück für Stück und begann, in seiner eigenen Welt zu leben, einer Welt, die sich um ihn, Josh Harper drehte. Etwas unheimlich war dies schon, doch das durfte er ihn keinesfalls merken lassen, nein. Das leise Geräusch, das die Tür machte, wenn man sie auftat hatte Robert verraten. Harpers Nackenhaare stellten sich auf. Roberts Stimme schnitt wie eine Rasierklinge ins kalte Fleisch der Stille. „H-hallo Josh… Robert hat…“ Er sah ihn an. Harpers eisiger, leerer Blick lag auf ihm. Wut ballte sich in ihm zusammen wie ein Gewitter. Dieser Narr, dieser widerliche Abschaum! Was hatte er in seinem Zimmer verloren? Er hatte den Schrank durchwühlt, sein Bett durchsucht und seine Bücher betatscht. Nun war er nicht einmal in der Lage, klar zu sprechen! Robert hielt ihm einen beachtlichen Stapel vollgeschriebener Seiten entgegen. „Robert erledigte seine Arbeit. Hat Robert das gut gemacht? Robert hat es für Josh getan….“ Wieder kicherte er sein unlustiges, wirres Kichern und grinste sein Clownsgrinsen. Angewidert packte Harper sie Seiten mit spitzen Fingern und legte sie aufs Bett. Er spürte wie Roberts Blick an seinem Rücken haftete, als er di vielen Seiten auf die zerknitterte Decke legte. „Also, Robert hör gut zu… Ab Morgen wirst du zusehen, dass du alles über Max Hagott und seine Frau herausfindest, verstanden?“ Harper verharrte an seinem Bett und lauschte. „Ja, Robert wird alles tun, was Josh sagt!“ „Sehr gut, du erledigst alles wie gehabt.“ „Natürlich, alles, wie es Josh will!“Roberts Stimme zitterte, sie überschlug sich fast und neuerdings stotterte er. Harper hörte, wie er sich zum Gehen wandte. Oh nein, so wollte er ihn nicht davonkommen lassen. Strafe musste sein, in diesem Fall ganz besonders. „Ach und Robert..?“ Wieder ein Scharren, Robert hatte sich umgedreht und blickte Harpers Rücken an. Harper holte tief Luft bevor er mit schneidender Stimme seine Frage flüsterte. „Was hast du hier gesucht?“ Langsam drehte er sich zu Robert um, er konnte förmlich spüren wie Robert die Angst durch Mark und Bein schnitt. Nun konnte er sein Gesicht sehen, es war eine Grimasse aus Verwirrung, Angst und Verzweiflung. Das abstoßende Clownsgrinsen war verflogen. Harper lächelte sein bittersüßes Lächeln, was für ein Anblick! „Robert… Ich weiß, dass du hier warst. Wo genau warst du? Komm, zeig es mir.“ Robert sah ihn unschlüssig an, seine Hände zitterten. „Josh…Robert wollte nicht…“ Harper schüttelte den Kopf, sein Lächeln wurde breiter, seine Augen jedoch gefroren zu Eis. Robert schluckte. Langsam und unsicher ging er zum Kleiderschrank. Die Tür stand immer noch ein paar Millimeter weit offen. Roberts Augen weiteten sich. „Was hattest du dort drinnen zu suchen? Sieh hinein!“ Mir schräg gelegtem Kopf beobachtete Harper sein Instrument, er war näher gekommen und stand nun unmittelbar neben Robert. Er konnte das Blut an seinen zerkauten Fingern riechen. Robert öffnete die Tür und hielt sie Mit beiden Händen umklammert. Harper sah ihn an, er starrte in den Schrank hinein, sein Gesicht war Kreidebleich. „Weißt du Robert, ich mag es nicht, wenn man meinen Befehlen nicht Folge leistet.“ Das Lächeln auf seinen bleichen Lippen erstarb und wich einem erhabenen Ausdruck. Harper ergriff nun die Schranktüre, Robert war wie erstarrt. Immer noch lagen seine Finger an der Kante. Harper holte aus und knallte die Schranktüre mit voller Wucht ins Schloss. Ein gellendes Kreischen entfuhr Roberts Kehle, Tränen des Schmerzes kullerten über seine Wangen, er jaulte vor Pein. „Nun Robert, ich will dir mehrerlei Dinge erläutern:“ Nummer eins: Du hast meinen Schrank durchwühlt!“ Erneut holte Harper aus donnerte die Tür auf Roberts Finger. Blut quoll hervor und Robert schluchzte. „Nummer zwei: Du hast mein Bett zerwühlt.“ Knack, die Tür prallte wieder auf Roberts Finger, Harper konnte hören wie Knochen barsten. „Nummer drei: Du entweihst meine Bücher.“ Noch ein Mal sauste die Schrankpforte auf Roberts Finger, er schluchzte, schrie und heulte wie ein Hund. „Nummer vier: Du missachtest meine Regeln.“ Die Kante der Schranktüre hatte sich rot gefärbt, metallischer Geruch drang in Harpers Nase. Ein letztes Mal holte er mit aller Kraft aus und knallte die Tür gegen Roberts Finger. Er lächelte Robert an, seine Stimme war noch sanfter als zuvor. „Mein lieber Robert, was will ich dir wohl damit sagen? Nun, das is ganz einfach.“ Harper schritt um Robert herum. Dieser lag auf dem Boden und steckte sich seine blutenden, malträtierten Finger in den Mund und schluchzte wie ein kleines Kind. Harper seufzte, jämmerlich! Er blickte auf Robert hinab wie auf eine Made, es kostete ihn alle Mühe, nicht auf ihn zu spucken. „Missachte niemals meine Regeln, niemals, hörst du? Ansonsten muss ich mir einen neuen Gehilfen suchen….“ Robert blickte entsetzt zu ihm auf. „NEIN! Bitte, nicht nein! Robert tut es so leid! So furchtbar leid!“ Er schluchzte und kroch auf Harper zu. „Bitte! Robert liebt Josh doch so sehr! Es tut ihm doch so leid!“ Robert warf sich vor Harpers Füße und umschlang sie mit seinen Armen. Mit eisernem Griff hielt er ihn fest, seine blutverschmierten Finger krallten sich in seine Hosenbeine. „Robert hat es verdient, bestraft zu werden! Robert MUSS leiden! Josh tat das Richtige… Böser Robert!“ Harper starrte ihn an. Er versuchte, aus seiner Umarmung zu entrinnen, ohne zu stolpern, doch das war vergebens. Mühsam bewahrte er seine Fassung und versicherte Robert, dass er stolz auf ihn war, dass er ihn brauchte und dass er ihn nicht ersetzen würde. Endlich ließ Robert ihn los. „Geh, verrichte deine Arbeit und lege die Notizen nach Einbruch der Dunkelheit vor meine Türe! ich werde kommen, wenn ich dir eine neue Aufgabe gebe, bis dahin machst du, was ich dir vorhin aufgetragen habe!“ „Ja Josh, d-danke Josh! Robert tut alles für Josh…“ Mit diesen Worten verschwand er. Harper seufzte. Was hatte er da nur herangezüchtet? Robert war ein verachtenswertes, verkommenes Wesen, widerlich und schwach. Er musste ihn möglichst bald beseitigen… Doch zuerst waren alle anderen an der Reihe. Morgen würde er anfangen, ganz gewiss. Neugierig blätterte er die Seiten durch. Wunderbar, ihm gefiel was er las, oh ja, damit ließ sich so einiges anstellen. Ein Grinsen schlich sich auf sein fahles Gesicht. Der Mond warf dunkle Schatten unter seine funkelnden Saphiraugen. Plötzlich schoss ihm ein Gedanke durch den Kopf. Er könnte jetzt anfangen, er müsste nur Norrin Davis aufsuchen… Er lachte, genau das würde er tun, er wollte nicht warten. Schnell und leise packte er seine Sachen zusammen, schnappte sich die Zettel und huschte zur Türe. Lautlos wie ein Schatten entschwand er in die klare Nacht hinaus und eilte im Schatten der Bäume den gelben Pflasterweg entlang. Bis in die Stadt war es nicht weit. Eine kühle Brise umwehte ihn, die Blätter raschelten und flüsterten, als könnten sie es nicht erwarten, ihre Geschichten preis zu geben. Schnellen Schrittes stob der junge Harper der Stadt entgegen, wie ein Meer aus Lichtertürmen hob sie sich vom dunklen Riss des Horizontes ab. Der Mond hing als silbrige Sichel über allem und blickte auf den unsäglichen Ort herab. Wer weiß, vielleicht wollte er herunterstürzen und alles und jeden unter seinen Trümmern begraben? Je näher Harper der Stadt kam, desto lichter wurden die Allen, Bäume wichen Laternen und Laternen wichen schließlich hohen Häuserwänden. Die Stadt war wie ausgestorben, hier war es überraschend dunkel. Nun, es war auch eine winzige Stadt, kaum der Bezeichnung wert. Nur die Melodie der Nacht drang an Harpers Ohren, bis auf diesen filigranen Klang war es still in den Straßen. Das Zentrum und der Marktplatz wurden von vielen Lampions erleuchtet, doch die kleinen Gassen die zu Norrins Haus führten waren, bis auf ein leichtes Glimmen, fast stockfinster. Eilig durchquerte Harper diese verschlungenen Wege und achtete stets auf den Mond, welcher ihm den Weg wies. Endlich erblickte er die goldene Schrift von „Davis‘ Forgotten Treasures“. Harper war am Ziel. Er verharrte kurz vor der Pforte und verschnaufte bevor er sich Einlass verschaffte. Norrin hatte ihm gezeigt, was es mit dem Türklopfer auf sich hatte. Man musste lediglich ins Maul des Dämons greifen, um an einen Knopf zu gelangen. Dieser löste einen Mechanismus aus, welcher eine Glocke betätigte. Harper wartete. Ein fernes, dumpfes „Bong…Bong…“ ertönte. Ein Lächeln stahl sich auf seine Lippen. Würde Norrin ihm böse sein, dass er ihn zu so später Stunde weckte? Was wen… Ein Knacken ertönte. Harper hörte, wie etwas im Schlüsselloch herumgedreht wurde. Die Tür tat sich auf und Norrin erschien mit seinem breiten Grinsen. Statt dem Jackett und seiner Trägerhose trug er nun einen langen, samtenen Morgenmantel. Harper glaubte, einen Anflug von Überraschung auf dem Gesicht des alten Antiquars zu erkennen. Norrin bat ihn herein, er wusste bereits, was Harper vorhatte. Er rieb sich grinsend die Hände und geleitete Harper in die Tiefen des Kellerlabyrinths wo er seine allererste Wahrheit schreiben würde. Endlich.
Der Morgen graute bereits und der Mond hatte begonnen hinter den Dächern der Häuser zu verschwinden als Harper mit Norrin den Balkon betrat. Beide waren einerseits erschöpft, andererseits auch glücklich, die beiden hatten die ganze Nacht im stickigen Kellerlabyrinth verbracht und die Vervielfältigungsmaschine gepeinigt. Harper hielt nun endlich einen Stapel bedrucktes Papier in seinen tintenverschmierten Händen. Die erste Wahrheit war zu Papier gebracht und Norrin hatte Harper auf seinen Balkon gezerrt, um dies zu feiern. Die frische Luft tat unsagbar gut nach der staubschwangeren, abgestandenen Luft des Kellers. Der sanfte Hauch des Windes zerrte an den Seiten, brachte sie zum flüstern und zum rascheln. Von hier aus konnte man die ganze Stadt überblicken, man sah alles, vom Wetterhahn auf dem Dach der Bäckerei bis hin zum Kreuz, welches auf der Spitze des Kirchturms thronte. Noch nie in seinem Leben hatte Harper diese Kirche von innen gesehen, nicht, dass es ihn interessiert hätte, nein. Er fand diesen Gedanken höchst amüsant, was, wenn man die Glaubenseinstellung seiner Mutter in Betracht zog, sogar höchst erheiternd war. Grinsend betrachtete er die Mondsichel. Sie hing über dem blau-violetten Zenit wie die Sense des Todes. Erneut musste er grinsen, was Norrin nicht entgangen war. Ihm war auch nicht entgangen, dass er den Mond anstarrte. „Weißt du, auf meinen Reisen habe ich viele Geschichten gehört. Eine davon erzählt vom Mond.“ Er blickte ebenfalls gen Himmel und zog noch im selben Atemzug seine Pfeife aus der Tasche und stopfe eine Hand voll Tabak hinein. „Willst du wissen, was es mit dem Mond auf sich hat mein Junge?“ Harper mochte die Geschichten des alten Mannes, er war wie eine menschliche Bibliothek. Doch noch bevor er Antwort geben konnte, zog Norrin an seiner Pfeife und hüllte seine ersten Worte in Rauch. „Es gibt vielerlei Erzählungen über die Gestirne, so auch über den Mond. Diese hier gefällt mir am besten, sie erinnert mich an meine Runa… Man erzählt sich, dass einst, als Boron der Herr des Todes und sein Gevatter, der Herr des Schicksals zusammenkamen, das Schicksal sich in die Frau Boron verliebte. Diese war so schön, dass selbst der Tod sie nicht hatte zu sich holen können und sie verweilen ließ, weil er sie liebte. Der Herr des Schicksals versuchte jedoch, die Frau Borons an sich zu bringen. Diese aber widersetzte sich und so entschied Schicksal, sie zu töten, denn wenn er sie nicht haben konnte, so sollte sie niemand haben. So schickte er Boron fort und durchbohrte das Herz seiner Geliebten mit einem Dolch aus Kristallglas. Als Boron ihr zu Hilfe eilen wollte, war es bereits zu spät.
In rasender Wut und ungestümer Trauer tötete er seinen Bruder Schicksal. Er liebte seine Frau so sehr, dass er sie nicht gehen lassen wollte, er wollte, dass sie blieb. So kam es, dass er ihr sein Herz schenkte, sodass sie weiterleben konnte. Boron jedoch starb und entglitt zurück in seine Welt des Todes. Das Haar der Frau wandelte sich in gesponnenes Silber, ihre Haut wurde so weiß wie Porzellan, doch ihr Herz blieb schwarz wie die finstere Nacht. Aus Kummer fertigte Boron einen Spiegel aus Silber, welchen er an den Zenit haftete, um seiner Liebsten ein Fenster zu bauen, von dem sie auf die Sterbliche Welt blicken konnte, da sie sich im Totenreich so sehr grämte. Jedes Mal, wenn die Sonne verschwand, blickte sie durch ihren Spiegel auf die schlafende Welt herab und verwünschte alle, die dort unten glücklich waren. Wenn der Mond voll ist, so sagt man, öffnet sich die Pforte ins Totenreich und die Mondgöttin steigt herab um all die verirrten Seelen heim zu geleiten. Ihre Tränen kleiden den Nachthimmel wie millionen Kristalle, wir nennen sie Sterne. So ist der Mond also nichts anderes, als der Spiegel der Mondgöttin, der Geliebten Borons. Weißt du, wenn man genau hinsieht, in einer klaren, lauen Nacht, so sagt man, sieht man das Gesicht der Göttin. Viele glauben, wenn man sie erzürnt, so wird sie eines Tages ihren Spiegel vom Himmel werfen, um uns zu erschlagen.“ Norrin gluckste und stieß Rauchringe in den Himmel. Versonnen betrachtete er die Mondsichel, die nun nicht mehr als ein fahler Schatten war, in wenigen Stunden würde die Sonne aufgehen. Harper dachte über das nach, was Norrin gesagt hatte. Es war eine schöne Geschichte, niemand hatte wirklich überlebt und die Mondgöttin war unglücklich, es gab kein „Happy End“, doch sie war schön gewesen. Norrin betrachtete Harper, eine Weile lang sagte niemand ein Wort, doch dann erhob Norrin erneut die Stimme. „Nun Junge, wann willst du dein Werk denn… publizieren?“ Dies war eine gute Frage, darüber hatte Harper in seiner Euphorie gar nicht nachgedacht. Sollte er ein bestimmtes Datum wählen? Freitag der dreizehnte vielleicht? Nein, das war ganz eindeutig zu Klischeehaft. Verdammt noch mal, er konnte nicht warten, am liebsten würde er es auf der Stelle austeilen! Moment, was sprach denn dagegen? Seine Augen begannen zu funkeln und seine Finger wurden kribbelig. Er blickte Norrin verschmitzt an. „Noch heute, jetzt gleich! Sie sollen es mit der Morgenzeitung finden.“ „So?“ Norrin schien ein wenig erstaunt zu sein. „Na, du hast es ja eilig Josh!“ Er grinste breit und nahm seine Pfeife aus dem Mund. „Du musst dich dann aber beeilen, dir bleiben noch knappe anderthalb Stunden.“ War es schon so spät? Oder besser gesagt, war es schon so früh? Tatsächlich, bald würde die Sonne aufgehen. Hastig verabschiedete sich Harper von Norrin und sauste die Treppen hinab zur Pforte. Als er unten am Bordstein angelangt war, vernahm er noch Norrins Stimme. Er stand an der Balustrade und winkte ihm. „Viel Glück mein Junge, auf das, dass sie sich in der Luft zerreißen!“, rief er ihm entgegen, seine Pfeife fiel dabei fast aus seinem Mundwinkel und ihr Rauch hing wie ein Vorhang vor seinem grinsenden Gesicht. Mit großen Schritten lief Harper von dannen, es war das erste Mal, dass er es eilig hatte, an diesen unsäglichen, verkommenen Ort zu gelangen. Doch an jenem Tage war alles anders. Heute würde sich das Leben derer, die ihn niemals wahrgenommen hatten, die, denen er die Schuld für Roberts Zustand zuschob, wohlgleich er wusste, dass es seine war, endgültig ändern. Es würde schlagartig passieren und der Auslöser ihres Unglücks würde nicht mehr sein, als ein Stückchen Papier, das die Wahrheit verkündete. Nun war er fast am Ziel. Die Fenster der Häuser lagen noch in nächtlicher Dunkelheit, die Jalousien waren noch zugezogen. Perfekt. Harper warf im Laufen jeweils eine der Papierrollen auf den Fußabtreter, welcher bei jedem Haus identisch war. Er kam sich vor, wie einer dieser Zeitungsjungen aus diesen billigen Siebziger-Jahre Komödien. Fast hatte er es geschafft, das melodische „pflatsch“, das bei jedem Aufprall ertönte, entpuppte sich zu einem Rhythmus, der sich gemischt mit dem Takt seiner Schritte eine kleine Melodie formte. Langsam wurde es hell, er musste sich beeilen, denn bald würden die Laternen ausgehen. Dann würde der Typ kommen, der mit seinem Mofa durch die Allee hetzte und die Zeitungen gegen die Fenster klatschte. Alsbald würden dann alle aufstehen und sich besagten Medienmüll holen. Die letzten Häuser rückten in greifbare Nähe und als Harper die letzten Exemplare seiner Wahrheiten verteilt hatte, erloschen auch schon die Laternen. Die Sonne stieg am Zenit empor und die Mondsichel war nur noch ein blasser Schatten. Harper dachte an die Mondgöttin. Wie war es wohl, dort oben zu sitzen und auf alle herabzublicken? Norrins letzte Worte hallen in seinen Gedanken wieder: „…und wenn wir sie erzürnen, so wird sie ihren Spiegel vom Horizont nehmen und ihn auf uns hernieder schmettern, als dass unsere Welt mit ihm in tausende Stücke zerspringt.“ Bei diesen Worten musste Harper lächeln. Eine schöne Vorstellung, zu schön um wahr zu sein. Er seufzte, Glück und Erschöpfung drohten ihn zu übermannen und er beschloss in sein Elternhaus zu gehen und abzuwarten, was passierte. Ein diabolisches Lächeln ergriff Besitz von seinen ebenmäßigen Zügen. „Auf das, dass sie sich in der Luft zerreißen werden…Jawohl.“, zischte er in die Morgendämmerung hinein. Mit diesen Worten wandte er sich ab und verschwand.
Es war ein schöner Morgen, die Sonne strahlte und das allmorgendliche Geräusch der Zeitung, die mit voller Wucht gegen das Fenster gedonnert wurde ertönte diesmal später als sonst. Trotzdem hatte sie nicht gut geschlafen, die ganze Nacht hatte sie so ein ungutes Gefühl geplagt. Dennoch redete sich Barbara Dale ein, dass dies nur ihr alltäglicher Kater sei. Ein Frühstückswhiskey würde dem schon Abhilfe schaffen… Müde schlenderte sie in die Küche, Lennard schlief noch, er war gestern wohl erst spät von der Schicht gekommen. Egal. Im Grunde war sie ganz froh über Lennards Dienste, so bekam er wenigstens nicht wirklich mit, dass sie hin und wieder ein Glas über den Durst trank. Was scherte sie das? Sie tat was sie wollte, basta. Lächelnd trat sie vor die Haustüre und lies sich die warme Morgensonne ins Gesicht scheinen. Die Zeitung war wieder vom Fenster abgeprallt und in den Rhododendronbüschen gelandet, wie jeden Morgen. Sie seufzte und ließ ihren Blick durch ihren geliebten, idyllischen Ort schweifen. Doch… irgendetwas war anders als sonst. Sie wusste nicht genau was, doch es war nichts Gutes. Etwas Schlimmes würde geschehen, dessen war Babs Dale sich sicher. Herrlich, es würde wieder neuen Stoff für Klatsch geben! Sie grinste breit… wenn diese Leute nur wüssten… Nanu? Was war das? Auf ihrer Fußmatte lag etwas, das aussah wie eine Art… Schriftrolle. Seltsam, das war nicht die Morgenzeitung. Babs Dale bückte sich nach diesem merkwürdigen Kommunikee und rollte es auf. Schlagartig erlosch das Lächeln auf ihren vollen Lippen und ihr Gesicht wandelte sich in eine Grimasse des Entsetzens. Was um alles in der Welt war das? Ungläubig über flog sie die Worte, sie las sie, konnte aber nicht glauben, dass sie dort standen.
A silent word’s riot
I
ch will Ihnen etwas erzählen, ob Sie es lesen oder nicht, steht ihnen frei. Wie ich Sie kenne, werden Sie es lesen.
Sehen Sie, ich hatte Recht.
Nun, heute wollen wir all unsere Aufmerksamkeit auf unsere liebe Barbara Dale richten. Sie hat sie nur allzu sehr verdient, immerhin erbringt sie tagtäglich, trotz ihrer Alkoholsucht, großartige Leistungen. Wirklich, es ist wahr! Fragen Sie doch Max Hagott, er kann bezeugen, dass die gute Babs Dale mehr zu bieten hat als schmutzige Gerüchte über jeden von euch! Wahrlich, wir sollten ihr danken, dass sie jedes noch so private, schmutzige Geheimnis über uns ausgräbt und fast so hastig aufsaugt, wie ihre allmorgendliche Flasche Whiskey. Sie behält selbst noch genug Energie, dem lieben Max persönliche Wohltaten zu erweisen, wenn Sie wissen, was ich meine… Kann man es ihr verdenken? Immerhin arbeitet ihr Ehemann den ganzen Tag, damit sie sich in ihrer Freizeit mit anderen vergnügen kann. Obendrein muss die arme Barbara sich auch noch um ihren Sohn kümmern. Sie wissen ja, drogensüchtige Kinder sind teuer und aufwändig! Des Weiteren muss sie noch ihr geheimes Einkommen, das sie von ihrem Geliebten erhält, sorgsam für Gin und Frisörbesuche ausgeben. Wenn sie zwischendurch noch Zeit findet, teilt sie eure Geheimnisse der guten Claire mit. Ist sie nicht eine gute Freundin? Sie kümmert sich nicht nur um den Mann ihrer besten Freundin, sie verheimlicht ihr auch noch, dass er sie betrügt! Zugegeben, unsere Barbara ist zu feinfühlig. Doch Sie sollten vorsichtig sein, die gute Babs hat nicht nur wegen ihrer Trunksucht den Führerschein bei unserem Freund und Helfer der Polizei gelassen, nein, dort liegt auch ihr Söhnchen in einer Zelle. Von wegen Uni! Der arme James wurde von seiner viel zu beschäftigten Mutter vernachlässigt, nun, kein Wunder, dass er sich als Dealer und Süchtiger seinen Lebensunterhalt in New York verdienen wollte. Kann man es ihm verübeln? Der Apfel fällt schließlich nicht weit vom Stamm meine lieben! Immerhin, der kleine James sieht Max doch zum verwechseln ähnlich, nicht wahr? Ob das dem guten Lenny wohl auch aufgefallen ist…?
Nun, an dieser Stelle einen herzlichen Gruß an unsere hinterhältige, verlogene Verkommenheit des Tages!
Meine liebe Barbara, du weißt doch was man sich über Gerüchte erzählt? An ihnen ist stets etwas Wahres dran.
Überraschung, dies ist kein Gerücht, sonder nichts als die Wahrheit.
Die Wahrheit ist nicht immer schön, keines Wegs, nein. Doch das muss sie auch nicht sein, oder? Ich für meinen Teil, finde sie zu tiefst amüsant. Was denken Sie?
Sehen Sie sich in Zukunft vor, denn Sie alle haben eine Wahrheit und ich bin derjenige, der sie ans Licht bringen wird. Ich werde nicht eher ruhen, bis die letzte eurer pseudoperfekten Masken gefallen ist und ihr in eure grässlichen Gesichter blickt. Denn ein jeder von euch hat etwas zu verbergen. Das ist das Schöne an eurer Welt, sie ist zerbrechlich und ich bin der, der sie in Trümmer schlägt.
-Hochverachtungsvoll: Es.
Barbara Dale konnte es nicht fassen. Mit zitternden Händen hielt sie das Dokument fest. Wer um alles in der Welt… Sie war vollkommen perplex. Um Himmels Willen, wenn das jemand anderes las?! Ihr Ruf wäre im Eimer, vorbei, alles vorbei! „Ganz ruhig, das war nur ein dummer Jungen Streich, genau, das war es. Niemand würde dies je lesen… Reiß dich zusammen Babs!“ schalt sie sich selbst. Ihre Gedanken standen Kopf, sie brauchte noch einen Whiskey, aber schnell. Lennard kam so eben die Treppe hinunter, sie hörte seine schweren Schritte auf dem Teppichbezug poltern. Sie musste dieses Ding loswerden. Panisch blickte sie sich um. Verdammt. Schnell ließ sie die Flasche unter die Spüle gleiten, dorthin, wo die Putzmittel standen und stopfte sich das Flugblatt in die Tasche ihres Morgenmantels. Gerade noch rechtzeitig, Lennard erreichte den Türrahmen, er war bereits vollends angezogen. „Morgen Barbie!“, tönte er und schnappte sich eine Tasse Kaffee. Barbara brachte kein Wort über die Lippen, sie nickte ihrem Mann bloß zu. Lenny stürzte den Kaffee in einem Zug hinunter, stellte die Tasse in die Spüle, griff im Vorübergehen nach einem Apfel und begab sich zur Tür. Dort angekommen nahm er seine Jacke und seinen Aktenkoffer. „Wiedersehn Barbie!“, murmelte er bevor er da Haus verließ, um zur Arbeit zu gehen. Die Tür fiel ins Schloss und Babs war allein. Mutterseelen allein. Nur die Verwirrung und die Angst blieben bei ihr wie zwei Kobolde, die frohlockend um sie herum tanzten. Zitternd griff sie unter die Spüle und kramte die Flasche hervor. Erneut verzichtete sie auf ein Glas, diesmal verzichtete sie auch auf Manieren. Gierig stürzte sie den Whiskey hinunter. Scheiß auf Manieren, Manieren sind etwas für Ladies. Sie war keine Lady mehr, nein. Sie war eine Hure, eine miese Mutter, eine miese Frau, sie war Trunksüchtig und eine Hure. Jawohl, Barbara Dale war all dies, doch an diesem Tage war sie noch mehr: Sie war verzweifelt und sie war ängstlich. Bei Gott, sie hatte Angst! Angst um ihren Ruf, um ihr perfektes Leben, Angst um ihre ganze, kleine Porzellanwelt.
Dennoch besann sie sich nach Weile eines Besseren und begab sich ins Badezimmer, um sich für den Sonntagsgottesdienst fertig zu machen. Vielleicht hatten die anderen ja keine Flyer bekommen? Wer weiß…? Einmal mehr freute sie sich über Lennards unvorhersehbare Schichtdienste, Dank sei Gott, dass er auch an Sonntagen arbeitete. Mit zittrigen Händen putze sie sich rasch die Zähne, Herrgott, sie stank wie eine Schnapsbrennerei! Sie würde in Mundwasser ertrinken müssen um diesen Geruch zu mindern! Drei Anläufe waren nötig, um ihren Lippenstift halbwegs ordentlich aufzutragen und das Augenmakeup, das ihre Krähenfüßchen verdecken sollte, dauerte auch länger als sonst. Nachdem sie sich in ihren besten Hosenanzug gequetscht hatte ging sie zur Kirche, sie war ja nicht weit entfernt und fahren konnte sie nun erst recht nicht! Selbst der Gang zu Gottes Hallen dauerte heute scheinbar ewig. Wie in Zeitlupe flogen die Vögel über ihr hinweg und verhöhnten sie mit ihrem freudigen Gezwitscher. Am liebsten hätte sie Lennys Schrotgewehr genommen und einen nach dem andere vom Himmel gepustet. Zur Hölle, nun war sie auch noch zu spät! Vor der Pforte der kleinen Ortskirche hielt sie kurz inne und holte tief Luft, dann erst schritt sie über die Schwelle. Um genau zehn nach zehn Uhr betrat Barbara Dale die Saint Marys Church.
Stille breitete sich im Mittelschiff aus, selbst Pater George verstummte mitten in seiner Predigt. Alle Augen richteten sich auf die Frau, die am Eingang erschienen war und nun langsam die Kirche betrat. Zuerst war es eine beklommene, fast beschämte, aber auch lauernde Stille. Viele Augenpaare musterten sie missbilligend, ja sogar hasserfüllt und durchbohrten ihren Körper mit ihren stechenden Blicken. Nahezu der ganze Ort war anwesend, von Pater George und seiner Familie, über die Gillespies, bis hin zu den viel beschäftigten Lichters, samt ihres verkommenen Nachwuchses. Gloria Fisher und ihr Mann saßen dort, wo sie sonst saß. Diese Hure, Barbara wusste so einiges über sie… Babs Dale schluckte schwer, ihre Kehle war wie zugeschnürt. Niemand brauchte zu sagen was los war, es war förmlich greifbar. Noch im selben Moment in dem sie über die Schwelle der Saint Marys geschritten war, war ihr klargeworden, dass sie es wussten. Sie alle.
Allein der Ausdruck in ihren Augen war genug. Bang blickte sie in die Menge, alle hatten sich zu ihr herumgedreht und Pater George starrte erheben vom seinem Podest herab wie ein himmlischer Richter. Nun, fast alle. Max Hagott fehlte. Nur Claire war anwesend und versuchte scheinbar sie mit ihrem Blick zu erwürgen. Ihre Lippen formten einen lautlosen Fluch, nur ein einziges Wort.“Miststück“. Dann wandte sie sich ab. Die weihrauchschwangere Luft knisterte förmlich vor Anspannung und diese wenigen Sekunden zogen sich wie Stunden. Barbara Dale fühlte sich wie eine Hexe auf dem Scheiterhaufen, es war nur eine Frage der Zeit bis man sie in Brand stecken würde. In diesem Moment hob Alfred Henning die Stimme. Laut und drohend schallte sie von der Kanzel herab: „Da ist sie! Dieses hohnvolle Weib! Uns alle hat sie beschmutzt! Sie streute Salz auf die Felder unserer perfekten Heimat, als das nun kein Gras des Vergessens mehr auf unseren Hainen wächst!“ Einen kurzen Augenblick lang war es totenstill, dann brach die Hölle über Barbara Dale herein. Ein jeder erhob seine Stimme und begann seine Schimpftiraden auf sie loszulassen. Die Frauen spuckten Gift und Galle, die Männer fluchten was das Zeug hielt. Der Pater selbst machte seinem Ärger und seinem Unmut über sie Luft und ließ wüsteste Beschimpfungen verlauten, bevor er sie aus seinen heiligen Hallen verbannte, weil sie das Bild der Perfektion verschmutzt hatte. Auf das man sie der Vernichtung an Hein führen möge, hieß es. Doch noch lange bevor alle ihre Tiraden zu Ende predigen und der Priester sie als Sünderin abstempeln konnte, drehte sie sich wortlos um und ging den Mittelgang entlang auf den Eingang zu. Erst als die Stimmen lauter wurden, das Tosen zu einem Sturm wuchs, begann sie zu laufen. So rannte Barbra Dale aus der Kirche und blieb nicht stehen, bis sie ihr Haus erreicht hatte, wo sie, bittere Tränen weinend, auf der Schwelle zusammenbrach.
Josh Harper stand lässig an den Zaun gelehnt da und weidete sich am Resultat seiner Arbeit. Ein finsteres Lächeln hatte von seinen porzellangleichen Zügen Besitz ergriffen und seine Saphiraugen funkelten belustigt. Die Sonne brannte vom Himmel, wie zum Hohn schien sie auf Barbara Dales Haus. Den ganzen Morgen war er hier gewesen. Ihr Blick, als sie die Schriftrolle entfaltete! Herrlich! Wie sie in ihr Haus gelaufen war, so naiv war sie gewesen. Sie dachte, dass sie die einzige wäre, die ein derartiges Kommunikee erhalten hatte! Er hatte sie richtig eingeschätzt, er hatte nicht umsonst vor der Saint Marys hinter dem schwarzen Brett gehockt und gelauert. Diese Narren hatten sie in der Luft zerrissen. Fantastisch! Ein diabolisches Grinsen huschte über seine Lippen und entblößte seine perlweißen, an den Ecken leicht spitzen, Zähne. Wenn alles so verlief, wie er es sich berechnet hatte, würde sie nach einer Weile zurückschlagen, denn sie wusste eine beträchtliche Menge über diesen Abschaum. Er würde sie noch ein bisschen weiter anstacheln, immerhin hatte er genug Material um sie alle auf einmal bloß zu stellen. Doch das würde ihm zu wenig Spaß machen. Sie sollten in Angst schmoren, leiden, bis ihm nach Amüsement war. So stand er eine Weile da, lehnte sich lässig an den Zaun und grinste sein verruchtes Grinsen, doch als die begann, über die Dächer der Häuser zu steigen, war es an der Zeit, aufzubrechen. Er hatte genug gesehen. Vorerst. Sein Grinsen wuchs noch mehr in die Breite und er kam sich vor wie der alte Norrin Davis. Apropos, er musste gehen, er konnte es kaum erwarten Norrin von seinem Erfolg zu erzählen und sich mit ihm an die nächste Wahrheit zu setzten. Wer musste als nächstes dran glauben, um es primitiv auszudrücken? Nun, das würde er schon sehen, er hatte für sie alle eine Kugel, wenn man so will.
Norrin stand hinter der großen, blinden Glasscheibe, welche in goldenen Lettern den Schriftzug seines Ladens trug und starrte in den trüben Morgen. Schwere Rauchfahnen quollen aus seiner Pfeife und durchzogen die Luft mit ihren fedrigen Flügeln wie kleine Drachen. Draußen war so eben die Sonne über den Dächern erschienen, wie widerlich hell und glücklich sie doch strahlte. Doch ein Unglück hatte sich zusammengebraut, dies konnte man ganz deutlich spüren, etwas war anders als sonst. Die Schwalben flogen später als sonst und die Sperlinge zwitscherten tiefe Hymnen, anstatt ihrer sonst so hohen Arien. Krähen sammelten sich in Mary Dampsers Vorgarten, aus welchem ein abscheulicher Gestank drang. Norrin sog erneut an seiner Pfeife und stieß den bitteren Qualm durch die Nasenlöcher aus, wie ein Dämon aus den Tiefen des schwarzen Landes. Vielleicht war diese Plage endlich verreckt, wer weiß? Frauen brachten nichts Gutes, das wusste Norrin ganz gewiss. Wieder erinnerte er sich an seine Runa. Was war sie doch schön gewesen… Schön, doch naiv und neugierig. Zu neugierig für seinen Geschmack. Er zog einen kleinen, gläsernen Anhänger aus seiner Brusttasche, dort wo auch seine Taschenuhr steckte. Er glänzte in der Morgensonne, sie hatte die Sonne geliebt… Über all die Jahre trug er diesen Anhänger bei sich, stets gut versteckt, dass ihn niemand sah. Die weiße Kugel hatte sich gelblich verfärbt, doch das dunkle Braun der Iris war erhalten geblieben. Pechschwarz glänzte die Pupille, das Glas schützte sie vor dem Verfall. Was hatte dieses Ding schon alles gesehen? All das, hatte es gesehen, was sie ihm nie erzählen wollte. Er hielt das Auge ins Morgenlicht, wie wunderbar es doch funkelte… Runa. Norrin blickte es an, starr und unendlich erwiderte das tote Auge seinen zornigen, hasserfüllten Blick. „Sieh, was du angerichtet hast…“, wisperte er mit dünner Stimme. Er drehte das verglaste Auge zwischen seinen faltigen Fingern. Die Flüssigkeit, des gläsernen Kügelchens, bildete kleine Bläschen, in denen sich das Sonnenlicht brach. Kopfschüttelnd steckte er das linke Auge seiner Frau in die Brusttasche seines Tweedjacketts zurück und starrte aus dem Schaufenster. Die Stille, die über der Stadt lastete, war schon unheimlich, fast so wie die, die der Junge mit sich brachte. Josh Harper… So undurchschaubar wie eine Wand aus Granit. Wahrlich, dieser Junge gab ihm Rätsel auf, seitdem er zum ersten Mal von ihm gehört hatte. Seitdem Robert hier gewesen war. Seither hatte Norrin ihn nicht mehr gesehen… Was hatte Josh mit seinem Bruder angestellt? Er war zu einigem fähig, das konnte der alte Mann spüren. Ein Schauer zog über seinen buckligen Rücken. Dieses Buch… ob er es noch besaß? Natürlich tat er das. Norrin hoffte es zumindest. Dieser Junge war ein Fall für sich, Norrin selbst fürchtete sich manchmal vor ihm. Er trug eine silberne Maske und das schlimme daran war, dass er viele davon besaß und zwischen ihnen wechseln konnte, wann immer er wollte. Er war berechnend, schlau und eiskalt. Anfangs schien es, als würde er ihm gegenüber seine Maske ablegen, doch in Wirklichkeit war dem nicht so. Er ließ lediglich den „freundlichen“ heraus blitzen. Norrin bezweifelte, dass er es böse meinte, der Junge wollte womöglich nur...ja, was wollte er? Was war er? Nun, dies war die Eine-Million-Dollar-Frage. Norrin blickte durch das trübe Glas, am Horizont tauchte ein schmaler Schemen auf. Mit zusammengekniffenen Augen versuchte Norrin den Schemen zu identifizieren. Unmöglich. Seufzend zog er sein Monokel aus der Hosentasche hervor und klemmte es sich vors Auge. Nun erkannte er ihn ganz deutlich. Die schmale Gestalt Josh Harpers kam mit federnden Schritten die dunkle Gasse entlang. Der Wind riss an seinem schwarzen Haarschopf und seine blasse Haut leuchtete förmlich in der Sonne. Norrin glaubte, schon von Weitem seine Saphiraugen funkeln zu sehen. Wie er so anmutig über den kleinen Platz schritt, erinnerte er Norrin doch tatsächlich etwas an einen babylonischen Speerträger. Grinsend, aber doch nachdenklich betrachtete er den jungen Mann, der ihn bereits gesehen hatte und ihn verschmitzt angrinste als er ihm zuwinkte. Robert Joshua Harper. Ihm war nicht klar warum, doch nichts desto trotz mochte Norrin ihn. Es dauerte nicht lange, da war er schon an der Pforte und das helle Klingeln des Glöckchens über der Tür, bestätigte Norrins Ahnung, dass er da war. Etwas an ihm war anders, er wirkte… zufrieden.
Harper weidete sich immer noch an Norrins Gesichtsausdruck. Sein faltiges Gesicht zeigte sowohl Erstaunen, sowie Unglauben, als auch Freude und Belustigung. Norrin Davis‘ Gesicht war wahrlich wie ein offenes Buch für Harper. Grinsend musterte er den alten Mann. Er hatte ihm alles erzählt und Norrin hatte mit wachsender Begeisterung zugehört, ohne ihn ein einziges Mal zu unterbrechen. Doch nun nahm sein runzliges Gesicht einen fragenden Ausdruck an. „Das mag ja alles gut und schön sein, ja wirklich, sehr schön! Aber… wie willst du nun weiter vorgehen? Ich meine, Junge, du hast eine auf dem Gewissen, doch denkst du, dass sie so reagieren werden wie damals bei Robert?“ Harper stutze. Er musterte Norrin sorgfältig von oben bis unten. Seines Wissens nach hatte er ihm nie erzählt was Robert widerfahren war. Woher wusste der alte da alles? „…Denk nur Junge, wenn du jeden Tag ein Flugblatt druckst… du brauchst Informationen ohne Ende!“ Norrin rang die Hände und fuhr sich durch seinen weißgrauen Haarschopf. Als ob Harper dies nicht beachtet hätte. Er hatte genug Material um sie alle ans Messer zu holen. Doch wenn es so verlief, wie er es geplant hatte, würde er gar nicht alles benötigen. Norrins Wissen, oder viel mehr, die Frage, wo er dieses Wissen her hatte, bereitete ihm mehr Kopfzerbrechen. Sein Überich begann alsdann wieder zu flüstern, unbarmherzig und mahnend zugleich. Doch Harper ignorierte es, er mochte Norrin… Die Sympathie siegte über seine Vorsicht und sein Misstrauen. Vorerst. „…Josh?“, Norrins Stimme drang wie von weiter Ferne in Harpers Kopf. „Keine Sorge, ich habe genug Informationen über dieses Pack, um über jeden einzelnen ein Buch zu schreiben!“. Dies entlockte Norrin sein typisches Grinsen. Auch Harper grinste wieder. Paradoxer Weise mochte er Norrin, obwohl er ihm nicht traute, der alte Mann war zu einem Stützpfeiler in Harpers verkommener Welt geworden. So erzählte er ihm, wie er voran zu schreiten gedachte. Ersteres wollte er abwarten, denn er wollte keineswegs ein geregeltes Erscheinen seiner Blätter, nein, er wollte sie erwischen, wenn sie es nicht erwarteten. Überdies hatte er vor, seine Wahrheiten im Voraus abzudrucken und dann, nach und nach unters Volk zu bringen. Weiteres, hatte er einen kleinen, aber feinen Unterschied geplant. Welcher dies sein wird und was er bezweckt, das werden wir wohl alsbald erfahren, denn noch am selben Tag begann Josh Harper, weiter an seinen Wahrheiten zu schreiben.
Wissen Sie, lieber Leser, Neugierde ist eine der wohl stärksten Eigenschaften des Menschen. Finden Sie nicht? Nun, doch, das ist sie wahrlich, Sie wollen nun sicher wissen, warum. Warum wollen Sie das? Aus Neugierde. Warum würden sie sonst diese Geschichte lesen? Sie wollen wissen, was warum zu welchem Zeitpunkt passiert, oder warum etwas anders und nicht so, oder so und nicht anders passiert. Darüber hinaus wollen Sie das Ende erfahren, darum lesen Sie doch diese Geschichte. Neugierde animiert uns dazu, Dingen auf den Grund zu gehen, zu lernen und zu erfinden. Doch sie kann auch eine Quälende, furchtbare Last sein. Warum? Dies wüssten Sie nur zu gerne, nicht wahr? Denken Sie nach, lieber Leser, im Grunde liegt die Antwort auf der Hand. Menschen müssen etwas kennen, um es einordnen zu können. Egal was dies ist, Sie wollen wissen, was es ist, um damit umgehen zu können. Wenn man dann weiß, was es ist, ordnet man es ein und es verliert seinen anfänglichen Reiz. Dieses Phänomen ist vergleichbar mit einem Kind, dem man etwas verbieten. Gleich was es ist, sei es auch nur das einfache Verbot, eine Flasche Spülmittel auszutrinken oder eine Gabel in die Steckdose zu stecken. Solange es verboten ist, will das Kind es unbedingt, sei es auch noch so unbedeutend. Der Zusatz „verboten“ verleiht ihm einen unwiderstehlichen Beigeschmack. Warum sollte man etwas verbieten, dass nicht besonders ist? Nun, vielleicht, weil die anderen es für sich alleine haben wollen? Aber warum? Schmeckt es denn so gut? Macht es denn so viel Spaß? Die Gefahr, die zumeist hinter den Verboten steckt, ist nur Zucker für die Gier, die fordert, das Verbotene zu tun um die Neugierde zu befriedigen. Würden Sie eine Flasche Spülmittel trinken, wenn man ihnen sagt, dass es grauenhaft schmeckt, giftig ist, zum abwaschen verwendet wird, diverse Chemikalien enthält die ihre Kehle verätzen würden und ja, dass es Sie sogar töten kann? Vermutlich nicht, nein? Dachte ich mir schon. Doch überlegen Sie, Sie sind ein kleines Kind dem man sagt, dass es auf gar keinen Fall diese hübschen, bunten Fläschchen anfassen darf, die Mutter unter der Spüle einschließt. Sie sind nämlich nichts für Kinder. Warum sind sie das nicht? Wieder wäre Ihre Neugierde geweckt. Tragischer Weise ist diese Neugierde ein abscheuliches Monster das in uns schlummert, leider hat es einen sehr, sehr leichten Schlaf und wird schon beim leisesten Geräusch geweckt. Genau dieses Phänomen machte sich unser Freund Josh Harper zu Nutze. Er spielte mit der Angst, der Neugierde der Menschen. Denn eines ist klar: Menschen mögen es nicht, wenn sie etwas nicht kontrollieren können. Sie mögen es nicht, wenn sie etwas nicht kennen und in eine Schublade stecken können, wo sie es wiederum kontrollieren könnten. So etwas verschreckt sie und weckt ihre brennende Neugierde, sowie auch Paranoia und Misstrauen. Menschen würden es lieber mit einem grausamen, abscheulichen Mörder, Monster oder Geist aushalten, als mit dem Gespinst eines Geheimnisses, das sie nicht kennen, und einordnen können. Es macht sie krank, wenn sie etwas nicht wissen können, das sie wissen wollen. Ihre Neugierde lässt ihnen keinen Frieden, bis ihr Verstand anfängt, sich seine eigenen Wahrheiten zusammenzureimen, als Abwehrmaßnahme um sich vor dem brennenden Schmerz der Neugierde zu schützen. So sind die Menschen und auch die verkommenen Exemplare in Josh Harpers kleiner Welt nicht anders. Genau das war es, was ihnen zum Verhängnis wurde. Neugierde, Misstrauen und Paranoia.
Sie fraßen sich in ihre Köpfe und trieben sie zu den absonderlichsten Dingen. Wohl wahr, es ist faszinierend, wozu der Mensch fähig ist, wenn man ihn in die Enge treibt, ihm das nimmt, was er kennt und ihm keinen Schuldigen dafür liefert. Was tut man, wenn man niemanden hat, der die Neugierde befriedigt, die Last der Sünde trägt und an dem man seine Wut auslassen kann, was tut man, wenn man einen Sündenbock braucht? Ganz einfach. Man sucht sich einen. Genau das taten sie auch, doch wenn der Sündenbock zurückschlägt, so löst dies eine Kettenreaktion aus, welche eines zur Folge hat: Chaos.
Claire Hagott saß an ihrem Fenster und blickte hinaus, sie dachte nach. Über eine ganz bestimmte Person und die Dinge, die sie getan hatte. Wie konnte sie nur? Diese Hure. Nie hätte sie sich gedacht, dass es so ausarten würde, Max kam immer seltener und später nach Hause, beschämt und von allen verachtet, ja auch von ihr selbst. An alldem war nur eine einzige Person schuld: Barbara Dale. Wer auch immer diesen Brief geschrieben hatte, wusste viel über sie. So viel, wie normaler Weise nur sie, Claire, als ihre beste Freundin wissen konnte. Sie seufzte und erhob sich. Irgendjemand in diesem Ort stiftete Unheil, großes Unheil, jawohl. Claire hatte ein ungutes Gefühl, sie fühlte sich… beobachtet. Etwas war hier im Gange und sie war sich sicher, dass der Brief über Barbara Dale nur der Anfang war. Doch wer in drei Teufels Namen war in der Lage, etwas so furchtbares zu tun? Vor allem, warum tat er oder sie, nein, vielmehr, ES das, was es tat? Es war paradox, doch Claire wollte wissen, wer „ES“ war. Ihr flog ein eiskalter Schauer über den solariumgebräunten Rücken. Was, wenn es jemand aus dem Ort war? Wäre, war in diesem Fall irrelevant. Es MUSSTE jemand aus ihren eigenen Reihen sein, denn niemand sonst wusste um die Notwendigkeit ihrer perfekten Fassaden. Jeder einzelne wusste, dass er eine Maske trug, doch die anderen durften nicht hinter sie blicken, denn sonst war die Illusion der Perfektion nur noch Rauch im Wind und man störte das perfekte Bild. Man würde entfernt werden. Sie schluckte schwer. Möglicher Weise hatte sich jemand in den Kopf gesetzt, Barbara Dale zu schaden. Claire zog die Vorhänge zu, sie konnte es nicht ertragen so offen dazusitzen. Sie kam sich vor wie auf einem Präsentierteller. Gänsehaut überzog ihren Körper und die Härchen an ihren Armen rauften sich um einen Stehplatz. Plötzlich war ihr kalt. Eine schlimme Vermutung breitete sich in ihrem Kopf aus, ein Horrorszenario entwickelte sich. Dieser jemand konnte es nicht nur auf Barbie abgesehen haben, er konnte auch sie alle ins Visier nehmen. Jeden einzelnen, einen nach dem anderen. Entsetzen machte sich breit. Was, wenn sie die Nächste war? Es gab nur eine Möglichkeit, sie musste warten und zusehen. Das Schlimmste, was ihnen je hätte passieren können war eingetreten. Jemand wusste um ihre Geheimnisse und was noch schlimmer war, dieser jemand scheute sich nicht sie preiszugeben. Barbie hatte Geheimnisse gehabt, auch Claire hatte ihre. Doch, hatten die anderen ebenfalls solche? Bis auf die kleinen, harmlosen Neckereien und Gerüchte wusste Claire recht wenig über ihre Nachbarn und Freunde. Genaugenommen, wusste sie nur, dass sie alle eines waren, eines, das hier jeder war. Perfekt und glücklich. Die Frage war nur, wie lange würden sie dies noch sein?
Nun war sie nur noch unsicherer, zuerst hatte sie sich eingeredet, dass dies alles nur auf Barbie abzielt, doch warum sollte es? Bei Gott, sie war überzeugt, dass es jeden treffen würde. Ängstlich schielte sie durch die zugezogenen Vorhänge. Auch die anderen hatten ihre Vorhänge zugezogen, obwohl es draußen dämmerig war, und man Licht brauchen konnte. Kein gutes Zeichen, sie schienen ebenfalls zu bangen. Einige hatten sogar ihre Rollläden geschlossen. Claire beschloss, das Selbe zu tun und betätigte den Schalter, der alle Rollläden herunter rattern lies. Doch selbst als die schweren Fensterdecker den Raum verdunkelten und alle Blicke ausschlossen waren, fühlte sie sich nicht besser. Draußen ertönte ein Knacken. Nun war es noch viel schlimmer. Etwas war dort draußen und beobachtete sie, nicht nur sie. Es schlich durch die dämmrigen, gelb gepflasterten Wege und beobachtete sie alle. Ein weiteres Rascheln riss sie aus ihren Gedanken. Dieses Mal war es näher als vorhin. Es kam scheinbar aus den Rhododendronbüschen. „Dumme Kuh… das ist bloß ein...ein Eichhörnchen, genau! Reiß dich gefälligst am Riemen, Herrgott noch eins!“, schalt sie sich. Erneut ertönte draußen ein fragwürdiger Laut. Das Rattern zahlreicher Rollläden flutete die Stille des Nachmittages. Schauriges Knirschen und Knacken folgte auf das Rattern, der Schrei einer Krähe durchbrach die Illusion von Claires Eichhörnchen-Theorie. Sie verharrte in ihrer Position und lauschte. Etwas wurde vorbeigeschliffen. Furchtsam hechtete sie zur Tür und spähte hinaus. Nichts. Langsam und vorsichtig schlich sie durch ihren Vorgarten, plötzlich blieb sie, wie vom Donner gerührt, stehen. An dem Baum, der gegenüber ihrem Fenster stand, war ein Ast abgebrochen. Doch kein kleiner Ast, nein, ein Ast, der fast dicker war wie ihr Arm, fehlte. An der Stelle ragte ein faseriger, fransiger Stumpf aus dem Stamm des Baumes. Entsetzt blickte sie sich um. In ihren Büschen klaffte ein Loch, sie sahen aus, als… ja, als wäre jemand, nein, ETWAS sehr großes darauf gefallen wäre. Etwas musste den Ast ausgerissen haben. Was immer es war, es war stark, sehr stark. Hinter ihr ertönte ein Keuchen und leises Kichern. War es ein kichern gewesen? Himmel was war da? Blitzschnell drehte sie sich um, ein Schrei entfuhr ihrer Kehle und gellte durch den Ort. Da war nichts… Nicht mehr. Bis auf ein paar Blätter war nichts hier. Es waren die Blätter des Baumes… frisch, sie hingen noch an ihren Zweigen. Wieder ein Rascheln und dieser Laut… dieses Kichern. Die Gänsehaut drohte ihr das Fleisch von den Knochen zu schälen, ihr Herz raste. Sie musste hier weg. Um Himmels willen, es war hier! Es hatte sie beobachtet und es kicherte! Es lachte sie aus… Das war kein gewöhnliches Kichern, es war ein markerschütternder, animalischer, irrer Laut, der nichts mit einem Lachen gemein hatte. Ihre Nackenhaare stäubten sich, da war es wider. Genug, panisch rannte sie ins Haus und verriegelte die Tür. Was in aller Welt ging hier vor?! Sie rang nach Atem. Es war fort, doch für wie lange…? Das konnte sie nicht wissen. Sie konnte nur warten. Warten und zusehen wie das Unheil seinen Lauf nahm. Warten und hoffen, dass es nicht sie traf. Dies war das erste Mal in ihrem Leben, dass Claire Hagott die Worte fehlten.
Doch es würde bei weitem nicht das letzte Mal sein.
„Idiot, Idiot, Idiot! Wenn Josh das erfährt… du bist erledigt! Pfui, pfui, pfui“, höhnte die Stimme. Robert schlang seine Arme um seinen stämmigen Oberkörper. Seine Finger schmerzten immer noch. „Nein. Josh darf nicht wissen, was Robert getan hat! Ein kleiner Fehler… S-s-sei still b-b-bitte! Josh wird böse auf Robert sein! Josh… Nein, bitte nicht!“ Er kicherte. Die Stimmen. Sie lachten ihn schon wieder aus. Ein heulen drang aus den Tiefen seiner selbst und hallte durch den sterbenden Abend. Bald würde es Nacht sein und Josh würde wiederkommen. Seine schmerzenden Finger umklammerten den schweren Ast, Splitter bohrten sich tief in sein wundes Fleisch. Sein Rücken schmerzte ebenfalls und ein spitzes Ästchen steckte in seiner Wade. Dieser dumme Vogel! Er hatte Robert fast zu Tode erschreckt! Der Ast hatte unter seinem Gewicht nachgegeben und war hinunter gekracht, mitten in diese hässlichen Büsche! Diese dumme Frau musste auch noch nach draußen kommen um nachzusehen! Mühsam zerrte er den Ast mit sich, hinter der Frau vorbei, in Richtung Hecke. Dort hatte er sich versteckt gehalten und den Ast entsorgt. Wo war der Block? Nein! Oh nein, bitte nicht! Er hatte seinen Block verloren! Die Stimmen begannen noch lauter zu lachen, auch Roberts Kichern wurde lauter, er wollte sie übertönen. Die Stimmen jedoch gaben nicht nach, nein, ihr Lachen und Höhnen wurde lauter statt minder. Kalter Schweiß brach auch all seinen Poren und tränkte seine Kleidung. Kälte durchzog sein Herz, obgleich hier draußen sommerliche Hitze herrschte. Robert hielt sich die Ohren zu, viel zu laut und wirr waren die Stimmen. Sie sprachen böse Worte, so böse, böse Worte! „Nein, nein, NEIN! Aufhören, bitte!“ Robert wand sich wie ein Wurm unter der Last der Stimmen. „Josh! Bitte Hilfe… Robert braucht Josh so sehr!“, schluchzte er wieder und wieder. Die Stimmen höhnten weiter und weiter, wurden lauter und immer schlimmer. Eine weitere Stimme hallte in seinem Kopf, doch sie brachte alle anderen augenblicklich zum Schweigen. Es war eine samtige, kalte Stimme, so fremd und doch vertraut. „Josh.“, wisperte Robert. Ein Gesicht erschien gegenüber dem Seinen, ein kalter Hauch streifte ihn und Joshs Lippen verzogen sich zu einem Lächeln. Oh wie lange hatte er ihn nicht mehr gesehen! Robert freute sich wahnsinnig, er hatte so viele Fragen an seinen geliebten Josh! „Was geht hier vor? Warum sind alle so komisch? Sie lassen die Läden herunter, Robert hat Angst Josh!“ Sein schlanker, geschmeidiger Körper rückte in die Ferne, Robert ließ den Ast fallen, wie hypnotisiert eilte er ihm hinterher. „Vorsicht Robert, tu‘ deine Arbeit, erledige sie mit höchster Sorgfalt und eines ist am allerwichtigsten Robert!“, Die Silhouette seines Bruders hob mahnend den weißen, langen, dünnen Zeigefinger und blickte ihn mit seinem durchdringenden Blick an. „Lass dich niemals erwischen Robert. Hörst du? Niemals.“ Die Stimme war zu einem Tosen geworden, sie hallte in Roberts Kopf wie tausender Donner Groll. Furchtsam blickte er zu Josh. „Aber Josh... Robert hat Angst. Schlimme Dinge gehen vor. Leute sind böse zu anderen Leuten, geheimnisvolle Briefe liegen vor Türen. Robert hat Angst, große Angst.“ „Mein lieber Robert…“, säuselte die kalte Stimme seines Bruders. Joshs Gesicht war nun wieder ganz nahe an Roberts, er spürte den eisigen Hauch seines Atems und das Kitzeln seiner schwarzen Haare an seiner Stirn. Die blutroten Lippen verzogen sich zu einem Lächeln und seine Saphiraugen funkelten. „…hab keine Angst. Uns wird es nicht treffen. Ganz bestimmt nicht, nein. Du musst nur tun was ich sage und es so tun, wie ich dich heiße. Ach und Robert…“ Joshs Gesicht kam noch ein Stück näher, die Kälte seines Körpers ließ Robert frösteln. Das Lächeln verzog sich zu einem bluttriefenden Grinsen und seine Stimme wurde noch kälter als Eis, sie klirrte wie des Teufels Harfe. So schön… so furchtbar und schön. Seine langen Finger umfassten Roberts zerkratztes Gesicht und er wisperte: „Stell keine Fragen, Robert. Hinterfrage niemals mein Tun und meine Order. Und missachte niemals meine Worte, NIEMALS“ Die Stimme war zu einem Zischen geworden, Joshs Finger glitten über Roberts Gesicht, er schloss die Augen… Plötzlich war die Kälte verschwunden und die Hitze des Sommers machte sich breit. „Josh?“ Robert schlug die Augen auf. Er war fort. Resigniert seufzte er. Dicke Wolken zogen vor die Abendsonne und diese färbten sie rosa, wie Zuckerwatte. Josh hasste Zuckerwatte. Robert jetzt auch. Obwohl er sie als Kind geliebt hatte… Doch nun liebte er Josh und Josh hasste Zuckerwatte. Er dachte an seine Worte. Keine Fragen stellen, seine Arbeit tun… Um Himmels Willen, seine Arbeit! Es wurde dunkel und er musste seine Wortzettel vor Einbruch der Dunkelheit vor Joshs Zimmertüre legen. Wieder suchte er nach dem Block… Oh Gott..Halt, da war er, in seiner Hosentasche! So schnell er konnte rannte Robert los. Blitze zucken durch den rosaroten Abendhimmel, Donner grollte. Ein Sturm zog heran. Die ersten Regentropfen klatschen zu Boden und hinterließen dunkle Flecken auf dem gelben Weg. Robert sprang von einem zum anderen, bloß keinen hellen Fleck berühren… Alle Fenster waren verschlossen und die Rollläden waren heruntergelassen. Keine Menschenseele war auf den Straßen. Was war dieser Ort nur seltsam geworden…
Harper saß in seinem Zimmer und dachte nach. Der Mond schien durch die dicken, schwarzen Gewitterwolken, Blitze zuckten und erhellten den tobenden Nachthimmel. Es waren bereits einige Tage vergangen seit er seine erste Wahrheit auf die Welt losgelassen hatte, morgen würde es erneut soweit sein. Sie hatten reagiert, zögerlich aber dennoch merklich. Sie hatten Angst. Ein Lächeln huschte über seine blutroten Lippen. Diese Narren. Bereits jetzt verdächtigten einige von ihnen ihre Mitbürger. Ja, Barbara Dale hatte auch schon eine Verdächtige. Diese vermeidliche Schuldige, würde Ziel der zweiten Wahrheit sein. Er würde gleich zwei oder drei Fliegen mit einer Klappe schlagen können. Sein leises Lachen durchbrach die Stille. Doch auch etwas anderes war, neben dem Groll des Donners und dem Tosen des Sturmes zu vernehmen. Ein leises Summen und Wispern drang von fern an seine scharfen Ohren. Er lauschte. Es kam aus Roberts Zimmer… Neugierig erhob Harper sich und schlich durch sein kleines Zimmer auf die Tür zu. Wie ein Schatten glitt er den kurzen Flur entlang und hielt vor Roberts Türe an. Sie stand einen kleinen Spalt offen, durch den er hindurch sehen konnte. Nun war das Flüstern und Summen lauter, er konnte Roberts Singsang identifizieren. Es war die Melodie, die er immer summte. Er saß dort, mit angezogenen Knien, wippte und kicherte vor sich hin. Diese Lied… dieses Summen, es war Harper bereits vertraut, doch heute hörte er zum ersten Mal die Worte hinter der Melodie.
Roberts Stimme war leise, sie flüsterte bang und brachte den Singsang zum Klingen:
„Zerschmettert an Stein,
zerbröselt die Knochen,
das Fleisch vom Körper gerissen.
Der Kopf,
ES trennt ihn von unseren Schultern,
es fließt,
so rot,
es riecht,
nach Tod.
So liegen sie da,
des Nachts,
im finsteren Mondenschein.
Tot.
Wir werden’s alle sein.“
Harper schauderte. Bei jedem Wort kippte er vor, wog sich im Klang der Worte und kicherte sein freudloses Kichern. Wieder und wieder wiederholte Robert diesen Singsang, kicherte und summte die unheimliche Melodie. Plötzlich begann er zu sprechen. Nur..mit wem? Harper drückte sein Ohr gegen die Tür um besser zu hören. Robert stritt sich mit… Stimmen. Er stritt sich über ihn! Dauernd fiel sein Name. Josh. Josh. Josh. Mein geliebter Josh. Seine Haare sträubten sich. Er sprach mit IHM. Entsetzten machte sich breit, es war schlimmer als gedacht. Wie lange konnte er Robert noch im Zaum halten? Die Situation schien zu eskalieren, Robert musste beseitigt werden, so bald wie möglich! Es reichte, Harper musste weg, schnell huschte er wieder in seine Kammer. Auch hier roch es nach Robert, überall Robert. Er warf sich aufs Bett, sein Überich höhnte bereits und sein Es wand sich vor Schauer und Abscheu. Wütend sprang er wieder auf und begann in seiner Kammer auf und ab zu wandern, wie ein Tier im Käfig. Dieser widerwärtige Narr!
„DU bist hier der Narr, mein Freund“, tönte die samtige Stimme seines Überichs. „Unfug, er kann nichts für die Dummheit seines Bruders.“ Diese Stimme war neu. „Es ist nicht deine Schuld, Josh.“, fuhr die sanfte Stimme fort. Der Mitfühlende hatte sich ans Licht getraut und stellte sich dem Überich entgegen. Harper blieb stumm, eine Weile hörte er dem Gefecht schweigend zu, ehe er sich einmischte. „Still! Nun, seid endlich still!“, zischte er. Die Stimmen verstummten und er begann zu sprechen. „Ich werde ich nicht töten… noch nicht. Ich… kann nicht.“ Erneut entbrannte ein Gefecht zwischen den Stimmen und Harper selbst. „Zuerst werde ich mein Projekt fertigstellen, dann werde ich ihn erledigen.“ Das stimmte die Stimmen halbwegs zufrieden, auch wenn sein Überich noch Zweifel verlauten ließ. Das tat es immer, und es hatte immer Recht. Harper wusste es, und es wusste, dass Harper es wusste. Es war schließlich ein Teil von ihm. Genau das war es, was ihm diesen Übermut verlieh. Empört schleuderte Harper sein Kissen gegen das Fenster. Ein dumpfer Knall ertönte und mischte sich mit seinem zornigen Schrei. Doch, was war das? Etwas hatte sich bewegt, im Garten. Verwundert beugte er sich vor und spähte hinaus in die stürmische Nacht. Ein Blitz durchzuckte den Himmel und riss für kurze Zeit ein Loch in die Dunkelheit. Nun sah Harper dieses Etwas, das dort im Garten war. Es kauerte am Boden, unter dem Baum und spähte zu ihm, hinauf. Wippend, summend, kichernd und flüsternd. Seine Augen blitzen im Licht, kurz aber dennoch. Dieser kurze Moment reichte ihm um zu sehen, was dort unten war. Es saß dort, lauerte, summte und kicherte. Dort saß es, in ein schwarzes Shirt gehüllt. Harpers Unglauben wuchs, als er sein Schlüsselshirt erkannte. Robert. Entsetzt riss er die Vorhänge zu und kehrte diesem grausigen Bild den Rücken. Keuchend stand er da, ihm war kalt und heiß zugleich. Robert. Verdammt… Was stimmte nicht mit ihm?! Immer noch tönte sein Singsang in Harpers Kopf. Er verschloss die Tür und setzte sich auf sein Bett, von wo aus er Fenster und Tür im Blick hatte. Es war zu spät. Sein Überich höhnte erneut. Doch es hatte Recht behalten. Wie immer.
Das Gewitter der letzten Nacht war einem kühlen, nassen Morgen gewichen. Wolken verdeckten die Sonne und unzählige Tropfen hatten sich auf das Land gelegt, wie abertausende Diamanten. Pfützen schimmerten wie silberne Spiegel und bedeckten den gelben Pflasterweg. Claire Hagott trat soeben vor ihre Haustüre um die Zeitung zu holen. Sie fröstelte. Was für ein abscheulicher Morgen. Eilig schlang sie den Bademantel enger um ihren solariumbraunen Körper. Sie war gerade dabei sich nach der Zeitung zu bücken, als sie es erblickte. Dort lag es, auf der ersten der beiden Stufen. Sie erstarrte. Was zum… Dort lag ein kleines Röllchen mit einem roten Band. Oh Gott nein, nicht schon wieder! Es war wieder da gewesen. Claire blickte sich um. Schnell trippelte sie den Weg entlang und hob das Röllchen auf. Dann rannte sie ins Haus, die Zeitung ließ sie liegen. Vorsichtshalber verschloss sie die Tür bevor sie zum Küchentisch eilte, wo sie das Röllchen hinlegte und betrachtete. Von ihm ging etwas Bedrohliches aus. Die rote Schleife schien sie zu verhöhnen, sie verlieh dem ganzen etwas Makaberes. Nach längerer Zeit rang sie sich dazu durch, das Kommunikee zu entrollen. Ihre Neugierde siegte. Vorsichtig zog sie an dem roten Band, es löste sich einfach und wie von Geisterhand entrollte sich auch das Papier. Schwarze Buchstaben hoben sich vom Weiß des Blattes ab, sie konnte nicht anders, sie musste es lesen. Doch was sie da las, raubte ihr alle Worte.
A silent word’s riot
Meine Freunde, Sie alle kennen wohl das kleine Häuschen, an der Ecke zwischen Babs Dales Haus und dem der Hagotts. Dachte ich mir. Wie sie womöglich denken, so ist es ein Ferienhaus, ein harmloses Ferienhaus, in das unsere liebe Harriett ihre „Freunde“ einlädt. Nun, was sie dort mit ihnen macht, das ist die Frage. Ein Glück, ich kann sie euch beantworten. Sie alle wissen wohl, was Erwachsene hinter ihren Türen treiben, wenn sie ihre Kinder zu Bett geschickt haben? Dachte ich mir auch. Nun denn, man muss nicht helle sein, ich weiß, dass Sie dies nicht sind, um zu wissen, was ich meine. Sie wissen es. Ja? Dachte ich mir ebenfalls. Wo waren wir… Ach ja, das treibt, im wahrsten Sinne des Wortes, unsere liebe Harriett mit ihren Gästen, zu denen auch, Überraschung, unser lieber Max zählt. Armer Vater George, wenn er nur wüsste, was sein unschuldiges Töchterlein treibt. Huch… nun weiß er es. Jammerschade. Von wegen Unschuld! Ein Pech, jetzt ist es raus. Sie fragen sich sicher, warum Sie dies nicht erfahren haben. Tja, unser hochverehrter Bankier trieb seine Spielchen mit der guten Harriett, damit seine geliebte Frau nichts davon erfahren könnte, bezahlte er die kleine Harriett. Immerhin, so hat es auch bei Babs Dale geklappt, auch ihr Schweigen ist in vielen Scheinchen aufgewogen. Mein Mann hat ja seine Macken, doch dachten Sie jemals, dass er sich auf jemanden wie Barbie Dale einlassen würde? Ich jedenfalls nicht. Harriett, gut. Sie ist jung und knackig. Barbie Dale… Bitte, man sieht, dass ihre Brüste echt sind. Immerhin hängen sie bis zu den Knien, meine im Gegensatz haben zu viel Silikon um zu Hängen. Botox pusht auch, wie man an meinem naturbelassenen Gesicht sieht. Schönheit kostet. Allzu viel kann mein Mann ihr ja nicht für ihr Schweigen gezahlt haben.
Claire Hagott
Claire traute ihren Augen nicht. Um Himmel Willen! Was hatte Max getan? Warum um alles in der Welt stand dort IHRE Unterschrift? In diesem Moment kam Max in die Küche geschlendert, er gähnte verschlafen. Sie starrte ihn an. Wie konnte er nur?! Barbara Dale, das konnte sie ihm verzeihen, doch Harriett George, die Tochter des Priesters? Nein. Sie begann zu schluchzen. Was wurde nun aus ihrem Ruf? IHRE Gottverdammte Unterschrift stand auf dem Blatt! Ihr Name! Sie schüttelte den Kopf, es war alles ein böser Traum, jawohl, ein böser Traum! „Claire, alles in Ordnung?“ Max‘ tiefe Stimme drang an ihr Ohr. „NEIN“, kreischte sie wutentbrannt. „NEIN!“ Wie konnte er es wagen?! „Tu nicht so, du weißt, dass NICHTS in Ordnung ist!“, zischte sie. Max starrte sie an, er war verblüfft. „Liebling…“, er kam nicht weiter. Claire schleuderte ihm die Schriftrolle entgegen und brauste von dannen. Max las die Worte, doch sie schienen so unwirklich, er wollte nicht verstehen, er konnte nicht. Geschockt eilte er zu seiner Frau ins Wohnzimmer, doch diese schleppte bereits ihre Koffer über die Treppe. Schwarze Schlieren aus, angeblich wasserfester Wimperntusche und Make-up, liefen über ihr Gesicht. Ihre blondierten Haare standen wirr in alle Richtungen, sie sah aus als hätte sie ein Lkw überfahren. Aber dennoch, er liebte diese Frau! Max Hagott gab sich alle Mühe Claire davon abzuhalten zu gehen, doch sie hörte nicht. Wo sollte sie hin? Nun, das wusste sie bereits. Sie würde im Gartenhaus wohnen, dort hatte sie Strom und war nahe am Haupthaus. Dieses Arschloch, sie wollte ihn nicht sehen, nie wieder. Sie musste fort, sich verstecken, ihr Ruf war zerbrochen. Claire wollte zwar weg, doch vorher hatte sie etwas zu erledigen. Sie glaubte zu wissen wer diesen Brief schrieb. Sie wollte es ihr heimzahlen, obwohl sie schon gelitten hatte. Claire hasste sie jawohl, sie war sich ganz sicher, dass sie dafür verantwortlich war. Dieses Miststück, diese Hure. Barbie Dale.
Babs Dale war fassungslos. Noch ein Röllchen?! Sie traute sich nicht es zu öffnen, es hatte sie schon so große Überwindung gekostet es überhaupt aufzuheben. Dort lag es. Genau vor ihr, seine rote Schleife leuchtete im Licht der Küchenlampen. Irgendetwas an ihm war anders als am vorherigen. Dieses schien… bedrohlich, ja wirklich. Sie hatte selbst erfahren was so ein Stück Papier anrichten konnte. Was würde es diesmal beinhalten? Noch mehr Dinge die ihr Schaden würden? Genug! Sie MUSSTE es wissen. Was konnte schon passieren? Lenny sprach kein Wort mehr mit ihr, der ganze Ort kannte ihr Geheimnis und sie wurde verachtet und verwunschen. Was hatte sie zu verlieren? Mit zittrigen Fingern entrollte sie das Blatt und begann zögerlich zu lesen. Sie stutze, es ging um Max! Doch was zur Hölle… Nicht dieses ES hatte den Brief verfasst, sondern Claire! Babs Dale war verwirrt. Warum sollte sie selbst etwas Derartiges verfassen und in Umlauf bringen? Immerhin hatte bisher nur Babs selbst gewusst, wie es um Claires… “Natürlichkeit“ stand. Warum sollte sie ihren Namen preisgeben? Dazu gab es für Barbara nur eine einzige Erklärung. SIE hatte bereits den ersten Brief verfasst und nun verfasste sie diesen, um ihr, Harriett und Max eins auszuwischen. Sie musste versehentlich ihren Namen anstatt dem Pseudonym „ES“ benutzt haben! Ihr war ein fataler Fehler unterlaufen! Sie war aufgeflogen, nun konnte Barbara Dale sich einen Reim darauf machen. Claire würde schon noch sehen, was sie davon hatte, nun hatte sie sich gewaltigen Ärger zugezogen.
Unruhe machte sich langsam aber sicher in dem kleinen, perfekten Ort breit. Dessen Bewohner hatten mehr und mehr mit der Tatsache zu kämpfen, dass einige von ihnen gar nicht so waren wie sie zu sein schienen. Als erste wurde Barbie Dale, eine allseits beliebte Klatschtante, ihre Maske vom Haupte gerissen, nun wurden Max Hagott und Harriett ebenfalls Opfer dieses Schicksals. Claire Hagott sollte für diese Letter verantwortlich sein, doch sie weigerte dies zu glauben. Nein, Nathalie Allister wusste es besser. Sie kannte Barbie und sie kannte Claire. Barbie Dale war Claires beste Freundin gewesen, nur sie konnte wissen, was Max trieb. So war es auch mit Claire, nur sie wusste, dass Barbie stets einen über den Durst trank. Also gab es nur eine Erklärung. Claire hatte den ersten Brief verfasst, den über Barbie und Barbie hatte als Rache den Brief über Max und Harriett in Umlauf gebracht. Sie wollte sich Rächen, weil sie geahnt haben musste, dass der erste Brief aus Claires Händen stammte, darum hatte sie auch mit Claires Namen unterschrieben. Clever, so dachten alle sie wäre es gewesen. Fassungslos schüttelte sie den Kopf. Eine Schande, diese beiden Klatschweiber, alias ihre beiden Ex-Pseudofreundinnen, ruinierten ihre kleine Welt! Doch das würde sie sich nicht gefallen lassen… Was wenn sie das nächste Ziel war? Um Himmels Willen, was wenn sie ihre kleinen, schmutzigen Geheimnisse ans Tageslicht brachten? Oh nein, soweit würde Ly es nicht kommen lassen. Aber… was konnte sie schon tun? Sie müsste sich schützen, doch wie? Von oben drangen Stimmen zu ihr herab. Wunderbar, Carolyns Freundin war hier, sie hatte bei ihr übernachtet. Veronica Gillespie, ein grässliches Kind. Sie ähnelte ihrer Mutter nur äußerlich, das innere Schwein hatte sie zweifellos von ihrem Vater. Nun ja, Rosie Gillespie war Lys beste Freundin, sie hatte sie über ihren Mann kennen gelernt, er arbeitete mit Sam. Himmel, auch bei Rosie und Harold Gillespie kriselte es, ebenso wie bei ihr und Sam. Sie seufzte. Immerhin hatten sie zwei der drei reichsten Männer der Umgebung geheiratet. Der dritte gehörte Susie Polt, sie war die Dritte im Bunde. Susannah Polt… Rosalie Gillespie… Timothy Polt war ein Partner von Sammy und Harold, seine Tochter, Sally, war eine Freundin von Veronica und Carolyn. Gott, mussten Caro und Veronica so laut über ihre nicht anwesende Freundin lästern? Das war doch nicht zum aushalten. Das war… Moment. Es war genau das, was sie brauchte. Eine Idee. Himmel ja, so konnte sie sich schützen! Rosie wusste so viel über sie, sie hatte ihr nie erzählt, dass es zwischen Sam und ihr nicht mehr funktionierte, doch Rosie hatte es sicher herausgefunden. Natürlich, sie musste es wissen und sie würde es bald preisgeben! Ly konnte ihr nicht trauen, Rosie wartete sicher nur darauf ihr eins auszuwischen, weil… weil sie irgendeinen Grund hatte. Veronica war bestimmt nur zum Spionieren hier. Ihre hinterhältige Mutter hatte das angezettelt. Diese Hure! „So nicht Rosie, so nicht…“, murmelte Ly Allister als sie die Treppe hinaufstieg um Veronica nach Hause zu… bitten. Ein grimmiges Lächeln schlich auf ihr falten- und altersloses Gesicht. Der Brief war am Mittwoch erschienen, der erste war am Sonntag gekommen. Carolyn beschloss abzuwarten um den nächsten zu lesen, ehe sie die Initiative ergriff.
Harper wanderte den gelben Weg entlang, und grübelte über die nächste Wahrheit nach. Er hasste diesen Weg… Senfgelb, à la Zauberer von Oz. Widerwärtig. Sein Blick schweifte zu den Bäumen mit ihren blassrosa Blüten, einige von ihnen lagen auf dem Weg, das Gewitter hatte sie abgerissen. Recht so. Er schritt von einem dunklen Fleck zum anderen, die hellen mied er prinzipiell. Seine langen Beine ermöglichten es ihm dennoch normal zu gehen, ohne die hellen Flecken zu treffen. Dem wachsamen Beobachter mag aufgefallen sein, dass er stets zwei Linien benutzte, eine für den hin- und eine für den Rückweg. Es war Donnerstag, für gewöhnlich war er bei Norrin, doch dieser war für einige Tage außer Landes. Wie seltsam leer sich das anfühlte… Gleichzeitig erschrak Harper vor sich selbst. Er hatte einen Rhythmus gefunden, einen Anker, einen Freund. Das war schlecht. Freunde waren Leute die man mochte, das gab ihnen die Macht einem weh zu tun. Rhythmen wurden zu Gewohnheiten und jene Gewohnheiten gaben einem Sicherheit. Sicherheit führte zu Leichtsinn und dieser Leichtsinn führte zu fatalen Fehlern. Er schauderte. Nun konnte er sich keinerlei Fehler, nein, nicht den noch so winzigsten Schnitzer erlauben. Der kleinste Fehler würde genügen und seine mühsame Arbeit würde in sich einstürzen. Undenkbar! Er musste wachsam sein. Der nächste Schritt würde wohl überlegt sein… Das Knallen einer Tür erweckte seine Aufmerksamkeit. Veronica Gillespie wurde von Nathalie Allister zur Tür gebracht. Doch irgendetwas war faul an der Sache. Rosalie und Ly waren gute Freundinnen, ebenso wie Carolyn und Veronica. Es roch förmlich nach Konflikten. Das erweckte seine Neugierde und er beschloss, der Sache auf den Grund zu gehen. Es bedurfte nur wenige Minuten des Lauschens, um zu begreifen, was dort im Gange war. Harper merkte es schon an Lys Verhaltensweise. Andauernd blickte sie sich um. Gehetzt. Misstrauisch. Sie blickte aus dem Fenster, zu dem Haus der Gillespies. Dort ging er als nächstes hin. Auch im Hause Gillespie fand er ein ähnliches Bild vor. Rosie saß am Küchentisch, sie war um Jahre gealtert und sah ebenfalls gehetzt aus. Großartig, er brauchte nur hin zu sehen um zu wissen was in ihrem Kopf vor sich ging. Sie fürchtete, die nächste zu sein. Ly Allister fürchtete, dass Rosie sie bloßstellen würde. Perfekt. Er brauchte nur einen Brief zu verfassen, eine weitere Rolle um die Welle wachsen zu lassen. Eine weitere Person würde involviert werden… Er brauchte jemanden, der von allen geliebt wurde, eine gute, reine Seele….
Voller Tatendrang schlenderte er weiter. Das Bild des Ortes hatte sich schon merklich verändert. Vorhänge blieben zugezogen, Rollläden wurden frühzeitig herunter gelassen und eine unruhige Aura hatte sich ausgebreitet. Die Luft schien vor Spannung zu prickeln. Zusätzlich fürchteten sich alle nicht nur vor seinen Wahrheiten, sie fürchteten sich auch vor etwas, was in den Büschen lauerte. Harper gluckste freudig. Robert. Wenigstens etwas worin er geschickt war. Er machte den Leuten Angst, ohne es zu wissen. Doch… er machte auch Harper Angst, seinem Meister selbst. Ein süßer, fruchtiger Duft schlich sich in Harpers Nase. Er wandte den Kopf in die Richtung, aus der er kam. Gloria Fisher stellte just in diesem Moment eine kleine Form aufs Fensterbrett. Aus der Nähe konnte Harper die Form als Kuchen identifizieren. Nein, wie furchtbar Klischeehaft. Mit gerunzelter Stirn nahm er den Kuchen vom Fensterbrett, ein Stechen fuhr durch seine schlanken, weißen Finger. Diese verfluchte Form war heiß wie Höllenfeuer! Er steckte seine schmerzenden Finger in den Mund und wedelte mit der anderen Hand in der Luft herum. Er zog sie jedoch blitzschnell aus seinem Mund, als er sich daran erinnerte, dass Robert dies immer tat. Angewidert hob er den Kuchen auf, er war, wundersamer Weise, mit der Form nach unten gelandet. Harper zuckte die Schultern, der Tau hatte die Form auf eine erträgliche Temperatur gekühlt. Mit dem Kuchen in den Händen schlenderte er weiter an den hecken entlang. Um diese Jahreszeit trugen sie Früchte, die Heidelbeeren verdächtig ähnlich sahen, jedoch giftig waren. Er blieb stehen und schmunzelte. „Nanu? Was haben wir denn da… Wunderbar, welche Freude..“, murmelte er. Wieselflink pflückte er einige Hände voll von diesen Beeren, hob den Teigdeckel des Kuchens hoch und lies sie hinein gleiten. Heißer Dampf qualmte empor, dieses Höllenzeug! Schnell warf er noch einige Beeren oben drauf und drückte sie fest. Perfekt. Diese hässlichen hecken hatte also doch einen Nutzen. Lächelnd zog er einen Fetzten Papier aus seiner Hosentasche und schrieb mit der geschwungensten Schrift die er zu Stande brachte eine kleine Botschaft auf das Zettelchen, ehe er es auf den Kuchen legte. Zeit, etwas Unruhe zu stiften. Wenige Schritte später war er auch schon an seinem Ziel angelangt. Pater Georges Haus. Dort stelle er sein kleines „Geschenk“ ab und klingelte. Wie ein Schuljunge hetzte er sodann von dannen, weg, ins Gebüsch. Auf und davon, der ideale Zeitpunkt für eine Wahrheit war gekommen.
Ein leises Geräusch riss Amelie George aus ihrem Trott, nachdenklich stellte sie den Rum bei Seite. Sie wunderte sich, wer um diese Zeit bloß klingeln könnte. Immerhin, in wenigen Minuten gab es Abendessen, alle waren bei Tisch. Verwundert und neugierig trippelte sie zur Tür und öffnete sie. Nanu? Was, beim Heiligenschein des Herrn war das? Auf der Fußmatte stand ein Kuchen mit einem Briefchen darauf. Amelie blickte sich um. Niemand da. Schulterzuckend hob sie ihn hoch, das Abbild des lachenden Jesus und der Schriftzug „Jesus loves all of you“ kam zum Vorschein. Neugierig öffnete sie das Briefchen, darin standen nur wenige Worte, Amelie las sie laut vor, wie sie es immer tat. „Für meine liebe Amy. Lass es dir schmecken! –Grüße, Gloria.“ Oh wie schön! Gloria hatte ihr einen ihrer berühmten Kuchen geschickt! Sie wollte sie sicher aufheitern, nach der Sache mit Harriett war sie so schrecklich traurig. Ihr lieber Mann hatte die kleine Harriett nun doch ins Saint Marks geschickt. Sie war doch erst siebzehn! Aber… man war nie zu jung, um in die Obhut des Herrn geleitet zu werden. Nach den… Vorfällen hier, war sie dort besser aufgehoben. Dank sei Gott, dem Herrn! Auch Amelie war dort gewesen, sie hätte Nonne werde sollen… doch sie hatte dort ihren Mann kennen gelernt und war hierher gekommen. Der Herr hat eben für jeden ein anderes Schicksal vorgesehen. Nachdem sie sich noch einmal lächelnd umgeblickt hatte, begab sie sich wieder, freudig pfeifend, in die Küche. Charlie war noch oben, er war komisch, seit der Sache mit Harriett. Charles war noch in der Saint Marys, er hielt eine Sonderpredigt. Hm… dann blieb mehr Kuchen für sie. Freudig griff sie zum Messer und schnitt sich ein großes Stück ab, herrlich hier waren besonders viele Blaubeeren drin! Genüsslich verzehrte sie ihr Stück Kuchen und trank ihren Rum dazu.“ Oh Herr, vergib mir…“, flüsterte sie. Trinken war eine Sünde. Doch wie sonst sollte sie all das ertragen? Sie würde einen Rosenkranz beten und Buße tun, wie jeden Abend. Vorher jedoch wollte sie sich noch ein Stück Kuchen und einen Schluck gönnen…
Aber, was war nur los? Nach und nach machte sich ein beklemmendes Gefühl in ihr Breit. Ihr wurde flau im Magen und ihre Eingeweide zogen sich zu einem Knoten zusammen. Hitze und Kälte rauften sich um die Vorherschafft in ihrem Körper, schwarze Flecken tanzten vor ihren grünen Augen. Amelie versuchte sich von ihren Stuhl zu erheben und ein Glas Wasser zu ergattern, ihre Kehle war staubtrocken geworden, so trocken, wie die Wüste in der Jesus einst gewandelt war. Es gelang ihr kaum aufzustehen und als sie es endlich schaffte, gaben ihre Beine nach als wären sie aus Gummi. Sie kippte vorn über und prallte mit dem Kopf auf den Marmorboden. Ein dumpfer Knall hallte in ihren Ohren, sie hörte wie das Blut durch ihre Andern rauschte. Brennender Schmerz beschwerte ihren Kopf und ihre Augen wurden bleischwer. Fast hätte sie sich übergeben, doch in letzter Sekunde hielt sie es zurück. „Schlucken, Amelie, schlucken!“, wies sie sich an. Zitternd rappelte sie sich hoch, doch ihre Kräfte schwanden und sie brach erneut zusammen. Ihr Kopf kollidierte mit dem Fußboden, prallte davon ab wie ein Ball und sank schließlich zu Boden. Ihre braunen Locken ergossen sich wie gesponnenes Kupfer über ihr Gesicht und bedeckten es zur Hälfte. Das Licht der Abendsonne fing sich in ihren Kupferlocken und lies sie glänzen, wie das Blut, das aus der Wunde an ihrem Kopf quoll und eine rote Decke unter ihrem Haupt ausbreitete.
Das letzte was Amelie George hörte war der Schrei ihres Sohnes. „MAMIIIEEEE!“ Dann verlor sie das Bewusstsein.
Am Morgen nachdem Amelie Georges mit ihrem kleinen Geschenk im Krankenhaus gelandet war, fanden die Bewohner ein Geschenk vor ihren Türen. Jeder hatte eines bekommen, Harper hatte sie noch in derselben Nacht gedruckt und ausgeteilt.
Stück für Stück hatte er sorgsam vor den Türen platziert, doch diese Briefe waren eine heikle Angelegenheit. Er war sich sicher, dass die Nachricht von Amelie George bereits in Umlauf war, dafür hatte er persönlich gesorgt, doch er hatte seine neueste Wahrheit mittels eines riskanten Schemas verfasst. Er zielte auf die Paranoia der Leute ab, mittels eines Bluffs wollte er sie gegeneinander ausspielen. Doch war dies nicht eigentlich eine Lüge? Nun ja… eigentlich nicht. Es war lediglich eine, aus nicht belegbaren Tatsachen resultierende, Behauptung. Sie würden es schlucken, dessen war er sich sicher. Diese Wendung war Zucker für das Monster mit Namen Neugierde, das in den Leuten schlummerte. Harper grinste schelmisch.
An diesem Zucker würden sie sich ihre schäbigen, gebleichten Zahnprothesen ausbeißen. Sie würden sich wünschen, niemals einen dieser Briefe, wie sie seine Wahrheiten nannten, gelesen zu haben. Es war kaum zu glauben, zwei simple Stücke Papier, vervielfältigt und an jedermanns Tür gehängt, konnten ein wahres Feuerwerk an Paranoia, Misstrauen und Angst auslösen. Jeder fürchtete um seine Geheimnisse, wollte sich schützen und lieferte seine Freunde ans Messer. Das konnte er ausnutzen. Harper stand auf der Dachterrasse von „Davis‘ Forgotten Treasures“ und blickte auf die erwachende Stadt. Es wurde Morgen, er war gerade mit dem Verteilen der Wahrheiten fertig geworden. Nun spähte er hinüber, über den Schattenriss der Stadt, der im Licht der aufgehenden Sonne aussah wie die Reißzähne eines Ungeheuers. Der kleine Ort bildete einen Kessel inmitten von Feldern und Hügeln. Ein abscheulicher Hexenkessel, sollte diese Brut doch darin brodeln und elendigst verrecken. Sein Blick wurde Kalt, er kniff die Augen zu schmalen Schlitzen zusammen und Starrte vor sich hin. Es begann zu erwachen, der Ort fing an sich zu bewegen. Er konnte es spüren, wahrlich, es war soweit.
Harper leckte sich die blutroten, zu einem Grinsen verzogenen, Lippen. Langsam kehrte er dem Bild des Horizonts den Rücken und wandte sich zum Gehen. Ach, wenn es doch immer so einfach wäre, ach, wenn sie sich doch zerreißen würden… Ach wenn doch, ach wenn doch… Summend schritt er die Treppen des alten Hauses hinab, dieses Spektakel wollte er sich nicht entgehen lassen…
Ein stechen jagte durch Gloria Fishers Brust, das Zweite seit gestern. Ihr Kuchen war verschwunden und kurz darauf hatte man die arme Amelie am Boden ihrer Küche vorgefunden, mit ihrem Kuchen! Sie war vergiftet worden, man hatte Beeren von den Hecken hineingemischt. Es war zwar nichts allzu schlimmes, sie war bereits wohl auf, doch man wollte sie beobachten. Der arme, kleine Charlie hatte sie gefunden… Herrje und SIE wurde beschuldigt! Man hatte ein Schildchen gefunden, demnach der Kuchen ein Geschenk von ihr, für die gute Amy, gewesen sein sollte. Oh Herr im Himmel, sie könnte so etwas niemals tun! Pater George war noch am selben Abend erschienen und hatte seinem Zorn Luft gemacht.
Was war nur los hier? Binnen der letzten Tage und Wochen war der Ort immer mehr verkommen. An allem waren nur diese beiden Briefe schuld! Nach dem ersten war eine Woche Pause, man hatte Zeit gehabt das Übel zu verdauen und zu vertuschen, doch vor zwei Tagen war der nächste Brief erschienen, anders konnte sie es nicht nennen, sie erschienen wie von Geisterhand vor ihren Türen! Seither war Harriett verschwunden und nun war auch noch Amelie vergiftet worden, was man ihr in die Schuhe schieben wollte. War denn das zu fassen? Sie war doch eine gute, reine Seele! Niemals könnte sie einem Menschen Leid zufügen! Schluchzend beugte sie sich zur Kaffeemaschine. Henry war stocksauer, aber er glaubte ihr. Ein Glück. Er war gerade losgezogen, um mit Pater George zu sprechen.
Ihr war immer noch ein klein wenig schummerig, doch sie musste sich ablenken. Also ging sie zur Tür um die Zeitung zu holen, doch… Nein, bitte nicht. Dort lag es. klein zusammengerollt. Mit einer roten Schleife. Es wartete und verhöhnte sie. Dieses kleine, abscheuliche Ding! Nie hätte sie gedacht, dass Worte einen solchen Schaden anrichten konnten! Immerhin, es waren nur Worte! Ansammlungen von Buchstaben auf einem Blatt Papier! Gloria schluckte. Sie holte tief Luft. Was stand nur in diesem Blättchen? Verdammt. Sie wollte es wissen! Grimmigen Blickes hob sie das Röllchen auf und riss diese widerliche Schleife vom Papier. Rasch überflog sie die Worte… Um Himmels Willen…
Konnte das denn sein? So schnell sie konnte lief sie zum Haus der Georges, der Pater und Henry kamen ihr bereits wutschnaubend entgegen. Auch sie hatten es bereits gelesen. Gemeinsam formten sie nun einen Mini-Mopp und stürmten auf ihr neues Ziel zu, um ihre Wut zu entladen.
Die folgenden Tage waren seltsam, noch seltsamer als die vor ihnen. Amelie George war vergiftet worden, von Gloria Fisher! Die arme Amelie, sie war zwar immer etwas wunderlich und verträumt gewesen, doch das hatte sie nicht verdient. Wie konnte Gloria so etwas tun? Sie war doch die gute Seele dieses kleinen Ortes! Sonntags half sie bei der Messe und sie machte stets die Kuchen für die Kirchenfeste und Kaffeenachmittage! Eine Schande… Konnte Gloria überhaupt so etwas zu Stande bringen? Sonya überlegte. Vielleicht hatte John Recht und jemand wollte der guten Gloria etwas anhängen… nur wer? Grübelnd saß sie im Wohnzimmer und wartete auf John, der Marcus und Paulie von Training abholen sollte. Hoffentlich war ihnen nichts passiert, in letzter Zeit gingen seltsame Dinge vor sich… Briefe erschienen, Leute verschwanden, -Harriett George war seit dem zweiten Brief nicht mehr gesehen worden- andere Leute wurden vergiftet –wie Amelie George am gestrigen Tage- und irgendetwas oder jemand huschte im Untergrund herum, weiß Gott was es dort tat. Angst. Sonya wusste nur eins, es machte ihnen fast so große Angst wie die Briefe. Sie hatte bisher noch keinen weiteren Brief erhalten, besser gesagt, sie hatte heute Morgen nicht nachgesehen… nun aus… Womöglich war es nur ein übergroßer Hund, ein Fuchs oder ein Waschbär… Jedenfalls riss es Äste von Bäumen, warf Holzstöße um und Claire Hagott hatte behauptet sie habe es in ihrem Garten gesehen. Angeblich soll es mannsgroß und ziemlich stark sein…. es soll auch gekichert haben. So ein Unfug. Tiere kicherten nicht, zum Teufel! Doch… wenn es nun kein Tier war? Ach Humbug! Sie schüttelte vehement den Kopf, als würde sie diesen Gedanken fort schütteln können. Ein lautes Scheppern riss sie aus ihren Überlegungen, Stimmen wurden auf der Auffahrt laut. Stirnrunzelnd erhob sie sich und wurde fast von ihrem Mann überrannt, der fuchsteufelswild zur Tür herein preschte. Sein Gesicht hatte die Farbe einer überreifen Kirsche, die Gesichter ihrer beiden Söhne hingegen waren aschfahl. Sie wollte so eben das Wort an ihren Mann richten, als Pater George, Henry Fisher und seine Frau Gloria das Haus betraten. Sonya war verwirrt. Henry und Gloria stritten sich mit Pater George, der sich wiederum mit John stritt. Fassungslos blickte sie von einem zum anderen, nach und nach begann sie zu begreifen was im Gange war. Henry verteidigte seine Frau Gloria, Pater George war offensichtlich auch auf ihrer Seite. Ein Gewirr aus Stimmen wütete nun in ihrem Wohnzimmer. „…weil meine Frau eine anständige Frau ist!“, fauchte Henry Fisher. „Eben, die gute Gloria ist eine Frau der Kirche und eine gute Freundin unseres Hauses, ihre Jungen hingegen…“, grollte Pater Georges Stimme. John wurde noch wütender. „MEINE Jungen haben eine vorzügliche Erziehung genossen, sie WISSEN was rechtens ist und was nicht! Unterstellen Sie mir nicht, dass ICH es nicht weiß, immerhin bin ich Anwalt, gottverdammte Scheiße!“, brüllte er den Pater an. Was war nur mit ihm los? Er war doch ansonsten nicht so aufbrausend! Kopfschüttelnd und verwirrt warf sie schließlich ihre Frage mitten in die wütende Runde: „Was in aller Welt ist hier überhaupt los?“ Alles verstummte für einen Moment, doch dann brach ein erneutes Gefecht aus, alle redeten durcheinander, John redete auf sie ein und Henry, Gloria und der Pater redeten dagegen. Das war zu viel für sie, alle brüllten, sogar der Priester selbst war wie von Sinnen. Doch dann erblickte sie das Röllchen in seiner Hand, es trug eine rote Schleife. Nun begann sie zu begreifen. Ein neuer Brief. Was stand darin? Es bedurfte keines langen Überlegens, Sonya begriff sofort, dass es mit Amelie zu tun hatte. Anscheinend auch mit ihnen, besser gesagt, mit ihren beiden Jungen…
Sie versank förmlich im Tumult des Wortgefechtes, doch schlussendlich brachte Pater George alle zum Schweigen, indem er das Röllchen entrollte und laut vorlas:
A silent word’s riot
Gott straft uns für unsere Sünden, denn der Herr weiß, wann wir sündigen, auch wenn es vor den Augen Irdener verborgen bleibt, so sieht es der Herr umso deutlicher. Mit voller Gerechtigkeit lässt er seine Strafe auf uns hernieder sausen, so tat er es auch dieses Mal. Gift war die Strafe, die Amelie George als Buße für ihr liederliches, trinksüchtiges Leben auferlegt wurde, doch sie wurde von bösen Buben ausgeführt, die keinerlei Anrecht auf Gottes Vollzug haben. Jawohl, so führte nicht Gloria Fisher den Rachefeldzug gegen Amelie George, nein, man missbrauchte ihren Namen um sich vor der Sünde der Schuld zu schützen. Doch wer missbrauchte den Namen der guten Gloria? Zwei böse Buben, die gegenüber uns allen eine weiße Maske tragen. Marcus und Paulie Lichter sind es, die, deren Eltern ihre Westen reinwaschen, mit der Kraft des Geldes. Für unsereinen scheinen sie rein zu sein, doch rein ist nur Schein, in diesem Falle. John Lichter hat es leicht, als Anwalt weiß er wie man das Gesetz umgeht und seine Frau bietet das nötige Geld, so vertuschen sie die Kriminalität ihrer Brut. Wer von uns, außer dem Herrn, wusste, dass man mit ihrem Vorstrafenregister den Jakobsweg hätte auslegen können? Nun vergifteten sie auch eine Frau, die es zwar verdient hatte, doch sie griffen ein in des Herrn Lauf und bezichtigten eine gute Seele der Schuld. Eine neue Sünde auf dem Kerbholz der Lichterzwillinge. Doch, der Apfel fällt nicht weit vom Stamm, was sollte man von solchen Eltern lernen? Es ist eine Schande, da auch unser werter Herr Pfarrer nicht nur eine Hure als Tochter, sondern auch eine trinkende Frau hat. Da fragt man sich doch, welche Sünden hat er begangen, für die der Herr ihn so straft? Was habt ihr für Sünden, für die der Herr euch mit diesen Geschehnissen straft und vor allem, wer von uns hat wohl die größte Sünde? Ich jedenfalls werde nicht für euch beten, meine Weste ist, wohl als einzige, rein.
Möget ihr doch in der Hölle schmoren, auf das euch eure Sünden nie vergeben werden. Amen.
Alfred Henning
Alle starrten wie gebannt auf den Pater, der den Brief mit solch grimmiger Stimme vorgetragen hatte, als sei es ihr aller Todesurteil. Nun ja, für Sonya, John, Marcus und Paulie Lichter war es beinahe ein solches. Sonya fehlten sie Worte, ihr war, als hätte man ihr ihre Zunge herausgeschnitten und sie damit geknebelt. Ihrem Mann und ihren beiden Söhnen schien es ebenso zu gehen. Henry und Gloria Fischer bedachten sie mit vernichtend triumphierenden Blicken während der Groll des Paters förmlich zum Greifen war. In Sony Lichters Herz ballte sich jedoch ebenfalls ein tiefer Groll zusammen. Alfred Henning bezichtigte sie und ihre geliebten Kinder einer Straftat, nicht nur das, er legte ihre vorherigen Straftaten, die sie mit so großer Sorgfalt ungeschehen gekauft hatten, vor allen offen dar. Nun wussten alle um ihr kleines Geheimnis. Was würden nun die anderen sagen? Um Himmels Willen, nun wusste jeder, dass Marcus und Paulie die arme Amelie vergiftet hatten. Doch warum? Ein dummer Jungenstreich? Oder… „Rache!“ Henry Fishers Stimme riss sie unsanft aus ihren Gedanken. „Sie haben die arme Amy aus Rache vergiftet! Wer weiß, womöglich gedachten sie gar, das arme Weib zu töten?!“ Erneut brach eine heftige Debatte vom Zaun, die sich nicht durch Worte stillen ließ. Paulie und Marcus, beide den Tränen nahe, bedauerten ihre Unschuld, doch der Pater und die Fishers blieben unerbittlich, wie auch John, der sie schlussendlich aus dem Haus warf. Sonya stand nun da, zu ihrer Rechten stand ihr wutschnaubender Mann, zu ihrer Linken ihre armen, geschundenen Lämmer. Was erlaubten diese Leute sich auf einmal? Zum Teufel, erst Barbara Dale, dann Claire Hagott und nun Alfred Henning. Grundgütiger, sie wüsste bei weitem nicht was sie diesem Mann jemals getan haben sollte! Aber halt… Der dunkle Vorhang lange vergangener Zeiten lichtete sich und ein feiner Schimmer von vergessenen Erinnerungen brach durch die samtene Decke der grauen Vergangenheit. Nicht sie hatte ihn erzürnt, nein. Marcus und Paulie selbst waren für ihr Schicksal verantwortlich. Sie hatten sich stets an der Pein ihres Religionslehrers ergötzt und ihren Schabernack mit ihm getrieben. Darum sann er wohl auf Rache, ja, er wollte ihnen eins auswischen! Ihnen und Ihr, weil sie niemals eingegriffen hatte. Oh, aber nun würde sich das schlagartig ändern. Sie wusste, was zu tun war, ja sie würde eingreifen.
Nahezu im selben Augenblick beschloss Nathalie Allister, das Selbe zu tun. auch sie würde eingreifen, jawohl. Sie würde sich schützen, doch dazu musste sie die, die ihr am nächsten Standen, sie, die am meisten über sie wussten an den Pranger stellen. Das würde alle von ihr ablenken. Sie hatte Carolyn bereits verboten, mit Veronica zu sprechen, doch dieses dumme Gör hatte sich gegen ihre Anweisungen mit ihr unterhalten und ihr erzählt, dass sie Angst hatte. Unsinn, sie hatte keine Angst. Nun… doch und ob sie die hatte, doch das durften SIE doch nicht wissen. Die dort draußen, die sich alle um ihren kostbaren Ruf sorgten. Sie hatten keine Ahnung. Niemand hatte das. Niemand wusste wirklich, wer diese Rollen schrieb, die Unterschriften waren zweifelhaft, doch sie waren Zucker für die Masse. Ja, sie lieferten ihnen Sündenböcke und genau das brauchten sie. Das wusste auch es, das die Briefe schrieb. Es war dort draußen und lauerte, auf Informationen, auf Opfer. Auf sie. Sie würde die nächste sein, dessen war sie sich ganz sicher. Nathalie Allister. Ein Schauer kroch über ihren gekrümmten Rücken, das klirren und klappern ihrer aufgeklebten Fingernägel schallte durch das Haus. Eine Rolle Geschenksband lag vor ihr. Eifrig tippte sie an der Schreibmaschine ihrer Großmutter. „Tick, tick, klick, klick, klack, tick, tack…“ ihre Nägel scharrten über die Tasten. Morgen würde sie in die Bibliothek gehen und alles kopieren. Sie lächelte. SIE würden sie nicht kriegen, oh nein. SIE würde ihnen zuvorkommen. Von oben hörte sie Carolyn schluchzen. Dummes, dummes Gör. Sie war nicht die Einzige, die ein Verbot bekommen hatte. Charlie George war verboten worden, das Haus zu verlassen. Kein Wunder, nach diesem Desaster mit seiner Mutter. Man sagt zwar, dass es nicht schlimm gewesen sei und Amelie bald wieder nach Hause könne, doch man konnte ja nicht wissen, wen die Lichterzwillinge als nächstes vergiften. Darum war es höchste Zeit zu tun, was getan werden musste. Aber… das hatte Zeit, zuerst würde sie sich vergewissern, ob den Lichters ihre Gerechte Strafe zu Teil werden würde. Mit einem Lachen in der Kehle verließ sie das Haus. Es war jedoch kein glückliches Lachen, nein, es war ein solches Lachen, welches man lacht, wenn es doch gar nichts zum Lachen gibt. Es war ein verzweifeltes Lachen, das nur laut geworden war, um die erstickende Stille, die die Angst säte, zu brechen.
Viele Leute sammelten sich auf der Straße, die sich wie ein Band schnurgerade durch die kleine Ortschaft zog. Aus der sonst so idyllischen Stille war ein tosendes Meer aus Krawall gewachsen, welches über die Bewohner schwappte und all ihre Perfektion hinfort zu schwemmen drohte. Die Luft knisterte förmlich, all jene, deren Maske ihnen schon von ihrem grässlichen Gesicht gerissen worden war, versammelten sich, um sich in der Luft zu zerreißen. Es wurden Schimpf und Schande ausgesprochen, Gift und Galle gespuckt und auf Gedeih und Verderb verflucht. Zu nahe kam man sich jedoch nicht, nein. Man begegnete einander mit Vorsicht, sah einander verächtlich und auch ein bisschen angstvoll an. Man wollte schließlich nicht noch mehr Unmut auf sich ziehen, denn man wusste nicht, wer denn der Schuldige war. Jeder verdächtigte jeden, niemandem war zu trauen. Niemand wusste, wozu sein gegenüber fähig war. So machte Angst die Runde und säte ihre Keime der Furcht in die kümmerlichen Herzen der maskenlosen Menschen. Sie ging reihum, verteilte ihre bittere Gabe an die gesichtslosen Geister als wären es süße Bonbons. Die wenigen armen Seelen, die noch nicht in den Strudel des Verderbens geraten waren, zitterten in ihren Häusern und warteten. Worauf? Nun, auf das, dass sie auch an die Reihe kommen würden. Doch das Gezeter und Gezanke verstumme alsbald. Donner grollte in der Ferne und dicke Regentropfen begannen vom Himmel auf die Häupter der Leute zu fallen. Sie alle standen dort, mitten auf ihrer Straße, auf ihrem gelben Weg, unter den Bäumen in ihren Gärten und starrten einander an. Der Regen wurde stärker, die Stille wich dem Geräusch der dicken Tropfen, das klang, wie das Pochen der Pauken des finsteren Fürsten höchst selbst. Wut, Angst, Ratlosigkeit und Rachsucht mischten sich zu einem Gebräu, Gift für die naiven Herzen der Leute. Dunkelheit legte ihren Schleier über die kleine, zerstreute Menge. Sie belauerten sich, wie ein Haufen räudiger Katzen, die sich um dieselbe Maus balgten. Es dauerte jedoch nicht lange und das Licht der untergehenden Sonne erstarb mehr und mehr. Ihnen blieb nichts, als in ihre Häuser zu weichen, denn sie konnten nichts tun. Noch nicht. Ein jeder von ihnen hegte seinen persönlichen Verdacht, seinen persönlichen Groll und ein jeder würde ihm alsbald den Ausbruch gestatten. Bald. Dieser Anblick entlockte ihm ein Lächeln. Er hatte es gewusst, sie waren auf ihn angesprungen. Er hockte dort, auf dem Sims des Schornsteins und blickte auf die Narren herab. Die demaskierten würden über die wenigen Maskierten herfallen, sobald sich eine Gelegenheit dazu bot. Der Regen trommelte seinen bitteren Rhythmus aufs Dach und durchnässte Harpers Kleidung. Wohltuende Kälte kroch in seine Glieder, seine Arbeit neigte sich dem Ende zu. Es schien, als würde alles perfekt laufen, sie fingen schon an sich gegenseitig zu verdächtigen. Bald würden sie selbst die Initiative ergreifen, so hatte er es zumindest vorgesehen. Bis dahin musste er nur abwarten. Der junge Harper seufzte, er hatte sie gegeneinander aufgebracht, was nicht allzu schwer gewesen war, es bedurfte nur drei kleinen Zetteln mit Worten, die er jedem vor die Nase lieferte. Worte waren wahrlich dazu in der Lage gewesen, den Leuten ihre Masken von den hässlichen Gesichtern zu reißen und ihr abscheuliches Ich zum Vorschein zu bringen. Nun musste er nur noch das tun, was er in diesem Augenblick tat, zusehen. Er, der dunkle Späher würde sie beobachten, wie sie in ihr Verderben rannten. Sie würden sich selbst dorthin treiben, jawohl. Glucksend vor Freude saß er dort und blickte auf sein Werk hinab, bald würde es vollendet sein. Harper war jedoch nicht der Einzige in dieser Nacht, der draußen war und seinen „Schatz“ beobachtete, nein. Dort draußen, unter dem Baum, der hinter dem Haus stand, saß ein zweiter Späher. Wippend, summend und kichernd saß er dort und bohrte seine Blicke in den Rücken des Menschen, den er als einigen liebte.
„Josh.“, flüsterte Robert. „Mein geliebter, über alles geliebter Josh. MEIN Josh…“
Silbrig glitzerten die Pfützen auf dem gelbem Weg und der Straße, wie kleine Spiegel lagen sie dort und warfen das Licht der aufgehenden Sonne zurück in den wolkenlosen Himmel. Zwei Tage lang hatte es geregnet, erbarmungslos waren die grauen, kalten Fluten von Horizont gekommen als wollten sie alle ertränken. Rosie wünschte sich nichts sehnlicher, als das sie dies getan hätten. Es hatte sich fast so angefühlt, als würde sie all das, was geschehen war, hinfort schwemmen, ihre Westen wieder reinwaschen und das Glück an diesen Ort zurückbringen. Doch dem war ganz und gar nicht so. Über vergangenen Wochen und Tage hatte sich hier viel verändert. Die Plätze in der Saint Marys Chapel wurden immer leerer, selbst der Pater war am Sonntag nicht zur Messe erschienen. Man munkelte, dass er bei seiner Frau geblieben war. Sie wusste es nicht, Rosie hatte es nur von Susannah Polt gehört, sie war dort gewesen. Was war nur aus diesem Ort geworden, so viele Menschen hatten begonnen sich zu verachten und das nur aufgrund dieser Briefe. Ja, sie hatte sie gelesen, sie hatte erfahren, was es mit Barbara Dale, den Lichter Zwillingen, der Frau des Paters, seiner Tochter und mit den Hagotts auf sich hatte. Nie hätte sie gedacht, dass diese guten Leute solcherlei Geheimnisse hegten. Umso klarer das Bild des Ortes nun wurde, umso hässlicher war sein wahres Gesicht. All die Jahre hatten sie sich die größte Mühe gegeben, um diese vorbildliche Perfektion zu kreieren, sie zu wahren und zu genießen. Doch nun… nun ging alles in Scherben. Nebel zog seine feinen Fähnchen in dünnen, geisterhaften Gebilden über den taunassen Boden. Die Hecken waren in die Höhe gewuchert, doch kaum jemand bemühte sich mehr sie zu stutzen. Wozu auch? Sie alle hatten ihr Gesicht verloren, warum den Schein pflegen, wenn er doch längst erloschen war? Nur wenige hielten noch an ihrer Perfektion fest, sie, Rosalie Gillespie, war eine dieser wenigen. Alfred Henning mühte sich noch damit ab, obwohl er doch die Lichters gegen sich aufgebracht hatte, so hatte er, Rosies Meinung nach, nichts verschuldet. Susie Polt und ihre Familie waren die letzten im Bunde derer, die noch rein waren. Veronica und Wilbur mussten geschützt werden, wie auch Sally. Ihnen war es verboten worden, alleine das Haus zu verlassen, man wusste schließlich nicht, was dort draußen seine Bahnen zog. Stille lastete auf dem sonst so belebten Haus, alles schien in eine Schockstarre verfallen zu sein. Draußen rührte sich nichts, weder Vögel noch Insekten bahnten sich ihre Wege durch die Lüfte, nur Raben zogen ihre Bahnen durch den grauen Himmel und ließen ihre schrecklichen Schreie erklingen. Gänsehaut breitete sich auf Rosies Körper aus, sie drehte sich vom Fenster weg und blickte in ihr leeres Wohnzimmer. So vieles war nicht mehr so, wie es sein sollte. Vor wenigen Tagen oder Wochen hatten um diese Zeit noch Veronica, Sally und Carolyn gesessen, sie, Ly und Susannah hatten in der Küche Kaffee geschlürft… Nun war Ly komisch geworden, gestern, als sie sie angerufen hatte, hatte sie aufgelegt, nachdem Rosie „Hallo“ gesagt hatte. Wunderlich. Aber sie machte sich wahrscheinlich nur Sorgen. Plötzlich ertönte ein leises, pochendes Geräusch. Es klang, als würde etwas gegen die Türe knallen, etwas leichtes, feines… Wie erstarrt blieb Rosie stehen. Ihre Muskeln waren bis zum Zerreißen gespannt, ja selbst ihre Implantate schienen sich anzuspannen. Die Blicke unsichtbarer Augen schienen sich in ihren Rücken zu bohren. Unfug! Alles Einbildung… Sie überlegte. Genau, es war nur die Zeitung gewesen, es musste so sein. Mit einem Nicken drehte sie sich wieder zum Fenster, nichts war zu sehen. Zufrieden drehte sie sich zum Wohnzimmertisch um. Ein Schrecken lähmte ihre Sinne. Dort lag sie, aufgerollt und gelesen. Die Morgenzeitung. Wie naiv konnte sie nur sein? Noch vor wenigen Minuten hatte sie darin geblättert! Wenn die Zeitung hier war, was war dann dort draußen vor ihrer Tür? Dies musste sie sich nicht fragen, sie wusste es instinktiv. Eilig trippelte sie mit ihren Hausschühchen über den Teppich, bei jedem Schritt wippten ihre Lockenwickler auf und ab. An der Haustür zögerte sie einen Moment, doch dann riss sie sie auf und da lag es. Klein zusammengerollt mit einer schmucken, roten Schleife. Sie hob es auf und stürzte ins Haus zurück, um die Tür kümmerte sie sich nicht, sie stand offen. Wieder im Wohnzimmer entrollte sie mit hektischen Bewegungen das Röllchen.
Es sah anders aus, als sie anderen, die Schrift war größer, etwas verzerrt und stammte offensichtlich von einem Kopiergerät. Auch die Schleife war nicht so samtig und blutrot wie die anderen, sie war aus billigem Geschenksband wie man es im Paperstore in der Stadt bekam. Wer hatte sich die Mühe gemacht, in die Stadt zu gehen und den Zettel zu kopieren? Egal, ihre Neugierde war stärker als das Misstrauen und sie begann, den Brief zu verschlingen, doch sie erstickte fast an seinen Worten. Die Worte galten ihr. Genauer gesagt, sie erzählten all ihre Geheimnisse und auch Dinge, die schlichtweg gelogen waren. Angeblich sollte sie ihren Mann betrügen, sie hatte ihm angeblich die Kinder untergeschoben. So ein Unfug! Veronica war Harolds Tochter! Nur Wilbur… Nun ja, Wilbur war das Nebenprodukt einer kleinen Romanze, aber das sollte doch niemand wissen! Jetzt wussten es alle! Um Himmels Willen, wenn Harold davon erfuhr… Wer zum Geier hatte diesen Unfug verfasst?! Die Unterschrift beantwortete ihre Frage, doch sie warf auch zahllose neue Fragen auf. Warum sollte sie so etwas tun? Hatte sie es wirklich getan? Wer sonst hätte es tun können und, und, und… Das konnte doch alles nicht wahr sein! Fassungslos schüttelte sie den Kopf, so fest, dass ihre Lockenwickler sich lösten und in hohem Bogen durch die Gegend flogen. Die letzten beiden Worte brannten sich tief in ihr Gedächtnis. Wie konnte sie nur? zwei kleine Worte, ein Name. Susannah Polt.
Diese verdammenswerte Hure! Sie waren doch Freundinnen gewesen! Das war genug, nichts und niemand trieb ungestraft Schindluder mit Rosalie Gillespie. Niemand! Das würde sie noch bitter bereuen, doch sie konnte nicht noch mehr Ärger auf sich ziehen. Woher um alles in der Welt hatte sie all das gewusst? Sie hatte ihr zwar viel erzählt, doch das mit Willie wusste nur ihre allerbeste Freundin. NEIN. Das durfte nicht wahr sein. Nathalie könnte ihr so etwas nie angetan haben. Andererseits… sie hatte Carolyn verboten mit Veronica zu sprechen, was höchst fragwürdig war. Sie schloss die Augen. Eine kleine Träne kullerte unter ihrem geschlossenen Lied hervor und zog einen hellen Streifen in ihr make-up-gebräuntes Gesicht. Genug. Susie hatte Ly sicher nur benutzt, oder hatte Ly Susie benutzt? Was, wenn die beiden gemeinsame Sache machten und sie vom Platz fegen wollten? Was war dies nur für ein Ort geworden. Sie würde sich das niemals bieten lassen! Dann mussten eben beide die Konsequenzen tragen. Doch, war dies nicht gegen die Regeln, den Kodex des Ortes? Nummer eins: Es gibt keine Probleme an diesem Ort. Nummer zwei: Probleme werden geschluckt. Nummer drei: Es hat nie Probleme gegeben. Nummer vier: Alles war und ist perfekt. Sie atmete tief durch. Sie hatten alle gegen die Regeln verstoßen, warum sollte sie sich noch daran halten? Das sagte sie sich immer und immer wieder, obwohl ihr eines klar geworden war: Es gibt keine Regeln. An einem perfekten Ort braucht man keine. Dies war niemals einer gewesen und bei Gott, nun war er es erst recht nicht.
Wenn es keinen perfekten Ort mehr gab, dann gab es keine Regeln und wenn es dies nicht gab, so hatte sie nichts mehr zu verlieren. Nun gab es nur noch eins: Rache.
Das musste ein schlechter Scherz sein, ein harmloser Schabernack! Susie wollte nicht wahrhaben, dass das ihre Unterschrift war, doch daran bestand kein Zweifel, dort stand ihr Name. Aber zur Hölle, es war nicht ihre Unterschrift! Sie hätte Rosie niemals so wehgetan! Warum sollte sie auch? Sie hatte keinerlei Grund dazu. Wutentbrannt zerfetzte sie den Zettel. Er war anders als die anderen beiden vor ihm, er war… schlampiger. Allem Anschein nach hatte man das Original kopiert, der Einzige Kopierer stand ihres Wissens nach in der Stadtbibliothek. Das heißt, wenn man dieses heruntergekommene Zeitschriftenlager so nennen wollte. Seit dem Tod des Bibliothekars vor knappen elf Jahren war sie verarmt, nur einige Zeitschriften, Kochbücher und Schundromane waren noch dort... Ach und ein Kopiergerät. Jeder hatte zu diesem Ding Zugang, also war dies ein lausiger Anhaltspunkt. Gott, wer könnte ihr so etwas antun wollen? Immerhin hatte man willentlich mit ihrem Namen unterschrieben, also wollte irgendjemand, dass Rosie dachte, sie wäre für den Brief verantwortlich. Herrgott, was war aus den Menschen hier geworden? Sie waren alle so perfekt gewesen, doch nun waren sie… Monster. Ein anderes Wort traf für sie nicht zu. Doch halt, Moment… Sie kannte Rosie schon ewig, sie wusste nur zu gut, dass Rosie nichts auf sich sitzen ließ. Schon zu Schulzeiten war sie für ihre Rachsucht und ihre Rachefeldzüge gefürchtet gewesen. Daran dürfte sich nichts geändert haben. Es gab nur eine Möglichkeit, den Kopf aus der Schlinge zu ziehen. Sie brauchte einen Sündenbock, einen Schuldigen… oder noch besser, EINE Schuldige. Wer eignete sich besser dazu, als ihre allerbeste Freundin, die Person, die ausnahmslos alles über Rosie Gillespie wusste? In der Tat, niemand eignete sich besser dazu als diese eine Person. Nathalie Allister.
Sogleich machte sie sich an die Arbeit, denn was diese Narren konnten, das konnte sie schon lange! Wäre doch gelacht. Grimmigen Blickes schnappte sie sich ein Blatt Papier und machte sich auf den Weg in die Bibliothek. Dort würden sie neben dem Kopierer auch noch einige Schreibmaschinen haben. Wenn sie schon dabei war, konnte sie auch in den Paperstore neben dem Drogeriemarkt gehen und rotes Geschenksband kaufen. „Pass nur auf, ich kriege dich, du kleines Miststück“, flüsterte sie und machte sich auf den Weg.
Alfred Henning war sich keinerlei Schuld bewusst, zwar war er sich sehr wohl im Klaren, dass er keineswegs für die Ausstellung eines solchen Letters verantwortlich gewesen war, was seiner Freude an der Reaktion, die das Ganze hervorgerufen hatte, wohl den geringsten Abbruch tat. Nein, er war sogar froh, dass diese beiden verdammenswerten Teufelsbraten endlich ihre eigene, sehr bittere Pille zu schlucken hatten. Nun wusste jeder, was es mit diesen kleinen Hohngestalten auf sich hatte und so wahr ihm Gott helfen möge, auch Amelie George hatte verdient, was ihr wiederfahren war. Er war kein schadenfroher Mensch, nein gewiss nicht, doch diese Leute hatten des Herrn gerechte Strafe entgegen genommen, jawohl. Triumphierenden Blickes ging er weiterhin zur Kirche, auch wenn er dort in den letzten Tagen alleine war, dies störte ihn herzlich wenig, denn seine Gottesfurcht kannte keinen unbekannten Briefeschreiber, der seinem Glauben Abbruch tun konnte. Alfred Henning weilte weiterhin in der Überzeugung, dass es nur die treffen würden, die ein liederliches, gottloses und sündhaftes Leben geführt hatten. Scheinbar hatten dies alle getan. Soweit er wusste, hatte er niemals niemandem Schaden zugefügt, nicht einmal den Schülern, die ihn auf Grund seines Glaubens stets zu hänseln pflegten. So saß er in der kleinen Kirche, der Saint Marys Chapel, und sinnierte vor sich hin. Wahrlich, er hatte selten etwas anderes als dies getan. Im Grunde war er immer fromm gewesen, hatte niemandem Gewalt angetan und bei Gott, er hätte mehr als einmal gute Gründe hierzu gehabt! Doch er hatte sich immer auf das Wesentliche besonnen, zwar mochte er forsch und herrisch gewirkt haben, in der Schule ließ er stets Strenge und Disziplin walten, doch er war niemals unfair gewesen. Hart, aber gerecht, das würde es wohl am besten treffen. Benommen blickte er zu der großen Marienstatue auf, die über dem Hauptaltar thronte und ihre Hände, mit einem herzlichen Lächeln auf den Lippen, zu ihren Seiten ausstreckte. Dabei musste er an seine Frau, Mary, denken. Oh wenn sie doch noch hier weilen würde. Bitterkeit überkam ihn wie eine Welle dunklen Wassers und schwemmte über seinem gebeugten Haupt hinweg wobei ihre Gischt wie bittere Galle zischte. Vor vielen Jahren war er an diesen Ort gekommen um Zuflucht zu finden, um alledem zu entfliehen, ja, um ein neues Leben zu beginnen. Doch vor allem, um zu vergessen. Glücklich, ja das hatte er hier zu werden gehofft, nachdem der Herr seine geliebte Frau zu sich genommen hatte. Alfred Henning war nicht immer ein Mann Gottes gewesen nein… Vor vielen Jahren, als seine Frau und sein Sohn noch auf Erden geweilt hatten, war alles ganz anders gewesen. Mariah und er hatten in einer tobenden Stadt gelebt, eine, die um vieles größer gewesen war als diese hier. Damals, als sein lichter, grauer Haarschopf noch eine buschige, braune Lockenpracht gewesen und aus seinen Ohren noch kein Zauberwald gewuchert war… Er hatte das Studium abgebrochen, er wollte ein „freies“ Leben führen, ohne all diese Bande und Bindungen. Frei sein, das wollte er. Solche Kreise hatten ihn eingezogen und letzten Endes auch verschlungen. Eines Tages war ihm, nach einer der vielen durchzechten Nächte, die Jungfrau Maria erschienen und er hatte erkannt, dass es so nicht weitergehen konnte. Zudem hatte er seine Frau kennengelernt, Mariah. Nach unzähligen Gelegenheitsjobs und einer Finanzspritze seiner Mutter konnte er sich endlich ein Theologiestudium finanzieren. Nach dem Abschluss dieses Studiums beabsichtigten seine Frau und er, fortzugehen, da sie ein Kind in sich trug. Doch eines schicksalhaften Tages geschah ein Unglück. Mary war auf dem Weg nach Hause, sie war beim Arzt gewesen, ein Glück, das Kind war gesund. Als sie den Weg zu ihrem Haus entlangfuhr, brach ein Gewitter aus und der Herr goss seine Fluten auf die Erde nieder. Dies wurde Mary zum Verhängnis, auf der langen Straße nach Hause, wurde sie frontal von einem Lastwagen gerammt und ließ ihr Leben und das des Kindes in ihrem Bauch auf der Straße.
Am Tage nach der Beerdigung verließ Alfred Henning seine Heimat und zog an diesen Ort, denn er war das, wovon Mary immer geträumt hatte: perfekt. „Er war es“, flüsterte er grimmig. Eine kleine Träne entfloh seinen starren, mausgrauen Augen und floss seine faltige Wange entlang, bis sie von seinem dichten Vollbart aufgefangen wurde und sich darin verlief. Es half alles nichts, seinen einzigen Trost fand er in der Gnade des Herrn, er war der einzige, der stets gerecht und gnädig war. „Heilige Maria Mutter Gottes…“, erneut stimme er sein Gebet an. Jedes einzelne seiner Worte hallte in den trostlosen, leeren Reihen der Kirche. Wie viele Gebete er sprach wusste er nicht, es war auch egal, denn seine Worte waren das Einzige, was diese Kirchenbänke füllte. Für eine lange, lange Zeit.
Es waren auch die letzten Worte, die diese Wände der Ortskirche hören würden.
Die folgenden Tage verliefen recht ruhig, zumindest nach außen hin. Doch der Schein trog, wie so oft in diesem Zustand den wir Leben schimpfen. In Wahrheit waren an unserem kleinen Ort viele Finger damit beschäftigt, viele Worte zu Papier zu bringen, schlimme Worte, Worte die nicht der Wahrheit entsprachen. Man wusste schließlich nicht, welche Leichen der Andere im Keller hatte, oder ob er denn überhaupt solche darin bunkerte. So erfand man eben welche und legte so auch seiner besten Freundin Leichen in den Keller, nur weil ein anderer dies unter ihrem Namen bereits getan hatte. Nun, Rache ist schon etwas Schönes… Heiß, unberechenbar und verheerend brodelt sie in den Herzen der Leute. So brodelte sie auch hier vor sich hin, doch an dem Tag, an dem sie ihren Ausbruch fand, wurde deutlich, wie unberechenbar sie doch ist.
Es war nun schon bedeutend mehr als ein Monat verstrichen, seitdem Josh Harper seine erste Wahrheit publik gemacht hatte. Auch wenn er seine Wahrheiten nun nicht mehr selbst zu schreiben brauchte, da sie seit der zweiten durch Lügen der Leute ersetzt worden waren, wie er es vorhergesehen hatte, so kam es alsbald zum heiß ersehnten Eklat.
An einem klaren Sommermorgen huschte noch vor Tagesanbruch eine schlanke Gestalt im Schatten der Blütenbäume umher.
Ihre geschmeidigen Hände hatte sie in einer großen Tasche vergraben, aus der das Rascheln von Papier drang. An jedem Haus warf die Gestalt ein kleines Röllchen auf den Weg zum Eingang. So schnell es ihre grünen Stöckelschuhe zuließen spurtete die Gestalt von dannen.
Wenig später schlich erneut eine Gestalt über den gelben Pflasterweg. Diesmal war sie weniger flink unterwegs, die musste sich beeilen, die Sonne war schon fast aufgegangen. Fluchend zog sie ein kleines Röllchen aus ihrer Designertasche und verbarg das Gesicht hinter ihrer großen Sonnenbrille, die bei jedem ihrer Schrittchen rutschte. Eilig und ohne hinzusehen schleuderte sie ein Röllchen vor jedes Haus, doch sie musste ihre Trippelschrittchen beschleunigen, um pünktlich fertig zu werden. Doch auch dies hatte sie nicht davon abgehalten ihren kleinen Plan in die Tat umzusetzen. Zufrieden verzogen sich ihre rot gestrichenen Lippen zu einem Grinsen.
Ein ähnliches Grinsen erleuchtete Harpers Gesicht, der auf seiner kleinen Warte am Schornstein seines Hauses hockte und die Gestalten beobachtete. Freudig rieb er sich die Hände und betrachtete dabei das Bild, in welches sich der Ort gewandelt hatte. Die schön gepflegten Hecken waren zu wuchernden Büschen geworden, die Gärten waren teils von Unkraut überwuchert, teils ausgestorben und auch zum Teil von der sengenden Sonne ausgebrannt worden. Statt der grünen Oasen fand man nun Dschungel, savannenähnliche Landschaften, moorähnliche Sümpfe und ausgebrannte Steppen. Anstelle von gepflegten Bäumen mit kugelförmig zugestutzten Kronen sah man nur noch schlichte Bäume, wie sie auch auf der Allee zu finden waren. Niemand kümmerte sich mehr um das Aussehen seines Gartens, ebenso wie um sein persönliches Aussehen. Wahrlich, die Leute vegetierten vor sich hin, gleich dem Unkraut in ihren Gärten. Man war misstrauisch und introvertiert geworden, ja selbst das Sommerfest war ausgeblieben. Kindern wurde verboten miteinander zu spielen, da die Eltern sich entfremdet hatten und beste Freundinnen fielen einander in den Rücken wie hungrige Hyänen. Wahrlich, man hatte seine Masken verloren und was man nun sah, gefiel keinem. Nicht einmal denen, denen das Gesicht darunter gehörte, nein, sie waren die schlimmsten, sie wollten nicht wahr haben, dass sie ohne ihre Maske nicht mehr als alle anderen waren. Sie waren sogar weniger. Die Wahrheit ist nicht immer schön, doch wenn man die Wahrheit der Lüge über einen selbst vorzieht, so ist dies schon ein erbärmliches Zeugnis, nicht wahr? Harper wartete und dachte über diese Dinge nach. Was Worte nicht alles ausrichten konnten… Unglaublich, was Neugierde, Rachsucht und Paranoia nicht alles auslöste. Er schmunzelte, seine Saphiraugen blitzen im Licht der aufgehenden Sonne. Bald schon würde er diesen Ort verlassen können, er würde all dies hinter sich lassen und auf nimmer Wiedersehen verschwinden! Dann würde er auch Robert los sein… Schaudernd dachte er an die letzten Nächte, aus bloßer Abscheu hatte er ihn in sein Zimmer verbannt, wo er nun jeden Leerraum in jedem Buchstaben den er finden konnte ausmalen musste. Hierzu hatte er ihm ein Telefonbuch gegeben, die Nullen und Co musste er selbstredend auch füllen. Kopfschüttelnd dachte er über seinen Bruder nach, sein verkommenes Experiment… Auch über Norrin dachte er nach, er war fort gefahren… Doch schon in wenigen Stunden würde er zurück sein, fast zwei Wochen hatte er ohne ihn aushalten müssen. „Vorsicht mein Freund, du magst diesen Mann…doch pass bloß auf! Freude sind wie Blumen… Freundschaften müssen gepflegt werden, um gedeihen zu können. Dies nimmt viel Zeit und Konzentration in Anspruch. zwei Dinge, die wir anderweitig nutzen könnten! Sie brauchen viel Zuwendung, und Liebe, nur dann können sie erblühen und leben. Was sagt uns dass mein Freund? Geh und hol den Unkrautvernichter!“ Sein Überich hatte sich wieder zu Wort gemeldet. Doch zeitweilen hatte er wenig Lust auf einen weiteren Monolog mit ihm und dem Freundlichen, er wollte schlicht und ergreifend seine Ruhe. Plötzlich nahm er eine Gestalt war, die Sonne war voll aufgegangen und schien mit voller Kraft vom wolkenlosen Himmel. Harper glitt in den Schatten, den der Schornstein warf und legte die Hände auf die angezogenen Knie, auf ihnen bettete er seinen, ihm unnatürlich schwer erscheinenden, Kopf. Es ging los.
Die Gestalt war, dem Haus nach zu urteilen, aus dem sie kam, keine andere als das kleine Miststück Nathalie Allister. Harper wusste, was sie finden würde, er hatte die beiden Zettel bereits vor dem Haus, in dem er wohnte, aufgelesen. Billige Imitate seiner Wahrheiten, schlampig kopiert, mit Geschenksband aus dem Paperstore zusammengebunden. Der erste war angeblich von Carolyn Allister, zumindest hatte Susannah Polt diese Unterschrift darunter gesetzt. Raffiniert, so schob sie die Schuld der Tochter zu. Das Schreiben handelte von Nathalie Allister, ihrem Ehemann und all ihren, angeblichen, Bettgeschichten. Er war aus der Sicht der Tochter verfasst, sie erzählte alles, von Liebhabern ihrer Mutter, über Geliebte ihres Vaters bis hin zu Halbgeschwistern, von denen sie nichts gewusst hatte und so weiter… Wirklich rührend, wie Harper fand. Amateurhaft, weit hergeholt, aber dennoch kreativ. Das musste man Susannah Polt lassen. Doch auch Rosie Gillespie war nicht untätig gewesen, sie hatte zeitweilen, ironischer Weise am selben Tag, ihre Rachebotschaft ausgeteilt. Göttlich. Sie zog über Susie Polt UND Nathalie Allister her, wobei sie Sally Polts Unterschrift unter die Zeilen setzte. Wenn das keinen Zündstoff für familieninterne und Familie vs. Familie-Dramen gab! Nanu? Was war das? Eine zweite Gestalt war aus ihrem Haus getreten, nach und nach kam Bewegung in die Szenerie… Geschmeidig wie eine Katze ließ sich Harper vom Dach gleiten und sprang dann hinter der Böschung zu Boden. Das kühle, taunasse Gras hinterließ kleine wässrige Diamanten auf seiner schwarzen Hose und die Zweige der Hecke kitzelten seine Nase. Überall war Tau, wie unzählige kleine Perlen funkelte er in den Spinnennetzen und entzweite die Strahlen der Morgensonne zu einem bunten Schein. Noch lag die dicke Decke der Stille über dem Ort, doch es war keine ruhige Stille, nein, vielmehr eine drohende, lauernde Stille, die nur darauf wartete, einen Krawall vom Zaum zu lassen. Langsam richtete Harper sich zu voller Größe auf, er war über die Jahre recht ansehnlich geworden, der einst so schmächtige, kleine Junge war nun zu einem schlanken, gut gebauten, jungen Mann herangewachsen, er war in der Tat groß geworden. Zwar besaß er nicht die himmelsragende Größe seines Bruders, so war er dennoch im oberen Durchschnitt. Mit einer fließenden Bewegung strich er sich das pechschwarze Haar aus der Stirn und schritt mit federnden Schritten auf die Hecke zu. Wie ein Schatten tauchte er in ihr ab und ging, im wahrsten Sinne des Wortes, durch sie hindurch. Mittlerweile musste er sich auch nicht mehr die Mühe des Versteckens machen, nichts und niemand war auf den Straßen und die Fenster bleiben auch bei Tag mit Vorhängen verhangen. So schlenderte er gemächlich ohne Weiteres über den, viel zu langen, mit Löwenzahn und Klee bewucherten Rasen der Allisters. Im Schatten der wild vegetierenden Hecke schlich er sodann in Richtung Wohnzimmerfenster, aus welchem Laute an sein Ohr drangen, die besser gedämpft gehörten. Um nicht gesehen zu werden, verbarg er seine anmutige Gestalt hinter dem Holzstoß, der unter dem Fenstersims vor sich hin moderte. Macht der Gewohnheit, Harper begab sich stets in Deckung, ging „auf Nummer sicher“, wie der gute Norrin stets zu sagen pflegte. Norrin…War denn das zu fassen, er vermisste den alten, kauzigen Antiquar! Energisch scheuchte er diese Gedanken und Erinnerungen fort, immerhin hatte er hier ein Szenario vor sich, das es mehr als schlicht und ergreifend wert war, beobachtet zu werden. Das Fenster erweckte nun fast den Eindruck, eines Fernsehbildschrims, durch den man ein besonders delikates Alltagsmelodram beobachten konnte. Es gewährte Einblick in einen großen Raum, ein Wohnzimmer. Der Anblick dieses Wohnzimmers war Harper keineswegs neu, nein jedes dieser Häuer war ein exaktes Ebenbild des anderen, das Mobiliar bildete ebenso wenig eine Ausnahme aus dieser Regel wie die Aufteilung der Zimmer und der Abschaum, der diese Bewohnte. Der einzige Unterschied hier war, dass sich die Insassen des Raumes ein reges Gefecht lieferten. Nathalie Allister sah schlimmer aus als bei Harpers letztem „Besuch“, ihr Haar war fast gänzlich ergraut, offensichtlich hatte sie aufgehört, es zu färben und dicke, blaue Ringe lagen im Schatten ihrer wild umherblickenden, starren, glanzlosen Augen. Ihre Wangen waren trotz Botox recht lasch und die Furchen und Falten auf ihrer Stirn waren tiefer als die der Hänge und Abgründe der Rocky Mountains. Doch da gab es etwas, was ihr Gesicht in einem weit stärkeren Griff hielt als die Zeichen von Alter und Verfall: Wut. Dies konnte man auch hören, denn sie schrie all ihre Wut, Angst und Verzweiflung in das Gesicht ihrer Tochter. Dieses bot auch einen recht belustigenden Anblick, wie Harper fand. Tränen schimmerten in ihren grünen Augen, ihre blondierten Haare waren zerwühlt und glichen einem Vogelnest. Offenbar hatte ihre Mutter sie unsanft aus dem Bett geholt. Sie erwiderte das Gebrüll ihrer Mutter vorerst nicht, dazu schien sie nicht in der Lage zu sein. Verwirrung und Zweifel beherrschten ihr Gesicht und legten einen dunklen Schatten über ihre, sonst so strahlenden Züge. Nathalie warf ihr so eben alles vor, was hatte sie sich nur dabei gedacht, wie konnte sie nur, et cetera, das volle Programm. Ly war kaum u bremsen, wie eine Furie schrie sie ihre heulende Tochter an, die ihre Unschuld beteuerte und sich kaum zu helfen wusste. Doch nach einigen Minuten machte Carolyn einen fatalen Fehler, der ihrer Mutter, die sie so eben eine kleine, dumme Hure genannt hatte, ihr vorwarf, dass sie am Verfall der Familie schuld sei, die letze Contenance raubte. „Aber, es ist doch zum Teil wahr Mama!“, fauchte Carolyn. Trotzig schob sie das Kinn vor und blickte ihre tobende Mutter herausfordernd an. „Ich habe es nicht geschrieben, aber es ist wahr. Außerdem, da ist doch ein zweiter Brief, der Sally beschuldigt!“, schluchzte sie. Harper konnte in Nathalies Gesicht sehen, wie etwas in ihr ausgeschaltet wurde. Ihr Blick wurde hart und erbarmungslos. „Sag so etwas nie wieder, NIE WIEDER!“, zischte sie, „Ihr beide, seid doch die selbe verkommene Brut!“ „Mama…“, begann Carolyn, doch sie kam nicht viel weiter. Ihre Mutter hob die Hand und lies sie mit voller Wucht in Carolyns Gesicht sausen. Selbst hier am Fenster konnte Harper förmlich die Wucht des Aufpralls spüren. Carolyns Augen füllten sich mit Tränen, die ihrer Mutter mit bitterer Genugtuung und Entsetzen. Plötzlich schien der Raum sich in einem Vakuum zu befinden, alles ging wie in Zeitlupe von statten und die Zeit schien für einen Moment still zu stehen. Ly und Carolyn starrten sich an, Ly wurde klar, was sie getan hatte. Um Himmels Willen, was hatte sie nur getan?! Mit einem Mal raste die Zeit wieder an ihnen vorbei, mit Lichtgeschwindigkeit zog sie ihre Bahnen und riss die Szenerie mit sich. Ohne ein Wort wandte Carolyn sich von ihrer Mutter ab und rannte aus dem Zimmer. Ly stand auf dem hässlichen Teppichboden, nun kullerten auch ihr Tränen über die Wangen. Wie zum Hohn ließ die Sonne sie wie kleine Edelsteine erstrahlen. Sie begann zu zittern, Fragen, Schuldgefühle und allerlei Emotionen wirbelten durch ihren Kopf wie ein verheerender Hurrikane, der alles mit sich riss und an den, nicht allzu weit entfernten Grenzen ihres Verstandes in tausende Stücke zerschmetterte. Was in aller Welt war nur geschehen? Warum hatte Carolyn etwas Derartiges getan? Sally hätte nie so etwas über ihre Mutter geschrieben, doch auch ihre Unterschrift fand sich unter dem zweiten Brief. Herrgott, wer wollte nur, dass sie so litten? Auf einmal wurde ihr alles klar. Natürlich, Veronica und Rosie Gillespie. Diese beiden vermaledeiten Biester, sie waren eifersüchtig und wollten ihnen eins auswischen! Wut ballte sich in ihr zusammen und schwemmte alles andere weit fort. Sie wusste, was nun zu tun war. Tobend ergriff sie den Hörer des Haustelefons und wählte Susannahs Nummer.
Harper war vollends zufrieden mit sich und der Reaktion der Leute. Was er gesehen hatte, stelle den Auftakt zum finalen Akt dieses Melodrams dar, bald schon würde hier der Teufel höchste selbst wüten. Lächelnd streckte er sich, seine Glieder waren Steif wie Bügelbretter, nun wusste er wie Robert sich gefühlt haben musste: elendig. Womöglich war es an der Zeit, ihn noch ein weiteres Mal hinter solche Holzbunker zu stecken… Grinsend wandte Harper sich zum Gehen, ein leises Summen entfloh seinen roten Lippen. Ach wenn doch, ach wenn doch…
So vor sich hin träumend schlenderte er von dannen, tief in seinen Gedanken eingesponnen, als plötzlich ein Geräusch seine Aufmerksamkeit auf sich zog. Ein Rattern und Scharren war zu vernehmen, kurz darauf erklang das dumpfe Plumpsen eines Aufpralls. Nanu? Harper beschloss, nachzusehen, was dieses Geräusch verursacht haben könnte und schlich zur Quelle des Übels, die nichts Geringeres war als Carolyn Allister. Was für ein Anblick! Dieses Miststück war so eben dabei, aus dem Fenster ihres Zimmers zu klettern! AM Boden angelangt verschnaufte sie kurz und blickte sich um. Harper duckte sich hinter einen der Rhododendronbüsche und wartete. Nachdem sie sich umgeblickt hatte, rannte sie davon, direkt auf das Haus von Susannah, beziehungsweiße Sally Polt zu. Wunderbar, sein Projekt war in vollem Gange. Zufrieden wanderte er zu in die Stadt, nun musste er nur noch zusehen, aber halt, er hatte noch Etwas zu erledigen, denn eine letzte Wahrheit würde er noch schreiben.
Der warme Wind zog und zerrte an seinen, kontinuierlich weniger werdenden Haaren, riss ihm beinahe sein Jackett vom Leib und trieb ihm die bittere Kälte des überklimatisierten Busses aus den klapprigen Knochen.
Es war heiß gewesen, verglichen mit den Temperaturen seiner Heimat, war es hier nahezu identisch warm, obgleich auch hier die Sonne so stark vom blauen Himmel brannte, dass sie um ein Haar das Land zum glühen brachte. Wahrlich, bei jedem Schritt trieb es ihm Schweiß aus all seinen Poren, sein Tweedjackett trug er über die Schultern gehängt, selbst so war es noch unerträglich heiß. Am Morgen schien es geregnet zu haben, der Dampf verkommender Pfützen stieg in den klaren Himmel wie sterbende Seelen. Selbst die hohen Häuser spendeten keinen kühlen Schatten, nein, sie wandelten die Gassen in kleine Hochdrucköfen oder Saunen. Überall staute sich die Hitze, die vielen Cafés und Salons waren wie ausgestorben, ein jeder schien sich zu verkriechen. Nur in den Supermärkten und Fleischereien herrschte reges Treiben, denn hier waren Klimaanlagen im Dauerbetrieb. Keuchend und schwitzend stapfte er durch die Straßen, seine Schuhe schienen am heißen Pflasterstein fest zu schmelzen, bei jedem Schritt schmatze es, als liefe er durch eine gigantische Blutlache. Das Ächzen seiner alten Knochen machte das alles nicht unbedingt besser, im Gegenteil, so war es äußerst deprimierend, dass das Knacken seiner Wirbelsäule und seiner Hüfte selbst das Scheppern seiner Reisetruhe übertonte, die, so wahr ihm Gott helfe, ein Höllengetöse veranstaltete. Gnadenlos brannte die Sonne herab, stach die Welt mit ihren glühenden Stacheln und brannte auf die Menschen nieder. Himmel, das hier machte Syrakus alle Ehre! Wie es wohl dem Jungen ergangen war? Er hatte ihm nur gesagt, dass er nach Hause fahren würde, wo das jedoch war, hatte er ihm verschwiegen. Was er dort vorhatte, hatte er auch nicht gesagt, der Junge hatte auch nicht gefragt. Er hatte es ohnehin geahnt, das hatte Norrin in seinen blauen Saphiraugen gesehen. Irgendwie hatte er ihm gefehlt, mehr als sie sogar und Himmel Herrgott, er war wegen IHR dorthin gefahren! Nun war er wieder hier, endlich, er hasste seine Heimat wie die Pest, weil es nicht einmal seine richtige Heimat war, er wusste auch nicht, ob es ihre gewesen war, sie weilte nur jetzt dort. Erschöpft langte er in seine Tasche und zog den großen, schweren Metallschlüssel heraus. Mühsam steckte er ihn ins Schloss des Portals und drehte ihn mehrmals darin um. Er sperrte immer dreimal ab. Immer. Ein leises, helles Klingeln begrüßte ihn als er die knorrige Holztür zu seinem Laden öffnete. Als Norrin jedoch den Verkaufsraum von „Davis‘ Forgotten Treasures“ betrat, wurde ihm etwas mulmig zu Mute. Eine angenehme Kälte schwebte wie glasiger Dunst im Raum, kein Staubkorn war zu sehen, die Post war ordentlich auf der Theke gestapelt und die Regale waren sorgsam sortiert worden. Ja, selbst die Teppiche waren penibel ausgeklopft worden und im Vorgarten von Mrs. Dampson türmte sich Unrat. Alte Hexe, wer auch immer das alles dorthin geschafft hatte, verdiente Norrins vollste Zuneigung. Dennoch, etwas war seltsam hier, etwas war anders…etwas war…da. Etwas oder jemand. Unfug, alles war verschlossen gewesen, er litt womöglich nur an altersbedingter Paranoia. Kopfschüttelnd, doch mir erhöhter Vorsicht schlich Norrin durch seinen eigenen Laden wie ein Einbrecher. Was war er doch für ein alter Narr. Doch, was war das? An der kleinen Wendeltreppe die hoch zum Dachgiebel führte blieb er verdutzt stehen und lauschte. Ein Klicken und Klappern drang vom Balkon herab. Misstrauisch blickte er sich um. „Hallo?“, fragte er in die leere des Treppenaufgangs. Niemand antwortete, das leise Klappern ging jedoch ununterbrochen weiter. Doch Norrin glaubte, ein breites, blutrotes Grinsen auf sich ruhen zu spüren. Kleine, spitze Eckzähne blitzen daraus hervor. Auch er musste grinsen und steig sogleich die Stufend er Treppe empor. Klick, klick, klack, klick, klack, klick… Es schien ihn zu verhöhnen, ebenso wie das Grinsen und die Zähnchen. Hier oben war es noch Kälter als unten, die Anwesenheit von etwas war noch deutlicher zu spüren. Mit jedem Schritt schein es kälter zu werden, obwohl er sich immer weiter zum Wintergarten, der auf dem Dach thronte und in einen Balkon mündete, näherte. Die Tür am Ende des Treppenschachtes stand einen Spalt breit offen, vorsichtig stieß Norrin sie auf. Lautlos wie ein Windhauch glitt sie auf und gleißendes Licht brennte seine Augen fast zu Asche. Er blinzelte ein paar male, doch der Raum war leer. Die gläserne Spitze des Daches wirkte erinnerte ihn an eine der Pyramiden von Gizeh, und die stählernen Speichen wirkten wie das Skelett eines Monsters. Die Tür, die hinaus auf die kleine Balkonnische führte, stand jedoch offen. Verwundert durchquerte Norrin den Raum, er bemühte sich, keinen Laut von sich zu geben und schlich wie ein Spion über den abgewetzten Teppichboden. Das Klicken und Klacken wurde lauter, endlich durchschritt er die Tür und Himmel, dort war jemand! Er holte tief Luft, setzte zu einem Satz an, doch er wurde schon von einer Stimme empfangen, die so kalt war, wie die Gestalt, die diese Kälteausstrahlte. „Von wegen Paranoia…“ Das Klicken verstummte abrupt, die Gestalt drehte sich um und zwei eiskalte, saphirblaue Augen funkelten ihm entgegen. „Himmel Arsch und Zwirn, Josh!“. Freude und Erleichterung durchströmten den alten Norrin. Der Junge grinste ihn mit seinem blutroten Teufelsgrinsen an, seine Eckzähne schimmerten und er schien in der Sonne zu strahlen. Nun erblickte Norrin auch die Schreibmaschine auf seinem Schoß. Fragend blickte er ihn an, doch der Junge winkte ihn nur zu sich und lächelte wissend. Norrin hatte gehört, was geschehen war, ein kleiner Spaziergang durch die Stadt und er hatte alles erfahren. Man munkelte viel über seltsame Vorkommnisse und Skandale in der kleinen Ortschaft vor der Stadt. Er war auch an „Allisters Accessories“ vorbeigekommen, wo nun ein Schild in der Auslage hing, dessen Aufdruck in dicken Buchstaben „Out of Buissness“ in die Welt hinausrief. Was auch immer der Junge getan hatte, er hatte gute Arbeit geleistet. Doch, was hatte er nun vor? „Ich bringe es zu Ende“, sagte er kühl und fast beiläufig, ohne Norrin auch nur anzusehen. Fragend musterte der alte Norrin ihn, er schien…innerlich mehr geworden zu sein. Wie verrückt dies doch klang, doch es stimmte. Josh wirkte lebendiger denn je und das war es, was Norrin gleichermaßen ängstigte und faszinierte. „Ich brauche nur noch ein letztes Mal deine Hilfe bevor ich gehe.“ Er blickte Norrin herausfordernd an. „Selbstredend….wann?“ Norrin war überrumpelt, doch auch aufgeregt und neugierig. Josh holte tief Luft und schloss einen Moment die Augen. als er sie wieder öffnete, schienen sie zu leuchten und er stellte seine letzte Bitte an Norrin Davis: „Hol mir eine Säule, die mit der kleinen Pyramide an der Spitze und hilf mir, sie auf der Hauptstraße des Ortes zu platzieren, dort, wo sie jeder sehen kann.“ Mit diesen Worten erhob er sich und schritt voran in den Keller. „Wann wirst du sie brauchen?“, fragte Norrin. „Heute Nacht.“, erwiderte der Junge, diesmal konnte man sein Grinsen förmlich spüren und bei allen Göttern, an die Norrin nicht glaubte, noch nie hatte er sich so vor dem Jungen gefürchtet und noch nie hatte er ihn so sehr geliebt wie in diesem Moment.
Die Nacht war viel, viel kälter als der verstorbebe Tag, so heiß die Strahlen der Sonne auch gewesen waren, der Mond schien wie ein Spiegel aus Eis am Himmel zu hängen, und seine Kälte zu verströmen. Norrin wunderte sich, der Ort hatte sich in der Tat um hundertachzig Grad gedreht. Er war wie verwandelt. Sonst war er stets gepflegt gewesen, nun wucherte alles wild vor sich hin, die Häuser waren ungepflegt und die, sonst identischen, polierten Briefkästen waren zerbeult, durch andere in Fischform ersetzt, oder gar ganz zertrümmert auf den ausgebrannten Rasen geworfen worden. Überall beherrschten Schmierereien die ehemals sauberen Fassaden der Häuser, teils waren Löcher in den Putz geschlagen worden und ein paar Steine des gelben Pflasterwegs fehlten. Auch die Zäune waren entweder um lackiert, ausgerissen, um getreten oder dem Verfall überlassen worden. Kaum mehr als ein und ein halber Monat waren vergangen, doch alles sah…heruntergekommen aus. Man spürte förmlich die Abscheu, den Hass und das Misstrauen der Leute, selbst nun, als alles schlief ruhte eine schwere Last auf dem Ort. Norrins alter Lieferwagen war das einzige Vehikel, das auf der schnurgeraden Straße fuhr. Genau in der Mitte der Straße blieb er stehen und Josh erhob sich lächelnd von Beifahrersitz. Auch Norrin erhob sich, wenn gleich viel weniger anmutig und ganz und gar nicht so geschmeidig wie Josh. Die wenigen Häuser die links und rechts die Straße flankierten und nur von den senfgelben Pflasterwegen und dem Streifen Grün, auf dem die Allee ihren Platz gefunden hatten, getrennt wurde, schienen sie beobachten. Rollläden verdeckten ihre Fenster, zum Teil schimmerten dicke Schlösser von den Türchen der Vorgärten. Norrin fühlte sich mehr als nur unwohl, hier war es nahezu unheimlich still, wie auf einem Totenacker. Nur der Wind kam und leistete ihnen mit seinem leisen Säuseln Gesellschaft. Gemeinsam hievten er und der Junge die Säule von der Ladefläche seines kleinen Transporters, ein Wunder, dass dieser noch angesprungen war. Immerhin war er schon vor vierzig Jahren alt gewesen. Nach einigen Versuchen gelang es ihnen dann endlich, die Säule, ein Imitat einer alten, kunstvoll mit verschlungenen Ranken verzierten, Prunksäule, aufzustellen. Ächzend betrachtete Norrin den Jungen, der ein einziges Blatt aus seiner Tasche zog, um es an der Säule zu befestigen. Er legte ein zusammengefaltetes Tuch über den Nagel, bevor er mit dem Hammer darauf schlug. Nun waren nur leise, gedämpfte Töne zu vernehmen, kaum hörbar, aber dennoch da. Das musste Norrin dem Jungen lassen, er war verschlagen wie nur etwas. Er gluckste und musste mühsam sein Lachen unterdrücken. Freudig rieb er sich die Hände und trat hinter Josh, der gerade eine Schleife aus einem roten, samtenen Band an der Säule befestigte. Nun standen beide da und betrachteten ihr Werk. Der Mond warf sein silbernes Licht auf die Säule, knochenweiß schimmerte sie in der Dunkelheit. Der Wind zog an ihrer Kleidung und säuselte seine Flüche und Geschichten. Anerkennend klopfte er ihm auf die Schulter und flüsterte ihm seine Frage zu. „Wozu ist das denn nun gut?“ Josh lächelte verschmitzt. „Das wirst du morgen schon herausfinden. Die Säulen ihrer Welt werden schon bald dem Erdboden gleich sein, denn ihre Masken sind gefallen.“ Norrin lächelte, er verstand. Aus der Ferne drang der Gong der Uhr auf dem Kirchturm zu ihnen herüber. Mitternacht. Norrin verweilte noch eine Minute bei dem Jungen, eine Minuten nach zwölf. „Heute ist vorbei, nu n ist Morgen,“, wisperte Josh. In der Tat, es war morgen, doch das war nicht alles. Es war die erste Minute nach zwölf Uhr, es war neunundzwanzigste Juli.
Es war Zeit, sich zu verabschieden, das war dem alten Antiquar klar, auch wenn es schmerzte. „Auf bald Josh!“, flüsterte er ehe er ging. „Auf bald,“, erwiderte Harper und sie beide wussten, dass es nicht so sein würde.
Harper verweilte noch dort bis das Surren den Motors in der Ferne verklungen war und genoss den Klang der Stille, die nun wieder die Herrschaft über die Nacht errang. Einzig die Melodie in seinem Kopf spielte ihr immerwährendes Lied… Wie seltsam es doch war, so still, inmitten des Meeres aus Krawall, welches er geschaffen hatte. Sein Blick schweifte über die Häuser, einem nach dem anderen hatte er die Maske vom Gesicht gerissen, zum Teil hatten sie es auch unwissentlich selbst erledigt. Der Wind trug den schrei eines Raben an sein Ohr, Glühwürmchen flatterten um ihn herum wie kleine, lichterloh brennende Schmetterlinge. Seine Lippen verzogen sich zu einem zarten Lächeln, in wenigen Stunden war es dann endlich so weit, diese letzte Schrift würde sie alle auf einen Haufen locken, sie würde ihnen Gesprächsstoff geben welcher brennen würde wie Zunder. Versonnen schloss er die Augen, atmete den kühlen Hauch der Nacht ein und genoss das fahle Licht des Mondes, welches sein Gesicht strahlen lies wie einen blank polierten Totenschädel. Dann wandte er sich ab, um sich in seine Dachkammer zu begeben, es war an der Zeit, zu packen.
Er hatte sich nicht lange mit der Frage aufgehalten, was er mitnehmen würde, nein. Schon lange zuvor hatte er all seine Bücher zu Norrin gebracht, hinunter in die Tiefen des Kellerlabyrinths, wo sie gut erhalten bleiben würden. Dennoch überkam ihn ein seltsames Gefühl, als er sein Leeres Zimmer betrat, denn es war noch nicht so leer, wie es hätte sein sollen. Er zog eine schwarze, aus Leder gefertigte Tasche aus dem obersten Fach seines Schrankes und stopfte wahllos ein paar Kleidungsstücke hinein. Hosen, Hemden, Shirts, Unterwäsche et cetera, aber halt, etwas fehlte. Verwundert musste er feststellen, dass das einige Kleidungsstück, das er bevorzugt hatte, verschwunden war. Resigniert fand er sich damit ab, es war bedauerlich, jedoch nicht weiter der Rede wert. So packte er seine wenigen Sachen, die noch in der Dachkammer lagen ein. Kleidung, all seine Ersparnisse und die nötigsten Reinigungsuntensilien. Doch dann stutze er. Ganz oben auf dem Regal lag doch noch etwas. Ein Buch, oder besser gesagt, DAS Buch. Lächelnd nahm er das, in bedrucktes Leder gebundene Büchlein von Regal und strich beinahe liebevoll über den Einband. Staub rieselte in dicken Flocken zu Boden, tanzte in der Luft wie kleine Feen und ruhte schließlich zu Harpers Füßen. Er zog seinen Reisebeutel zu sich, in der Absicht, das Buch mitzunehmen, doch dann hallten in seinem Kopf Roberts Worte wieder. „Versprich mir, dass du es niemals fortnimmst, versprich es!“ Ein Schauer jagte über seinen Rücken, wie er dieses Individuum doch verabscheute! Was war er doch nur für eine Verschwendung an Haut und Fleisch, ja selbst das Kalzium in seinen Knochen war mehr wert als Robert Harper. Dennoch, er hatte sein Wort gegeben und er brach sein Wort niemals, selbst wenn er es einem Narren gegeben hatte, er würde es halten. Seufzend legte er das Buch beiseite und drehte sich im Raum um und begann zu zählen. Sieben Bodenbretter von jeder Seite nach innen, dann blieb nur noch eine Diele übrig. Genau diese siebte Diele, der Mittelpunkt des Raumes, war locker. Der Mond schien auf sie, als hätte das Schicksal seinen Scheinwerfer darauf gerichtet. Harper stemmte die Diele auf, über die Jahre hatte er Übung darin bekommen, unzählige Male hatte er die verschiedensten Dinge dort gelagert. Behutsam legte er das Buch in die kleine Nische im Boden, strich ein allerletztes Mal über den Einband, seine Finger fühlten die Kerben der Schrift. Er kannte jedes Wort, jedes einzelne Wort, zahllose Male hatte er es gelesen, ja, gefressen. Mit einem Hauch von Wehmut klappte er die Diele über die Nische und trat sie wieder fest. Nun war der Raum wirklich leer, frei von jedem Inhalt, jedem Gut und jedem Sinn. Einzig das Buch, als kostbare Erinnerung ruhte unter dem leeren Schein im Boden, zwischen den Dielen im Staub.
Es gab nun nichts mehr zu tun, ihm blieb nur noch die Warterei. So stellte er sich ans Fenster, legte die Hände auf das kühle Holzbrett und schaute auf den unsäglichen Ort hinab, der dank ihm, noch viel unsäglicher geworden war. Wieder stahl sich ein zartes Lächeln auf seine blutroten Lippen. So verweilte er, bis ihm bei Morgengrauen die ersten Sonnenstrahlen an der Nase kitzelten. Alsdann öffnete er das Fenster, steig hinaus auf den kleinen Vorsprung und schloss es hinter sich. Ein letztes Mal blickte er in sein leeres Zimmer. Dann kletterte er aufs Dach, in die Nische zwischen den Kaminen und machte es sich bequem. Der letzte Akt des Melodrams, das große Finale hatte begonnen.
Die Leute wunderten sich, als sie die Türen öffneten und hinaustraten, um die Zeitung zu holen. Die Angst vor einem neuen Brief wich großem Erstaunen, als man das wunderliche Objekt in der Mitte der Straße erblickte. War ein eine Art Obelisk? Unfug es war…ja was war es denn? Nun, dies fragten sich alle und so vergaß man für einen Augenblick alle Vorsicht, das Misstrauen rückte in den Hintergrund und machte Neugierde Platz. Die wenigen Bewohner des Ortes schlichen aus ihren Häusern, um das fragwürdige Artefakt im Zentrum ihrer zerrüttelten Reihen zu begutachten.
Doch auch dieses, höchst wunderliche Ding wurde zur Nebensache degradiert, als alle sich dort versammelt hatten und sich ihre verachtenden Blicke trafen. Rosie Gillespie musterte Susannah Polt und Nathalie Allister mit ihrem verächtlichsten Blick. Susie Polt starrte Nathalie Allister an wie eine giftige Bestie und diese wiederum musterte die anderen Beiden wie ein Verhungernder der herausfindet, dass seine Henkersmahlzeit vergiftet ist. Auch Pater George war mit seinem Weib im Schlepptau gekommen, der kleine Charlie hing seiner Mutter am Rockzipfel. Sie musterte die Lichter-Zwillinge, deren Eltern wiederum die Fishers angifteten und Henry Fisher blickte abwertend auf seine ehemaligen Freunde. Der Pater und seine Frau wurden beobachtet, alle suchten nach Harriett, die verschwunden war, seit der Brief sie bloßgestellt hatte. Ebenso wie Harriett George fehlte auch Max Hagott. Claire war alleine gekommen, man mochte sie kaum erkennen, ohne Make-up, nur der hasserfüllte Blick, den sie Babs Dale zuwarf, hob ihren wiedererkennungswert. Lennard Dale war zwar anwesend, würdigte seine Frau jedoch keines Blickes. Sie alle waren versammelt, Opfer ihrer selbst und Opfer ihrer Gegner.
Eine unglaubliche Spannung brachte Luft zum Knistern, sie war förmlich greifbar und wartete nur darauf, zu zerreißen. Alles wartete, lauerte. Noch herrschte Stille und niemand schien es zu wagen, sich zu rühren. Doch dann betrat jemand das Feld, von dem alle dachten, er wäre anwesend. Alfred Henning schlenderte nahezu emotionslos auf die kleine Menge zu und begutachtete ebenso ohne den kleinsten Hauch einer Gefühlsregung die Säule. Das brachte das Fass zum Überlaufen, nun hatten alle das, was sie wollten. Einen Sündenbock. Derjenige, der kein einziges Übel in diese Welt gesetzt hatte, der einzige, der an diesem Ort ohne Schuld war, wurde zum Sündenbock. Er wusste kaum wie ihm geschah, als sich die geballte Wut der Menge gegen ihn richtete. „Er war es! Er kam als letztes!“, tönte es von hier. „Es ist alles seine Schuld! Dieser alte Narr hat alles ruiniert!“, hallte es von dort. „Er hat meine Ehe zerstört!“, „Er hat die Zukunft meiner Kinder verbaut!“ „Er hat unser Zuhause vernichtet!“, Hasstiraden und wüste Beschimpfungen folgten den wildesten Anschuldigungen und es verstrich keine Minute, dann brach ein Tumult vom Zaum, der durch nichts und niemanden mehr zu halten war. Barbara Dale ergriff Claire Hagotts blondierte Mähne und zerrte so heftig daran, dass sie Büschel davon in ihren Händen hielt. Vor Schmerz jaulte Claire auf und begann, Babs Dales Bauch mit ihren Morgenstiefeletten zu malträtieren. Schmerzgebeutelt johlte sie Flüche und riss weiterhin an Claires Haaren, bis sie schließlich in einem Knäuel aus kratzenden und tretenden Frauen zu Boden fielen und sich prügelnd über den Asphalt kugelten. Rosie Gillespie lachte laut auf, doch ihr verging das Lachen alsbald, als ihr der brennende Schmerz durch das Steißbein fuhr. Tränen schossen ihr in die Augen, sie drehte sich um und erkannte die schemenhaften Umrisse von Susie Polt. Wutentbrannt stürzte sie sich auf ihre ehemals beste Freundin und begleitet Nathalie Allisters Lachen begannen auch sie, sich des Gegenübers anzunehmen. Als sie jedoch Nathalie hörten, gingen beide auf diese los, welche lauthals die Unterstützung ihrer Tochter verlangte, doch sie war bereits mit ihren beiden Freundinnen beschäftigt. Die Lichter-Zwillinge nahmen sich zeitweilen Charile George vor, Billy Fisher unterstütze seine Eltern, die sich mit dem Pater und seinem Weib im wahrsten Sinne des Wortes in den Haaren hatten. Bald schon wurden die losen Steine des gelben Weges erhoben, in Fenster und an Köpfe geworfen. Worte, deren selbst der schlimmste Prolet sich geschämt hätte, wurden, ebenso wie die Steine und Schuhe, an die Köpfe des jeweiligen Gegenübers geschmettert. Alles nur, weil jeder jeden für Schuldig hielt. Doch dann, inmitten des Krawalls erhob Alfred Henning seine Stimme. Er lenkte die Aufmerksamkeit der Leute auf das, was alle fürchteten. Dort an der Säule hing es, das altbekannte Übel. Klein, weiß, an die Säule genagelt mit einer samtigen, roten Schleife. Dieses kleine Ding verfügte jedoch über die Macht, den Krawall zu ersticken und jeder lauschte gebannt, als Alfred Henning das Wort erhob und vorlas, was dort stand:
a silent words riot
Erinnern Sie sich an mich? Natürlich tun Sie das, nicht wahr? Nun, ich bin ein letztes Mal gekommen, um Ihnen etwas Mitzuteilen. Heute habe ich die Ehre, Ihnen allen etwas mitzuteilen. Doch gewähren Sie mir kurz die Chance, mich vorzustellen. Ich bin der, der um all Eure Geheimnisse weiß, der der das Fundament eurer Lügen untergraben hat und Euch allen Eure Masken vom Gesicht gerissen hat und nun zusieht, wie Ihr einander in der Luft zerreißt. Doch um ehrlich zu sein, habe ich mir nichts anderes erwartet, als das, was Ihr getan habt. Wie ich es wollte, habt Ihr gegen Ende selbst die Initiative ergriffen und Gerüchte gesät, um Eure Maske zu wahren. Aus Wahrheiten wurden Lügen, aus Freunden wurden Feinde und gegen Ende habt Ihr es Euch selbst zuzuschreiben, dass Euer Heim zu Grunde gegangen ist. Denn Ihr wart es, die auf Wahrheiten mit Lügen antworteten, die Euresgleichen verstießen um Euch selbst zu schützen. Seht Euch an, wie Tiere reißt ihr euch an Haaren und Kleidern, ohne zu wissen, ob ihr es zu Recht tut. Wer sagt, dass es denn wahr war, was alles geschrieben stand? Ersteres war alles Wahr, doch dann… Ihr habt mit eigener Hand zur Waffe des Wortes gegriffen und damit Eure Masken zerschlagen. Warum? Nun, weil einer es tat und Ihr nicht selbst der Nächste sein wolltet? Dadurch seid Ihr jedoch erst recht der Nächste geworden und was habt ihr nun davon? Eure Gier nach Perfektion und das Verlangen, die des Nächsten zu zerstören hat Euch ebendiese gekostet. Nun seid ihr alle gleich. Ihr habt erneut etwas gemeinsam. Ihr seid alle Schuld, jawohl, es ist EURE Schuld. Was bleibt euch nun? Nun, da jeder Eure hässlichen, wahren Gesichter kennt, nun, da ihr alle alles vernichtet habt, was zu vernichten war, was bleibt? Ihr habt aus meiner Wahrheit eine Lüge gemacht. Doch gemach, ich vermag euch zu trösten. Aus Euren Lügen resultiert ebenso etwas: Wahrheiten haben Euch zum Lügen bewogen und diese Lügen haben Euch eure kostbaren Masken gekostet, nun seid ihr alle gleich. Verlogen, hässlich, zur Gänze imperfekt und vor allem eins: verloren. Ihr habt nichts, euer Heim ist eine Hölle, Ihr vermögt eure Gesichter nichtmehr zu erkennen, zu lieben, da ihr die Masken verloren habt, die es euch ermöglichten. Ihr seid alle samt leer und verloren. Was bleibt Euch, wo doch eure Welt in Trümmern liegt, eure Masken in Scherben und Ihr selbst Euch nicht mehr kennt?
Ihr gabt Euch einem Schein hin, denn Perfektion ist nichts als das, Schein. Der Schein trügt jedoch, wie ihr bitter erfahren musstet, nicht wahr? Nun, so kann ich Euch eins sagen und das ist das, was bleibt. Ihr habt nichts mehr, Euer Schein ist durch Eure Hand erloschen nun tappt ihr im Dunkeln. Eure Welt liegt in Scherben und ihr seid verkommen und leer. Die Wahrheit hat euch zum Lügen gebracht, die Lügen enthüllten letzten Endes jedoch die Wahrheit. Die Wahrheit ist niemals schön oder gar erfreulich, nein sie ist gar bitter und wirkt auch zeitweilen wie Gift. Ihr habt Euch selbst vergiftet, ihr habt nichts mehr. Ihr habt verloren. Euer Heim, Euren Schein, Eure Masken und Euch selbst. Jawohl, ihr habt alles verloren.
Das ist die Wahrheit.
Auf das ihr verkommen mögt, in Qual und Pein, schmort im Saft eurer Lügen und lasst den Schein, Schein sein.
Hochverachtungsvoll: Die Wahrheit.
29.07.
Aller Lärm erstarb ganz plötzlich, man konnte förmlich sehen, wie etwas in den Augen der Leute brach, die Erkenntnis schwappte über sie wie eine gigantische Welle und spülte sie hinfort, Zorn, Rachsucht und Dergleichen riss sie mit sich, was blieb war einzig und allein eine tiefe, gähnende Leere. Man traute sich kaum mehr, einander in die Augen zu sehen, wie Marionetten, denen man die Stricke zerschnitten hatte, weilten sie nun dort, rund um die Säule, die letzte, die noch aufrecht stand, zum Hohn gegenüber den eingestürzten Säulen ihrer kleinen Trümmerwelt. Wolken schoben sich vor die Sonne, fast so als wolle sie sich vor Scham hinter ihnen verbergen. Den Bewohnern des Ortes jedoch wurde langsam klar, dass sie schlicht und einfach Marionetten gewesen waren, keine richtigen Opfer, wie sie dachten, sondern Täter. Es stimmte, sie hatten alles aus einem Anstoß getan, er hatte der Wahrheit entsprochen, ihre Taten waren jedoch nur ein Geflecht aus Lügen gewesen. Sie allen trugen die Schuld an allem, hätten sie weiter gemacht, wie bisher, so wäre alles im Schein geblieben. Doch nun bleib ihnen nichts. Einigen war zum Heulen zu Mute, doch niemand brachte auch nur die geringste Regung hervor. Weder Weinen noch Schreien konnten sie, fas apathisch lehnten sie dort wie leere Hüllen. Langsam wurde ihnen klar, was sie getan hatten und diese Gewissheit war noch viel weniger tröstlich, als der Gedanke, dass es nun vorbei war. Denn das war es nun endgültig, vorbei. Nach und nach begannen sie die Bühne zu räumen, sie kehrten zurück, versteckten sich hinter der zerstörten Fassade ihres früheren seins und versanken in Selbstmitleid, Verbitterung und Gleichgültigkeit. Einige wenige bleiben, die anderen machten sich auf um fort zu gehen, denn es gab nichts mehr, was sie hier zu halten vermochte.
Robert war verzweifelt, er war nach draußen geeilt, kurz nachdem der Tumult ausgebrochen war. Diese Menschen stritten sich alle, warum wusste er nicht, doch er hatte kein gutes Gefühl dabei. In letzter Zeit hatte er seinen geliebten Josh viel seltener gesehen als sonst, oh welche Mühe er sich gegeben hatte, ihn zu Gesicht zu bekommen! Josh hatte ihm nur sehr wenige Augenblicke seiner kostbaren Zeit geschenkt, sein über alles geliebter Josh war viel zu beschäftigt gewesen. Nun irrte Robert durch die Menschenmasse, er hoffte Josh dort ausfindig machen zu können. Mühsam arbeitete er sich zwischen den vielen Leibern hindurch bis er schließlich an die Säule stieß. Dort hing ein Zettel, doch noch bevor er ihn lesen konnte, nahm ihn ein Mann fort und las ihn vor. Josh mochte diesen Mann nicht, das wusste Robert, sein Josh mochte keinen dieser Leute, also mochte er sie auch nicht. Er schenkte den Worten des Mannes kaum Beachtung, im Gegensatz zu allen anderen Leuten, sie lauschten gebannt und erstarrten zu Salzsäulen, als die Worte des Mannes verklangen. Robert kümmerte sich kaum darum, er hatte nicht zugehört, viel zu wichtig war seine Suche nach Josh. Hier fand er ihn nicht, seine Angst wuchs und die Stimme in seinem Kopf begann wieder, die wüstesten Äußerungen zu flüstern. „Er liebt dich nicht, er hat die Schnauze voll von dir, dummes, unnützes Gör. Pfui, pfui, pfui…“ Sie lachte, sie lachte ihn aus weil er Angst hatte, er musste Josh finden, er würde die Stimme abstellen können, jawohl. Josh konnte alles! Er kicherte und begann seine Melodie zu summen, das lenkte ihn von der Stimme ab. Eilig verließ er die Menge und trippelte zum Haus, er würde in Joshs Zimmer nachsehen. Seine Hände zitterten, er steckte sie in den Mund und begann wieder an seinen Fingern zu kauen. Seine Mutter stand in der Küche und kochte, wie immer. Sie stand immer in der Küche, sagte aber immer weniger und verließ sie immer seltener. „Mutter kocht, sie kocht den ganzen Tag, sagt kein Wort. Mutter ist komisch geworden, das weiß Robert… Robert kann Mutter nicht ausstehen, weil Josh Mutter nicht ausstehen kann. Aida, sie heißt Aida, Josh sagt immer Aida, niemals Mutter. Weil Josh weiß, dass sie Aida und nicht Mami ist. Wir mögen Aida nicht….“, brabbelte Robert vor sich hin während er durch den Flur stob und die Treppe zu Joshs Dachkammer hinaufeilte. Vor der Tür blieb er wie erstarrt stehen. „Betritt niemals diesen Raum, hörst du? Missachte niemals meine regeln Robert, niemals!“, Joshs Stimme klang in seinem Kopf, seine Finger begannen zu kribbeln. Josh würde ihn bestrafen, das wusste er nur zu gut. Josh war streng, aber Robert hatte es verdient bestraft zu werden, er war nicht gut genug für Josh. „Robert meint es nur g-gut, verzeih ihm Josh…“, murmelte er und stieß die Tür auf. Der Anblick dessen, was ihn erwartete, traf ihn wie ein Fausthieb ins Gesicht. Nichts, da war rein gar nichts. Völlig irritiert schlich er in das leere Zimmer, bei jedem Schritt schauderte er. Das Bett, es war leer, keine Decke, kein Kissen. Robert war perplex, sein Kopf drehte sich, zumindest kam es ihm so vor und die Stimmen zeterten wie noch nie zuvor. Er stürzte sich auf das leere Bett und riss die Matratze herunter, der blanke Lattenrost gähnte ihm entgegen wie ein hölzernes Skelett. Robert schleuderte die Matratze fort und riss die Türen des Kleiderschrankes auf. Auch er war leer. „Siehst du, was du angerichtet hast? Er kann dich nichtmehr ertragen…er ist fort, weh, was für ein leid, er ist fort!“, feixte die Stimme in ihren höchsten Tönen. Robert war fassungslos. Er zitterte am ganzen Leib, kalter Schweiß brach aus all seinen Poren. „Josh“, flüsterte er, „Mein lieber, lieber Josh, wo bist du?“. Er bekam jedoch keine Antwort. Als sein Blick auf das Bücherregal fiel, war es vollends um seine Fassung geschehen. Es war vollkommen leer. Nicht ein einziges Buch war mehr dort. Keines. Seine Augen weiteten sich vor Entsetzten, er rüttelte daran, doch kein Buch fiel herunter. Mit aller Kraft riss er daran und es stürzte ratternd zu Boden. Nichts. Es war fort. Sein Buch war fort! „Ei, ei, ei… Sie haben ihn geholt… und es ist allein deine Schuld!“, kicherte die Stimme und zahllose andere stimmten mit ein. Sie begannen sein Lied zu singen, ein Chor aus klingenden, spottenden Stimmen. „…es fließt, so rot. Es riecht nach Tod… Pfui, pfui, pfui!“ Tränen schossen in Roberts, vor Schreck und blankem Entsetzten geweitete Augen. Wieder steckte er seine Finger in den Mund und kaute darauf herum. Das Blut schmeckte süß, so süß, so rot… „NEIN!“, brüllte er und begann, sein Kichern zu kichern, es war alles nur ein Traum, jawohl, das war es! Er hielt es hier nicht mehr aus, sein Herz schlug so heftig, dass es seinen Brustkorb zu sprengen drohte, er schwitze, doch ihm war eiskalt. Er reif nach Josh, immer und immer wieder, dann machte er Kehrt und rannte zur Hintertür hinaus. Die Sonne brannte in sein Gesicht, blendete ihn und raubte ihm fast die Sicht. Die heiße, trockene Luft versengte fast seine Lungen, Staub und Insekten klebten in seinem geröteten Gesicht. Sie hatten ihn geholt. Wo, wo konnte er nur sein? Es war doch alles nur ein böser, böser Traum! Er musste doch irgendwo sein… Plötzlich leuchtete es Robert ein. Er träumte, darum musste Josh an seinem liebsten Ort sein! Genau, er würde dort sitzen, unter diesem Baum! Hoffnung keimte in ihm auf und gab ihm neue Kraft, die Stimmen hießen ihn, sich zu beeilen. Dies tat er auch. So schnell er konnte sprintete er über die Wege, entlang der Straße zum Park, wo er rücksichtslos über die Wiesen rannte, bis er den Pfad erreichte. Er konnte ihn kaum mehr erkennen, Gras, Unkraut und Sträucher wucherten wie ein kleiner Urwald über den kleinen Weg. Ein Durchkommen war fast unmöglich, doch Robert kämpfte sich tapfer durch das Dickicht. „Für Josh, alles nur für meinen geliebten Josh“, murmelte er. Äste schlugen ihm ins Gesicht, Dornen zerrten an seinen Kleidern und rissen tiefe Furchen in seine Haut, doch er rannte weiter, immer weiter. Dann, ganz plötzlich, als er sich gerade unter einem Ast hindurch duckte, riss ihn etwas am Hals nach hinten. Eine Klaue hatte ihn an der Gurgel gepackt und drückte mit aller Kraft zu. So sehr er auch zog zerrte, es gelang ihm nicht, sich frei zu kämpfen. Er wurde nach hinten gerissen wie eine Puppen und landete röcheln am Rücken. Seine blutigen Hände versuchten die Klauen zu lösen, er fummelte in schierer Verzweiflung daran herum. Seine Lungen brannten, er bekam kaum mehr Luft, schwarze Punkte begannen zum Takt des Hohns der Stimmen vor seinen Augen zu tanzen. Doch was war das? Dort stand eine Silhouette! Dünn, groß gewachsen und so vertraut. Saphirblaue Augen funkelten ihm entgegen und diese wunderschöne, kalte Stimme begann zu flüstern: „Komm doch Robert, komm… Komm auf den Hügel, zu meinem Haus. Warum kommst du nicht? Liebst du mich denn nicht mehr..?“ Die Silhouette wurde blasser, kehrte ihm den Rücken zu und verschwand. „Josh!, Nein, bitte! Robert liebt seinen Josh! Warte!, B-bitte, so warte doch!“, brüllte Robert. Tränen ließen seine Sicht verschwimmen und er sammelte seine letzten Kräfte und riss erneut an den Klauen. Ein seltsames Geräusch ertönte, wie das reißen von Fleisch und Sehnen. Robert rappelte sich auf und fuhr herum. Zu seinen Füßen lag das Ende eines Seils. Er war in eine Falle für Füchse oder andere Tiere geraten. Er hob es hoch, es wog scher in seiner Hand. Ein stabiles Hanfseil. Die Schlinge hing noch um seinen Hals wie eine Henkerskette. Der Knoten war so gebunden, dass sie sich verengte, wenn man daran zog. Robert holte tief Luft und rannte weiter, das Seil blieb um seinen Hals gehängt, es war ihm egal ob es nun dort war oder nicht. Das Ende hielt er in der Hand, er würde es Josh schenken, genau! Um Himmels Willen , Josh! Robert rannte nun schneller als zuvor, seine Glieder schmerzten, seine Augen brannten und er bekam kaum Luft. Doch all das kümmerte ihn nicht, er musste Josh, er musste wissen, ob er da war! Sie durften ihn nicht geholt haben, um nichts in der Welt! „Aber das Buch ist fort und er auch… Sie haben ihn, alles nur deinetwegen!“, zischten die Stimmen und Lachten. Auch Robert Lachte, er lachte sein Lachen, das man lachte, wenn man keinen Grund dazu hat und weinte gleichzeitig. Endlich gelangte er an die Steigung des Hügels und kletterte daran empor. An diesem Tag kam er ihm wie ein gigantischer Berg vor, obwohl er ihn viel flacher in Erinnerung hatte. Auch hier hatte die Natur ihr Reich wieder zurückerobert und bedeckte es mit einer dichten Decke aus Dornen, Sträuchern und Unkraut. Schmetterlinge flatterten um Robert herum, widerliche Kreaturen. Wütend erschlug er sie mit seinen blutigen Händen und kicherte, wie leicht sie doch zu zerquetschen waren…
Dann endlich erreichte er die Kuppe des Hügels. Vor ihm breitete sich das weite Areal des ehemaligen Anwesens aus, doch anstatt des Gartens und des Baumes blickte er nun in eine ausgebrannte Steppenlandschaft. An den wenigen Stellen, an denen noch Gras wuchs, war dieses gelblich und dürr, als würde Stroh aus dem Boden wachsen. Die Bäume waren pechschwarz und an kaum einem fand sich ein Blatt. Inmitten der wild blühenden Umgebung klaffte hier ein Loch der Verwüstung. Wie verkohlte Skelette reckten sich sie Reste der Bäume empor und warfen lange, spindeldürre, Gespensterschatten auf die krage Erde. Im Zentrum dieses jämmerlichen Fleckchens Erde erhoben sich die letzten Reste des Bennington Inn. Eine Treppe führte über ein Podest ins nichts und ein verfallener Turm ragte in den blauen Himmel empor wie ein Finger, der klagend, doch unerbittlich auf einen Schuldigen zeigt. Efeu wucherte über die restlichen verbleibenden Trümmer, als versuche er, sie zuzudecken und vor der grausamen Welt zu verbergen. Auf dem Podest thronte ein Pfeiler, eine Art Säule von der noch ein Querbalken ausging. Wie ein Winkelmesser ragte dort auf. Von aber war keine Spur zu sehen. Kein Laut drang an sein Ohr, keine Antwort, so laut Robert auch schrie. Oh, und wie er schrie. Er schrie sich die Seele aus dem Lieb. Doch er bekam keine Antwort. Sein geliebter Josh, er war…fort. „Sie haben ihn geholt, weil DU nicht aufgepasst hast. DU bist Schuld… Pfui, pfui, pfui.“, nun zischten und jaulten alle Stimmen in Chor, so laut, dass Roberts Kopf zu bersten schien. Er sah keinen Ausweg, keinen Sinn. Niemals würden sie verstummen, denn Josh war fort. Sein über alles geliebter Josh. Sein ein und alles! Verzweiflung, Trauer und Gram ergriffen Besitz von ihm. So stand er dort, wusste weder ein noch aus. Doch dann nach einer Ewigkeit setzte er sich in Bewegung. Er zitterte wie Espenlaub, kaute an seinen Fingern, spuckte sie Hautfetzen aus und kicherte. Summte sein Lied. Langsam schritt er auf das Podest zu, nun war er plötzlich ruhig, alle Hysterie fiel von ihm ab wie eine Hülle. Wenn er nicht für Josh leben konnte, wollte er es überhaupt nicht. Er würde ihm auf der anderen Seite ohnehin begegnen, dann war er wieder bei ihm! Dann würde er endlich wieder bei seinem geliebten Josh sein! Stufe für Stufe erklomm er das Podest, es war erstaunlich stabil, auch wenn es unter seinen Schritten ächzte wie ein Sterbender. Er hinterließ abdrücke auf dem verkohlten Untergrund, noch drei Schritte, dann war er am Ziel. Eins. Robert liebt seinen Josh über alles.Zwei. Robert tut alles für seinen Josh. Mit zitternden Händen kletterte er am Balken hoch wie an einem Kletterseil. Wie glitschig das doch war, das Blut an seinen Händen überzog das Holz mit einer rutschigen Schicht. Dicke Holzsplitter lösten sich und bohrten sich in sein Fleisch. Auf dem Querbalken angelangt schlang er das Seil mehrmals fest um den Holzbalken, dann band er zahlreiche Knoten hinein, bis nur noch ein ellenlanges Stück übrig war. Er musste gekrümmt gehen wie ein alter Mann, das Seil ließ kaum mehr Raum für ihn. So stand er am Ende des Balkens, nur ein letzter Schritt trennte ihn von seinem, über alles geliebten Josh. „Nur für dich Josh. Robert ist bald bei dir, Robert liebt dich, für immer.“, flüsterte er und der Wind trug seine Stimme fort. Ein letztes Kichern erklang, eine Träne quoll aus seinem Auge. Drei: Ohne seinen geliebten Josh kann Robert nicht leben. Seine Beine traten ins leere und Robert stürzte in die Tiefe. Sein Kichern verklang in einem Gurgeln als das Seil sich um seinen Hals schloss und ihm die Luft abdrückte. Sein Kopf wurde nach hinten gerissen, ein Knacken erklang als sein Genick brach. Obwohl sein Mund offen Stand, drang keine Luft mehr hinein. Ein letztes Zucken ging durchfuhr seinen Körper, ehe er ein für alle Mal erschlaffte. Das letzte, was seine Augen sahen war das tiefe Blau das durch das Wolkendach brach, bevor er im Himmel ertrank.
Wahrlich, eine gelungene Vorstellung, Chapeau! Höchst zufrieden grinste Harper vor sich hin, es war alles nach Plan verlaufen. Was für eine Schande, niemand war anwesend, der ihm Beifall zollen konnte. Nun, man konnte schließlich nicht alles haben oder? Versonnen betrachtete er sein Werk noch eine Weile, dann, als die Reihen sich lichteten glitt er geschmeidig vom Dach. Seine Tasche im Schlapptau machte er sich auf den Weg, einfach fort. Doch es zog ihn nicht auf irgendeinem Weg aus diesem Ort nein, er wollte ein allerletztes Mal einen Blick auf sein zu Hause werfen. So schlenderte er gemütlich über den gelben Weg, sorgsam darauf bedacht, nur die dunklen Steine zu betreten. Er lächelte, jeder hatte seine Macken, was kümmerte ihm das noch? Er war fertig alledem, das hier war nur noch ein Schatten, ein Fleck auf dem Band seines Lebens. Mit dem heutigem Tage rückte es in weite Ferne, mit jedem Schritt den er tat ein Stück weiter in die Vergangenheit. Bald schon hatte er den gelben Weg verlassen und betrat das saftige Grün der Parkfläche. Das Gras federte jeden seiner Schritte wie ein haariger Teppich, Schmetterlinge und diverse andere Tierchen, mit denen sie sich die Lüfte teilten, flatterten an ihm vorbei. Das Schwirren dieser abscheulichen Insekten und das Zwitschern der Vögel machten ihn ebenso kirre wie die sengende Hitze, selbst heute wurde er nicht müde, diese Kleinigkeiten zu zerpflücken. Sein Es schien ebenfalls nicht heiterer sein zu können, doch mit jedem Schritt den er auf dem verwachsenen Weg tat, wurde es auch anders. Es schien wehmütig zu sein, vielleicht spürte Es ebenso wie er, dass sie ihr gefallenes Heim ein letztes Mal sehen würden. Humbug, als ob dieser Ort auch nur eine einzige Träne wert gewesen wäre! Dennoch, etwas schien sein Es doch zu beunruhigen. Grübelnd schritt er stetig weiter, vorbei an Büschen, Bäumen und Unkraut, über Stock und Stein wanderte entlang des Pfades. Merkwürdig, jemand war erst kürzlich hier gewesen, viele Äste waren gebrochen und das Gebüsch sah an dieser Stelle aus, als hätte etwas darin gewütet. Etwas Großes. Nun wurde auch Harper etwas mulmig, er verstand, warum Es sich diesem Ort partout nicht nähern wollte. Vorsichtig arbeitete er sich den Hang hoch, auch hier hatte etwas gewütet, eine schmale, dünne Spur wie die einer Schlange zog sich hinter der des Wüstlings. Misstrauen gesellte sich zu Harpers ungutem Gefühl, dieses Gefühl hatte ihn noch nie getrogen. Eine merkwürdige Stille lag über diesem Ort, der ihn entfremdete. Harper war zum ersten Mal hier, seit dem das Feuer sein Refugium gefressen hatte. Plötzlich bekam er Gänsehaut, sein Es wurde immer unruhiger und wehrte sich mehr und mehr, dann endlich erreichte er die Hügelkuppe und richtete sich auf. Vor ihm erstreckte sich nichts als karges Land, schwarze Bäume standen auf verdorrtem Gras. Staub wirbelte in kleinen Wölkchen über den Boden. Nur hier und dort wuchs gesundes Gras aus der toten Erde, Efeu und Ranken schlangen sich um die Skelette der Bäume und die Trümmer des alten Hauses. Er hob den Blick und trat einen Schritt näher. Ein Rabenfedersturm erhob sich, zahllose schwarze krähen stoben, drohend kreischend in die Lüfte und gaben den Blick auf etwas Absonderliches preis. Verwundert blickte er den krähen nach, ihre Schreie hallten noch in seinen Ohren, dann erst begab er sich langsam und zögerlich zu dem Etwas, das dort hing. Dort oben, auf dem Balken des Podestes, der wie ein Arm über dieses hinausragte, hing eine Art, Puppe. Neugierig schritt er darauf zu, erst als er unmittelbar davor stand, erkannte er was dort an diesem Galgen hing. Wahrlich, dort hing eine Puppe, seine Puppe. Harper konnte es nicht fassen, welch Ironie! Ein Grinsen entblößte seine weißen Zähne. Dort oben hing Robert, sein schlaffer Körper baumelte hin und her, der Wind schubste ihn an wie einen Ball an einer Strippe. Die Krähen hatten noch keinen nennenswerten Schaden angerichtet, Robert war noch intakt. Bis auf sein linkes Auge, wo dieses einst gewesen war, blickte nun eine leere Höhle in den Himmel. „Im Himmel ertrunken…“, dachte Harper, „…wie jämmerlich.“ Er schüttelte dem Kopf, wenigstens musste er sich dieses Problems nun nicht mehr annehmen. In der Tat, eine höchst praktische Fügung. Er ging einmal langsam um seine gefallene Marionette herum und musterte ihn sorgfältig von den Schuhen bis hin zum Haarschopf. Wie elektrisiert zuckte er zusammen als er das Shirt erkannte, das Robert trug. Auf dessen Seite prangte ein großer Aufdruck eines silbernen Schlüssels. Ein Laut des Unglaubens und der Verwunderung entrang seiner Kehle. Unfassbar, Robert schaffte es sogar, seine Abscheu gegen ihn noch im Tod zu steigern! Grimmig stieß er seinen toten Diener an, er baumelte hin und her, wehte im Wind. „Wie eine Fahne…“, wisperte er. Harper lächelte grimmig, eine Weile stand er so da und musterte Robert voller Abscheu, sein grimmiges Lächel auf den Lippen und ein finsteren Kichern in der Kehle. Seine Saphiraugen funkelten, wahrlich er hing dort wie eine Fahne, ein Zeugnis dessen, was Harper anzustellen vermochte. Einen Moment lang spielte er mit dem Gedanken, ihn dort herunter zu schneiden, doch dann entschied er sich dagegen. Nein, er würde dort hängen bleiben, als Mahnmal. Er war seine Flagge, eine Erinnerung an ihn, dein einen und einzigen Josh Harper. Er ließ seinen kalten Blick über den Ort gleiten, ein letztes Mal. Dann drehte er sich wieder zu Robert um, hinter ihm ging die Sonne unter und warf lange Schatten vor seine Füße. Hinter Robert erstreckte sich das Areal in dem der Ort lag, nun erschien es in einem roten Licht, wie ein Hexenkessel, das Tor zur Hölle. Sein Grinsen wurde noch viel breiter und finsterer, er musterte Robert aus halb geschlossenen Augen, er war das beste Beispiel, ein Monument der Erinnerung. Nie würden sie den namenlosen Schrecken vergessen, der all das zu verantworten hatte. Niemand würde je wissen wer er war. Doch dies war ihm egal, Namen waren nur Schall und Rauch. „Fahrt zur Hölle“, flüsterte er und wandte sich ab. Doch dann blieb er stehen, ein letztes Mal. Ohne zurück zu blicken wisperte er: „Ich bin Josh Harper!“. Er lachte und seine Worte klangen im Wind wie ein stummer Fluch, während er von dannen schritt, weit fort. Für immer.
Die Wahrheit über Josh Harper
Nummer 4: Wandel
Der Gesichtersammler &
Eleonora
Die Wahrheit über Josh Harper
Nummer 4: Eleonora
Sie können sich unmöglich vorstellen mit welcher Wonne ich hier das „Ende“ unter all die vielen anderen Wörter setzten würde, wie gerne ich doch einen Strich unter alledem ziehen würde, nur um dem zu entfliehen, was nun kommt. Mein lieber Leser, dies ist wohl Ihre letzte Chance, diese Farce aus den Händen zu legen und zu versuchen, sie zu vergessen. Doch ich schwor, zum ersten Mal in meinem kümmerlichen Leben, nichts als die volle Wahrheit zu schreiben und ich halte meine Versprechen. Sie hingegen können dieses Buch beiseitelegen, es zuschlagen, gegen die Wand werfen oder gar verbrennen, ich jedoch bin an mein Wort gebunden und wie Sie sahen ist es äußerst unklug, ja nahezu närrisch, um nicht zu sagen es grenzt an geistige Umnachtung, die Macht eines Wortes außer Acht zu lassen. Was bisher geschrieben steht mag zwar Teils erschreckend sein, doch glauben Sie mir, es ist erst der Beginn, die Geburt des Josh Harper wie wir ihn nun kennenlernen werden. Es ist mir unverzeihlich, weder heiße ich diese Dinge gut noch schlecht, doch ich sehe mich dennoch gezwungen Sie im Anbetracht der Dinge vorzuwarnen. Robert Harper war nur der Anfang, nun kommt etwas völlig neues in das Leben des jungen Harper, etwas, ja etwas Derartiges hatte er bislang noch nicht erlebt. Wissen Sie, lieber Leser, die Liebe ist schon etwas Seltsames. Man sagt zwar, sie sei rein, klar und stärker als alles auf dieser Welt, man sagt sie sei die stärkste Macht dieser Erde. Soviel wage ich zu glauben, doch was passiert wohl, wenn einem diese Macht entgleitet? ...
Es war der neunundzwanzigste Juli, Norrin war noch immer erschöpft von seiner kleinen Nacht-und-Nebelaktion mit Josh. Was auch immer der Junge ausgefressen hatte, es an seinem Geburtstag zu Ende zu bringen hatte schon etwas für sich. Überdies war Norrin sich sehr wohl im Klaren über die Symbolik und das Ausmaß dieser. Der junge Josh wurde heute achtzehn Jahre, zwar hatte er nie von seinem Geburtstag gesprochen oder gar allzu viel von sich erzählt, doch Norrin hatte eine andere Quelle. Lächelnd quälte er sich die Stufen zu seinem Schlafgemach hinauf, er würde sich noch ein Weilchen hinlegen. Was war er nur alt geworden, immer wieder wunderte er sich aufs neue darüber, erst im Laufe der letzten Wochen, als er in seiner alten „Heimat“ gewesen war, kam er sich wirklich alt vor. Seine Hüfte schmerzte und sein Rückgrat fühlte sich an, als hätte man es ihm herausgerissen und zum Seilspringen zweckentfremdet, bevor man es ihm wieder einsetzte. Als Josh noch da gewesen war hatte er sich nie so gefühlt. Der Junge war schon was Besonderes gewesen, wie er gekommen war, aufgetaucht aus dem Nichts und die Schreibmaschine wollte. Die eine silberne, die aus England… Er mochte ihn, in der Tat, das tat er. Für gewöhnlich mochte er keine Jugendlichen, sie waren meist Wüstlinge, kleine, versoffene, ungebildete Wüstlinge, jawohl. Aber Joshua war anders, er hatte es gewusst, von dem Moment an als er das erste Mal von ihm hörte. Damals, als der Junge hier gewesen war, ebenfalls einer dieser abscheulichen Wüstlinge, war er so kurz davor, ihn hinauszuwerfen, doch dann hatte er Norrin nach diesem einen Buch gefragt. Es war höchst fragwürdig, dass ein Junge dieses Alters ein Buch wie dieses las. Dann aber begann der Junge zu erzählen, dass es nur ein Geschenk für seinen kleinen Bruder sei. Norrin war hellhörig geworden und hatte ihn ausgefragt. Der kleine hatte gesungen wie ein Kastrat im Chor. In höchsten Tönen hatte er von seinem kleinen, wunderbaren Bruder geschwärmt, von seinem geheimnisvollen, allwissenden Bruder, seinem über alles geliebten Josh. Robert Joshua Harper. Norrin musste schmunzeln, versonnen stopfte er Tabak in seine Abendpfeife, die er jeden Tag vor dem zu Bett gehen rauchte. Das Feuerzeug knackte, ein Flämmchen entfachte die trockene Füllung der kunstvoll verzierten Pfeife zu glimmender Glut. Wie die Augen einer Bestie glomm der Pfeifenkopf im schummrigen Dämmerlicht, Rauch zog seine sanften Fahnen um Norrins Haupt, wie den Dunst seiner Erinnerung. Oh was hatte Robert ihm nicht alles erzählt… Der kleine war damals schon vollkommen auf seinen Bruder fixiert gewesen, wie es heute sein mochte wollte er sich gar nicht vorstellen. Norrin war neugierig geworden, kein Kind konnte so… so… Ja, wie war Josh denn überhaupt? Er war anders, dies stand außer Frage, doch davon wollte Norrin sich selbst überzeugen. Er hatte ihn oft gesehen, wie er mit Robert herumspazierte, seine Augen stets sezierend an sein Gegenüber gehaftet, doch dann hatte er ihn aus den Augen verloren. Zum ersten Mal hatte er ihn richtig gesehen als er zu ihm in den Laden kam, er wusste auf Anhieb, wen er da vor sich hatte. Doch nun war er ein Anderer. Josh Harper. Er war ihm von Anbeginn ein Rätsel gewesen. Erst hatte er geglaubt, dass der Junge die Maske, die er trug, ihm gegenüber ablegen würde – oh, was war er nur für ein törichter Narr gewesen!-, dann aber war ihm klar geworden, dass der junge Josh viele Masken hatte und in der Lage war, sie zu wechseln. Er schien um diese Gabe zu wissen, denn er setzte sie gekonnt ein, ohne dass es jemals einem ungeübten Auge auffallen würde. Ja selbst er war nicht darauf gekommen, hätte er es ihm nicht förmlich unter seine alte, faltige Knollennase gehalten! Irgendwie war er schon eine Klasse für sich, er mochte ihn, wahrlich er mochte ihn sogar sehr. Er scheute sich nur davor ihm zu offenbaren, dass er Dinge von ihm wusste, die er von sich aus niemals preisgeben würde. So wusste Norrin um seinen Vornamen, obgleich der Junge ihn ausgesprochen hatte. Norrin wusste auch alles über Robert und Robert Senior. Er wusste ebenfalls, dass der kleine Harper den alten Robert S. auf dem Gewissen haben würde. Nun gut, er ahnte es. Mit einem tiefen Seufzen löschte er seine Pfeife und ging zu Bett, denn Morgen würde er ohnehin widerkommen. Insgeheim freute sich Norrin darauf, fast so sehr, dass es ihm im Herzen weh tat.
Rotes Licht erleuchtete das alte Zimmer, warme Sonnenstrahlen kitzelten Norrins Nase und die Hexe von nebenan rief erneut nach ihrem abscheulichen Hundevieh. Es war also schon spät, er hatte verschlafen. Wunderbar. Grummelig und etwas mühsam erhob sich Norrin mit knarrenden Knochen aus seinem Bett und rieb sich den Schlaf aus den Augen. Benommen schlüpfte er in seine Tweedjacke und schnallte sich die Hosenträger fest, bevor er sich hinunter ins Verkaufslokal bemühte. Bei jedem Schritt knarzte seine Wirbelsäule mit der uralten Treppe um die Wette, seine Hüfte schmerzte furchtbar und Mrs. Dampsons Rufe drohten, einen Anfall von Mordlust in ihm auszulösen. Er fühlte sich komisch, undefinierbar komisch… Himmel, ihm war auf einmal nach einem guten Whiskey! Von draußen her tönte es wieder und wieder: „Polly, komm und friss dein Leckerchen, Frauchen wird sich freuen!“ Das Haus knirschte und sein Rücken ächzte, seine Ohren schmerzten furchtbar fürchterlich. „Schnauze!“, murmelte er und setzte sich auf den Hocker hinter der Theke. Er warf einen Blick auf die Uhr, Grundgütiger, es war fast Elf! Wo bleib Josh? Seltsam… Nun, womöglich hatte er verschlafen, die letzte Nacht war turbulent gewesen, diese Säule zu schleppen war auch anstrengend gewesen! So wartete er, Josh würde bestimmt bald kommen. Gähnend rieb sich Norrin seine brennenden Augen, es war höchste Zeit für seine Morgenpfeife. Wenig später füllte bläulicher Dunst die Verkaufsstube, die seit Jahren niemand, außer dem Jungen und Norrin selbst, betreten hatte. Dies störte Norrin nicht weiter, damals, als er hier angekommen war und den Laden eröffnete, war ohnehin alles anders gewesen. Die Stadt war noch belebter und viel offener gewesen, auch die Leute waren anders gewesen. Doch über die Jahre waren sie alle mehr und mehr verkommen, jeder war sich selbst der Nächste und von dem Tage an, an dem man begonnen hatte das Ackerland, draußen vor den Toren in Quader zu Teilen und exakt gleichaussehende Häuser darauf zu errichten, war der Grundstein für den Untergang der Stadt, wie Norrin sie kannte, gelegt worden. Ob der Junge die Geschichte seines Heimatortes kannte? Norrin nahm den gewundenen Stiel der Pfeife aus dem Mund und blies den Rauch in kleinen Wölkchen zur vergilbten Decke. Die Uhr an der Wand tickte unaufhaltsam ihren Takt, die Zeit verstrich. Schwaches Sonnenlicht brach sich im Rauch und ließ ihn leuchten wie sterbende Seelen, die zum Horizont empor stiegen. Dicke Wolken raubten ihm den Blick zur Feuerkugel des Himmels, der Wind pfiff durch alle Lücken und Ritzen, flüsterte seine Geschichten und summte sein einsames Lied. Der Himmel war von einem verwaschenem grau, das strahlende Blau der letzten Tage war verblasst, hinfort gewaschen von den Fluten des lauen Regens. Mit jedem vollen Minutentakt, den die Uhr schlug, füllte sich die kleine Stube mit mehr Dunst, der sich an der Decke sammelte und dort hing, wie bläuliche, nach Tabak duftende Wolken. Unerbittlich schritt die Zeit voran, untermalt vom Ticken der großen Wanduhr wurden aus Sekunden Minuten und aus Minuten wuchsen Stunden. So schlug es Zwölf, später dann Eins und viel Später sogar sechs Uhr. Norrin hatte aufgehört zu zählen, wie oft er seine Pfeife nachfüllte, doch als die Tabakdose leer war, der Raum nur noch aus Nebel zu bestehen schien und er sich vor lauter blauem Dunst vorkam, wie im Schlund der Hölle oder Mary Dampsons Küche, was beides derselben, schrecklichen Bedeutung entsprach, in des Teufels Krallen geraten zu sein, verließ er die Stube und irrte Ziellos durch das alte, knarrende Haus. In den Fluren beherrschte eine dicke Decke aus Staub und Papier den alten Teppich. Bei jedem Schritt wirbelten kleine Wölkchen hoch, begleitet vom rascheln alter Bücher und Zeitungen aus lange verstrichenen Zeiten. Nach wenigen Schritten gähnte vor ihm das Loch hinter der offenen Tür zum Kellerlabyrinth. Etwas stimmte nicht, der Junge war noch nie zu Spät gekommen… Ein seltsames Gefühl breitete sich in Norrin aus, er fühlte sich irgendwie… leer und verlassen, um nicht zu sagen einsam. Himmel, war denn das zu fassen? Der Junge war einen Tag nicht hier und er vermisste ihn! Kopfschüttelnd und mit einem leisen Lächeln auf den alten, faltigen Lippen trottete er weiter, weg von dem gähnenden Loch, das zum Keller führte. Ein zahnloser Schlund, wie der einer alten Hexe. Scheinbar ziellos watschelte er, mit auf dem Rücken verschränkten Händen, durch die Gänge des alten Hauses, doch dann kam er an der Treppe vorbei, die zum Glasdach und dem Balkon führte. Erst ging er nur daran vorbei, doch etwas schien ihn zurück zu ziehen. Diesem undefinierbaren Drang folgend, erklomm er mit ächzenden Knochen und brennenden Lungen die Wendeltreppe. Er wurde zu alt für so etwas… Oder er rauchte zu viel an seiner Pfeife. Humbug, das Alter war schuld. Völlig außer Puste klammerte er sich oben am Ende des wackeligen Geländers fest und verschnaufte eine Weile. Der Raum lag leer und staubig vor ihm, nicht anders als er ihn in Erinnerung hatte. Dennoch… Heute wirkte er jedoch traurig, nur wenig Licht fiel durch die blinden Glasscheiben des Pyramidendaches und einige Schlieren zogen ihre Bahnen über die Glasfelder wie eingetrocknete Tränen. Ein Geisterhafter Schein ruhte auf alledem, das metallische Knarzen der Dachstreben, welche die Glaskuppel trugen klang wie das Seufzen eines sterbenden Ungeheuers und Norrin erkannte sein Spiegelbild in jedem der einzelnen Glasfelder. Der abgetretene Holzboden war übersät mit losen Blättern und Schreibzeug, das einerseits tröstlich, andererseits verloren wirkte. Langsam schlurfte er durch den Raum, ihn zog es zu der klappernden Türe, die zum kleinen Balkon führte. Seit Jahren war sie kaputt und ließ sich nicht mehr richtig schließen, doch nie hatte er sie repariert. Wozu auch? Zum Klappern der Tür gesellte sich ein anders Geräusch, eine Art Klicken… Unfug, seine Fantasie spielte ihm nur wieder Streiche, seine alten Ohren hörten ohnehin nur das, was sie hören wollten. Mit einem Ruck riss er die Türe auf, insgeheim erwartete er, dass der Junge dort saß und ihn mit diesem verschmitzten Grinsen angrinste, er konnte förmlich seine Kälte und das Funkeln seiner Saphiraugen spüren. „HA!“, höhnte er, doch als Norrin sich umblickte, lag dort nur der leere Balkon vor ihm. Sein Ausruf verklang und die Stille höhnte zurück. Das Einzige, was sich dort befand war eine silberne Schreibmaschine, sie stand exakt dort, wo Josh gestern noch gesessen hatte. Der Wind rüttelte und zerrte an dem Blatt Papier, das dort steckte. Wie schrecklich verloren sie doch wirkte. Neugierig zog Norrin das Blatt heraus, es war mit vielen, kleinen Buchstaben übersät. Es war an ihn gerichtet, es stammte von Josh… Seine müden Augen begannen zu lesen, was dort geschrieben stand:
Lieber Norrin,
Ich hasse Abschiede, das müsstest du wissen, doch es widerstrebt mir auch, dich ohne ein Wort zu verlassen, denn Worte waren es schließlich die uns verbanden, darum bedanke ich mich nun für alles und teile dir im selben Atemzug mit, dass dies die letzen Worte sind, die du von mir in diesen Gefilden lesen wirst, denn ich gehe fort, wohin weiß ich nicht, nichts desto trotz gibt es etwas, was ich dir zum Abschied sagen möchte: Danke.
-Josh Harper 29.07.
Norrin Stockte der Atem, fort? Er war fortgegangen, noch am selben Tag? Fassungslosigkeit machte sich in ihm breit, wie hypnotisiert starrte er auf das Blatt. Ein einziger Satz nur. Doch Norrin war nicht wirklich überrascht, dass der Junge gegangen war, es überraschte ihn, dass ihn diese Tatsache überraschte. Ein dicker Tropfen fiel auf das Blatt und hinterließ eine Wölbung und verlaufene Tinte. Weitere Tropfen folgten und endlich erhob sich Norrin, um ins Haus zu gehen. Ob es nun Tropfen seiner Tränen oder die des Regens waren, sei dahingestellt, doch an diesem Tag schien es, als würde selbst der Himmel um Josh Harper weinen.
Unendliche Weiten aus wogendem Gras wechselten sich mit kleinen Wäldchen, nur um gegen Ende wieder zu Weiten aus Gras zu werden, die sich bis hin zum roten Horizont erstreckten. Ohne Unterbrechung war er über die Felder gewandert ohne sich auch nur ein einziges Mal zur Kuppe des Hügels umzudrehen, die immer kleiner und kleiner wurde, ehe sie verschwand. Nach einem steilen Hang war das Land wieder flach geworden, der unsägliche Ort lag nun ferner denn je und vor ihm lag nichts als unbekanntes Land, durch das Josh Harper seit Tagen wanderte. Wohin er ging war ihm egal, er wollte nur fort, weg, dorthin wo der Wind ihn trug. Es war das Einzige, was stets an seiner Seite bleib, begleitete ihn auf Schritt und Tritt, flüsterte ihm Geschichten ins Ohr und leitete ihn, wenn die Nacht das Land in Dunkelheit tauchte. Sein Es haftete noch an ihm wie ein Schatten, keinen Millimeter wich es von ihm, auch wenn es noch so finster und unheimlich war. Harper liebte die Nächte, unter ihrer schwarzen Decke schien alles sein wahres Gesicht zu zeigen, der knochenweiße Mond prangte am Zenit und lauerte dort oben, sein wissender Blick ruhte auf der schlafenden Welt. Das Gras raschelte unter seinen Füßen, feuriger Schmerz flammte bei jedem Schritt durch seine von Blasen bedeckten Fersen. Er zog seine Schuhe aus und wanderte barfuß weiter. Im Morgengrauen spendete der glitzernde Tau wohltuende Kühlung, die Sonne brach zwischen den Wolken hervor und verdrängte das Dunkel der Nacht. Langsam verblasste der Mond im roten Schein der aufgehenden Sonne, eine Weile blieb er als weißer Schatten am rot-violetten Horizont. Doch dann war auch er verschwunden, der letzte Schatten der Nacht war gewichen, der helle Tag war angebrochen und die Sonne strahlte vom blassblauen Himmel. Ihre heißen Strahlen stachen auf die Welt ein, erhitzen den Boden und brachten den kühlen tau zum verdunsten. Mit jedem Schritt schien es heißer zu werden und der Beutel auf Harpers Rücken wurde scheinbar schwerer und schwerer. Auch der Wind war verebbt, nun blieben nur noch er und sein Es, die durch die menschenleere Gegend wanderten. Gegen Mittag irgendeines Tages, begannen sich kleine Wege, die mit der Zeit zu ausgetretenen Fahrrinnen wurden, durch die Wiesen zu schlängeln, Gräben tauchten zu seiner Linken auf und als die Sonne sich langsam anschickte, hinter der Horizontlinie zu verstecken, verschwand auch das Wäldchen nach und nach und gab den Blick auf eine seltsame Erhebung frei. Seiner Neugierde nicht mehr Herr wandte Harper sich nach links, um zu sehen, was wohl dort auf dieser Erhebung war, die sich noch zuvor im kleinen Wäldchen verborgen hatte. Sein Gefühl für Zeit und Raum schien er im Ort gelassen zu haben, seit unbewusst vielen Tagen wanderte er, Zeit und Raum hatte er vergessen, selbst das Sterben der Tage und der Fall der Nächte nahm er nur noch beiläufig wahr. Die Landschaft bannte ihn zu sehr, die Hitze war nur ein kleiner Wehrmutstropfen, so sehr er sie auch verabscheute, selbst sie geriet in Vergessenheit wenn er so vor sich hin wanderte, verfallen im Takt seiner Schritte, tief versunken im Meer seiner Gedanken. Mit der Zeit hatte er sich auch an das brennende Durstgefühlt, das wie ein Steppenfeuer in seiner Kehle wütete, den Hunger, der seinen Magen zu fressen schien und die Schmerzen in seinen Beinen gewöhnt. Das Wenige, was er an Proviant mit sich genommen hatte, war fast aufgebraucht, doch sein Verlangen nach Essen war ihm schon immer schlicht weg egal gewesen, so ignorierte er es auch dieses Mal. Plötzlich fiel das orange Licht der schwindenden Sonne auf die Erhebung und irgendetwas auf ihr, begann zu glänzen. Das Funkeln fing sich in seinen Augen als er stehen blieb und diese mit der Hand abschirmte, um besser sehen zu können. Skeptisch beäugte er die Erhebung, ohne jedoch ausmachen zu können, was sich dort oben befand. So beschloss er kurzerhand, nachzusehen. Wie eine Schlange das lag das dammartige Gebilde vor ihm und kroch bis zum Horizont. Das Klettern gestaltete sich als komplizierter als gedacht, denn der Hang des Gebildes war mit Steinchen bedeckt, die unter seinen wunden Sohlen davon rollten und ihn, in kleinen Lawinen zu Fall zu bringen drohten. Schließlich hatte er es doch geschafft, auf die Erhebung zu klettern, doch was er dort sah, war ihm gänzlich neu. Zwei parallel laufende Metallbalken zogen sich über horizontale Holzstreben, die zwischen den Balken verliefen. „Zur Hölle, was bist du nur für ein Naivling! Hach… Wir sind auf einen Bahndamm geraten, welch ein Spektakel!“, der Zynismus seines Überichs schnitt ihm noch tiefer ins Fleisch als dessen feixende Stimme, langsam aber sicher fraß es sich durch seinen, ohnehin schon schwindenden, Geduldsfaden. Dennoch, Harper war noch nie in seinem Leben auf etwas Derartiges gestoßen, nie hatte er den Ort verlassen, er war lediglich in das kleine Städtchen gegangen. Wobei Städtchen noch haushoch übertrieben war, Ansammlung von unnützen, kleinen, verkommenen Läden und Leuten traf es eher. Langsam beuge er sich zu den blanken Schimmerdingern hinab und strich mit den Fingern vorsichtig über das glatte Metall. Wie wunderlich, oben waren sie silbrig, weiter unten jedoch, dort wo sie an die Holzstämme grenzten, waren sie rostig rot und schienen uralt zu sein. Auch die Schrauben, eine einzige maß beinahe so viel wie sein Arm, waren rostig und scheinbar kurz vor dem Verfall. Welch absonderlicher Gegensatz, diese Präsenz von zwei solch differenten in sich vereinten Stadien ließ ihn schmunzeln. Harper beschloss den Schienen zu folgen. Schier endlos erstrecken sie sich bis hin zum roten Horizont, schimmerten und funkelten im rötlichen Licht der Sonne, die wie ein gold-gelber Feuerball am Zenit versank und einen rot, rosa und violetten Himmel zurückließ, auf dem schon die blass-weißen Schatten der ersten Sterne erschienen. Auf einer der Schienen balancierend wanderte er so weiter, selbst als die finstere Nacht ihr Tuch über das Land breitete und die Welt unter ihm schlummerte schritt er, im Licht des knochenweißen Mondes, weiter und summte. Dabei dachte er an so vieles, doch vor allem an Norrin und das, was er über den Mond gesagt hatte. Vielleicht würde er sogar noch erleben, wie sie ihren Spiegel vom Himmel reißt und ihn auf die Erde schmettert. Ach, wenn dies doch nur möglich wäre… „Ach wenn doch, ach wenn doch…“, säuselte sein Überich im Takt seiner Schritte und summte zur Melodie des kalten Nordwindes.
Je länger er ging, desto verschwommener wurden die Umrisse der beiden Silberschienen, der Mond verschwamm zu einem weißen Klecks und in seinem Sichtfeld tauchten kleine, schwarze Punkte auf, die nach und nach zu einer Höhle wurden. Jeder Schritt wurde zu einem Balanceakt, jeder Atemzug schien schwerer zu fallen als der zuvor und in seinem Kopf drehte sich alles wie in einem Karussell. Plötzlich wurden die Punkte größer, die Höhle schrumpfte zu einem, immer kleiner werdenden Pünktchen und seine Sinne versagten. Er rang nach Luft, doch letzen Endes merkte er kaum noch, wie seine Sinne schwanden. Taumelnd und zitternd schleppte er sich weiter, den Blick immer auf den Mond gerichtete, doch sodann verschwand auch dieser und die körperlose, undurchdringliche Schwärze brach über ihm zusammen wie eine brandende Welle und schwemmte ihn fort, hinab in ein finsteres Reich, fern ab von Träumen, Licht und jeglichem Bewusstsein.
Schwarz, alles war schwarz, weder Laut noch Licht drang an sein Ohr. Nur diese Finsternis, diese ewige, zähe Masse aus pechschwarzer Dunkelheit. Harper wusste nicht wo er sich befand, er erinnerte sich lediglich dran auf silbrigen Schienen ins Nichts gewandert zu sein, ist er auf eben diesen zusammengesackt, war wie eine Marionette, der man die Fäden kappt. Wo um alles in dieser verkommenen Welt war er gelandet? Hier fühlte er sich so… schwerelos, ohne jede Last und Qual. Er spürte weder die blutigen Blasen an seinen Füßen, noch das Gewicht seiner Stiefel, die er in seinem Reisebeutel mit sich schleppte, anstatt sie zu tragen. Überhaupt, hier schien es, als hätte nichts weder Belang noch Gewicht. Alles war fern und fort, er war allein, mutterseelen allein. Doch, diese Leere um ihn begann ihm zu gefallen. Sie schrie förmlich danach mit seinen Ideen, Gedanken und Visionen gefüllt zu werden. Wahrlich, hier war mehr als genug Raum für all seine Gedanken, die sonst seinen Kopf zu sprengen drohten. Doch halt, diese Stille erst! So voll und vollkommen undurchdringlich! So herrlich drückend und erstickend, nicht ein einziger Laut war zu hören, nicht sein Atem, nicht sein Herz und selbst das schmatzende Geräusch seiner blutigen Füße war verloschen. Hier war nichts und niemand, außer ihm und der Stille war alles leer. Er wanderte umher, schwebte wie auf Wolken über den unsichtbaren Boden, wirbelte im Tanze wie ein Kreisel, doch er stieß auf kein Ende. Keine Wand, kein Zaun! Gar nichts! Leere, nichts als Leere. Ein Grinsen, so breit wie keines bisher, spannte sich über sein aschfahles, dreckiges Gesicht und lies seine Zähne blitzen. Seine Augen funkelten selbst in diesem Nichts wie zwei Saphire und seine Silhouette glitt über den Scheinboden wie ein Schatten. Dies war seine Welt, er konnte sie nach seinen Maßen formen und wieder einreißen! Sein Lachen schallte durch die unendliche Leere, doch es verklang nicht. „Na, was sagst du jetzt?! Nun bist du still, herrisches, kleines Ding!“ Wieder lachte er, das neue Lachen mischte sich mit dem alten zu einem, nie verklingenden Kanon. „Hat es dir etwa die Sprache verschlagen? Zur Hölle, euch fehlen ja die Worte, mein vorlauter Freund!“, feixte er und auch dies schallte in Endlosschleife wieder. In der Tat, seinem Überich hatte es die Sprache verschlagen. Besser gesagt, es war verschwunden. Ebenso wie sein Es. Er war tatsächlich allein. Seine Freude versiegte augenblicklich und wandelte sich in Fassungslosigkeit. „Hallo?“, brüllte er in den Chor aus Phrasen, die niemals verklingen würden. „Hallo?! Hallo?! Hallooo…? ….hat es dir etwa die Sprache verschlagen? …Sprache verschlagen? Na, was sagst du jetzt…. Thahahaha“, auch sein Lachen klang noch immer in der Leere, ein schauerlicher Kanon aus Satzfetzen, Gelächter und Phrasen tönte im Nichts und prasselte auf ihn ein wie bleierner Regen. Nun war die Leere plötzlich unerträglich geworden, denn nun, da er sein Es nicht mehr fühlte, kam er sich vor wie eine Hülle seiner Selbst. Und erst diese Stimmen! Seine Stimmen. Wenn es doch seine waren, warum klagen sie dann wie Robert?! Er presste seine Hände gegen seine Ohren, wartete auf den brennenden Schmerz, doch dieser trat nicht ein. Er versuchte, fortzulaufen, doch kam nicht von der Stelle. Lautstark forderte er die Stimmen, aufzuhören, doch sie hallten immer weiter, gleichgültig, spöttisch und bitter monoton. Harper schloss die Augen, oder hatte er sie geöffnet? Er wusste es nicht, es machte keinen Unterschied. War er tot? Oder lebte er? Wenn dies die Hölle war, dann war dieser imaginäre Freund der Jesus-Fans reichlich einfallslos. Wo war das Feuer? Die Hitze und hey, wo waren der verdammte Teufel, Robert und seine Großmutter?! War denn das zu fassen? So ein Humbug! Teufel noch eins, wo war sein Es! Moment, konnte es sein, dass er noch lebte, ja, vielleicht schlief er nur oder, oder… Verdammt, er würde hier niemals wieder ausbrechen können! Doch plötzlich begann der unsichtbare Bode zu vibrieren und erzitterte unter seinen Füßen, als würde Thor mit seinem Hammer auf ihn ein schmettern. Ein Licht tauchte auf, es kam auf ihn zu, ein Grollen und Dröhnen erfüllte die Leere und die Stimmen verklangen. Die schwarzen Wände des Nichts brachen über ihm zusammen und das blaue Himmelsdach erstreckte sich über ihm. Er lachte und schnappte nach Luft. Endlich! Das Vibrieren war zu einem heftigen Beben geworden, Harper blickte nach unten, die Steinchen im zu seinen Füßen hüften… Langsam dämmerte ihm wo er sich befand. Die Silberschlangen, die Steine, der Himmel… Er war auf dem Bahndamm! Er hob den Blick, ihm stockte der Atem. Ein schwarzes Monster kam auf den Schienen auf ihn zugeprescht, es spuckte Qualm und stank fürchterlich nach Schwefel und Kohlen. Wie erstarrt stand er dort auf den Gleisen und betrachtete fasziniert das schwarze Ungetüm, der auf ihn zuraste. Es kam mit einem heidentempo näher, Harper trat einen Schritt zurück, doch seine Füße tappten ins Leere. Er verlor den Halt, sein Herz schien ihm bis auf den Grund seines Torsos zu rutschen –metaphorisch natürlich- und er stürzte taumelnd nach hinten, rollte den Abhang hinunter wie ein Schneeball und wurde dabei von zahlreichen, spitzen Steinen gespickt, ehe er unten aufschlug und mit dem Rücken im wogenden gras landete. Keuchend rappelte er sich auf und blickte auf die Waggons des Zuges, der an ihm vorbeiraste. Die Lok war schon verschwunden, nur der Qualm gab Aufschluss darüber, dass sie schon weit vorne war. Schier ewig zischten die Waggons an ihm vorüber, selbst hier unten spürte er Sog, das Rauschen und ohrenbetäubende Rattern schmerzte in seinen Ohren, doch dann stoppte es abrupt. Der Zug war fort. Harper blickte ihm nach, es war schon komisch mit anzusehen, wie etwas so gewaltiges immer kleiner und immer kleiner wurde, wenn es in die Ferne rückte. Als er nur noch den Qualm erkennen konnte, kletterte er wieder auf den Bahndamm und folgte den warmen Schienen. Er würde dem Zug bis in die nächste Stadt oder das nächste Dorf folgen. Von diesem Moment an wusste er eines: Er wollte mit dem Zug reisen. Irgendwann wollte er damit irgendwohin fahren. Egal wohin, egal wie weit. Grinsend marschierte er weiter und auch sein Überich meldete sich zurück: „Zur Hölle, deinetwegen wären wir beinahe von einem Zug überfahren worden! Von einem ZUG! Als hättest du nicht davon gelesen, wir wissen was ein Zug ist! Herrje, du ruinierst uns noch…“. Sein Grinsen wurde breiter. Wie schön es doch war, diese Stimme wieder zu hören, noch schöner war es allerdings sein Es wieder zu spüren. Wunderlich, man merkt erst wie sehr man etwas schätzt, wenn es fort ist.
Dampf stieg aus silbernen Töpfen, in denen allerlei Köstlichkeiten brodelten, das Zischen und Brutzeln des Fleisches mischte sich mit dem Pfeifen und dem Klirren der Mikrowelle zu einer kleinen Melodie, der Duft von Gewürzen und Kräutern nistete sich in ihrer Nase ein und durchflutete die gesamte Küche mit seinem herrlichen Aroma. Es mochte sich anhören wie etwas Besonderes, für Aida war es jedoch nur schnöder Alltag. Täglich stand sie von morgens bis abends hier in der kleinen Küche und kochte, etwas anderes konnte sie schließlich nicht mehr tun. Außer ihren Putzorgien war ihr nur das Kochen geblieben, denn irgendwann war nichts mehr zum säubern da gewesen. Seit ihr Mann sie verlassen hatte war sie leer. Oh wie oft hatte sie versucht, die Liebe, die sie noch zu geben hatte, in ihren geliebten Sohn zu investieren, doch seit sein Vater fort war, glich sich Robert immer mehr an seinen jüngeren Bruder an. Er war schon immer anders gewesen, darum hatte sie ihn auch verstoßen, doch Robert, er war immer ihr kleiner Liebling gewesen. Aber er war seltsam geworden, immer abartiger, immer mehr wie sein kleiner Bruder. Ihn sah Aida selten, was ihr nur recht war, doch Robert… Er war ihr entglitten, nur zum Essen bekam sie ihn noch zu Gesicht. Auch er brauchte sie nicht mehr, all ihre Liebe, die sie noch zu geben hatte verlosch zusehends mit jedem Tag, wie die Strahlen der untergehenden Sonne verlosch sie, jeden Tag ein bisschen mehr. Doch nun war es Mittag, Robert müsste langsam kommen, er kam immer zum Essen. Immer. Sie strich sich ihr, nicht mehr ganz so pechschwarzes, langes Haar aus der Stirn. Mittlerweile war es von silbergrauen Strähnen durchzogen und auch um einiges lichter geworden, auch ihr Gesicht war schlaff, fahl und faltiger als früher. Sie war nicht wirklich alt, sie sah nur so aus. Gram und Sorge hatten dem Prozess des Verfalls freie Bahn gemacht, Resignation hatte ihn genährt. Selbst ihre wasserblauen Augen hatten an Glanz verloren. Sie setzte sich an den, reichlich gedeckten Tisch und wartete. Wenn der Morgen anbrach, begann sie zu kochen, machte sich daran, Semmeln, Brot und Gebäck zu backen, briet Eier und Speck und deckte den Tisch. Dann bereitete sie das Mittagessen vor und schließlich das Abendessen für ihren geliebten, einzigen, kleinen Sohn. Herrje… Robert war schon lange nicht mehr klein, oh bei weitem nicht! Auch der andere war groß geworden. Aida sah ihn nur sehr selten, er verließ das Haus noch bevor der Morgen graute und kehrte erst zu später Stunde zurück. Das glaubte sie zumindest, sie wusste es nicht, denn er schlich umher wie ein Schatten, man nahm in kaum wahr. Tick, tack, tick, tack… Die Uhr über der Kellertüre schlug ihren Takt, Sekunde für Sekunde. Tick, tack… Immer wieder, immer gleich, seit Jahren schon. Wo blieb Robert? Sie hatte all seine Lieblingsspeisen gekocht. Suppe, Kuchen und Schnitzel mit Pommes. Es wurde ja alles kalt! Sie wartete und wartete, trommelte mit ihren Fingerkuppen auf den Tisch und wartete. Die Zeit verstrich und es wurde Abend, doch von Robert war nichts zu sehen. Hier war in letzter Zeit so einiges anders geworden, der Ort hatte sich verändert. Seit sie ihr armes Baby damals verstoßen hatten war nun vor Kurzem alles noch einmal auf den Kopf gestellt worden. Die Leute hatten begonnen, sich zu streiten und zu bekriegen, gestern hatte sogar eine Säule auf der Straße gestanden. Sie schüttelte den Kopf, es war in der Tat alles anders geworden. Nun ging es allen wie ihr, alle wurden sie von jedem verstoßen, sie verstießen sich gegenseitig und das nur wegen diesen seltsamen, kleinen Briefen. Aida stand auf und trottete zur Tür, sie würde nach oben gehen und nach Robert sehen, vielleicht ging es ihm nicht gut. Langsam schritt sie durch den Flur, vorbei an alle den Bildern, von denen Robert in jeder nur erdenklichen Altersstufe herab lächelte, sein Vater neben ihm, einen Fußball unter den Arm geklemmt. Nachdem ihr Mann sie verlassen hatte, hörte die Bilderflut auf. Sie hatte es aufgegeben, Robert abzulichten, er würde ohnehin immer bei ihr bleiben. Wie klein er damals doch gewesen war… Die Tür zu dem Raum, in dem sich all seine Pokale türmten unterbrach die Bilderstrecke. Wie lange hatte er nicht mehr gespielt? Sie wusste es nicht. Jede Stufe wurde ihr zur Qual, mühsam schleppte sie sich die Treppe zu Roberts Zimmer hoch. Ewig war sie nicht hier drinnen gewesen, sie hatte es seit Jahren nicht betreten, denn Robert wollte nicht mehr, dass sie es betrat. So hatte sie es all die Jahre unterlassen, doch nun musste sie hinein. Die Tür stand offen, was seltsam war, denn er schloss sie stets ab wenn er das Haus verließ. Neugierig tappte sie vorwärts und spähte vorsichtig durch den Spalt. Ihr blieb beinahe das Herz in der Brust stehen. Entsetzt schlug sie die Tür auf und trat ein. An den Wänden häuften sich verwackelte Bilder von einer großen, dürren Gestalt. Kalte, blaue Augen funkelten von einigen herab, blutrote Lippen grinsten ein fürchterliches Grinsen und Kerzen standen auf einer Kommode, auf welcher ein Büschel Haare und ein Foto eines jungen Mannes thronte. Es war derselbe Mann wie auf den Schnappschüssen an der Wand, nur war dieses Bild von besserer Qualität. Die anderen waren vermutlich heimlich geschossen worden. Sie seufzte erstickt. An der Wand über Roberts Bett stand, in seiner krakeligen Schrift etwas geschrieben, jedoch war es mit den Finger aufgetragen worden, welch seltsame Farbe, bräunlich rot, wie eingetrocknetes Blut. Tapper seiner Hände umrahmten den Text. Der Text bestand jedoch lediglich aus einem einzigen Wort, das hunderte Male über die Wand geschrieben worden war. Josh. Was um alles in der Welt… Josh? Diese Bilder… Langsam dämmerte ihr, um welchen jungen Mann es sich auf den Bilder handelte. Das pechschwarze Haar, die schlanke Gestalt, diese Augen! Und der Name erst. Josh. Robert Joshua Harper. Um Himmels Willen, dies hier war eine Art...Schrein für Roberts kleinen Bruder! Er war an allem schuld! Wegen ihm war Robert so komisch geworden. Er vergötterte diesen Josh. Entsetzen machte sich in ihr breit. Sie riss die Augen auf, rieb sie mit ihren Händen, doch das Bild hatte sich zu sehr in ihr Gedächtnis gebrannt, als das sie es hätte wegwischen können. Sie begann zu zittern, was für ein furchtbarer Raum! Doch wo war dieser Josh, ihr vergessener Sohn? „Er ist an allem schuld… Nein… Er ist nicht mein Sohn!“, flüsterte sie und stürmte aus dem Raum. Die Tür fiel hinter ihn mit einem Donnern ins Schloss, das die Wände des Hauses zum Beben brachte. Sie stürzte die Treppe hoch zur Dachkammer, dort hatten sie ihn doch einquartiert, dachte sie zumindest. Mit einem Ruck riss sie die Tür auf und brüllte seinen Namen. Doch ihr Schrei verhallte im Nichts. Der Raum war staubig und leer. Das Schlimmste jedoch war, dass sie nicht wusste, wie lange schon.
Vollkommen perplex und verwirrt stakste sie wieder in die Küche und wartete auf Robert, er würde bald kommen, da war sie sich ganz sicher. Doch Robert Harper würde niemals wieder kommen.
Fort, er war fort. Noch immer konnte er es nicht glauben, nein, er wollte es nicht glauben. Ein einziger Satz nur, mehr hatte er ihm nicht zu sagen! Die Worte verschwammen vor seinen tränenden Augen, schnell pflückte Norrin sich sein Monokel aus dem Gesicht und begann, mit seinem Taschentuch wild darauf herum zu rubbeln bis es quietschte wie seine arme Hüfte. „Still…“, grummelte er, „…so furchtbar leer und still.“ Kopfschüttelnd setzte er sein Augenglas wieder auf und blickte aus dem trüben Fenster. Sein Atem fing sich in kleinen Dunstwolken auf der blinden Scheibe, der Rauch seiner Pfeife ließ seine Lungen brennen wie die Lauffeuer im Herbst. Wie lange war er nun schon fort? Viele Tage schon… Ging es ihm gut? Humbug, natürlich ging es ihm gut, schließlich war es überall besser als hier. Die Frage war nur, WO war er nur hingegangen? Hätte er nur eine Adresse hinterlassen, dann hätte Norrin ihm doch geschrieben! Wehmütig beobachtete er die Wolken aus blauem Dunst die aus seiner Pfeife quollen, ihm die Sicht nahmen und seine Augen zum brennen brachten. Er seufzte erneut. Wie oft hatte er dies getan, viel zu monoton war sein Leben geworden, seitdem er fort war. Fort. Noch immer brach ihm der bloße Gedanke an dieses Wort das Herz. Seit Josh nicht mehr hier war um sich mit ihm bittere Wortgefechte und heiße Diskussionen über noch viel heiklere Themen zu liefern, ja, seitdem war sein Leben leer. Wahrlich, so leer wie sein Laden es schon seit Jahren war, bevor Robert gekommen war, um den Weg für Josh zu breiten. Nun fühlte er sich so schrecklich alt. Sein wohl markantestes Mal war verschwunden, sein spitzbübisches Grinsen, seine Schadenfreude, sein ganzer Elan und ja, selbst sein Sadismus war wie weggeblasen. Fort, als hätte der Junge sie gestohlen. Was war er doch für ein alter Narr! Ein grimmiges Lächeln stahl sich auf sein Gesicht, das nun noch mehr Falten und Furchen aufwies als jemals zuvor. Der Junge war fort, doch dafür war sie wieder da. Ja, SIE. Dieses kleine Miststück, der Junge hatte sie vertreiben, doch nun war sie wieder da, saß auf seinem Bett, saß auf der Theke, ja sogar in den Tiefen des Kellerlabyrinths saß sie und lachte. Es war nicht mehr das süße, bezaubernde Lachen von einst, nein. Nun war es ein grimmiges, zorniges Lachen, ein wissendes und vor allem, ein schadenfrohes, totes Lachen. Runa. So saß sie überall wo er war und starrte ihn mit ihrem Auge an. Der zärtliche Ausdruck darin war verschwunden, ebenso wie das schöne Braun. Die Maden und der Verfall hatten sein Werk verrichtet und ihr bildschönes Puppengesicht in eine Ruine aus fauligem Fleisch gemacht. Dort, wo ihr linkes Auge einst gewesen war, klaffte nun eine tiefe Höhle, schwarz wie die Untiefen der Nacht, unendlich wie das Nichts und finster wie der Schlund der Hölle selbst. Sein Lächeln wurde noch grimmiger und breiter. Langsam zog er das aus seiner Tasche, weshalb sie gekommen war. Seine Kette klirrte leise, wie ein Windspiel aus vergoldeten Knochen, das fahle Licht lies es gespenstisch schimmern. Wie Rauchquarz schimmerte das Braun im grellen Weiß des Augapfels. Es hatte noch immer diesen Ausdruck…. Unheilverkündend, fassungslos, fragend und vorwurfsvoll starrte es ihn an. Wie sie es damals getan hatte. Doch auch eine Briese Betrübtheit lag in diesem herrlichen Braun. „Warum?“ scheint es zu fragen. „Genau, warum?“, fragte sich auch Norrin. Herausfordernd schwenkte er das Auge vor sich hin und her wie ein Pendel. „Das ist es doch, was du willst! Komm und hole es dir doch! Das schöne, gute Auge… es ist noch genau so, wie an dem Tage an dem ich es von dir bekam!“ Der Rauch schien sich zu verdichten, wurde immer fester und schien an Gestalt zu gewinnen. Sie kam, sie stürmte auf ihn zu, schlang ihre Arme um ihn und drückte seine Kehle zu. Ihr Gesicht, oder vielmehr das, was davon übrig war, hing schlaff von ihrem Schädel, wie eine Maske, der Gestank ihres verwesenden Fleisches drang ihm in die Nase und raubte ihm den Atem. Das schmatzende Geräusch ihrer toten, kalten Finger, mit denen sie ihn zu ersticken versuchte, die Kälte ihres einst so schönen Körpers und ihr Lachen fraßen sich in seinen Verstand, wie die Maden sich durch ihren Körper fraßen. Aus dem Rauch wurde Nebel und aus dem Nebel wuchs eine kleine, klapprige Gestalt, die Norrin an der Schulter fasste und aus ihren Klauen riss. Sie kreischte, wollte ihre Beute. Ihr fauliger Atem stank süßlich wie der Tod. Ein süßlicher Duft…. Eine Art Déjà-vu-Gefühl überrollte ihn wie eine tosende Welle und begrub ihn unter ihren Fluten. Die Gestalt zerrte ihn fort, weg von all dem Nebel und vor allem, weg von ihr. Noch immer hallte ihr Kreischen in seinen Ohren, er spürte noch ihre Finger an seiner Kehle. Doch als die Gestalt ihn an den Schultern fasste und zu sich umdrehte, traf ihn dieser Anblick wie ein Fausthieb in die Magengrube. Norrin hielt ihn in den Armen, doch er war doch Norrin! Was für ein Humbug! Aber… alles fühlte sich so komisch an, so seltsam hoch und leicht. Seine Schritte waren federnd und seine Hüfte schmerzte nicht im Geringsten. Schweiß tropfte ihm von der Stirn, er wischte ihn weg und fuhr sich durch sein volles Haar. Was zum… Grundgütiger! Was ging hier vor? Sein Haar… voll und pechschwarz! Er schnappte nach Luft und stürzte zum Spiegel, hinter ihm mischte sich sein Lachen mit ihrem Kreischen. „Junge, was machst du denn für ein Gesicht?“, hörte er sich selbst mit seiner fröhlichsten Stimme feixen. Das war unmöglich er war doch…. Entsetzt blickte er in das blank polierte, silbrig glänzende Glas. Plötzlich starrte er sich selbst aus zwei tiefen, eiskalten Saphiraugen an. Josh! Seine Lippen formten diesen Namen, doch die blutroten Lippen des Jungen im Spiegel taten es ihm gleich. „Mein lieber Junge…“, feixte seine alte, originale Gestalt hinter ihm. Er oder besser gesagt, er im Körper des Jungen fuhr herum, gerade noch rechtzeitig um zu sehen wie Runa auf Norrin zustürmte und ihn verschlang. Schmatzend und kreischend wandte sie sich zu ihm, streckte lüstern ihre verwesenden Klauen nach ihm aus und kreischte seinen Namen, bevor sie sich auf ihn stürzte.
„JOSH! Nein!“, schweißgebadet fuhr Norrin aus dem Schlaf hoch. Sein Herz pochte wie wild, seine Kleider waren nass und er war erschöpfter als zuvor. Ein Alptraum, es war alles nur ein Traum… Keuchend setzte er sich auf, seine Hüfte meldete sich mit brennendem Schmerz zurück und sein Kreuz knarrte wie die Äste einer alten Eiche. Grundgütiger, es war nur ein Traum gewesen… Norrin starrte auf seine Hände, die nun so faltig wie eh und je waren, fuhr sich durchs Haar und stellte fest, dass es so leicht und grau war wie immer. Er seufzte. Herr im Himmel, dieses Weib… der Junge. Er musste ihm davon erzählen… „Josh, du glaubst nicht-.“, er stutzte und stellte fest, dass er sich in seinem Schlafzimmer befand. Langsam dämmerte ihm alles. Fort, Josh war fort. Resigniert und betrübter als jemals zuvor sank er zurück in die weichen Kissen seines Bettes. Doch er fand keinen Schlaf mehr. Sie war überall. Wenn er wachte, sah er sie, wie sie ihn auslachte, während er an den Jungen dachte. Wenn er schlief strafte sie ihn mit Alpträumen. Es war grausam, doch das Grausamste war, dass er fort war… fort.
Glänzend wie Spiegel erstreckten sich die beiden Metallschlangen über Stock und Stein, hinweg über die Felder, durch die Wiesen und Weiden, scheinbar unendlich lang, bis hin zum leeren Horizont, den nur die Sonne für sich einnahm. Schier ewig wanderte er noch so weiter, bis sich schließlich fern ab von den Schienen, die Spitze eines Turms wie ein Dolch in den morgendlichen Himmel bohrte. Fast hätte er die Sonne aufgespießt, doch diese zog unnahbar hoch in den zart-rosa Himmel des anbrechenden Tages. Kurzerhand entschied Harper sich von den Schienen zu entfernen, und zum Standort des Turmes zu marschieren. Schweren Herzens machte er sich also auf und tauschte die Schienen gegen einen kleinen Pfad, der sich durch die Weide schlängelte, doch bereits nach wenigen Metern versperrte ihm ein kleiner Zaun den Weg. Warum sollte man eine Wiese einzäunen? Kopfschüttelnd kletterte er über das wackelige Gestell aus Holz und Stacheldraht. Was war dies doch für ein komischer Zaun! Er kannte die, die aus Maschendraht bestanden, die schönen aus Stein und diese weißen Klischeezäune, wie sie in dem unsäglichen Ort standen, doch dieses Exemplar von einem Zaun war ihm zutiefst suspekt. Aus Holz, unlackiert, morsch und mit Stacheldraht statt Querbalken. Was für ein merkwürdiger Ort war dies hier, die Leute errichteten Zäune um Wiesen… Grübelnd wanderte er weiter, den Blick zum Himmel gerichtet, den Kopf im wahrsten Sinne des Wortes in den Wolken. Wie kleine Wattebäusche zogen diese über den Himmel, die Sonne malte goldene Schimmer an ihre Ränder und sponn ihnen glänzende Schatten. Die Luft wurde anders, ein ihm unbekannter Geruch füllte die Luft mit einem fragwürdigen Aroma. Seltsam… Plötzlich tauchte in seinem Augenwinkel ein Schatten auf, etwas Großes hatte sich an ihn herangepirscht. Das Gras raschelte, das dumpfe Geräusch von Schritten wurde immer lauter und ein schmatzender Laut drang an sein Ohr. Langsam drehte er sich in die Richtung aus der das Geräusch gekommen war. Was zur Hölle… Dort stand ein Wesen im zarten Grün und kaute auf einem Büschel Gras herum, wie ein Bauer auf einem Heuhalm. Braune Augen blickten ihn gelassen an, musterten ihn genauestens und wandten sich dann doch nur wieder dem Grün auf dem Boden zu. Fassungslos starrte Harper das Wesen an. „Herrje, ein Rindvieh! Wir sind auf einer Weide gelandet, mein Freund. Wie widerlich… daher kam dieser absonderliche Gestank… Großartig…“, die Stimme seines Überichs brach ein Loch in die Leere seines Kopfes und brachte seinen Verstand wieder auf Touren. Na herrlich, er war in eine Kuhweide geraten! Sozusagen stand er mitten in der Scheiße. Er seufzte. Solange nicht mehr von diesen Viechern zu sehen waren… Man mochte zwar sagen, diese Kühe seien freundliche Individuen, doch Harper traute ihnen nicht über den Weg. Es war das erste Mal, dass er ein Rind außerhalb seines Tellers erblickte und er war keineswegs begeistert. Schnell trat er den Rückzug an, er wollte augenblicklich fort von hier. Doch je weiter er ging, desto mehr gleichgültig dreinblickende, graskauende Kühe, kreuzten seinen Weg. Sie schienen tatsächlich friedlich zu sein, denn sie musterten ihn nur mit ihren glasigen Blicken und kauten auf etwas herum. Die Hitze des Morgens wich bereits nun, am Vormittag, einer nass-kalten Atmosphäre, die weißen Wolken färbten sich allmählich grau und vereinzelt fielen kleine Tröpfchen auf das noch taunasse Gras. Mittlerweile zeichnete sich der Turm nun deutlicher vom Himmel ab, ein kleines Kreuz war an der Spitze zu erkennen, offenbar war es der Turm einer Kirche. Langsam aber sicher wuchs der Turm immer höher vor ihm in den immer dunkler werdenden Himmel. Er zog seinen Reisemantel an und stülpte sich die Kapuze über und schritt weiter. Aus den kleinen Tröpfchen waren große Tropfen geworden, die grauen Wolken waren nun pechschwarz und die Sonne glomm nur noch verschwommen hinter ihnen hervor. Harper war bereits nass bis auf die weiße Haut, doch endlich tauchte vor ihm ein weiterer Zaum auf. Fluchs hechtete er darüber und folgte dem schmalen Weg, bis sich vor ihm ein kleines Dorf aus dem dunklen Riss des Regenschleiers schnitt. Nun regnete es in Strömen, der kühle Regen bildete einen dicken Vorhang und versperrte ihm fast die Sicht, doch dieser Anblick war überraschend tröstend und er verhieß vor allem eins: Essen und einen trockenen Platz um Kraft zu schöpfen. Genau dass, was er brauchte. Er hielt einen Augenblick lang inne, um sich die Stiefel anzuziehen, was im Anbetracht der Tatsache, dass seine Füße ohnehin nass waren, unsinnig war, doch irgendwie war ihm danach und er fand, dass es sich nicht schicken würde barfuß in einen neuen Ort zu schreiten. Ein letztes Mal zog er seine Kapuze tief in die Stirn. Wer weiß, was ihn hier erwarten würde? Ein leises Lächeln blitze unter der dunklen Kapuze hervor, der Regen zollte ihm einen wilden Trommelwirbel mit jedem Tropfen der zu Boden fiel, der Donner grollte und ein Blitz zuckte über den grau-schwarzen Himmel als Josh Harper die letzten Meter zu dem kleinen Dorf zurücklegte.
Die zierlichen Häuschen warfen lange, finstere Schatten auf das Kopfsteinpflaster, mit dem das kreisrunde Areal des Hauptplatzes, sowie jede einzelne der kleinen, verwinkelten Gassen, ausgekleidet waren. Viel gab es hier nicht zu sehen, nein, bei Weitem nicht. Seine Schritte hallten über den Platz, die Absätze seiner ramponierten Stiefel klapperten und klackten bei jeder federnden Bewegung die seine schmerzenden Beine taten. Der Regen hing wie ein nahezu undurchsichtiger Vorhang über allem, die Häuser versteckten sich hinter ihm, sowie die beiden kleinen Krämerläden zu Harpers Rechten. Was für ein absonderliches, kleines Dörfchen. Es schien fast so, als wäre hier die Zeit stehen geblieben. Das Ortsbild wurde von alten Holzbauten mit klapprigen Dächern dominiert, es mutete beinahe so an als würde dieses Dörfchen von Bauern bewohnt werden. Der Schein trog ihn nicht, die Felder ringsum waren, sowohl wie die zahllosen Kühe, als auch die alten Werkzeuge, die die Fassaden zierten, ein Zeichen für ein kleines Bauerndörfchen. Zu seiner Linken ragte ein Haus auf, das größer war als alle anderen, die sich wie an einer Kette aufgereiht um den Platz zogen. Es war auch um einiges höher und zudem viel breiter, sein Dach hing so weit vorne über, dass Harper befürchtete, es würde herab rutschen und ihn erschlagen, wenn er auch nur einen Schritt näher käme und über dem Eingangstor prangte ein Schild mit der Aufschrift „Gleam’s Home“ Nicht übel, ein Gasthaus, das zweite Schild verkündete die Botschaft, die Harper noch viel gelegener kam. „Rooms & Rest“. „ Nein, wie furchtbar schrecklich kitschig und klischeegemartert dieses Gebäude doch ist.“, dachte sich Harper während er den Rundbogen der hölzernen Pforte durchschritt und das Gasthaus betrat. Dieses war ebenso rustikal eingerichtet, wie er es vermutet hatte. Der Tresen war aus dunklem Holz, ebenso wie die Sitzgarnituren, die Tische und auch der Fußboden war aus diesem Material. Er ließ den Blick durch die Gaststube schweifen, nur wenige Leute saßen in Arbeitskluft an den Tischen und kübelten sich Bier in die Kehle. Rauch zog in dicken Schwaden zur Decke hoch, sofern man das Gerüst aus Balken so nennen möchte. Selbst dort oben hingen fast schon antike Werkzeuge wie Sensen, Pflüge und andere Dinge, die man aller Wahrscheinlichkeit irgendwie zum Arbeiten brauchte. Die Leute musterten ihn aus den Augenwinkel, er konnte ihre Blicke auf sich lasten spüren, als wären sie aus Blei. Betont langsam durchmaß er die Gaststube mit seinen langen, grazilen Schritten und begab sich zum Tresen, hinter dem eine dickliche, älter Frau hin und er wuselte und Bier über die Holztheke reichte. Als sie Harper erblickte, hielt sie abrupt inne und musterte ihn genauestens aus ihren kleinen, von Fältchen umrahmten Augen. Sie blitzten aufgeweckt aus ihrem braun gebrannten Gesicht, welches ebenso von zahlreichen Falten durchzogen war. Jene Falten waren jedoch keine von der Sorte die man nur durch das Alter bekam, nein, es war die Sorte von Falten die sich um die Augen und die Mundwinkel ansiedeln wenn man jahrelang vor Freude strahlt. Auch nun lächelte die Dame, wischte sich die kleinen Wurstfinger an ihrer Schürze ab, die sie über ihrem Blumenmusterkleid trug. „Sieh‘ an, wir haben ein neues, junges Gesicht! Was kann ich denn für den jungen Mann tun?“ Ihre Stimme klang hell und klar, jedoch tönte aus ihr auch der derbe Ton, den man braucht, wenn man sein Leben unter Männern verbringt. Sie blickte ihn lächelnd, jedoch auch fragend an. Auch Harper lächelte sein verschmitztes Lausbubenlächeln. „Ich bräuchte ein Zimmer, falls dies möglich wäre?“ „Sicherlich!“, sie lächelte noch breiter und entblößte dabei ihre, mehr oder weniger vorhandenen Zähne. „Wie lange würden Sie’s denn brauchen?“ „Nicht lange, nur Zeit meines Aufenthalts hier.“ „Soso, ein junger Reisender also! Wie lange würde denn der Aufenthalt dauern?“ „Nun, selbstredend nur so lange, bis ich diesen Ort wieder verlasse.“ Harper blickte sie mit seinem undurchsichtigen Blick an, sein Gesicht war nun ausdruckslos geworden. Die Dame musterte ihn verunsichert. „Ah… Wenn das so ist… Das Zimmer im ersten Stock wäre frei, es ist klein aber gemütlich, mit Blick auf den Platz, wenn’s dem Burschen recht ist?“ Lächelnd blickte sie ihn an. Sein linker Mundwinkel hob sich, seine Lippen verzogen sich zu etwas das einem Lächeln glich. „Überaus freundlich von Ihnen, meinen besten Dank Ma’am.“ Die Leute in der Stube musterten ihn nun mit unverhohlener Neugierde, ihre Blicke bohrten sich in seinen Rücken, als er der alten Dame die Treppe hinauf zu seinem Gemach folgte. Die Stufen knarzten unter ihren Füßen und auch der abgewetzte Boden im Flur war nicht viel leiser. Ein alter Läufer sollte wohl die Schritte der Gäste dämmen, doch er bestand aus mehr Flicken und Löchern als aus Stoff. „Ich weiß, es ist kein First-class-Hotel, sondern nur eine einfache Gastherberge.“Die Dame hatte seinen Blick wohl bemerkt. Sie blieb stehen und schloss eine kleine Tür, die letzte in diesem Gang, auf. „Da wären wir! Ich hoffe `s ist dem Burschen genehm. Obwohl’s keinen Topf gewinnen würde.“, trällerte die Dame. Harper trat ein und blickte sich um. Es war in der Tat kein „Hotel“ von first-class, ganz zu schweigen, doch dennoch… es hatte einen gewissen Charme. Sein Zimmer bestand im Wesentlichen aus einem simplen Holzbett, einem Nachtschränkchen, einer Kommode und einem Fenster. Den Boden zierte ein ebenso ramponierter Teppich, wie auch der im Flur. Von der Decke baumelte eine kleine Lampe, die den Raum in spärliches Licht hüllte. Die Frau stand noch immer lächelnd in der Tür und musterte Harper. „Sie sind wohl von weit her gekommen, oder?“ „Hm? Ah, natürlich, kann sein.“ „Von woher denn genau?“ Die Neugierde klang nun ganz deutlich aus ihrer Stimme. „Ich komme von dort, wo nicht hier ist.“ Er lächelte und funkelte sie mit seinen Saphiraugen an. Im Licht der Lampe konnte man nun die dunklen Schatten erkennen, die unter ihnen lagen. „Du meine Güte! Sie sehen ja aus als wären Sie von einer Herde Kühe überrannt worden!“ Die Dame schlug die Hände über dem Kopf zusammen und starrte ihn entsetzt an. „Dort ist das Badezimmer, sehen Sie zu, dass Sie in die Wanne kommen! Ich hole Ihnen etwas zu essen… Herr…“ Sie deutete auf eine Tür neben der Kommode. „Herr?“ „Harper, Josh Harper.“ „Gut, ich bin sofort wieder da Mr. Harper.“, trällerte sie und trippelte sogleich von dannen. Was für eine seltsame Frau. Sie war anscheinend ehrlich besorgt um ihn. Diese Gastfreundschaft war alles andere als etwas was er gewohnt war. Egal. Nun überkam ihn doch tatsächlich die Müdigkeit. Mühevoll schleppte er sich ins Badezimmer und begab sich zum Waschbecken. Er erstarrte als sein Blick in den kleinen Spiegel darüber fiel. Himmel, er sah wirklich… absonderlich aus. „Höchst absonderlich, um nicht zu sagen, so gut wie tot. Wir sehen wahrlich abartig aus, mein Freund!“. Er ignorierte die bissigen Kommentare seines Überichs und strich sich vorsichtig übers Gesicht. Es war bräunlich vor Dreck, seine langen Finger hinterließen Schlieren, seine Augen waren eingefallen, sein Haar war zerzaust und verfilzt und seine Wangen waren eingefallen. Seine Kleidung sah auch nicht viel besser aus. Man hätte ihn gut und gerne für einen Landstreicher halten können. Erst jetzt fiel ihm auch der strenge Geruch auf, den er verströmte. Herrje, es war wirklich allerhöchste Zeit für ein Bad. Schnell entledigte er sich seiner Kleidung und drehte den Hahn der Wanne bis zum Anschlag auf. Noch ehe sie vollends gefüllt war glitt er in das heiße Wasser, den Hahn drehte er jedoch nicht ab. Er griff nach dem Stück Seife, das auf dem Wannenrand lag und begann sich endlich zu säubern. Unglaublich, wie gut das tat. Bald schon hatte sich das Wasser zu einem trüben Sud verfärbt, Zeit sich wieder anzukleiden. Harper stieg aus der Wanne und trocknete sich ab, wobei ihm auffiel, dass ein Föhn vorhanden war. Egal, seine Haare würden ach so trocknen. Schulterzuckend begab er sich in das kleine Zimmer, um sich anzukleiden. Er klaubte eine schwarze Hose, ein schwarzes Hemd und eine ebenso schwarze Jacke aus seinem Reisebeutel. Der Schlüssel klebte noch an seiner Brust, er hatte ihn selbst beim Baden nicht abgenommen. Plötzlich klopfte es an der Tür, eine bekannte Stimme tönte „Abendessen!“. Was zum… Ehe er sich versah trippelte die Dame von vorhin zu ihm herein und belud das kleine Tischchen unterm Fenster mit Tellern und einem Krug mit einer roten Flüssigkeit. „Himmel, Sie sehen ja gleich besser aus Josh! Wie blass sie sind“ Ja, fast schon weiß! Die bräune stand Ihnen auch ganz gut.“ Sie kicherte. „Doch, was plappere ich, greifen Sie zu! Sie sehen aus als hätten Sie ewig nichts gegessen!“ Ein köstlicher Duft stieg in seine Nase, das Wasser lief ihm nur so im Mund zusammen. Sein Magen meldete sich plötzlich mit voller Wucht wieder zum Dienste, er knurrte wie eine Horde wilder Tiere. „Danke Ma’am…“ Mehr brachte er nicht hervor, eilend steckte er sich ein Stück Brot in den Mund. „Herrjemine! Ich vergaß ja ganz, mich vorzustellen! Magret Dorsey. Nennen Sie mich Maggy!“ Sie streckte ihm die Hand hin. Harper musterte sie unverwandt. „Was soll ich damit?“ „Bitte?“, sie starrte ihn fassungslos an. „Ähm…schütteln, was sonst?“ Erwiderte sie leicht perplex. Er blickte sie abschätzend an. „Warum um alles in der Welt, sollte ich sie schütteln? Ich schüttle keine Hände.“ „Äh, nun… Das… Zum Gruß?“ „Ich habe Sie doch schon in der Gaststube begrüßt, verbal, Sie erinnern sich?“ Maggy beließ es dabei, sie begnügte sich damit, ihn anzustarren. „Vielen Dank für ihre Gastfreundschaft, das Mahl und die Unterkunft.“ Nun lächelte er sie an. „Ich bezahle Sie bei meiner Abreise.“. „Gut… dann lasse ich Sie in Ruhe essen, ruhen Sie sich aus! Frühstück kommt aufs Zimmer!“, stotterte sie, immer noch leicht verwirrt und zog von dannen. „Eine geruhsame Nacht, Ma’am… Mrs. Maggy.“ Mit diesen Worten widmete er sich dem Essen, welches er restlos vom Antlitz der Welt putzte ehe er sich wieder entkleidete und die bleierne Müdigkeit ihn ins Land der Träume riss.
Die Nacht breitete ihre samtschwarze Decke über den Raum, der silberne Mond tauchte ihn in einen zarten Schimmer, Schatten krochen aus ihren Verstecken in den Ecken und Winkeln hervor und legten sich auf den abgewetzten Dielen zur Ruhe. Der Wind pfiff seine Melodie, sein Tosen trug das prasseln des strömenden Regens an die Fenster, dicke Tropfen klatschen gegen das blinde Glas und wuschen den Schmutz des trockenen Sommers fort. Sanft ruhte die Welt, erstickt unter der Decke der Nacht schlummerte sie. Nur einer wachte. Dort in der Ecke saß er, die Knie zur Brust gezogen und nagte. Wie zweier Kerzen Flammen glommen seine kleinen Augen im fahlen Licht des Mondes. Er begann sanft zu wippen und eine Melodie entfloh seinen blutig roten Lippen. Ein Kichern schallte durch die klamme Stille der Nacht. Langsam erhob er sich und trat auf ihn zu, blickte ihn mit seinen wirren Augen an, er streckte seine Finger, krumm wie Äste einer alten Eiche und blutig wie nur etwas, nach ihm aus. Behutsam strich er ihm über die kalte Stirn, wischte seinen schwarzen Haarschopf fort und liebkoste ihn wie ein kleines Kind. Wie gelähmt lag er da, konnte sich nicht bewegen, er schien in Trance versunken zu sein. Wer war es, der ihm dort über die Stirn strich? Verschlafen drehte er sich auf den Rücken, er war zu müde, um zu denken. Doch das ungute Gefühl, welches an ihm haftete, wollte nicht weichen. Es war ebenfalls nicht ruhig, das spürte er. Etwas scharrte über den Boden, nicht fern von seiner Schlafstatt. Ratten, vermutlich waren es Ratten. Wieder strich ihm etwas über die Stirn, sanft und doch bestimmend. Schemenhafte Umrisse einer schattenhaften Gestalt schälten sich aus dem Dunkel des Raumes, zwei kleine glimmende Lichter taxierten ihn. Eine Melodie wie aus des Teufels Kehle erklang, gefolgt von diesem scharenden Geräusch. Etwas raschelte, nun war es, was immer es auch sein mochte, in seinem Bett. Er spürte dessen Anwesenheit so deutlich, als könne er es greifen. Langsam kroch es näher, raschelte und summte seine Melodie. Diese Melodie… Er hatte sie schon irgendwo gehört. Plötzlich wurde es ungewöhnlich warm, ob es die Decke war? Doch noch bevor er sie abstreifen konnte, wurde es noch viel wärmer und etwas Schweres tauchte neben ihm auf. Das Bett wölbte sich an dieser Stelle nach unten und er prallte gegen etwas Weiches, Warmes. Was zum… Benommen drehte er sich um, der Klang der Melodie wandelte sich in Worte. „Josh…“, tönte es. Er fuhr herum. Nichts. Seufzend sank er wieder auf den Rücken, dies mochte lediglich der Wind gewesen sein. Weiter nichts. Ein heißer Lufthauch streifte seine Wange, die Melodie wurde lauter, sie schien direkt in sein Ohr gesungen zu werden. Er schlug sich die Hände vor die Ohren, doch wie aus dem Nichts wurden sie von einem anderen Paar Hände auf das Laken gedrückt. Ein metallischer, süßlicher Geruch machte sich breit. Es war der Geruch den er so liebte. Die Stimme wurde klarer und auch die Hände begannen wieder über seine Stirn zu streichen. Eine wanderte weiter, zu seiner Brust um dort zu verweilen. Dieser Geruch… Diese Stimme… Ein Gesicht glitt zu seinem herab, Lippen legten sich an sein Ohr und begannen ihren Singsang zu summen. Ihr feuchter Hauch ließ ihn frösteln, die Hand, die über seinem Herzen weilte, ließ seinen Brustkorb zu Eis gefrieren. Doch er war unfähig, sich zu rühren. Nasse Spuren eines klebrigen etwas zogen dort ihre Bahnen, wo die Hände strichen. Es roch metallisch, war klebrig und roch fast so süßlich wie der Atem des Todes… Blut. Was oder besser, WER war… „Josh, oh mein geliebter, über alles geliebter Josh…“, säuselte die Stimme. Nein. Das war… unmöglich! Alles in ihm begann zu schreien als Harper erkannte wer ihn des Nachts besuchen kam. Ein Kichern durchbrach die Mauer seiner geistigen Stille, seine Ruhe barst in tausend Scherben als er dieses Kichern wieder erkannte. Es war SEIN Kichern. Dieses Kichern, das man nur kichert, wenn man nichts zum Lachen hat. Ein witzloses Kichern, sein Kichern. Seine Stimme säuselte weiter, summte, kicherte und sang ihren Singsang. „Josh, mein über alles geliebter Josh… Bist du stolz auf mich, auf deinen lieben, kleinen Robert? Ist Josh stolz auf seinen Robbie?!“. Wieder dieses Kichern. Entsetz versuchte Harper, ihn von sich zu stoßen, doch er wollte nicht weichen. Ihm schnürte es vor Angst die Kehle zu, erneut strich Robert mit seinen krummen, blutigen Fingern über sein Gesicht. Seine Hand ruhte noch immer auf seinem Herzen, als wollte er es holen. Sein Gesicht glitt näher zu seinem, er konnte den Hauch spüren, der aus seinen Lippen drang und das Blut schmecken, das auf seine Lippen tropfte. Diese Melodie, dieser Singsang, dieses Kichern! Immer näher kamen seine Lippen, schwebten über den seinen und formten Worte. „Robert liebt seinen Josh, er gehört ihm… nur ihm allein… Josh…“ NEIN! Ein Schrei einfuhr seiner Kehle, er riss die Augen auf und schreckte hoch, fuchtelte mit den Armen und schlug nach Robert. Doch er war allein. Schweiß trat ihm aus allen Poren, rann in kleinen Bächen über seine Stirn. Der Regen peitschte gegen das Fenster, der Wind säuselte vor sich hin und der Mond tauchte den Raum in einen hellen Schein. Bis auf die Schatten, die aus ihren Verstecken hervorgekrochen waren, war der Raum jedoch leer. Kein Robert. Keuchend saß Harper auf seinem Bett, die Decke lag am Boden, ebenso wie das Kissen und das Laken. Er war allein. Benommen saß er so da, lediglich Gänsehaut kleidete seinen weißen Körper. Er fröstelte, etwas Kaltes lag auf seinem Herzen. Beklommen blickte er an sich herab und umfasste den kleinen, filigranen Schlüssel mit beiden Händen. Seit er ihn gefunden hatte, hatte er ihn nicht ein einziges Mal abgenommen. Niemals. Irgendwas sagte ihm, dass er ihn beschützte, sein Es schien daran gebunden zu sein und somit auch er selbst. Ein Schlüssel ohne Schloss… Er seufzte und erhob sich. Seine Knie zitterten ein wenig, noch immer haftete der Schock an ihm, noch immer klang das Kichern und Summen in seinen Ohren, doch am schlimmsten waren die Worte, die noch in seinem Kopf hallten. „Mein geliebter Josh…“ Ein eiskalter Schauer jagte über seinen nackten Rücken. Irgendwie schien Robert ihn zu verfolgen. „Humbug, er ist tot, schon vergessen?“, meldete sich sein Überich. „Wahrlich, Robert weilt nicht mehr unter uns, so, dann mach dir keine Sorgen.“, die Stimme des freundlichen klang sanft in seinen Ohren. „Ja, und warum ist er nicht mehr hier? Machen wir uns nichts vor, mein Freund, wir wissen alle wer das zu verantworten hat!“, die hohnvolle Stimme des Realisten schallte durch das Meer der Stille. „In der Tat, bedenkt nur, Robert würde noch leben wenn…“, mischte sich der Nachdenkliche ein. „Ach wenn doch, ach wenn doch! Er war längst überfällig und wir mussten kaum etwas tun, er hat sich doch selbst erledigt!“, höhnte sein Überich. „Still, still, ohne ihn hätten wir es nie geschafft, bedenkt dies!“, warf der Nachdenkliche ein. Genug. Harper schüttelte den Kopf. „Ich war es der ihn tötete, zumal ich ihn dazu trieb.“ seine kalte Stimme ließ die Stimmen seiner selbst in seinem Kopf verstummen, sie waren noch jung, zum Teil noch so unerfahren. Masken wie den Freundlichen hörte er schon gar nicht gerne. Einzig sein Überich hatte noch etwas zu vermelden. Es ließ sich nicht so leicht zum Schweigen bringen, dazu war es zu stark. Harper blickte hinauf zum Antlitz des knochenweißen Mondes, der ihn zu beobachten Schien. „Mörder…“, wisperte sein Überich. „Und weiter? Ist das alles was Euch einfällt?“, murmelte Harper. „Du hast sie alle getötet, im übertragenen Sinne zumindest. Du bist ein kleiner Mörder… Wir sind stolz, so stolz mein Freund.“, flüsterte es. Ein Lächeln stahl sich auf seine roten Lippen, seine Saphiraugen funkelten im Mondlicht. So stand er da und lächelte in sich hinein, bis der Morgen graute.
Harper war noch vor dem Frühstück hinunter in die Gaststube des Hauses geschlichen, doch von Mrs. Maggy war keine Spur zu sehen. Irgendwie war ihm die alte Dame sympathisch, auch wenn sie ihn aufgrund ihrer Offenheit etwas langweilte. Sie war so leicht zu durchschauen wie eine Scheibe Kristallglas. Immerhin war sie freundlich, ehrlich und fürsorglich, wenigstens etwas das Harper für sich nutzen konnte. Er hatte sich vorgenommen sie etwas über diesen Ort auszufragen, er brauchte schließlich etwas. Hinter einer Tür, die halb vom Tresen verdeckt wurde, erklangen Geräusche, die auf Arbeit schließen ließen. Neugierig trat er hindurch und erblickte Mrs. Maggy, die dort emsig hinter einem großen Herd stand und mit zahlreichen Töpfen und Pfannen hantierte. An ihrer Seite wuselte ein kleiner, weiß gekleideter Mann mit Schürze durch die Gegend, offenbar war dies der Koch des Hauses, wie Harper aus der seltsamen Kopfbedeckung schloss. Ein köstlicher Duft erfüllte die stickige Luft der kleinen Küche. Ein großer Ofen, der so alt war, dass er noch mit Holz beheizt wurde, verströmte seine Hitze und als das Männchen ihn öffnete, erhaschte Harper einen Blick auf dessen Inhalt: Brot und Gebäck schmorte dort vor sich hin, daher kam also dieser Duft. In den Pfannen zischte und brodelte es, eine kleine Teekanne pfiff vor sich hin. Mittendrin stand Harper und blickte sich um, bis Mrs. Maggy ihn erblickte und auf ihn zu trippelte. Eilig wischte sie sich die Wurstfingerchen an der Schürze ab, stopfte die grauen Strähnen ihrer Haare wieder unter die Haube und zerrte Harper schnatternd hinaus in die Gaststube. Dort angekommen eilte auch schon der Koch mit einem Tablett herbei, auf dem sich Eier mit Speck, Brötchen, Marmelade, Kuchen und Kaffee türmte. Unter dem strengen Blick der alten Dame nahm Harper sein Frühstück zu sich, obwohl er bei den Eiern und dem Speck würgen musste. Widerlich, dieses Zeug erinnerte ihn so sehr an Robert, dass ihm beim bloßen Anblick übel wurde. Als er endlich beim Kaffee angelangt war, erkundigte er sich bei Mrs. Maggy über den Ort, was sich als fataler Fehler entpuppte, denn die alte Dame plauderte heiter über die Geschichte des kleinen Örtchens, die ausschließlich aus „wurde dieser und jeder geboren“, „aber dann starb dieser“, „Landwirtschaft seit …“, „im Familienbesitz…“, „Generationen über Generationen…“ et cetrea bestand. Summiert bedeutete dies schlichtweg: Er war in einem kleinen, zwanzig Seelen Ort gelandet, der von Tourismus und der Landwirtschaft lebte. Hier gab es nichts, außer Kühe, weite Felder, dieser Gaststube und einem kleinen Krämerladen. Dieser Begriff ließ ihn aufhorchen, dort würde er womöglich Papier kaufen können. Zudem wollte er sich umsehen, vielleicht fand er doch etwas Interessantes.
Schnell stürzte er den Rest seines Kaffees hinunter, packte den Apfel ein, den die Dame ihm zugesteckt hatte und eilte davon, besser gesagt watschelte. Er war zum bersten voll, Harper konnte sich nicht entsinnen, wann er je so gemästet worden war. Er musste schleunigst Papier finden, einen Umschlag und eine Briefmarke benötigte er auch. So unterbelichtet und weich er sich dabei auch vorkam, ihn hatte tatsächlich die Sehnsucht nach einem Menschen gepackt, den er tatsächlich vermisste.
Er wusste nicht wie viele Tage verstrichen waren, jedenfalls schienen es endlos viele gewesen zu sein. Aus jedem sterbenden Tag wuchs eine neue Nacht, die ihm immer neue Alpträume brachte, immer öfter suchte Sie ihn heim, kam in den Laden und starrte ihn aus ihrer leeren Augenhöhle an. Sie wollte es wieder, doch er würde es niemals hergeben, es half ihm bei Verstand zu bleiben und sein Verstand litt mit jedem Tag, den der Junge fort war, etwas mehr. Nun kam sie schon bei Tag, sie hatte ihre Scheu vor dem Licht verloren und saß nun des Öfteren hinter dem Verkaufstresen und schielte dahinter hervor. Er war vor kurzem im Ort gewesen, er bot ein schreckliches Bild. Kopfschüttelnd war er zum siebten Haus geschritten und hatte dort durchs Fenster gelugt, eine Frau hatte in der Küche gestanden und gekocht, obwohl sich am Tisch schon Tonnen von Essen stapelten. Dies war sie also. Sie war schön, ihr langes schwarzes Haar war zwar bereits etwas grau geworden, doch nun wusste er wo der Junge seins her hatte. Irgendetwas schien nicht zu stimmen, doch Norrin hatte sich nichts dabei gedacht und war wieder nach Hause gegangen. Doch dann, als er zufällig durch den Park schritt und zum Hügel hinauf Blickte, entdeckte er etwas Komisches. Es schien fast so, als wäre jemand dort. Unfug. Er ging weiter, doch als er sich ein letztes Mal umdrehte, wurde ihm klar, dass er nicht irrte. Dort war jemand, so wie es aussah wollte er nicht wieder kommen, oder er konnte es nicht. Eine dunkle Ahnung machte sich in ihm breit, doch niemand ihm Ort schien zu vermissen was fort war. Bis auf eine einzige Person, doch diese schien es nicht wahrhaben zu wollen.
Wie dem auch sei, dies war nicht seine Sorge. Was mit dem anderen passiert war, war zwar sicherlich wissenswert, so galt sein Interesse jedoch viel mehr dem, was der Verursacher dieses Übels nun trieb. War er am Leben? Natürlich war er das, doch wo war er? Was trieb er? Seufzend stopfte er seine Pfeife nach, er konnte sich nicht entsinnen wann er sie zum letzten Mal aus der Hand gelegt hatte. So sehr ihm der Rauch und der Tabak zusetzten, so fand er auch Trost darin, zumal er sich nur allzu gerne hinter dem Schleier aus blauem Dunst versteckte, er gab ihm eine Art… Sicherheit, ihrem Blick zu entgehen. Denn sie war wieder da, dort hinter dem Tresen hockte sie, auf dem kleinen Stuhl mit den gezwirbelten Beinen, lauernd wie eine Katze saß sie da, starrte ihn aus ihrem Auge und der Höhle an und wartete darauf, dass er einen Fehler machte. Seine Augen waren zwar schlechter geworden, trotz des Monokels sah er auf dem rechten Auge nur noch Schemenhaft, doch das Linke war noch recht gut. Er sah nun eben mit seinen linken Augen. Seines und das Ihre. Grinsens zog er es aus der Tasche, schwenkte es vor seinem faltigen, eingefallenen Gesicht hin und her und grinste sie an. Sie erwiderte sein Grinsen nicht, sie starrte ihn nur an. Kalt, leer, tot. Seine geliebte, tote Frau. Runa… „Miststück“, wisperte er, doch ein plötzlicher Knall ließ ihn herumfahren. Bum. Dieses Krachen war ihm nur allzu vertraut. Grinsend wandte er sich von ihrem, von Verfall und Tod zerfressenen, Gesicht ab und begab sich vom Schaufenster zur Tür. Langsam öffnete er das kleine Portal, er hatte es nicht eilig, wozu auch? Seine Hüfte ächzte und knackte als er sich nach dem Haufen Papier bückte, der sich auf dem Boden türmte. Seit Tagen hatte er die Post nicht durchgesehen, wozu denn, er scherte sich einen Dreck um Reklame, Rechnungen und anderen Müll. Doch heute trieb ihn etwas dazu den Berg an Post zu erklimmen. Gleichgültig blickte er auf das Häufchen Elend, ein Berg aus Papiermatsch –die letzten Tage waren offenbar regnerisch gewesen. Doch halt, ganz zu Oberst lag ein Umschlag, der sein Interesse Weckte. Er lag neben der Zeitung, die der Postbote wie jeden Tag viel zu spät gegen die Tür hämmerte. Er sah ganz harmlos aus, ein kleiner, weißer Umschlag, doch er hatte etwas an sich, was ihm die Brust zusammenschnürte. Eilig fischte er ihn vom Haufen und stolperte über die Reste der Post zurück in die kleine Verkaufsstube. Mit zitternden Händen suchte er nach dem Brieföffner, er lag genau dort, wo sie noch vor wenigen Minuten gesessen hatte. Sie war fort. Endlich. Dieser Brief, so normal und unscheinbar, doch an ihm haftete etwas was er nur allzu gut kannte. Er war klein und leicht geknittert, doch er trug ein Siegel, ein seltsamer Abdruck irgendeines Fragmentes war auf dem Wachs zu sehen, doch das war es nicht, was ihn stutzen lies, nein, etwas anderes war so unverkennbar da, dass er es nicht übersehen konnte: Über dem Siegel prangte eine kleine Schleife aus blutrotem Band. Konnte das sein? Seine Adresse war ganz deutlich zu lesen, doch von einem Absender war keine Spur. Egal. Schnell zerschnitt er den Umschlag mit dem Brieföffner und zog das Schreiben hervor. Mit stockendem Atem begann er die kleinen, verschlungenen Buchstaben zu verschlingen:
Mein lieber Norrin,
Nur wenige Häuser ragen in das Antlitz des Himmels, die Sonne und der nächtliche Mond sind wohl weitgehend die einzigen Besucher in diesem Ort, der von Landwirtschaft und wenigen Seelen am Leben gehalten wird. Alsdann ich die Grenze des Ortes überschritten hatte, hatte der Regen seine kalte Decke über das Land gebreitet, doch heute, am ersten Tag nach meiner Ankunft, lichteten sich die Wolken und gaben den Himmel frei. Über diesen Ort gibt es kaum mehr zu sagen, die Häuser sind alt, die Dächer leck und die Leute sind wie der Ort an dem sie leben. Ich gedenke nicht lange zu bleiben, die Dame bei der ich unterkam – kaum zu glauben aber wahr- besitzt ein Wirtshaus, welches eins der wenigen Häuser dieses Ortes ist. Nun, wie gesagt, es ist ein beschauliches Dörfchen, um nicht zu sagen, ein winziges Seelennest. Ja, selbst der Krämerladen, pardon, der Raum in dem ich das Papier für dieses Schreiben erstanden habe, besteht nur aus vier Wänden, in denen man alles zu kaufen vermag, was man so braucht: Seife, Papier, Briefmarken, Tinte, einige Lebensmittel und etwas Werkzeug. Herrje, diesen Ort als bodenständig zu beschreiben wäre eine Untertreibung sondergleichen, doch so klein und abgeschieden dieses Bauerndörfchen auch ist, es hat doch seinen eigenen Charme. Die Wirtin, Mrs. Maggy, ist wohl der Inbegriff der Gastfreundschaft, Selbstlosigkeit und zudem noch die personifizierte Freundlichkeit. Sie mag zwar leicht zu durchschauen zu sein, doch sie erheitert mich auch irgendwie. Wisst Ihr, ich weiß nicht wie lange oder wie weit ich ging, bezüglich meiner Reise fehlt mir fast jede Erinnerung, doch ich will weiter reisen, dessen bin ich mir ganz sicher. Nur, ich gedenke mir Schuhe und Kleidung zu kaufen, denn ich führe nichts dergleichen mit mir. Nicht mehr. Ich habe alle zurück gelassen, alles. Ach und, wo ich gerade dabei bin, zu meinem Hab und Gut zählten ganze sieben Bücher, die ich Euch als Zeichen meiner Dankbarkeit und Zuneigung hinterlassen habe. Es sind nicht viele, doch sie beuten mir umso mehr. Sie liegen im Keller, auf der Druckpresse, mit der Ihr mir die Fertigstellung meines Projektes ermöglicht habt. Ich weiß nicht, ob Euch dieser Brief erreicht, ich wage es auch nicht zu hoffen, denn Ihr wisst wohl was man über große Erwartungen sagt, nicht wahr?
Ich weiß wie sehr Ihr Geschichten liebt, umso mehr müsst ihr enttäuscht sein meine kümmerliche Historie zu lesen. Doch was mir auf der Seele brennt ist doch tatsächlich die Sehnsucht, die ich mir mit diesen Worten von dieser zu schreiben versuche. Ich weiß nicht wie es ist jemanden zu missen, jemanden zu haben der einem so viel bedeutet, dass es einem im Herzen brennt ihn nicht um sich zu haben, doch ich vermute, dass man Sehnsucht so definieren kann.
Welch Schmach mich nun ereilt, so komplexe Vorgänge so banal zu dezimieren, doch Ihr fehlt mir. Ich gedenke zwar nicht im Entferntesten wieder an diesen Ort zurückzukehren, doch ich erbitte baldige Antwort auf mein Schreiben. Ihr seid für mich wie ein Großvater geworden, nicht wie jener den ich Tag und Nacht die Pest, Höllenqualen und Leid an den Hals wünschte, sondern wie der, den ich nie hatte. Ich bleibe nur an einem Ort bis ich eure Antwort erhalten habe, dann begebe ich mich weiter, wohin weiß ich nicht, doch ich schreibe Euch alsbald ich dort bin. Ach, und die Adresse meines derzeitigen Aufenthaltsortes steht innen, entlang des Klebestreifens der Umschlagklappe.
Nun, genug der Worte, mir bleibt nur eins zu sagen.
Danke, habt Dank für alles, mein lieber Norrin.
Fahrt wohl.
-Josh Harper.
Stille erfüllte den kleinen Raum und hüllte ihn ein, wie der blaue Dunst seiner Pfeife. Er hatte ihn nicht vergessen. Er lebte und er war ihm DANKBAR! Oh, Himmel… Er konnte förmlich das Glitzern seiner eiskalten Saphiraugen sehen, konnte spüren, wie seine roten Lippen sich zu einem verschlagenen Grinsen verzogen. Josh Harper. Er war am leben. Wie wunderbar! Ein Lachen brach aus seiner Kehle und schallte durch das alte Gemäuer. Runa war fort, der Junge hatte sie vertrieben, denn nun war es wieder Norrin, der auf dem Sessel mit den Zwirbelbeinen saß und lachte. Oh und wie er lachte, laut schallend und herzhaft, wie schon lange nichtmehr. Doch dann erstarb sein Lachen, er dachte an die Bücher. Er musste in den Keller, sofort! Blitzschnell erhob er sich von seinem Sesselchen und krachte dabei prompt in die Kante der Theke. Der Sessel kippte und fiel ratternd zu Boden, doch Norrin war bereits auf dem Weg. Fluchend und lachend stolperte er die Wendeltreppe hinunter, vor Freude rollte ihm eine kleine Träne die faltige Wange hinunter. Josh Harper war nicht fort, nicht ganz. In diesem Moment wurde Norrin Davis eins klar, Josh Harper würde ihn niemals ganz verlassen, seine Hinterlassenschaft haftete an diesen Ort, so unsäglich und unsichtbar, doch allgegenwärtig. Er war sich ganz sicher, dass auch das Etwas oben am alten Haus auf die Rechnung des Jungen ging. Lachend tanzte er die Stufen hinab, summte eine Melodie, die er nicht kannte, doch er konnte nicht aufhören zu summen. „Ach wenn doch, ach wenn doch…“ Er war glücklich, ein seltsames Gefühl beschlich ihn, doch beim Anblick des Bücherstapels auf der alten Presse schwirrte ihm ein einziger Gedanke durch den Kopf. Josh Harper war bei ihm, irgendwie und er würde es immer sein. Er war sich nicht sicher, doch etwas sagte es ihm, ob dies nun gut oder schlecht war, war irrelevant. Denn Josh Harper war unsterblich, dessen war Norrin Davis sich sicher.
Die Tage bleiben bis auf Weiteres recht regnerisch, was den jungen Harper jedoch nicht wirklich davon abhielt einen Rundgang durch die Ansammlung von Häusern zu unternehmen, die sich hier ein Dorf schimpfte. Bereits am ersten Tag nach seiner Ankunft hatte er einen Brief an Norrin geschrieben, was ihn beträchtlich überrascht hatte. Nie hätte er gedacht, dass er auch nur einen Gedanken an seine Vergangenheit verschwenden würde, er hatte nicht beabsichtigt jemals wieder daran zu denken, umso mehr hatte es ihn ins straucheln gebracht, als er sich über seinen mentalen Zustand klar wurde. Er vermisste den alten Norrin, war denn das zu fassen? Harper empfand doch tatsächlich etwas wie eine tiefe Sympathie, um nicht sogar zu sagen, Zuneigung für den alten, kauzigen Antiquar. Was war er doch für ein Narr… Doch sei’s drum. Norrin war ihm immer nützlich gewesen und er konnte ihm auch jetzt noch von großem Nutzen sein, auch wenn er sich noch nicht sicher war wobei er ihm nützen sollte. In Gedanken versunken durchmaß er den Pflasterplatz mit einigen wenigen Schritten und betrachtete die Häuser, die ihn einrahmten wie eine Perlenkette. Dicht aneinander gedrängt standen sie da, teils aus dunklem Holz, teils mit weiß getünchten Wänden und grünen Fensterläden, sofern solche vorhanden waren. Die kunstvoll geschnitzten Balustraden der Holzbalkone wurden von Blumentrögen geziert, die vor lauter Farben zu glühen schienen. Der Regen schien ihnen gut zu tun, in voller Pracht streckten sie ihre kleinen bunten Köpfchen gen Himmel, auf ihren farbenfrohen Kleidern sammelten sich Regentropfen wie Stickereien aus Diamanten und ihre Blätter sprossen im saftigstem Grün, wie auch die Wiesen und Felder rings um. Die Leute maßen ihn mit Blicken, die vor Neugierde nur so strotzten, doch auch sie grüßten ihn freundlich und meinten es offenbar auch so. Auch Harper bemühte sich um halbwegs ehrliche Freundlichkeit, was ihm allerdings im Anbetracht seines misstrauischen, sezierenden und kalkulierenden Naturells nicht immer leicht fiel. Er folgte dem Pflasterweg, der sich zwischen den Nischen der Häuschen hindurch schlängelte, bis zu den kleinen, schmiedeeisernen Tor, welches in der hüfthohen Pseudomauer aus Stein eingeschlossen war. Wohl diente die Mauer, pardon, das Mäuerchen, nur als Dekoration, doch Harper verstand nicht warum man es nicht gleich mindestens mannshoch, solide und stabil gebaut hatte. Mrs. Maggy hatte ihm erklärt, dass es nur als Zierde fungierte, doch Harper hatte dies nur für schlicht weg irrelevant und unsinnig erklärt. Wenn man schon eine Mauer baute, dann doch so eine, die einen schützt und auch Leute draußen hält und nicht einen Haufen Steine, über den selbst ein Kind klettern kann ohne sich Mühe zu geben. Kopfschüttelnd hatte Mrs. Maggy gekichert und ihn für „dekorationsfeindlich“ und „zu praxisorientiert“ erklärt. Humbug. Dennoch musste er bei diesem Gedanken lächeln, als er durch das Tor im Mauerrumpf schritt. Vor ihm lagen nun nichts als Felder, Wiesen und der Pflasterweg, der eine Kurve machte und sich Richtung Horizont davon wand. Er wandte sich nach rechts und konnte vor der Kuppe eines Hügels das Glitzern der silbernen Schienen erkennen. Er nahm sich vor, Mrs. Maggy zu fragen wie er zum nächsten Bahnhof gelangte und wanderte nach links weiter, wo ein schmaler Zaun die angrenzende Weide umspannte. Gedankenverloren zog er den Apfel aus seiner Tasche, den Mrs. Maggy ihm andauernd als „Proviant“ in die Hand drückte, sobald er das Haus verließ und hielt ihm einer Kuh unter den Nüstern, die Kauend hinter dem Holzgerüst stand und ihn gleichgültig musterte. Als sie jedoch den Apfel erblickte, glaubte Harper ein Funkeln in ihren Augen zu erkennen, das zu einem zufriedenen Glitzern wurde, sobald sie ihn zwischen ihren großen Zähnen zermalmte. Eins stand fest, Manieren waren diesem Tier fremd, denn es kaute mit offenem Mund und schmatze so sehr, dass sich selbst sein verachtenswerter Erzeuger dafür schämen würde. Und Robert Harper Senior hatte sich nie für etwas geschämt. Nur für Harper. Schluss, genug jetzt. Energisch verscheuchte Harper die Gedanken an diese kummervolle, beschämende Form von einem Individuum, tätschelte der Kuh den Kopf und kehrte zurück zu seiner Unterkunft. Ob Tiere auch Gefühle hatten? Sie empfanden Schmerz, vermutlich auch Liebe und Zuneigung, doch ob sie sich dessen so bewusst waren wie der Mensch wusste er nicht. Herrje, er machte sich über die belanglosesten Dinge Gedanken seitdem er hier war! Es nieselte immer noch und er genoss die Kälte und die Nässe der kleinen Tröpfchen, beobachtete den Nebel, der sich wie blauer Pfeifendunst über die Kuppen der Hügel gelegt hatte, während er zum Wirtshaus zurückkehre. Wieder dachte er an Norrin, ob er immer noch rauchte? Selbstredend, was für eine Frage. Vielleicht hatte der Postbote, der jeden Tag mit seinem klapprigen Vehikel hier her fuhr und Briefe einsammelte und austeile auch einen für ihn dabei. Wer weiß…
Ein leiser Hauch von Vorfreude schlich sich in seine Gedankenwelt, doch Harper verscheuchte ihn sogleich. Vorfreude, was für ein Humbug. Dennoch klatschte die Enttäuschung wie eine kalte Welle über seinem Kopf zusammen, als er sein Kämmerchen betrat und nichts Briefähnliches vorfand. Seufzend begab er sich hinunter in die Gaststube, wo Mrs. Maggy hinterm Tresen stand und Gläser putzte. Sie empfing ihn wie immer mit einem breiten Lächeln, doch dieses Mal schob sie ihm, zusätzlich zu seinem Fünf-Uhr-Tee einen dicken Umschlag zu. Ein Umschlag! Ein Brief! Doch etwas an diesem Brief war anders… eine kleine Wölbung trat aus dem großen Umschlag hervor. Seltsam… Er musste nicht erst genau hinsehen, um den Absender zu lesen, schon auf den ersten, flüchtigen Blick erkannte er die geschwungene, goldene Schrift und das Emblem von „Davis‘ Forgotten Treasures“. Ohne auf Mrs. Maggy zu achten riss er den Brief auf und zog dessen Inhalt hervor, um ihn zu lesen. Norrins gewundene, krakelige Schrift rankte sich wild über das gesamte Blatt.
Mein lieber Junge!
Niemals kannst du ahnen wie sehr mich deine Nachricht freute! Sie riss mich aus meines Alltages Trott, in dem ich seitdem du fort bist, stetig mehr versinke und verkomme. Himmel, du hättest nicht gehen sollen, ohne mir Bescheid zu sagen! Herrje, ich klinge wahrlich schon wie ein Großvater. Als ob du auf mich gehört hättest… Nun denn, sei’s wie’s sei, ich freue mich sehr von dir zu lesen… Deine Nachricht hat mich gerührt, so wie auch deine Geschenke, die Bücher. Wie du sicherlich weißt habe ich mehr als genug Zeit um sie zu lesen… Ich freue mich selbstredend über jeden einzelnen Buchstaben den du mir schreibst, so halte mich bitte auf dem Laufenden bezüglich deiner Reise und den Ereignissen!
Hier geht es im Grunde zu wie immer… Ich liege noch immer - jedoch mehr denn je - im Clinch mit Mrs. Dampson, was allmählich ermüdend wird. Himmel, Arsch und Zwirn, sie bezichtigt mich noch immer der Tat ihr eine gammelige alte Kanalratte gegen die Fassade geschmettert zu haben! Womöglich meint sie lediglich ihren kleinen, missratenen Köter, doch als ihr dies vorschlug brach beinahe der dritte Weltkrieg vom Zaum. Weißt du, ihre Augen sind noch schlechter als ihr Benehmen, von daher bezweifle ich, dass es Tatsächlich eine Ratte gegeben hat. Dieses Weibsbild ist streitsüchtiger als meine liebe alte Mutter – möge sie friedlich in der Hölle schmoren - und das ist bei Gott nicht einfach! Zumal hasse ich Ratten… Widerliche Viecher.
Ansonsten blieb fast alles beim Alten… Nur einer der Läden hat geschlossen, die Leute aus dem Vorort verhalten sich wie Schatten und dein Bruder ward nicht mehr gesehen, seitdem du fort bist. Ich bin mir fast sicher, dass du etwas damit zu tun hast, für wahr, ich schwöre auf mein linkes Auge, mein Junge! Ich weiß, dass du etwas mit den Leuten angestellt hast, das habe ich miterleben dürfen, doch was hast du mit Robert angestellt? Sollte es dir belieben, kannst du es mir erzählen, denn du hast Recht, ich liebe Geschichten…
Doch da gibt es noch etwas, das ich dich fragen will… Glaubst du denn an Gespenster, mein lieber Junge? Es hört sich lächerlich an, doch du weißt, ich komme in die Jahre…
Herrjemine, was hätte ich dafür gegeben um dich zu begleiten! Du allein in der weiten Welt… Es wird nicht immer einfach sein, ich weiß, dass du dir sehr wohl im Klaren über deine Schritte bist, doch lass dir eines gesagt sein: Die Welt mag zwar schön und freundlich, ja, manchmal sogar hilfsbedürftig scheinen, doch wie alles andere ist auch die Welt ein Monster, sie hat Zähne und Klauen, glaub mir sie zögert nur allzu ungern diese zu benutzen, daher sei auf der Hut! Doch ich schweife ab… Im Grunde gibt es nur ein paar winzige Regeln, die du befolgen musst, um zu leben, wie unsereins lebt.
Du bist wie ein Sohn für mich gewesen, du bliebst, als es für dich keine Pflicht war, du hast mir geholfen, mir Gesellschaft geleistet und vor allem, du gabst mir einen Grund mich auf den Tag zu freuen. Josh, du bist ein sarkastischer, ironischer, von Zynismus zerfressener, berechnender und allzu grausamer Mensch, der sich andere zum Instrument macht und ihr Leid als Amüsement nützt und du hast mehr Facetten als das Auge einer Libelle. Du hast die Menschen in dem Ort zu Grunde gerichtet, so hast du es auch mit deinem Bruder getan, nicht wahr?
Ich warte sehnlichst auf deine Antwort. Ach, und bevor ich’s vergesse… auch ich habe ein Geschenk für dich. Möge es dir Freude bereiten.
-Himmel, Arsch und Zwirn,
Norrin Davis.
Dem Brief lag noch ein kleines Päckchen bei, es war kaum größer als Harpers Handfläche, doch es war beträchtlich schwerer, als seine zierliche Gestalt vermuten ließ. Vorsichtig wickelte er das Papier von seinem Inhalt, wobei er feststellte, dass auch dieses Stück Papier dicht und vor allem, beidseitig, mit kleinen, krakeligen Buchstaben übersät war. Neugierig betrachtete er die Schrift Norrins und wickelte weiter. Plötzlich ertönte ein helles Klirren, das seine Aufmerksamkeit ruckartig auf sich zog. Auf dem Päckchen, das nun als aufgerollte Bahn eines Schriftstückes vor ihm lag, waren drei silberne Münzen gefallen. Wie kleine Monde lagen sie dort, funkelten am dunklen Holz der Theke als sie das Licht der Deckenleuchte küsste und in einen geheimnisvollen Schimmer hüllte. Harper starrte sie an, die Münzen jedoch lagen stumm dort und starrten zurück, wie die silbernen Augen einer Totenmaske. Er nahm sie an sich, drehte sie zwischen seinen langen, weißen Fingern und betrachtete sie versonnen. Eine kunstvolle Prägung zierte jede einzelne, seltsame, ihm unbekannte Symbole prangten auf ihnen, ihre abgewetzten Ränder hatten zahlreiche Rillen und Kerben und auch ihre Oberfläche war zwar blank poliert, jedoch auch etwas lädiert. Sie waren offenbar nichts Besonderes, nicht in diesem Sinne, sonst hätten sie in einem Museum und nicht in einem alten Laden gelegen, doch sie hatten einen von Schicksal behafteten Hauch an sich. Keine Fragen, sie mochten wertvoll sein, nicht historisch oder archäologisch, aber dennoch. Aber, was hatte es mit ihnen auf sich? Sie mussten eine Geschichte haben… Natürlich! Ihm kam das Schreiben, in das sie verpackt gewesen waren, wieder in den Sinn. Vorsichtig ließ er sie vor sich auf den Tresen gleiten, wobei jede einen kleinen, klingenden Laut verursachte. „Kling, kling, kling…“ In seinen Ohren hallte dieses Klingen noch viel lauter, es erinnerte ihn an etwas…
Ganz plötzlich drang der modrige Geruch von Alter, Verfall und verrottendem Papier in seine Nase. Ein kühler Windhauch schien sich um seinen Körper zu schmiegen, das Rascheln von Laub und vielen alten, dicht bedruckten Seiten schlich sich in seine Ohren. Ein Gefühl, so kalt und schwarz wie eine Septembernacht, schlug seine Klauen um ihn und riss ihn mit sich, tief in einen See aus Erinnerungen. Etwas war hier, es beobachtete ihn, hielt ihn in seinem Blick gefangen… Dort, das war doch… Er wandte sich zum gehen, doch hinter ihm erklang ein Geräusch. „Kling“, dies war das leise, glockenhelle Klingeln von etwas filigranem das auf den alten, mottenzerfressenen, von Verfall geplagten Boden fiel… Erschrocken umfasste er den Schlüssel an seiner Brust. Seine Kälte schien sich in seine Hand zu fressen, jede einzelne Kerbe, Unebenheit und jede Windung des filigranen Gebildes grub sich in seine Hand. Ein Schlüssel ohne Schloss… Harper atmete tief durch und schalt sich selbst dafür, in dem Sumpf aus Déjà-vu versunken zu sein. Kopfschüttelnd begann er die kleine, gewundene Krakelschrift Norrin Davis‘ zu entziffern:
Lange bevor ich sie kennen lernte, streifte ich wie du durch das weite Land, fern ab von Heim und Hof um die Welt zu erkunden. Ich war auf der Suche nach etwas, doch was dieses etwas war, ist mir bis heute zur Gänze schleierhaft. Wie dem auch sei, einst, als mein Weg mich zu einem kleinen Dörfchen an einem Hafen führte, wo ich erhoffte diverse Kostbarkeiten zu ergattern, stieß ich wieder meiner Erwartungen (und wohl, so weiß ich, was man über große Erwartungen sagt) auf nichts Besonderes. Doch dann, als ich die Promenade verließ, stieß ich in einer dunklen, muffigen Gasse auf einen Mann, der einen Leierkasten mit sich trug und in dieser Gasse, mit ebendiesem Kasten, seine Melodien spielte. Ich hegte keinerlei Interesse für Gaukler und Dergleichen, der Mann aber kam mit seinem Kasten auf mich zu und grinste mich mit einem Lächeln an, das zahnloser war als das Mary Dampson’s wenn sie des Nachts ihre Zähne in ihr Glas legt. (Jawohl, ich bin überzeugt, dass diese Schrulle keinen einzigen Zahn mehr in ihrem Klatschmaul hat, der nicht vom Onkel Doktor in ein Gebiss gearbeitet wurde, doch pssssstt…) Wie dem auch sei, der Gaukler hatte mich in seinen Fängen. Flink zog er an einem kleinen Dorn an der Seite seiner Grauensschleuder, die diese fragwürdigen Töne spuckte, und es öffnete sich ein kleines Fach. Aus diesem zog er einen Beutel in dem sich drei Münzen befanden, die er mir verkaufen wollte. Wahrlich, sie hatten schon ihren Wert, das erkannte ich sofort, doch dieser Schalertan verlangte sowohl meinen guten Spazierstock als auch fast meine gesamte Reisekasse und zu allem Überfluss, meinen lieben Zylinder und das Buch, das ich so eben teuer erstanden hatte. (Du kennst dieses Buch, es war das erste, welches ich in meinem Leben auf Reisen kaufte und auch das erste, wie auch beiderlei, das letzte Buch, das ich in meinem Laden verkaufte. Ich verkaufte es an Robert, deinen Bruder, der es für seinen Josh wollte).Ich weigerte mich den Tausch einzugehen und wollte handeln, doch der Gaukler spottete mich nur einen Narren und verschwand in einer noch dunkleren Gasse. Selbst heute noch erinnere ich mich nur zu gut an ihn. Diese schelmischen, verschlagenen Augen und dieses wissende Grinsen. Auch der Leierkasten war ein interessantes Stück, mit dem Geheimfach an der Seite… Das gesamte Erscheinungsbild dieses Hampelmanns war höchst fragwürdig, aber auch auf seine Weise amüsant, oder hast du jemals jemanden gesehen der in einem roten Zirkusmantel mit goldenen Knöpfen, schwarzen Hosen und einem weißen Rüschenhemd herumläuft, einen ebenso roten Zylinder auf dem Kopf trägt, der mehr Flicken hat als Stoff und in dem sieben Spielkarten stecken? Und seine Schuhe erst! Herrje sie waren wohl um das doppelte zu groß und so rot wie der Mantel! Selbst jetzt muss ich noch schmunzeln, wenn ich nur daran denke… Himmel, wo war ich nur? Ach ja, selbstredend. Ich begab mich wieder zu meiner Herberge, ein furchtbar, schrecklich heruntergekommenes Domizil, das aussah als hätte es den Fall von Kaiser Julius miterlebt, wenn du verstehst, was ich meine. Nun denn, übel konnte man es dem Gebäude kaum nehmen, denn es war in der wohl schlimmsten Ecke des Hafendörfchens erbaut worden. Des Nachts wütete draußen scheinbar Luzifer höchst selbst mit seinen Gevattern, vereinzelt vielen sogar Schüsse. Ganoven und Gauner aller Art schienen sich hier sowohl untereinander, als auch mit betrunkenen Seeleuten und Fischern zu bekriegen. Ich blieb bis auf weiteres unbehelligt, was ich nur Glück nennen kann, ansonsten hätte es nicht gut ausgesehen… Für die anderen Parteien, versteht sich. Man mag es mir heute nicht mehr ansehen, doch zu Zeiten meiner Jugend war ich flink wie ein Wiesel und stark wie... Nun gut, belassen wir es bei flink.
Jedenfalls, als ich eines Morgens, am Tage meiner Abreise durch die Gassen spazierte und über mein neues Ziel sinnierte, stach mir, in einer Ecke am Rand des Dorfes, etwas ins Auge. Dort, hinter einem Stapel aus Weinfässern, lugte etwas Rotes hervor. Geleitet von Neugierde und einem eigenartigen Gefühl entschied ich mich nachzusehen was wohl dort versteckt lag. Und zum Teufel, mich traf beinahe der Schlag, als ich meine alten Bekannten auf diesem Wege wieder traf. Jawohl, dort lag der Gaukler, hinter dem Stapel Fässer versteckt, sein Zylinder lag neben seinem zertrümmerten Kopf. Die Spielkarten waren auf dem Boden verstreut und schmutzig, bekleckert mit Blut und Schlamm. Der Leierkasten hatte auch seine Macken, auch auf ihn hatte man eingeschlagen, gleich wie auf den Kopf seines Herrn. Doch dem Mann schien nichts zu fehlen, er trug noch seinen Mantel und den Rest seiner wunderlichen Kleider. Einzig seine Taschen waren nach außen gekehrt worden. Offenbar war er überfallen worden, kein seltenes Bild in diesen Gassen. Doch etwas machte mich stutzig. Warum überfiel man einen Mann der nichts besaß? Einen Mann, der von der Hand in den Mund lebte, der das Geld, welches er mit seinem Leierkasten verdiente, in einem Zylinder mit sich trug um es für Rum zu verpulvern? Plötzlich fiel der Groschen auch bei mir, man war bestimmt hinter etwas Bestimmten her gewesen! Prompt stakste ich über die Reste seines Kopfes und suchte nach dem Dorn an der Seite des leicht ramponierten Leierkastens. Ich fand ihn schneller als erwartet und betätigte den Mechanismus. Die Klappe sprang auf und ich langte in das kleine Fach. Tatsächlich fischte ich die Tasche mit den drei Münzen heraus. Sie waren doch etwas wert. Ich nahm sie an mich, immerhin brauchte er sie nichtmehr, oder? Schimpf mich nun keinen Dieb, ich hatte mich lediglich mit den Regeln dieses Ortes, die sie da lauteten: „Nimm was du bekommst, egal wie du es bekommst und gib es nicht zurück, es sei denn, der Preis stimmt“, arrangiert. Sie haben mir stets Glück gebracht und mag dies auch noch so töricht und naiv klingen, es ist so! Beim roten Hut des Gauklers, dem ist so! Darum gebe ich sie nun dir, mögen auch sie dir Glück (oder zumindest genug Geld, was auch immer dir lieber sein mag) bringen. Du wirst es brauchen.
Zwinkernd und frohlockend, -Norrin Davis, Schatzjäger
Versonnen faltete Harper das Geschreibsel zusammen und legte die drei Münzen darauf, um sie noch eine Weile betrachten zu können. Wahrlich, sie hatten eine durchaus interessante, wenn auch dezent ironische Geschichte… Ob sie nun Glück brachten oder nicht, war für ihn schlicht weg irrelevant. Geld hatte er ebenfalls mehr als genug, er hatte sich bei Zeiten um die Entleerung seiner Kasse gekümmert. Da saß er also, in einer kleinen Herberge, mitten in einem Dorf, das weniger Seelen seine Einwohner nennen konnte, als der Ort aus dem er kam und betrachtete drei Münzen und freute sich wie ein kleiner Junge über einen Brief. Natürlich, Norrins Brief. Ihm wurde schlagartig klar was er in den Händen gehalten hatte. Eine Antwort und nicht nur das, diese Antwort war sein Ruf in die Ferne, das Zeichen zum Aufbruch. Er leerte seinen Tee in einem Zug und begab sich nach oben in sein Kämmerchen, wo er seine Sachen zusammenpackte. Schnell schlüpfte er in seine Stiefel, legte sich seinen Mantel um und schritt hinunter in die Stube. Nun waren schon die ersten Gäste zu sehen, einige saßen in ihrer Stammecke und spielten ein Kartenspiel, andere lümmelten an der Theke und kippten Bier. Abscheuliches Zeug, er hatte es einmal probiert und es sogleich verabscheut. Mrs. Maggy wuselte wie gewohnt hinter der Theke hin und her um ihre Gäste zu bedienen. Als sie Harper sah, stockte sie in ihrer Arbeit und musterte ihn fragend. Harper jedoch zog nur ein Bündel Scheine aus der Tasche seines halb kaputten Reisemantels und legte ihn auf das dunkle Holz. Es müsste reichen, er war zwar länger hier gewesen als er es geplant hatte, doch es müsste dennoch reichen. Maggy nahm das Bündel an sich und blätterte es durch. An ihrem Blick erkannte Harper, dass es mehr als genug war. Sie würde jeden dieser Scheine brauchen, dessen war er sich sicher. Warum, das wusste er nicht, doch er hatte so eine gewisse Ahnung. Noch bevor die gute Mrs. Maggy Einwände erheben konnte, war Harper schon nahezu aus dem Haus. Sie hob gerade den Blick, wollte etwas sagen, doch sie kam z spät. Das letzte was sie erblickte, war das Blitzen in diesen eisigen Augen, dann schlug die Tür zu und Harper war verschwunden. Gemächlich schritt er über den Platz, folgte der kleinen Gasse und erreichte schließlich die kleine Mauer. Es nieselte leicht, die Wolken hingen noch am Horizont, wie Betrunkene, die nach einer durchzechten Nacht noch in den Gassen ihren Rausch ausschliefen. „Oder wie Marionetten, achtlos von ihren Meister weggeworfen, verheddert in ihren Stricken, ertrinken sie im Himmel.“, wisperte das Überich. Für einen Moment blieb Harper stehen und schloss die Augen. Der Wind wehte um seine Nase, streifte seinen Körper und strich ihm sanft über das pechschwarze Haar. Er legte den Kopf in den Nacken und genoss die kühlen Regentröpfchen, wie feine Gischt wuschen sie vom grauen Himmel herab. Wie sich wohl echte Gischt anfühlte? Ein kleiner Tropfen rann über sein Knochenweißes Gesicht und blieb auf seinen roten Lippen hängen. Kaum merklich verzogen sie sich zu einem sanften Lächeln, dann fing Harper den Tropfen mit seiner Zunge. Langsam glitt sie über seine Lippen, ehe sie wieder in seinem Mund verschwand. Süß, bittersüß, mit einem Hauch von drohendem Unheil. Der Geschmack des Regens, der Geschmack der Veränderung. Regen bringt Wandel… Er seufzte und schritt von dannen, eilte durch das Tor hinfort, er wollte nicht hier sein wenn Unheil ausbrach.
Darum wurden seine erhabenen Schritte immer länger, immer schneller, bis er schließlich mehr rannte als ging. Wohin, das wusste er nicht. Das spielte auch keine Rolle, er würde nicht lange laufen müssen, dessen war er sich sicher.
Herrje, was für ein seltsamer junger Mann! Maggy fuhr sich mit ihren kleinen, dicken Wurstfingern durch den grauen Haarschopf, ehe sie ihre Haube wieder darüber stülpte und auf den Karren stieg. Die Sonne war zwar zum Vorschein gekommen, kaum als der Junge das Dörfchen verlassen hatte, doch am Himmel zogen bereits dunkle Wolken auf. Er würde sich den Tot holen wenn er so dort draußen herumspazierte! Außerdem hatte er ihr viel zu viel Geld gegeben. Seltsam, so reich sah er gar nicht aus. Vermutlich war er wieder einer dieser Strolche, die ihr Studiengeld dazu verprassten um durch das Land zu streunen und um Frauen hinterher zu jagen. Das hatte sie zumindest gedacht. Hatte. Als sie dann aber in seine Augen geblickt hatte, war ihr klar geworden, dass er anders war als alle Menschen denen sie bisher begegnet war. Oh ja, dieser junge Mann war eine Klasse für sich. Diese Augen! So klirrend kalt wie eine mondlose Septembernacht, so tief und undurchsichtig wie ein Meer aus Dunkelheit und dieses Saphirblau… Er schien alles und jeden damit zu verschlingen, als könnte er mit ihnen in die Seelen der Leute blicken. Sie schnalzte mit den Zügeln und das Pferd preschte voran, vorbei an der Mauer, durch das Tor hinaus in die Ferne, wo sich die schwarze Silhouette des Mannes abzeichnete. Er war weit gekommen, offenbar war er gerannt. Rannte er davon? Doch von wem? Doch nicht etwa vor ihr?. Dieser Mann war ihr nach wie vor unheimlich und ein Rätsel. Doch er hatte etwas an sich, das sie anzog wie ein Fass Bier eine Horde Trunksüchtiger. Grübelnd saß sie auf dem Bock des Pferdekarrens, stets bemüht, nicht von Bord zu rutschen. Bei Gott, es gab bequemere Möglichkeiten zu reisen! Mit einer Hand hielt sie ihre Haube fest, mit der anderen die Zügel und nebenbei hatte sie noch alle Mühe ihr Kleid im Zaum zu halten. Herrje, das Leben einer Frau war nicht leicht. Das Pferd hatte es allerdings auch nicht besser. Schnaubend und ächzend preschte es über Stock und Stein, das Dörfchen rückte immer weiter in die Ferne. Obwohl sie noch gar nicht allzu weit fort waren, nieselte es hier wieder. Je weiter sie fort fuhr, desto stärker wurde das Nieseln, bis es zu Regen wurde. Es schien fast so, als würde der Mann den Regen mit sich tragen. Die schwarzen Wolken schienen ihm zu folgen wie Unheil… Was für ein wirres, abergläubisches Gebrabbel! Die alte Dame schalt sich ein feiges, leichtgläubiges Weibsbild und versuchte diese Gedanken zu verscheuchen. Dennoch fühlte sie sich unwohl, denn hinter ihr baute sich bereits eine finstere Flut aus Gewitterwolken am Himmel auf, die das Dörfchen zu verschlingen drohten. Was wenn der junge Mann doch…
Um Himmels Willen! Das Scheuen des Pferdes riss sie aus ihren Gedanken, der Mann stand nun fast unmittelbar vor ihr. Seelenruhig spazierte er im Regen dahin, sein Mantel wehte im sausenden Wind und sein rabenschwarzes Haar tat es ihm gleich. Er drehte sich nicht zu ihr um, doch seine Stimme tönte an ihr Ohr. Kalt, melodisch und irgendwie finster… Es waren nur drei Worte, doch es bedurfte nicht mehr, um sie aus der Bahn zu werfen. „Ah, Mrs. Maggy.“
Als hätte er sie erwartet.
Erneut stahl sich ein Lächeln auf seine blutroten Lippen, sein nasses Haar peitschte in den Fluten des Windes und klatschte ihm mit jeder Böh ins Gesicht. Langsam drehte er sich zu der alten Dame um. Er hatte gewusst, dass sie kommen würde. Sie wollte ihm das Geld geben, welches den Preis überstieg und sie wollte ihn mitnehmen, damit er sich nicht den Tod holte. In ihrem Gesicht konnte er sowohl leises Entsetzen als auch Neugierde ablesen. Ein Hauch eines nur allzu bekannten Duftes lag in der Luft. Furcht und aufkeimendes Unheil. Wunderbar. Er leckte sich erneut den Regen von den Lippen. Ja, er hatte Recht.
Die alte Dame forderte ihn auf sich in den Pferdekarren zu begeben. Ein kümmerliches Vehikel, bestehend aus vier Rädern, einer Ladefläche mit Dach und einem Pferd, das seine besten Tage längst hinter sich gelassen hatte. Mit einem eleganten Satz schwang er sich auf den Karren, direkt neben die alte Mrs. Maggy, deren Blick an ihm heftete. Wie erwartet hielt sie ihm eine Predigt, von wegen er würde sich den Tod holen et cetrea. Dann endlich fragte sie ihn wohin er denn nun zu reisen gedachte. Sein Lächeln wurde breiter, blanke, weiße Zähne blitzen unter den roten Lippen hervor. „Dorthin, wo die Züge halten, die kleinen Stationen.“, beantwortete er ihre Frage. Ihre Augen weiteten sich. Der nächste Bahnhof war mit diesem Gefährt nicht zu erreichen, so weit war er fort. Das hatte sich Harper bereits gedacht. „Die kleinen Stationen…“, murmelte die alte Dame nachdenklich. Dann hob sie erneut den Blick und sah Harper in die Augen. In einer halben Stunde würden sie eine kleine Haltestelle erreichen können. Mehr wollte er nicht. Zufrieden nickte er und blickte zum Horizont, wo sich eine dunkle Wolkendecke bildete. Wieder leckte er sich den Regen von den Lippen. Wahrlich, er schmeckte nach Unheil…
Die ganze Fahrt über blieb er stumm und starrte ins nichts. Mrs. Maggy grübelte vor sich hin, krampfhaft versuchte sie den jungen Mann zu durchschauen, doch sie hatte keine Chance. Er hingegen schien sie in und auswendig zu kennen, er hatte offenbar geahnt, dass sie kommen würde. Zum Zug wollte er. Was für ein Plan! Die nächste Station war eine halbe Stunde Fahrt weit fort, mit dem Pferdekarren brauchte man bei diesem Wetter allerdings länger, doch das schien ihn nicht zu stören. Zum Zug… Sie selbst wusste nicht wann, oder ob denn überhaupt ein Zug an dieser Haltestelle halten würde. Sie war einige Male daran vorbeigefahren, als sie Gäste abgeholt hatte, doch das geschah nur ein, allerhöchstens zwei Mal im Jahr. Das Dorf war schon längst nicht mehr zu sehen, ihr wurde immer unwohler zumute. Auch die Wolken waren schwärzer geworden, Blitze zuckten vom Himmel. Doch der junge Mann zeigte keinerlei Reaktion. Dann, nach über einer Stunde Fahrt, zeichnete sich ein kleines Häuschen auf dem Bahndamm ab. Die Haltestelle. Noch ehe sie angehalten hatte, war der Junge vom Wagen geglitten und stand nun direkt vor ihr. Er lächelte, doch seine Augen waren verschlossen und kälter als der Regen. Da fiel ihr plötzlich auch der Umschlag ein. „Ihr Geld, junger Herr, Sie haben mir zu viel Bezahlt.“ „So?“ erwiderte Harper. Sein Lächeln glitzerte vor lauter Regentropfen. „Behalten Sie es, Mrs. Maggy.“ „A-aber.“, sie setzte dazu an, zu widersprechen, doch Harper schnitt ihr das Wort ab.
„Sie werden es brauchen.“, flüsterte er und bedachte sie mit einem Blick, der ihr das Blut in den Adern gefrieren ließ und auch sein Lächeln war zu Eis gefroren. „Danke…“, murmelte sie, doch noch bevor sie es vollends ausgesprochen hatte, hatte Harper sich abgewandt und war verschwunden. Seufzend schnalzte sie mit den Zügeln und wendete den Pferdekarren. Sie dachte über den jungen Mann nach, ein seltsames Wesen… so jung, noch grün hinter den Ohren und doch…
Ihr Blick glitt zum Horizont, ein leichter, oranger Schimmer war zu sehen. Aus ihm erhob sich eine pechschwarze Rauchsäule und stieg zum Gewitterhimmel empor. Ihr stockte der Atem. Das Dörfchen! Ihr zu Hause! Sie trieb das Pferd an, der Karren sauste in Richtung des Übels, doch sie würde zu spät kommen.
Feuer fressen schnell und erbarmungslos und sie fressen alles.
Feuer. Von einem Blitzeinschlag? Vermutlich…
Doch eine Stimme in ihrem Kopf sagte ihr, dass dem nicht ganz so war.
Harper saß in dem kleinen, halben Häuschen, das die Haltestelle vor Wind und Wetter schützte. Ringsum ließ der Wind den Regen gegen die hölzernen Mauern peitschen, in der Ferne räkelte sich eine Rachsäule in den wütenden Himmel. Es stimmte, Regen bringt Veränderungen. Ein Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus. Dieses mal kein Maskenlächeln, nein. Ein blutrotes, wissendes Lächeln. Das Dörfchen brannte sicherlich lichterloh. Möglicher Weise hatte ein Blitz irgendwo eingeschlagen und einen der Heuschober unter den Dächern in Brand gesteckt. Oder es war die Kerze gewesen, die er vor seinem Verschwinden auf dem Holztisch hatte stehen lassen. Ohne jede Halterung. Du meine Güte, wie achtlos…
Ein Kichern entfloh seinen Lippen. Genüsslich beobachtete er den Rauch, der wie ein Sturm aus Rabenfedern in den Himmel stieg. Auch der Himmel bot einen herrlichen Anblick, es sah fast so aus, als führten die Götter Krieg. So oder so, sei es wie’s sei, er hatte für Unterhaltung gesorgt. Der Ort hatte ihn ohnehin gelangweilt. Langweilige Leute, fade Häuser und Kühe. Ja, selbst die Kühe waren interessanter gewesen als die wenigen Bewohner dieses Ortes. Er hatte Recht behalten, was Mrs. Maggy anbelangte. Sie war ehrlich, fürsorglich und von Herzen freundlich. Widerlich. Nun, sie hatte seine Erwartungen erfüllt und ihn hier her gebracht. Ohne sie wäre er weiß der Teufel wie lange herumgewandert. Er lehnte sich gegen die Wand der Haltestelle, bevor er auf die kleine Bank hinab glitt, um sich zu setzten. Auf der rechten Seite hing ein Fahrplan, doch Harper ignorierte ihn. Weshalb nachsehen, warten musste man ohnehin und er konnte warten. Egal wie lange. Die Haltestelle bot keinen allzu zuverlässigen Schutz, da die Frontwand fehlte, wehte der Wind ihm die Gischt des Regens ins Gesicht. Ein letztes Mal glitt seine Zunge über diese blutroten Lippen und sammelte die Regentropfen ein. Bittersüß mit einem Hauch von Unheil und Asche. Amüsiert begann er zu summen, während er seine Beine übereinender schlug, den Mantel enger um sich schlang und seinen Blick in die Ferne gleiten ließ. Auch seine Gedanken begannen zu wandern, weit fort…
Die Zeit verstrich, das feurige Glimmen der untergehenden Sonne war bereits erloschen und die Nacht streifte mit ihren langen, kalten Fingern über das regennasse Land. Die silberne Sichel des Mondes grinste vom wolkenverhangenen Himmel, wie des Todes Sensen Schneide und tauchte die umliegenden Wolken in einen geisterhaften Schimmer. Bis auf das leise Prasseln des Regens, der auf das Dach der Haltestelle trommelte war es fast vollkommen Still. Lediglich das Rauschen und Wispern des Windes, welcher umher streifte wie eine streunende Katze, gesellte sich zum Klang des Regens. Harper saß dort und wartete. Er beobachtete die Laterne, deren Inneres pechschwarz wie die Nacht selbst war. Ein abgebrannter Kerzenstummel war das Einzige was sie füllte, doch niemand war gekommen um ihn anzuzünden. Die Gleise lagen still und einsam da, wie zwei Schlangen aus flüssigem Silber, die im Mondschein ruhten. Tatsächlich ließ das fahle Mondlicht alles irgendwie einsam und verlassen wirken. Nichts desto trotz genoss Harper die kalte, nasse Nachtluft und die Stille. Er mochte, nein, liebte diese Leere, die bis in sein Innerstes drang, denn sie lechzte danach, gefüllt zu werden. Und er liebte es dies zu tun. Er füllte sie mit Gedanken, Plänen, Monologen und Vermutungen, mit allem was ihm in den Sinn kam. Plötzlich veränderte sich die Stimmung, eine seltsame Spannung brach die Idylle der Nacht. Die Luft schien zu vibrieren, ebenso wie das Podest auf dem die Haltestelle sich befand. Harper löste seinen Blick von des Mondes Grinsen und blickte auf die Gleise. Sie vibrierten tatsächlich! Rauch erhob sich in nicht allzu ferner Distanz und ein Lichtkegel raste von links auf ihn zu. Der Wind frischte auf und auch der Regen wusch nun heftiger vom Nachthimmel. Ein donnergleiches Geräusch erklang und die kleinen Kiesel auf dem Haltestellenboden begannen umher zu hüpfen, die Holzwände des Haltestellenhäuschens wackelten sacht und das Glas der schwarzen Laterne klirrte. Der Boden bebte immer stärker, das Licht wurde immer greller, Rauch schwängerte die Luft, ebenso wie ein Geruch, der aus den tiefsten Abgründen der Hölle gekommen zu sein schien. Das Grollen gewann an Lautstärke, die Vibration wurde beinahe zu einem Beben und dann ertönte ein Quietschen und Jaulen, das Harpers Haare dazu brachte sich um einen Stehplatz zu raufen. Er kniff die Augen zu schmalen Schlitzen zusammen und beobachtete das schwarze Ungetüm, das sich kreischend unter einer Wolke aus Dampf und Rauch auf ihn zuschob und knapp vor ihm zum stehen kam. An der Frontseite prangte ein gigantisches Licht, ein Schornstein spuckte Qualm und nach wenigen Metern des Ausrollens kam das Monster aus Stahl und Metall zum Stehen. Ein Dampfross. Eine Lokomotive. Neugierig beäugte Harper das Ungetüm, das noch viele Waggons hinter sich herzog, wie Perlen auf einer Kette aufgefädelt tuckerten sie hinter dem Koloss her. Ein schrilles Pfeifen riss ihn aus seiner Starre, langsam schritt er auf einen der Waggons zu, stieß dessen Tür auf und trat ein. Überraschender Weise war es hier fast häuslich. Zwei Reihen aus gepolsterten Sitzen zogen sich durch den gesamten Waggon. Abteile trennten die Sitzgelegenheiten, jedes einzelne Abteil bestand aus zwei Sitzbänken, die einander gegenüber standen und einem Tisch. Oben waren Gitter angebracht, für Koffer oder Dergleichen. Harper inspizierte viele Waggons, einige hatten Abteile, andere beinhalteten nur Sitzplätze und einer bestand sozusagen aus einem fahrenden Restaurant, welches allerdings geschlossen war. Die hinteren Waggons waren versperrt, doch durch die Tür des letzten konnte er erkennen, dass sich auf ihnen Holz und anderes Lastgut türmte. Er kehrte zu einem der Abteilwaggons zurück und machte es sich auf dem weichen, sofaartigen Sitz bequem. Ein Ruck durchzuckte das Fahrzeug, ein Pfeifen und Quietschen erklang und der Koloss setzte sich tuckernd in Bewegung. Die Landschaft begann an Harper vorbei zu ziehen, erst langsam, dann immer schneller und schneller, bis sie schließlich zu einem Brei aus Schwärze, Mondlicht und den Spiegelungen der flackernden Zugleuchten verschwamm. Im Abteil herrschte Dämmerzustand, eine einzige Petroleumlampe spendete spärliches Licht. Harper drehte sie herunter, bis sie erlosch und blickte aus dem großen Fenster, um den wabernden Brei zu beobachten, der an ihm vorbeiraste. Er wusste nicht wie lange er dort saß und aus dem Fenster blickte, doch irgendwann wurden seine Augenlieder schwer und fielen gegen Ende gar vollkommen zu. Der Waggon wippte und wackelte, doch das störte Harper kaum, selbst das Quietschen und Rattern des Zuges drang nicht durch die Oberfläche des Sees aus Träumen, in dem er versunken war.
Die aufgehende Sonne setzte den Horizont mit ihrem lodernden Kuss in Flammen aus orangem, rotem und zartrosanem Licht. Allmählich kehrte die Farbe in die Welt zurück, das Silber und die Schwärze der Nacht wichen dem Gold der Sonne und dem Blau des Himmels. <i>Pechschwarz zu Morgenblau, des kalten Mondes Silber zu brennendem Sonnengold… Harper blinzelte, seine Gedanken waren stets schneller wach als sein Körper. Der Körper ist lediglich der Bauer des Königs Geist, so sagt man.</i> Er lächelte müde, wieder glitten seine Gedanken apart. Die Landschaft zog nach wie vor an ihm vorbei, nun war sie jedoch Hügelig, teils von Wäldern durchzogen und von Dörfern gespickt, wo jeweils Gäste ein oder ausstiegen. Hier herrschte ein stetiger Wandel. Obwohl er nur hier saß und nachdachte, die Personen sezierte, die ihm unter die Nase kamen, nichts Wirkliches tat, so tat er doch etwas. Der Zug bewegte sich, trug ihn weit fort und bescherte ihm Futter für seinen müden Geist, ohne dass er seinen Körper rühren musste. Es war fast so als befände er sich in einem eigenen kleinen Universum. Er war auch über Berge gefahren, vorbei an Seen und anderen Landschaften… Ohne sich auch nur einen Meter zu bewegen, was war dies nur für ein suspektes Ding! Suspekt, aber dennoch Praktisch… Wieder glitten seine Gedanken fort, doch dieses Mal wurden sie jäh zurück gerissen.
„He, Sir, ham‘ Sie `n Fahrschein?“ Eine kratzige Stimme, hart und spröde von Whiskey und Weinbrand richtete sich auf ihn. Harper runzelte die Stirn, wandte den Kopf vom Fenster ab und richtete ihn auf das Subjekt, welches ihn mit seinem Gossenjargon bombardierte.
„Haben’s einen oder nich?!“, setzte die Stimme nach.
Sie gehörte zu einem pockennarbigen Gesicht, auf welchem ein Zauberwald von einem Bart wucherte. Zwei kleine, braune Augen musterten ihn ungeduldig. Harper blickte den Mann durchdringend aus seinen Saphiraugen an. „Gesellschaft, aber keine sonderlich gute, nicht wahr?“, meldete sich sein Überich neckisch zu Wort. „He Sie…“, setzte der pummelige Mann wieder an, doch Harper unterbrach ihn. „Nein, ich habe keinen Fahrschein, Sir.“
Der Mann musterte ihn. „‘n Schwarzfahrer, hä?“ „Das haben wa ja ganz gerne… Wolln’s n Schein kaufen? Kostet Sie aber ‘n paar Münzen mehr.“
<i>Welch Attitüde und Jargon… als käme man aus der Gosse, herrje.</i>
„Nein Sir, ich kaufe keinen Fahrschein.“ Nun runzelte er die Stirn und musterte ihn noch genauer.
„Also habn’s einen?!“
„Nein Sir, ich habe keinen.“
„Warum nicht?!“ Langsam nahm sein pockennarbiges Gesicht einen gefährlichen, jedoch amüsanten Ausdruck an.
„Nun, sehen Sie, ich habe keinen, da ich keinen brauche.“
Harper taxierte den Mann mit Blicken, welcher nun von Überraschung übermannt wurde, was Harper den Hauch eines Grinsens ins Gesicht zauberte. Törichte <i>Individuen, töricht und so leicht reizbar.</i>
Harper seufze und fuhr fort, ehe der Mann seine wulstigen Lippen zu einer Schimpftirade öffnen konnte.
„Weswegen sollte ich für etwas bezahlen, dessen Nutzen ich weder beeinflussen, noch kontrollieren kann?“
„Weil jeder zahlt, zur Hölle, sie sitzen doch hier in ’nem verdammten Zug!“
Er sah den Mann an, zog eine Augenbraue hoch und lächelte verschmitzt.
„Hören Sie, ich sitze nur hier, gleich ob sich diese Maschinerie unter mir bewegt oder nicht. Ich sitze lediglich hier und tue nichts. Ich bezahle schließlich auch nicht, wenn ich auf einer Parkbank sitze, oder?“
„Unverschämtheit, ne Bank is kein Zug! Ne Bank rührt sich nicht von der Stelle!“
„Nun, diese Bank tut dies auch nicht, sehen Sie? Oder fahre ich mit der Bank durch die Gegend? Wohl kaum. Ob sich der Zug bewegt oder nicht, ist mir herzlich egal, ich beabsichtige lediglich, hier auf dieser Bank zu sitzen.“
Der Mann starrte ihn an, Fassungslosigkeit hatte die Wut in seinem Gesicht verdrängt. Sein Mund stand offen, als wollte er etwas sagen. Ein süffisantes Grinsen hatte sich über Harpers rote Lippen gelegt, seine Augen blitzen. Seine Stimme wurde schärfer, als er dem Mann seine letzte Frage stellte. „Haben Sie noch etwas zu sagen, Sir?“ Der Mann starrte ihn noch immer an, dann klappte er seinen Mund zu und wieder auf, stammelte etwas von wegen „U-unfassbar…“, wobei er seinen Kopf schüttelte und da stand, als hätte er den Leibhaftigen gesehen. Harper wertete diese Reaktion als zufriedenstellend, doch der Mann ging ihm auf die Nerven. „Gut“ Harpers Stimme schnitt erneut eiskalt in das Wort des Mannes, welcher sich umdrehte und kopfschüttelnd fortstapfte.<i> Dumm, töricht und zu allem Überfluss auch unterbelichtet. Dennoch, durchaus amüsant… </i>Zufrieden wandte sich Harper wieder dem Fenster zu und beobachtete den Tag bis er starb, die daraus erwachende Nacht und alles darum herum. Einzig sein Spiegelbild leistete ihm Gesellschaft. Nachdenklich musterte er sich selbst. Haare, so pechschwarz wie eine sternlose Septembernacht. Lippen, so rot wie gerinnendes Blut. Augen, so undurchdringlich, unendlich tief und kalt wie der Abgrund hinter dem Himmel und so blau, wie flüssiger Saphir. Augen, die alles sahen, wissende Augen. Haut, so weiß wie das Antlitz des Mondes selbst, kalt und glatt wie Porzellan. Umhüllt mit Kleidung, so schwarz wie der Blick der Saphiraugen. Undurchdringlich, um zu verschließen, was verschlossen bleiben soll…
Die Zeit schien mit dem Zug an Harper vorbeizurasen, schneller und immer weiter fort. Langsam erstarb das letzte Licht des Tages, die Schatten wurden länger und das Dunkel der Nacht breitete sich über das sterbende Licht der Sonne. Der Mond grinste sein silbernes Sensengrinsen auf die kalte Welt herab, er schien der Einzige zu sein der der rasenden Geschwindigkeit des Zuges trotze, wie ein Wächter weilte er vor dem Fenster, hinter dem unser Freund Harper ruhte. Es dauerte nicht lange und die Nacht erlag dem Schein des aufkeimenden Tages, doch unser Freund weilte unverändert im Sumpf eines traumlosen Schlafes. Erst als die Sonne über den Horizont kletterte und der Zug immer langsamer und langsamer wurde, erwachte er. Das Rattern wurde wieder lauter, vor den Fenstern wogten Wolken aus Rauch und Dampf, die Räder quietschten, zischten und von der Lok ertönte ein grelles Pfeifen. Stimmengewirr drang von draußen her, unzählige Menschen wuselten über die Bahnsteige, drängten sich zu den Türen des Zuges und redeten wild durcheinander. Verdutzt begab Harper sich zu einer der Türen und kämpfte sich durch die einströmenden Menschen nach draußen. Die Menge drängte ihn über den Bahnsteig, fast wurde er von der Masse aus Körpern und Kleidung zerquetscht. Angewidert von der schieren Zahl an Menschen, ihrem Gestank und ihren johlenden Stimmen, stolperte Harper immer weiter. Mehr denn je fühlte er sich wie ein Fremdkörper, niemand schien ihn zu sehen, man rempelte ihn an, schob ihn beiseite und drängte ihn fort, wie ein Stück Gepäck. Wie furchtbar deplatziert und weltfremd er sich doch fühlte! Er wollte fort, nur noch fort und zwar schnell. Doch sobald der Zug besetzt war, und in die Richtung davon tuckerte, aus der er gekommen war, war der Bahnhof beinahe menschenleer. Vereinzelt schlichen hier und dort einige uniformierte Gestalten herum, doch ansonsten herrschte eine fast gespenstische Leere. Langsam schritt Harper umher und blickte sich um. Über ihm hing ein Himmel aus Glas, gestützt von einem Skelett aus Metall. Selbst über dem Bahnsteig hing dieser gläserne Himmel und er erstreckte sich noch weiter, formte über der Halle eine Kuppel, bevor er über einem großen Portal endete. Die Sonne warf ihre goldene Strahlen in das Gebilde und lies es schimmern und leuchten wie einen Feuerball. Fasziniert blieb Harper in der Mitte der Halle stehen und betrachtete das schimmernde Schauspiel eine Weile. Welch gigantische Kraft dies doch stützen mochte…<i> Ja, welch gigantische Kraft… Was wenn sie nachgibt? Der gläserne Himmel stürzt, fällt herab auf die Menschen und erstickt das Gewusel unter einem Regen aus Scherben… </i> Ein kalter Hauch wehte durch die gläserne Halle, die riesigen Bogenfenster klirrten. Diese Stimme… Wie lange begleitete sie ihn schon? Sie war anders als sein Überich, anders als der Freundliche, der Weise oder der Hinterhältige. Sie war ganz und gar anders als alles, auch als sein Es. Doch sie gefiel ihm. Sehr gut sogar. Von Neugierde gezogen verließ er die gläserne Halle und machte sich auf den Weg nach draußen, um zu sehen, was es dort zu entdecken gab.
Kalte Luft schlug ihm entgegen, der Wind zauste durch sein Haar und wehte eine salzige Briese in seine Nase, als Harper durch das riesige Glastor schritt und in die, für ihn neue Welt trat. Turmhohe Häuser ragten gen Himmel, Fahrzeuge durchquerten Straßen, auf denen sich ein Meer aus Menschen drängte. Noch nie in seinem gesamten Leben hatte Josh Harper so viele Leute auf einmal gesehen. Geschweige denn so hohe Gebilde aus Stein und Glas, mit Dächern, die sich wie Speerspitzen in den goldenen Himmel bohrten. Wahrlich, eine Stadt wie diese hatte er noch nie gesehen. Ehe er sich versah, wurde er von einer Menschenmenge erfasst und mitgerissen, wie eine Welle zog sie ihn fort, wohin auch immer. Doch dies störte ihn nicht, er ließ sich tragen, und betrachtete seine neue Umgebung. Zahlreiche Geschäfte zogen an ihm vorbei, zahllose kleine Ständchen, von denen ein köstlicher Duft aufstieg und sich mit dem furchtbaren Dunst der grauen Masse zu einem widerwärtigen Brei aus tausenden Gerüchen vermengte. Händler schrien sich die Kehlen heißer, um ihre Waren feil zu bieten, Frauen trippelten mit ihren Einkaufkörben umher, Kinder johlten und rannten hinter bunten Reifen her. An den Arkaden häuften sich Lokalitäten, die augenscheinlich mit Kaffee und Gebäck handelten, Geschäfte, voll mit Schuhen drängten sich neben solchen, die nur mit Kleidern handelten und dazwischen fand man Lebensmittelläden, Zeitungsstände und sogar einen Laden, der von außen bemalt war, wie ein gigantisches Bonbon. Über seinem Eingang prangte eine riesige Zuckerstange, die sich mit einem ebenso großen Lutscher kreuzte. Ein bunt-gestreiften Pavilliondach, das doch tatsächlich den Eindruck erweckte, dass es aus Bonbonpapier bestünde, spannte sich vor dem Eingang. Unzählige Kinder drückten sich ihre Nasen an den blanken Scheiben platt und schmachteten dahin. Neben diesem fragwürdigen Geschäft befand sich eines, über dessen Eingang eine goldene Schere in nahezu lächerlicher Übergröße baumelte. <i>Ob man damit wohl jemandem den Kopf von den Schultern schneiden könnte?</i> Harper musste grinsen, und merkte plötzlich, dass er stehen geblieben war, denn die Menschen rempelten ihn an und drohten ihn wieder mit der Masse fort zu reißen. Angewidert von diesem abscheulichen, gedankenlosen Geschiebe, drehte er sich um und stapfte in die entgegen gesetzte Richtung davon, was ihm zahlreiche Rempler, böse Blicke und abfällige Bemerkungen einbrachte. Doch die störte ihn nicht. Dann fiel ihm auf einmal sein Spiegelbild in einem der blanken Schaufenster auf und er erstarrte. Seine Kleidung hing an ihm wie ein nasser Lumpensack, seine Schuhe waren zerlöchert und verschmutzt. Das Einzige, was ihn daran erinnerte, wer er war, waren die beiden Saphiraugen, die aus seinem, unter einem unordentlichen Bart verborgenem, Gesicht heraus blitzen. „Nein, was sehen wir nicht aus wie ein Landstreicher!“, höhnte sein Überich. Es hatte Recht. Wie immer. Harper schauderte und wühlte in seinen Taschen nach dem Geldbeutel. Er musste sich eine Unterkunft suchen, und zwar schleunigst, damit er sich wieder in Ordnung bringen konnte. Voller Entschlossenheit stapfte er los, Ziel hatte er zwar keines vor Augen, doch wen kümmerte das? Josh Harper jedenfalls nicht.
Gegen Ende des Tages hatte er ein recht günstiges Quartier gefunden. Kaum verwunderlich, es lag in einer kleinen, finsteren Gasse die gerade zu „Geh hier entlang und du wirst ausgeraubt, vergewaltigt und aufgeschlitzt“, zu schreien schien. Auch das vermeidliche Hotel zog einen bitteren Hauch mit sich, wenn auch nur im übertragenen Sinne. Sei es wie’s sei, Harper konnte nicht meckern. Sein Zimmer war ganz gemütlich, sein Bett war wanzenfrei und er hatte einen wunderbaren Blick über die Straßen. Was zwar einen entsprechenden Geräuschpegel mit sich brachte, ihn aber nicht weiter störte, immerhin konnte er so die Leute beobachten und genau das tat er auch. Wie Ameisen wuselten sie unter ihm umher. Wie klein sie doch aussahen… Nachdenklich versank er im Anblick der Masse. Offenbar verschmolzen sie zu einem Strom, der sich dann aber so schnell wieder auflöste, wie er sich formiert hatte, nur um an einer anderen Stelle erneut zu einem Fluss aus Körpern zu werden. Wie Puppen sahen sie von hier oben aus, zwar war dies nur der dritte Stock, möglicherweise auch der vierte, genau wusste Harper dies nicht, doch sie schienen so klein und unbedeutend wie Ameisen zu sein. Auch das Geschäftige, scheinbar planlose umherirren, erinnerte ihn an diese winzigen Insekten.<i> Klein, unbedeutend, planlos und unfähig sich zu wehren. Marionetten des Triebs der grauen Masse… Wuseln umher wie Ameisen. So winzig klein und unbedeutend, wie Ameisen. Man könnte sie mit einer Hand zerquetschen… </i>„Wie Ameisen…“, flüsterte Harper mit einem verträumten Lächeln auf den Lippen.
Er war in einer Stadt, in einer Stadt aus Glas, mit so vielen Menschen und doch überschwemmte ihn hier das Gefühl völlig alleine auf dieser Welt zu sein. Auch das Auftauchen des Neuen, wie er seine neueste Begleitstimme nannte, tröstete ihn wenig. Harper fühlte sich zwar verhältnismäßig gut, doch irgendwie tat sich ein gähnendes Loch in seinem kalten Herzen auf, das er nicht zu stopfen vermochte. Seine Gedanken schweiften hingegen fort, zu dem einzigen Menschen, der ihm etwas bedeutete.
Ein eisiger Schauer rann über Norrin Davis‘ Rücken, als er durch die verlassenen Straßen des Ortes zog. Seit dem Tage, an dem der Junge gegangen war, tat er dies häufig, er wanderte umher, wanderte über die gelben Pflasterwege, über die auch er einst gewandert war. Was er wohl dabei gedacht hatte? Hatte er auch Spaziergänge unternommen? Grübelnd sog Norrin an seiner Ausgehpfeife und blies den bläulichen Rauch in die erkaltende Luft. Die Häuser waren zwar alle noch bewohnt, doch sie waren nur noch Schatten ihrer einstigen Pracht. Hecken wucherten wild, wo einst Rosenbeete und Rhododendronbüsche blühten, wucherten nun Büsche von Unkraut und verwilderten Hauspflanzen, aus den rund gestutzten Zierbäumchen waren wuschelige Kronengewächse geworden und der einst so grüne, saftige Golfrasen war entweder durch Hitze ausgebrannt oder zu einem wahren Irrgarten aus Grün mutiert. Kopfschüttelnd schlurfte er weiter, sein Gehstock klapperte im Takt mit den Beschlägen an seinen Schuhsohlen. Vor einiger Zeit war er noch ohne ihn durch die Welt geschritten, nur zu feierlichen Zwecken hatte er ihn aus dem Schrank geholt. So hatte er es auch mit seinem Zylinder und dem Gehrock gehandhabt. Doch diese Zeiten waren lange vorbei. Nun war jeder Tag, den er hier verbrachte sowohl ein Segen als auch ein Fluch, doch das störte ihn nicht weiter, er hatte es immerhin nicht anders verdient. Müde blieb er stehen und rieb sich sein schmerzendes linkes Bein. Der Gehstock knackte als er sich mit seinem, stetig schwindenden Gewicht darauf stütze. Das hatte er alles nur IHR zu verdanken. „Abscheuliches Weibsstück.“, murmelte er, wobei ihm fast seine feine Pfeife aus den Lippen glitt. Auge um Auge, oder besser, Auge um Bein, so hatte sie es gemacht. Nun stand sie da, hinter ihm und beobachtete ihn mit ihren verwesendem Lächeln. Die linke Augenhöhle gähnte ihn an, Schwärze lachte ihm daraus entgegen. Die bittere Unendlichkeit des Nichts. Seit Neuestem begleitete sie ihn auch auf seinen Spaziergängen, was ihm den letzten sicheren Freiraum geraubt hatte. Eines Tages, als er soeben in den Keller gehen wollte, um dort in Erinnerungen zu versinken, war sie plötzlich aufgetaucht und hatte ihm einen alten Schirm zwischen die Beine gewirbelt, worauf Norrin die Wendeltreppe hinunter gepoltert war, und dabei sein Bein verletzte. Beim Arzt war er nie gewesen, sie würden ohnehin nur daran herum schneiden wollen. Elende Quacksalber. Seither humpelte er, benötigte gar einen Stock um zu gehen. Was war nur aus ihm geworden… Als er sich umdrehte, um sie zu beschimpfen, war sie jedoch schon wieder verschwunden. Nur eine Frau mit langen, grau-schwarzen Haaren trippelte scheinbar Ziellos durch die Straßen und flüsterte einen Namen. Norrin war zwar alt und vielleicht –vielleicht sogar ganz sicher – nicht mehr ganz bei Trost, doch seine Gehör war so scharf wie eh und je. Er schlurfte ein paar klackernde Schritte weiter, vorbei an der Frau, um zu sehen um wen es sich dabei handelte. Sie zog an ihm vorüber, ohne ihn zu beachten, der Blick ihrer Augen irrte durch die Welt. Doch dies war genug, Norrin erkannte diese Ähnlichkeit sofort. Ihre Augen waren wasserblau und hatten einst sicher geleuchtet, doch nun lag ein glanzloser Schleier über ihnen. Der Junge hatte diese Augen also von ihr. Seine Lippen offenbar auch… Doch diese Lippen flüsterten, ja flehten scheinbar einen Namen. Norrin kannte diesen Namen, wie er auch den Jungen kannte, der in einst trug. Robert -die Marionette seines Bruders-Harper.
Der Junge, der zu ihm gekommen war, um ein Buch für den zu kaufen, den er am meisten liebte. Den Jungen, der alles konnte, ja der alles wusste, der Junge, der niemanden mochte. Nur Robert. Josh liebte seinen Robert, dafür hatte Robert Harper alles getan.
Seit diesem Tag hatte Norrin ihn nie wieder gesehen und etwas sagte ihm, dass auch diese Frau ihn niemals wieder sehen würde.
Wie immer stand Aida Harper in ihrer kleinen, von verdorbenem Essen gefüllten, Küche und tat das, was sie immer tat: kochen. Doch sie tat nicht nur dies, denn dies war nur ihre Beschäftigung, um sie von ihrem eigentlichen Tun abzulenken, denn in Wahrheit tat sie seit Ewigkeiten nur eins: sie wartete. Wohl war, sie wartete auf ihren armen, kleinen, verirrten Lieblingssohn. Irgendwann würde er wiederkommen, das wusste sie ganz genau, irgendwann würde ihr geliebter kleiner Robert mit seinem Fußball vor ihrer Tür stehen und ihr erklären, dass er sich lediglich beim Training verplaudert hatte. Jawohl, er hatte sich sicherlich nur mit Veronica getroffen, oder trieb mit Markus und Paule Lichter irgendwelchen Schabernack, was auch immer kleine Jungs so treiben. Aber sie wollte nicht warten, nicht noch länger, nicht eine Sekunde mehr! Der Herd stieß das altbekannte „Der Kuchen ist fertig-Klingeln“ aus und Aida zog sich die Topflappen mit Fußballmuster an –Robert hatte sie ihr geschenkt, er hatte sie in der Grundschule im Werkunterricht gemacht, gerade erst vor kurzem also- und holte vorsichtig den Schokoladenkuchen aus dem Schlund des Ofens. Sein Lieblingskuchen. Seufzend zog sie ihre Hände aus den „Ofendingern“, wie er sie immer genannt hatte und stellte den heißen Kuchen zum abkühlen auf den Tisch, auf dem schon allerlei andere Köstlichkeiten ihren Platz gefunden hatten.
Doch die Köstlichkeiten, die sich dort auf dem Tisch türmten, waren alles andere als ein Augenschmaus. Auf diesem Tisch fanden sich Lebensmittel die seit Roberts „Verschwinden“ dort lagen. Von Schnitzel, das beinahe schon selbst vom Tisch kroch, über Pommes mit langem, grün-grauem Pelz, bis hin zu vermoderten Früchten und nicht mehr identifizierbaren Lebensmitteln, häufte sich dort oben alles, bis Aida es auf den Fußboden schob, um den Tisch erneut zu beladen. Wahrlich, die Küche war ein Ort des Grauens geworden. Maden krochen aus den Bergen aus verrottendem Essen, Fruchtfliegen und allerlei andere Kriechtiere tummelten sich heiter in der verkommenen Küche. Widerlich süßer Gestank erfüllte den Raum und drang sogar nach draußen. Bei jedem Schritt den Aida tat, erklang ein Schmatzen. Sie wandelte in einem Fressalienfriedhof. Doch nun griff sie ihren Mantel und machte sich auf den Weg in die Stadt, ihr täglicher Gang. Unruhig glitten ihre leeren Augen über die Umgebung, zuckten nach links und rechts, immer auf der Suche nach ihm. Flüsternd rief sie seinen Namen, ihre zitternden Hände hatte sie um das abgewetzte Leder seines Lieblingsballes geschlungen. „Robert, sieh nur wen ich hier habe! Bobbles! Dein Lieblingsball! Komm nur, komm raus zum Spielen! Bobbles ist gaaaaanz traurig und sehnt sich nach seinem Robbie…“, im Flüsterton krächzte ihre Stimme wieder und wieder seinen Namen, lockte ihn mit Bobbles, seinem Lieblingsball, in der Hoffnung ihn zu finden. So schlurfte sie über die gelben Pflastersteinwege. Nun ja, einst waren sie strahlend gelb, doch nun waren sie ausgebleicht, abgetreten und von hässlichen, dunklen Flecken überzogen. Hier und da fehlten gar ein paar der gelben Steine, an ihrer Stelle klafften finstere schwarze Löcher. „Wie Zahnlücken im Mund eines Penners!“, hätte Robbie sicher gesagt. Langsam wichen die gelben Wege grauen Straßen, die Stadt trat aus dem Nichts hervor und verschlang Aida. Immer schneller hastete sie durch die Gassen, vorbei an unzähligen Leuten, die sich auf dem Marktplatz tummelten, immer weiter auf ihr Ziel zu. Dann endlich hatte sie es geschafft. Sie war vor einem großen, alten Bau angekommen, auf dessen Wand ein Messingschild mir geschwungenen Buchstaben prangte. Eilig öffnete sie die Tür und begab sich zu dem Pult, an dem ein Mann mit einer komischen Mütze stand. „Pfefferminzprinzen“, hatte er immer gesagt. (Doch dieser „er“ war nicht Robbie gewesen, nein. Der kleine Josh hatte sie so genannt und Robbie hatte es übernommen. Warum? Weil er seinen Josh liebt, ganz einfach.)
Sie hob ihre krächzende Stimme und richtete das Wort an den Mann in Uniform. „Sir, mein S-Sohn ist verschwunden! Ich kann ihn nirgends finden! Mein armer, kleiner Junge ist fort!“ Ihre Augen zuckten hin und her, ihre Finger umklammerten den Ball so fest, dass die Knöchel weiß hervortraten. Erneut richtete sie das Wort an den Uniformierten: „Sir, hören sie nicht? Mein armer, kleiner Junge ist fort! Er ist ganz allein! Robbie hat braunes, kurzes Haar und ist so groß.“ Sie hielt ihre Hand über ihrem Bauchnabel. Der Uniformierte seufzte. „Ma’am…“ Aida fiel ihm jedoch ins Wort. Ihre Hände zitterten noch stärker als zuvor. Sie hielt ihm den Ball unter die Nase. „Das ist Bobbles, er war NIE ohne Bobbles unterwegs. NIEMALS, hören Sie?!“ Sie starrte ihn mit ihren wirren Augen an. „Mrs. Harper, wir wissen um Ihre Sorgen. Doch wir können auch nicht mehr tun, als ihnen jeden Tag aufs Neue zu versichern, dass es ihrem Sohn gut geht.“ Sie sah in verwirrt an. „Wir sind auf der Suche, Robert, Robbie kommt sicher bald nach Hause.“, versicherte er ihr, ehe er sie zum Ausgang schob, wo sie dann, flüsternd und suchend, von dannen Schritt. Bedrückt blickte der Uniformierte ihr nach. Diese Frau hatte nur einen Sohn und dieser war schon vor langer Zeit fort gegangen. Vermutlich hatte er sein Sportstipendium angenommen und war an irgendeine Uni gegangen, wer wusste das schon. Eins war nur sicher, diese Frau hatte keinen kleinen Jungen mehr. Robert Harper war allem Anschein nach durchgebrannt, wie so viele Jugendliche. Wen wunderte es? Bei den Zuständen, die an dem Ort herrschten, an dem er aufgewachsen war? Kopfschüttelnd trat er wieder an das Pult der Polizeistation. Morgen würde sie wiederkommen um ihren geliebten kleinen Robbie als vermisst zu melden. Wie jeden Tag. Er seufzte tief. Aida Harper hatte nicht ihren Sohn, sondern ihren Verstand verloren.
Der Morgen graute, ein Fächer aus goldenem Licht brach sich in den vielen Fenstern der gläsernen Stadt, Leute bauten ihre Läden auf und langsam erwachte der Kessel aus Glas und Stein aus seiner nächtlichen Ruhe. Auch Josh Harper war wach und blickte in den Spiegel über dem durchsichtigen Waschbecken. Wie flüssige Kristalle rann das Wasser durch den Ausguss, hinab in die Tiefe. Nachdenklich starrte er sich an, oder besser, den Mann, der ihn vom Spiegel aus anstarrte. Was für ein Penner! Langsam stick er sich die zotteligen Haare aus seinem kantigen Gesicht, den Bart hatte er bereits entfernt. Dennoch, der Mann im Spiegel war nicht Josh Harper, er war ein Fremder. <i>Wir sind dieser Fremde.</i> Josh Harper war ein Fremder geworden.
<i>Wer ist Josh Harper?-</i>
Grübelnd versank er in der Reflexion seiner selbst. Wer war dieser Mann, wer war Josh Harper? Was, oder vielmehr wer, war ER eigentlich? Er hatte sich verändert, war träge geworden und nicht nur äußerlich. In der Tat, er hatte sich binnen der Zeit seiner Reisen verändert. Vor allem äußerlich. Langsam strich er sich über das glatte Kinn. Der mickrige Bart war schon fort. „Penner.“, murmelte die neue Stimme. Seine Haare hingen in zu langen Strähnen von seinem Haupt. Von seinem kantigen Gesicht war kaum etwas zu sehen. Sie waren in der Tat zu lang, sie brauchten viel zu viel Zeit um zu trocknen, noch immer waren sie nass und klebten an seinen hohen Wangenknochen. Widerlich. Sie mussten weg, er brauchte etwas…weniger Zeitaufwändiges. <i>Und dennoch sollte es uns schmeicheln. Welches Genie trägt schon noch Pennerchic? </i>Wahrlich, die Zeiten, in denen die Leute wie Landstreicher aussahen, waren lange vorbei. Ein schiefes Grinsen schlich sich auf seine wohlgeformten Lippen, als er zur Schere griff, die blinkend im Licht der Badezimmerleuchten auf dem Rand des gläsernen Waschbeckens lag. Vorsichtig fasste er seine Haare zu einem Zopf zusammen und schnitt ihn am obersten Rand ab. Lange, pechschwarze Strähnen fielen zu Boden und glänzten im Licht der aufgehenden Sonne wie flüssig gewordene Nacht. Mehr und mehr Strähnen landeten sanft auf den grauen Fließen. Das scharfe Ratschen der Schere war das einzige Geräusch das den Raum zu füllen schien. Ritsch, ratsch, ritsch, ritsch, ratsch…
Dann endlich fiel die letzte Strähne und sank, einer schwarzen Feder gleich, zu Boden. Kritisch musterte Harper das Resultat seiner Arbeit. Sie waren immer noch lange, zumindest für einen Mann. Am Hinterkopf maßen sie zwar nur bis in den Nacken, doch vorne gingen sie in längere Bahnen über. Stufig, so würde man es vermutlich bezeichnen. Zwar fielen ihm selbst jetzt noch vereinzelt widerspenstige Strähnen ins Gesicht, doch das störte ihn wenig. Vorne war sein Haar hingegen noch länger, kinnlang und leicht fransig schmiegte es sich um sein markantes Antlitz. Es sah gepflegt, doch nicht gezwungen aus. Zudem hatte es etwas Verruchtes an sich, wie er fand. Perfekt. Ein letztes Mal fuhr er sich mit der Hand durch das Haar, um es sich aus der Stirn zu streichen. Die Sonne war inzwischen über die Spitzen der Glashäuser gekrochen, die Stadt hatte zu erwachen begonnen. Es war an der Zeit, sich auf den Weg zu machen und etwas einzukaufen. Er brauchte Papier und eine neue Feder. Schnell zog er seinen Reisemantel aus seinem Kistenkoffer und schlüpfte hinein. Missmutig musste feststellen, dass sein einziger Mantel mehr Löcher als Knöpfe besaß. Tadelnd schnalzte er mit der Zunge. Er musste in der Tat viel ändern. Als Beobachter musste man in der Masse untergehen, man sollte nicht angestarrt werden. Schlichte Eleganz kombiniert mit etwas Eigenheit durften dazu wohl zweckdienlich sein.
Ein letztes Mal pustete er sich einzelne Haarsträhnen aus dem Gesicht, dann machte er sich auf den Weg nach draußen. Kühle Luft schlug ihm entgegen als er das Eingangsportal seiner Absteige öffnete und in die Fluten aus Körpern und Kleidern eintauchte. Eine Weile ließ er sich von dem Strom aus Leuten forttragen, bis er einige Straßen weiter den kleinen Laden mit der lächerlich großen Schere über dem Eingangsportal erblickte. In dessen Schaufenster stand eine Puppe aus Holz, menschenähnlich, doch ohne Gesicht und Persönlichkeit. Wie sie alle. Doch es war nicht die Puppe, die seine Aufmerksamkeit auf sich gezogen hatte. Sein Blick galt einzig und allein dem Mantel, den sie trug. Pechschwarz, fast bodenlang, mit silbernen Knöpfen an der Brust und aufgeschlagenem Stehkragen. Minder jedes Zögerns drückte er mit der Hand gegen die Tür und schritt über die marmorne Schwelle des Eingangs. Ein Klirren ertönte und hinter dem kleinen Tresen in der Mitte des Raumes wuselte ein kleinlicher, dürrer Mann hervor. Der ganze Laden war nicht sonderlich groß, doch bis zur Decke mit Kleidung gefüllt. Es roch nach Stoffen, Wolle und Garn, der Duft von Stärkemittel und Bügeleisendampf hing in der stickigen Luft. Das Männchen musterte ihn tadelnd. „Was darf’s sein, der Herr?“ „Kleidung.“, murmelte Harper.
„Wohl wahr, das sehe ich. Sie brauchen dringend etwas zum Anziehen!“ Ein glucksen entrang der Kehle des Männchens ehe er fortfuhr.
„Die Ihre hat bei weitem bessere Tage gesehen, wohl? Der Mantel oder besser gesagt, das, was davon übrig ist… Aus der vorletzten Saison Und…“
Harper seufzte, es war Zeit, den Hampelmann zu unterbrechen.
„Ich bin auf Reisen, zu Fuß. Mein Gepäck ist nur allzu gering, daher benötige ich nun neue Kleidung.“ Er maß das Männlein mit seinem saphirblauen Blick.
„Wohl wahr….woran hatte der junge Herr denn gedacht? Als Reisender braucht man etwas Leichtes… Oder was schwebt dem jungen Herrn denn vor? Prüfend schlich er um Harper herum.
„Alles“.
Er erstarrte. „Wie meinen?“
„Wie ich es sage. Alles. Ich brauche eine neue Garderobe.“
Die Augen des Männleins leuchteten. „Hervorragend, da sind Sie bei mir richtig! Ich bin Fitz Vaat, Scherenmeister seit über 50 Jahren!“ Er kicherte vergnügt und streckte ihm die faltige Hand entgegen. Harper betrachtete sie regungslos, bis Fitz sie zurückzog und ein Maßband aus seinem Jackett hervor wühlte. „Na, dann ich kann Ihnen nicht die neueste Mode bieten doch ich kann Ihnen-„
Harper fiel ihm ins Wort. „Ich bin nicht an Mode interessiert, zumindest nicht an der „neuesten“ mir gefällt der Mantel dort draußen.“ Er deutete mit dem Kopf in Richtung des Schaufensters. Die Augen des Schneiders glänzten. „Soso, Ihnen gefällt dieser altelegante Stil? Seit Jahren steht der Mantel dort und wartet auf einen Besitzer, doch wissen Sie, die Zeit scheint mehr auf Durchschnitt und Gleichsinn zuzustreben als auf Individualität und Schönheit.“
Sieh einer an, der Schneider war offenbar von der Sorte Mensch, die Harper nicht ganz so sehr als verkommen betrachtete…
Er schenkte ihm ein ehrlich amüsiertes Grinsen. „In der Tat, augenscheinlich hat der Mantel einen Besitzer gefunden. Sagen Sie, Scherenmann, wie viel Kleidung in diesem Stil haben sie auf Lager?“ Seine Augen funkelten verschmitzt.
Der Schneider lachte schallend. „Mehr als genug, wissen Sie, ich schneidere seit 50 Jahren diese Art von Mode, doch glauben Sie mir eins,“ er hob den Finger wie ein Lehrer und deutete auf ihn „ jemand wie Sie ist mir in all den Jahren nicht untergekommen. Und ich habe viele Leute gesehen, fremder, sehr viele. Auch wenn ich bedauerlicher Weise nicht so viel von meinen Kreationen verkaufe wie erhofft.“
Seufzend trat er zum Schaufenster und zog behutsam den Mantel vom Körper der Puppe. Staub wirbelte auf und tanzte durch die warme Luft. Sorgsam legte er ihn auf den Tresen, dann richtete er seinen Blick erneut auf Harper.
„Nun Fremder, meine Preise sind fair, doch nicht hoch. Ich bin froh, überhaupt etwas an den Mann zu bekommen.“ Erneut zückte er sein Maßband. „Darf ich?“
„Wenn es denn sein muss.“ Leicht mürrisch fügte Harper sich dem Prozess des Vermessens. Dann endlich schnalzte der Schneider mit der Zunge und betrachtete Harper zufrieden. „Perfekt, perfekt…“ murmelte er und begann, erstaunlich flink für sein fortgeschrittenes Alter, durch den kleinen Laden zu wuseln und Kleidung zu sammeln. Langsam wuchs ein kleiner Turm aus Stoff auf dem Tresen in die Höhe. Mit einer Mischung aus Skepsis und Unbehagen betrat er schließlich die kleine Kabine um die Sachen zu probieren. Gegen Ende entscheid er sich für mehrere Paar schwarzer Hosen, einige anliegend, andere weiter. Elegant und doch ungezwungen. Dazu kamen mehrere Hemden, Pullover, Westen, Jacketts, ein Sakko, ein Gehrock und ein frackartiges Oberteil. Selbstverständlich auch der Mantel. Zum Schluss nahm er auch noch ein Paar Stiefel mit. Schwarz wie die Nacht, blank poliert mit hohem Schaft und umgeschlagenen Rändern.
Wie der Scherenmann es versprochen hatte, waren seine Preise zu Harpers Überraschung durchaus leistbar. Dennoch ließ er den Großteil seines Ersparten bei dem ausgefuchsten Scherenmeister. Doch das war ihm zu diesem Zeitpunkt egal. Er fühlte sich neu und frisch. Wunderbar.
Gemessenen Schrittes trat er wieder nach draußen, nun konnte er dem nachgehen, was er schon längst hätte tun sollen. Zielstrebig schritt er in irgendeine Richtung, über einen ihm unbekannten Weg, auf ein unbekanntes Ziel zu. Er war wieder da, er war neu und er hatte etwas, das er lange vermisste. Eine Idee hatte begonnen in seinem Kopf zu keimen, klein, erst ein einzelner Gedanke, doch bald schon würde daraus eine Idee sprießen. Hatte er denn bald schon wieder eine Aufgabe? Möglicherweise. Seine eisigen Augen musterten die Menschen, einige starrten immer noch, doch der Großteil war mit sich selbst beschäftigt. So viele Menschen an einem Ort. Die Masse drohte ihn zu ertränken, ihn fort zu spülen. Körper drängte sich an Körper, Stoff rieb an Stoff, kaum ein Zentimeter trennte einen vom anderen. Ein Meer aus Menschen. Und dennoch fühlte Harper sich so verloren wie noch nie. Alleine in einem Meer aus Menschen. Er brauchte eine neue Idee, eine Aufgabe, etwas, das ihn beschäftigte und zwar schnell. Er war sich ganz sicher, dass er all das hier finden würde, er musste nur lange genug bleiben, das war was er brauchte, Zeit. Ein Gedanke durchzuckte seinen Kopf wie ein Blitzstrahl, seine Augen bekamen dieses eine vielsagende Funkeln… In der Tat, er brauchte Zeit…
Vorerst aber brauchte er eins: Papier.
Mit einem Lächeln auf den erschreckend fahlen Lippen entfaltete Norrin Davis das dicke Päckchen, das diesen Morgen gegen die blinde Frontscheibe seines Ladens geschmettert wurde. Wie ein Bombenhagel hatte es geklungen als der Postbote seine Ladung wieder einmal achtlos, oder mit Absicht, wer weiß, auf das Schaufenster hageln lies. Doch Norrin mühte sich schon lange nicht mehr die Post zu öffnen oder gar fort zu räumen, nein. Vor seinem kleinen Laden häuften sich bereits Schundblätter, Rechnungen und Zeitungen sammelten sich mit Briefen und wuchsen zu Bergen aus Papier. Was kümmerten ihn schon Telefonrechnungen, die Bank holte sich was sie wollte, das war gut so. Geld hatte er ohnehin viel mehr als genug. Die Zeitungen schrieben mehr Schund als Kund‘ und von den Klatschblätter brauchte er gar nicht erst zu erzählen… Von Zeit zu Zeit tauchte aber ein bestimmter Brief oder ein bestimmtes Paket auf, eines mit einer roten Schleife. Dieses kleine Symbol war zu einem Mahnmal, wie auch einem Erkennungszeichen geworden. Es schrie förmlich Verderben und vor allem eins: Josh Harper.
Was überdies das Selbe war, wie Norrin Davis fand. Denn das brachte der Junge, Verderben.
Auch dieses Mal hatte er das Weiß des Blattes über und über mit schwarzen, geschwungenen Worten besät.
Und Norrin verschlang jedes einzelne davon wie ein Mann, dessen Gesicht sich in den schwarzen Augen des Hungertodes spiegelt. Wie erstaunlich wahr dies doch war. Nur war sein Hunger unstillbar und die Augen, in denen sich sein verfallendes Gesicht spiegelt, nicht schwarz waren, sondern gelb, Bärensteingelb.
Nichts desto trotz blickte er zurück, denn noch war er nicht bereit zu gehen, nein. Er gab ihm Halt und Kraft, wie er anderen Verderben brachte, darum brauchte er seine Worte, er brauchte sie so sehr.
Norrin,
Nachdem ich den früheren Ort in Flammen stehend verließ bin ich an einem noch viel fragwürdigerem Fleck gelandet. Ich befinde mich in einer Stadt aus Glas!
Ob du es nun glauben magst oder auch nicht, ich bin so lange mit einem Geschöpf aus Metall und Dampf gereist, dass ich sogar vergessen habe wie lange ich nun in diesem Vehikel saß! Es müssen Tage gewesen sein, viel zu oft wechselte ich von einem dieser Ungetüme ins andere, die Landschaft zog vor meinen Augen vorbei wie ein buntes Band aus Bäumen, Seen, Wiesen und Wäldern, Feldern und Bergen…
Nichts desto trotz gelangte ich irgendwann an das Ende der Strecke, welches ein gigantisches Bauwerk aus Glas war! Ein Skelett aus goldenen Streben spannte sich wie das Netz einer Spinne in Form einer riesigen Kuppel über das Areal, Glas füllte das Netz und bildete eine Art Diamant. Das Licht des sterbenden Tages tauchte alles in einen gar magischen Schein, wahrlich, so etwas habe ich noch niemals zuvor gesehen! Möglicherweise vermagst du diesen Ort zu kennen, vielleicht auch nicht, wer weiß? Fest steht jedenfalls, dass dies nur der Beginn meiner Reise war. Meiner Reise durch die Stadt aus Glas!
Diamantene Türme ragen in den Himmel, wie die Zähne eines Drachen, Gebäude, so verschnörkelt und alt glänzen in neuem Schein, als wären sie eben erst aus dem Boden geschliffen worden und überall, wohin man auch blickt, ist Glas. Noch bin ich nicht an vielen Orten gewesen, doch allein der Fassade wegen ist dieser der schönste an dem ich bisweilen war. Wo wir nun zu dem Punk kommen, der mich beschäftigt. Die Fassade. Die Maske dieser Stadt mag prachtvoll und wunderbar sein, doch was ruht dahinter? Wie viel gibt es zu entdecken, welche Geheimnisse schlummern hinter den Wänden aus gläserner Kunst? Was würden die alten Wände uns erzählen, wenn sie sprechen könnten?
Doch ich schweife ab. Diese Stadt ist wie ein Spinnennetz, viele Menschen kriechen durch die verwinkelten Gassen und Straßen, drängen und schieben einander umher, ohne sich jedoch gegenseitig richtig wahr zu nehmen. Nur allzu selten erblickt man Zeichen des Grußes, einzig in den Etablissements am Straßenrand sieht man sie sitzen und selbst dort quellen ihre Münder über vor Spott und Galle, wenn sie sie sich über die zerreißen die vor ihren Augen vorüberziehen.
Wie Spinnen spinnen sie ihre Netze, weben sie um ihre Opfer und ziehen sie fort. Jeder für sich, doch alle zusammen.
Ich hasse Spinnen.
Wie dem auch sei, ich gedenke wieder meines Planes zu bleiben. Nicht für immer, aber für eine Weile, bis ich gefunden habe wonach ich suche. Ich weiß zwar nicht wonach ich suchen soll, doch ich werde es finden, ganz gewiss. Zumal ich hier schon so einiges fand.
Was fand ich hier? Nun zum einen die Erkenntnis, dass ich mich im Wandel befinde, wahrlich das tue ich. Der alte Josh ist tot, jawohl. Ich vermochte mich nie als wandelndes Wesen zu sehen, vielmehr verhielt ich mich wie ein Steinklotz, den man meißeln musste. Was für ein Unfug! Wisst Ihr Norrin, man selbst ist wie Papier, weiß, leer und inhaltlos. Doch ein Jeder hat eine Feder, mit der man seine Geschichte auf dieses Papier zu schreiben vermag, Wort für Wort, für Wort. Nur allzu oft nimmt einem das Schicksal die Feder aus der Hand, doch ich gedenke meine Geschichte selbst zu Papier zu bringen.
Nichts geschieht ohne Gründe, so gibt es auch einen Grund warum ich hier bin. Ich muss ihn nur finden. So gibt es auch Gründe für die man lebt, wegen denen man handelt wie man handelt und so weiter und so fort. Wer keine Gründe hat, der hat auch keinen Grund zu leben, und wer keinen Grund zum Leben hat, der hat nichts mehr in dieser Welt verloren.
So wie es Gründe für alles gibt, gibt es auch einen Grund aus dem ich dir schreibe.
Ich wandelte durch die Gassen der Stadt, vorbei an unzähligen blinkenden Fassaden und Geschäften, bis ich schließlich zu einem Scherenmann gelangte, über dessen Pforte eine gar groteske Schere in überdimensionalster Größenordnung hing. Dort kaufte ich mir neue Kleider, zum Teufel, ich reiste nur mit Hosen, Stiefeln, Mantel und Seesack! Doch nun besitze ich erheblich mehr, Hemden, in Weiß und Schwarz, einen wunderbaren Mantel neue Stiefel und noch so vieles mehr. Nun bin ich in der Lage, meine Maske zu perfektionieren! Sie mögen mich mit Blicken mustern, die andern nicht geheuer wären, doch ich lese die Angst vor dem Fremden, dem „Anderen“ in ihnen. Genau das bin ich Norrin, anders.
Das wurde mir klar, als ich den Scherenmann verließ und durch die Masse zu meiner Unterkunft schritt. Man konnte sich kaum seiner Richtung erwehren, man wurde fortgeschwemmt von der Flut aus Menschen. Doch so viele es auch waren, so wurde mir klar, dass ich einer war. Nur einer, der Andere. Ich fühlte mich einsam in einer Masse, ist denn das zu fassen! Du bist wahrlich der einzig verbliebene Mensch auf dieser grausamen Welt, den ich nicht mit Hass, Verachtung oder Nichtigkeit entgegen trete. Kurzum, du bist der einzige Mensch der mir doch tatsächlich etwas bedeutet.
In meinem Kopf drehen sich die Gedanken zum Klang einer abstrusen Melodie, noch immer muss ich über so viele Dinge nachdenken. Was, wenn ich keinen Grund finde? Was, wenn ich meine Zeit verschwende?
Ich befinde mich im Wandel Norrin, ich schreibe meine Geschichte, doch ich weiß nicht welchen Lauf sie nimmt. Doch ich werde sie zu Papier bringen, werde die Feder in meinen Händen behalten und nicht aus dieser Welt weichen, bis das letzte Wort geschrieben ist!
Ich bin anders, möglicher weise bin ich ja sogar dem Wahnsinn anhein gefallen, vielleicht habe ich meinen Verstand ja wirklich verloren, wie auch mein inneres Mehr, doch das alles macht mich zu dem was ich bin.
Ich bin Josh Harper.
Schon jetzt blicke ich deiner Antwort mit Freuden entgegen. Was treibst du die ganze Zeit über? Bist du bei guter Gesundheit? Wie ist das Werte Befinden? Hat sich etwas von Interesse ereignet?
Fragen über Fragen…
Nun liegt es an dir, mein lieber Norrin!
-Josh Harper.
Ein Schleier aus Tränen trübte seinen Blick, als Norrin sich lächelnd das Augenglas in seine Brusttasche stopfte. Der einzige Mensch, der ihm etwas bedeutet…
„Einst hast du dies auch zu mir gesagt, erinnerst du dich noch?“, Ihre Stimme drang krächzend an sein Ohr. Dort saß sie wieder, auf dem kleinen Hocker hinter dem Tresen. Ob sie ihn auch beim Lesen beobachtet hatte? Gewiss, das hatte sie. Sie mochte den Jungen nicht, das hatte sie ihm mehr als deutlich klar gemacht. Nicht lange war es her, da hatte sie die Bücher, die er ihm überlassen hatte, in Stücke gerissen und im ganzen Keller verteilt. Auch die alte Druckpresse hatte sie ruiniert. Sie hatte ihre Gefährten darauf gehetzt. Spinnen. Sie hatten den ganzen Keller voll gesponnen mit ihren klebrigen, weißen Netzen. Er hasste Spinnen, noch viel mehr als Ratten. Josh hasste sie auch. Weil sie wie Menschen waren.
Erneut hob sie ihre grässliche Stimme und keifte Norrin an.
„Schweig!“, seine Stimme hallte durch den Verkaufsraum. Staub wirbelte auf und tanzte in weißen, glänzenden Flocken durch das kleine Zimmer.
„Staub ist was bleibt, wenn die Wünsche und Träume der Menschen sterben.“, das hatte Josh einmal gesagt. Seufzend strich er mit seinen schrumpeligen Fingern über die deckenhohen Regale, in denen so viele Bücher schlummerten. Wie dünn sie doch geworden waren, einst waren sie wurstartig dick gewesen, doch nun waren sie dünner geworden… Selbst der Ring den er trug, baumelte mehr lose an ihnen. Dies waren bei weitem nicht alle, die er besaß nein.
Viele Jahre zuvor, bevor er hierher gekommen war, hatte er an einem anderen Ort gelebt…
In der Tat, es hatte auch einen Grund für seine Reisen gegeben. Bücher, er hatte sie an jedem Ort an den er war gekauft. Unmengen von Büchern, allesamt gelagert an einem Ort, den er verlassen musste. Warum? Nun, wegen ihr.
Nun saß sie da, in der Ecke hinterm Tresen und schrie ihn wieder an. Langsam hörte er es nichtmehr. Solange sie es nicht des Nachts machte. Wahrlich, des Nachts war es am schlimmsten! Wenn sie ihn aus seinen Träumen riss…
„He! Ich spreche mit dir! Wirst du wohl hören?! Ich sagte, dass du es mir geben sollst, hörst du! Ich will es! JETZT!“, ihre Stimme schnellte in Höhen, die selbst eine Opernsängerin vor Neid erblassen lassen könnten. Oder vor Schreck tot umfallen ließen, wie man es sehen wollte.
Mit all seiner Willenskraft ignorierte Norrin sie, dieses Mal würde er ihr diese Freude nicht machen, oh nein.
„Schweig, Weib!“, knurrte er und berührte das Auge in der linken Brusttasche seines abgewetzten Tweedjacketts. Ein Lächeln schlich sich auf seine runzligen Lippen, sein faltiges Gesicht bekam noch ein paar mehr Furchen.
„Wir alle sind Papier. Leer, weiß, tot. Doch wir allein vermögen es, dies zu ändern indem wir unsere Feder in die Hand nehmen und unsere Geschichte schreiben.“, wie Recht er doch hatte, kluger Junge. Er war in der Tat anders. Doch das war gut, er war Josh Harper.
Die Strahlen der Mittagssonne küssten das Papier, als Norrin Davis seine Feder zückte und begann seine Antworten für Josh zu schreiben
Noch hatte er einen Grund in dieser Welt zu bleiben. Das wusste nun auch sie. Womöglich ließ sie ihn deshalb in Ruhe. Doch sie lauerte, aber das war ihm egal. Vorerst zumindest.
Er hatte einen Grund aus dem er bleiben wollte, nur so lange bis er ihn nichtmehr brauchte. „Er braucht dich ohnehin nicht, du brauchst ihn!“, zischte sie empört.
Dies war sogar wahr, aber das tat nichts zur Sache, er hatte seinen Grund und er hatte einen Namen. Josh Harper.
Mein lieber Josh,
Weißt du, noch heute denke ich über das nach was du einst sagtest. Deine Gründe mögen zwar im Moment nicht ersichtlich sein, jedoch heißt dies nicht, dass sie nicht da sind. Es ist schön zu hören, dass du dich neu erfindest, Künstler haben dies so an sich, weißt du? Hier ist alles wie es war, nur anders. Viel verändert sich nie und wenn man einmal so alt ist wie ich ist es auch gut so. Doch ich will mal nicht so sein und dir erzählen was ich so gesehen und erlebt habe. Immerhin mochtest du meine Geschichten bisweilen, vielleicht diene ich auch gut genug als Spion. Thahaha…wer weiß, möglicher weise werde ich auf meine alten Tage noch zum Spanner?
Himmel, Arsch und Zwirn, so ein Humbug, ich bin nur ein harmloser alter Mann, der die Leute aus dem Gebüsch heraus beobachtet!
Nichts desto weniger, es gibt in der Tat einige Geschichten von Interesse, die ich dir bieten kann. Mehr oder weniger zumindest.
Nun… Unter uns, hast du dich je gefragt was aus deiner Mutter wurde?
Es ist nun schon eine Weile her seit du uns verlassen hast, doch ich erinnere mich noch allzu gut an alles was du über deine Familie verloren hast und das war, bei der Falz meines ältesten Buches, niemals mehr als ein paar klägliche Worte.
Du fragst dich sicher woran ich sie erkannt habe. Nun, sie hat zweifellos deine Züge und diese Augen! Zwar sind die ihren ruhig und nun schon mehr verblasst, doch selbst ein Blinder würde sehen, dass sie einst von grellem Blau gewesen sein mussten. Wie die deinen. Auch ihr Haar ist deinem so ähnlich, ist deines nun schwärzer als die finsterste Septembernacht, so ist das Ihre schon strähnig und von Silberfäden durchzogen. Das ist aber nicht das worauf ich hinaus will…
Seit längerer Zeit ist sie auf der Suche nach ihrem Sohn, nach ihrem kleinen Jungen. Sie schleicht durch die Straßen und Gassen und ruft seinen Namen… Täglich wieselt sie zum Revier der Pfefferminzprinzen und meldet ihn vermisst. Nichts gegen die Burschen vom Fach, doch ich persönlich würde lieber selbst nach meinem Sohn suchen, als diese Bande von uniformierten Jungspunden zu konsultieren. Ernsthaft, als ich noch in meinen besten Jahren war, wurde das Gesetzt noch von Leuten vertreten, die mindestens ihr eigenes Körpergewicht stemmen konnten und Autorität ausstrahlten. Herrje, ich schweife ab.
Wo war ich nur… ach ja. Deine Mutter, richtig. Sie sucht nach ihrem einzigen Sohn. Woher ich das weiß? Nun ja, ich hörte wie sie erneut den Pfefferminzprinzen ihre Leier vortrug, als ich an deren Station vorbeiging, auf dem Weg zum Bäcker. Unser Lieblingsbäcker, der bei dem du bei deinen ersten besuchen Kuchen geholt hast (erinnerst du dich noch?), hat dicht gemacht. Armer Hund, unser schwarzer Freund hat ihn mit sich gerissen. Aber keine Sorge, seine Tochter sagt, er starb wie er gelebt hatte. Dichter als ein verfluchter Pfennigfuchser zur Happyhour und zugequalmt wie eine Hafenkneipe.
Aber zurück zu deiner Mutter. Sie ruft nach Robert und ich frage mich, wen sie meint. Dich oder deinen Bruder?
Ich weiß, dass ihr denselben Namen teilt, ich weiß auch, dass dein Vater ihn euch gab. Wenn man schon davon spricht, wo sind die Beiden abgeblieben? Mein lieber Josh, mir ist sehr wohl klar, dass du mir niemals sagtest, dass dies dein Name ist, doch er hat ihn mir gesagt. Er hat mir alles erzählt als er da war. So weiß ich auch, dass du mir nicht alle Bücher gabst, die du besitzt… Eines fehlt und ich weiß auch ganz genau um welches es sich handelt!
Tu einem alten, von Neugierde geplagten Mann einen gefallen und beantworte mir ein paar Fragen: Was um alles in der Welt wurde aus Robert? Seit dem Tag, an dem du uns verlassen hast, fehlt von ihm jede Spur. Ich sah ihn ab und zu, doch nun nie wieder. Mich beschleicht das Gefühl, dass du etwas damit zu tun hast, und dieses Gefühl grenzt an Sicherheit! Etwas sagt mir, dass er nicht auf einer Uni oder sonst wo ist. Und was in Dreiteufelsnamen wurde aus deinem Vater? Warum hat er euch verlassen? Ihr wart glücklich oder? Zumindest deine Eltern und Robert waren es.
Herrje Josh, du hast meine Zeit mit Sinn gefüllt, doch nun wo du fort bist, wird mir erst klar, wie viel mir an dir liegt. Du warst und bist für mich wie der Sohn den ich niemals hatte und niemals wollte, bis ich dich traf. Oder wie ein Enkel. Egal, wie alles! Doch so unendlich viel mir auch an dir liegt, so furchtbar wenig weiß ich über dich. Und soll mich doch der Teufel holen, du bist der einzige in dieser gottverdammten Welt, der mir noch etwas bedeutet! Deinetwegen ist wieder Leben in diesen halb verrotteten Knochen!
Ich bin ein alter, komischer Kauz der in einem Laden haust, der seit ewigen Jahren nichts außer einem einzigen Buch verkauft hat!
Zudem war der Laden niemals dazu gedacht gewesen etwas zu verkaufen, das Buch war blieb das Einzige. Weißt du Josh, er ist eine Art Refugium, das ich mir errichtete als ich mein Heim verlassen musste.
Wahrlich, ich hatte einst ein Haus, inmitten von Hügeln und einem Wald, fern ab von Leuten… Es war groß und vor allem eins: voller Bücher.
Du fragtest mich, was du tun kannst, nun, sammle Dinge, sammle Erinnerungen und Stücke, die dich an deine Reisen erinnern. So tat ich es. Ich gebe dir einen Rat, bleibe. Bleibe in der gläsernen Stadt und erkunde sie, finde Leute mit denen du dir die Zeit vertreiben kannst, denn wo Leute sind, sind auch Geschichten. Und eine Hand voll komischer Käuze gibt es überall, vertrau mir. Du musst nur an den richtigen Orten suchen, Leute wie wir verstecken sich zumeist in dunklen Gassen, in unheimlichen oder seltsamen Läden, in fragwürdigen Kneipen oder skurrilen Häuschen voller Kuriositäten oder inmitten von Büchern. Wahrlich, zwischen bedruckten Seiten findet sich so manch einzigartiger Charakter.
Du wirst sehen, manchmal muss etwas länger an einem Ort verweilen um hinter seine Fassade zu blicken. Doch wenn man diese Geduld aufgebracht hat, entpuppt sich das fadeste Flecken Erde zu einem Sammelsurium voller Geheimnisse und Geschichten. Man muss sie nur herauslocken!
Finde sie Josh, finde sie und bring mir ein paar davon, ja?
Norrin Davis, immer noch Schatzsucher.
Ein sanftes Lächeln umspielte Harpers fahlen Lippen als er Norrins Brief mit seinen Saphiraugen verschlang. Wort für Wort wurde von ihnen eingesogen und gespeichert, ehe er den Stapel Papier zusammenfaltete und in die Schatulle zu den anderen Exemplaren seiner Art legte. Mit dem Klackern des Deckels verklang das letzte Geräusch in dem kleinen Hotelzimmer, als er ans Fenster trat und über die Dächer der gläsernen Stadt blickte. Was wohl alles dort auf ihn wartete? Welche Geschichten wohl hinter den Mauern und Glasfassaden lagen? Der Kuss der aufgehenden Sonne tauchte die Spitzen der Dachgiebel in zart-rotes Licht und lies sie funkeln wie erlöschende Glut. Er würde bleiben, das stand fest. Hier gab es viel zu viel das es zu entdecken gab, viel zu viel zu erforschen und zu studieren. Ja, er würde bleiben. Mit einem Seufzen wandte er sich vom Fenster ab und begab sich in das kleine Badezimmer um sich anzukleiden. Schnell griff er nach dem weißen Hemd mit dem hoch geschnitten Kragen, streifte sich die schwarze Weste über und stopfte den Schlüssel darunter. Noch immer fragte er sich warum er eigentlich mehrere Paare schwarze Hosen gekauft hatte, entschied sich dann aber dafür, dass dies nur allzu unwichtig sei und schlüpfte in eine davon. „Du siehst aus wie ein Butler, oder einer dieser feinen Herrn aus einem Jahrhundert das schon ewig vergangen ist!“, feixte der Vorlaute in seinem Kopf.
„Schweig.“, grummelte Harper gegen den Spiegel, „Wir sehen phantastisch aus“.
Er strich sich die Haare aus dem Gesicht, doch diese eine Strähne fiel ihm wieder hinein, wie sie es immer tat. Sie lag genau über seiner Nase. Egal, das hatte etwas Unordentliches, chaotisches, ohne jedoch ungepflegt zu wirken.
Fluchs schlüpfte er in seinen Mantel, es war an der Zeit sich diese Stadt etwas genauer anzusehen.
Die Luft war eindeutig mit jedem Tag kühler geworden, der lange vergangene Sommer war in den nun schon sterbenden Herbst übergegangen und bald schon würde der Winter seine weiße Decke über die gläserne Stadt breiten. Doch das hatte noch Zeit, viel Zeit. Schnellen Schrittes bahnte sich Harper seinen Weg durch die Straßen, geradewegs auf sein Ziel zu. Die gigantische Kuppel des Bahnhofsgebäudes, dieses spinnennetzartige Gebilde aus Glas und goldenen Pfeilern. Zwei Türme mit Zwiebeldächern ragten links und rechts neben der Kuppel aus dem Boden, der Baustil erinnerte an lang verstrichene Tage, doch kein Fleck trübte das Antlitz dieses fragwürdigen Gebäudes. Bei Tageslicht könnte man ihm eine leicht orientalische Herkunft zumessen, als sei es geradewegs aus tausend und einer Nacht entsprungen. Im inneren dieses Kolosses tanzten bunte Splitter aus Licht über den Boden aus Mosaikfliesen. Im inneren der Kuppel befand sich ein Ring aus Geschäften und Schaltern, an ihrem hinteren Ende lag eine große Flügeltür, das exakte Ebenbild ihrer Schwester, die das Hauptportal des Eingangs bildete. Dahinter lagen die Gleise und Bahnsteige, ebenfalls überdacht von Baldachinen aus spinnennetzartig geformtem Glas. Dies war der erste Ort, den er hier besucht hatte. Gut. Er zog einen Bogen Papier aus seiner Manteltasche und begann mit einer Feder eine Skizze zu kritzeln. Darüber schrieb er in geschwungenen Lettern „Cobweb Castle“, wie Es diesen Platz heimlich nannte. Der Freundliche hatte dies als kreativ empfunden, der Grimmige fand dies nur allzu kitschig. Wie dem auch sei, Harper fand es passend, wie auch der Rest von ihnen und der Andere. Zufrieden steckte er sich die Feder hinters Ohr und verstaute das Tintenfässchen wieder in seiner Tasche, ehe er sich auf den Weg machte die Stadt weiter zu erkunden. Er hätte sich genauso gut einen Stadtplan zulegen können, wie der Grimmige es vorgeschlagen hatte, doch was nütze ihm ein Plan nach dem er sich richten konnte, wenn er auf der Suche nach Orten war, die ER für wichtig oder interessant befand? Es sollte seine Karte werden, einen Stadtplan konnte jeder Vollidiot kaufen.
Es dauerte nicht lange und Harper hatte den Grundbau der Stadt erkannt. Faszinierender Weise war die gläserne Stadt in konzentrischen Kreisen angelegt worden, die miteinander über sternförmig angelegte Straßen verbunden waren. Was für ein seltsamer Ort. Die meisten Städte waren nach dem Schachbrettprinzip geformt worden, diese jedoch nicht. Sie musste das Werk eines Künstlers, eines Genies gewesen sein. Oder einem Wahnsinnigen. <i>„Das Einzige, was diese drei Leute unterscheidet ist die Bezeichnung mein Freund.“</i>, flüsterte der Andere ihm ins Ohr.
Er hatte Recht, wie immer. Doch es war nicht der Andere der ihn führte, sondern Es.
Den Schneider hatte er auch auf seiner Karte vermerkt, als „Scissorhand’s Store“. Als er hier vorüber ging winkte ihm der kauzige alte Scherenmeister zu und Harper war der stolze und auch schelmische Blick in seinen Augen nicht entgangen. Mit erstaunlich wenig Mühe rang er sich ein Lächeln ab und hob die Hand zum Gruße. Doch es hatte es offenbar eilig und so blieb keine Zeit für einen Plausch.
Die Straße, in der sich der Scissorhand’s Store befand, war eine der vier Hauptstraßen und führte ihn direkt zum Herzen der Glasstadt, was sein nächstes Ziel war.
Im ersten Moment erinnerte ihn der große Platz mehr an ein überdimensionales Schachbrett als an alles andere. Das gesamte Areal war mit schwarzem und weißem Marmor bepflastert und die vier Haupteingänge wurden jeweils von zwei Türmen flankiert, deren spitze Dächer aus Kristall gegossen zu sein schienen. Entzückt überblickte Harper den Platz, wo sich Gaukler aller Art zu tummeln schienen, kleine Häuschen als Marktbuden dienten und die Leute lebendiger schienen als in den äußeren Ringen der Stadt. Zwar wurde er auch hier von der Masse verschlungen, doch schien er hier nicht in ihr zu ertrinken. Rings um den runden Platz fädelten sich Geschäfte auf, die offenbar alles verkauften was man nur kaufen wollen könnte. Doch hier fand er nichts wirklich interessantes, bis auf den großen Brunnen im Zentrum, aus dessen Mitte eine gigantische Laterne aus Glas ragte. Auch dieser Ort wurde, mehr der Notwendigkeit als der Interesse halber, unter dem Begriff „Circle’s Center“ auf seiner Karte vermerk.
Er folgte seinem Es immer weiter, bis sich schließlich, nachdem er durch diverse kleine Gässchen gegangen war, eine Gabelung vor ihm auftat. Unschlüssig blieb er stehen und blickte sich um. Es war schon später Nachmittag geworden und die Sonne begann sich hinter den Dächern zu verstecken. „Großartig… Wohin jetzt?“, murmelte er, in der Hoffnung Es würde antworten. Ein Kichern erklang und er drehte sich wieder zur Gabelung um. „Haben wir uns verlaufen?“, säuselte Es. Dort saß Es, an der Ecke zwischen den beiden Pforten, mit angewinkelten Knien, den Kopf auf die Hände gestützt und mit einem Grinsen, das sich von einem Ohr zum anderen zu ziehen schien. Harper murmelte halblaute Tadel in Richtung seines Ebenbilds, das so unflätig dort am Boden kauerte und grinste. „Ich weiß nicht, wohin ich gehen soll.“, gab er mürrisch zu.
„Wohin willst du denn gehen, mein Freund?“, fragte Es und musterte ihn mit schräg gelegtem Kopf. Seine Saphiraugen blitzen und starrten in die Harpers.
„Ich weiß es nicht…“
Na, dann ist es doch wohl nicht von Belang, oder?“, kicherte Es, erhob sich und ahmte Harpers Pose nach, welcher Stockgerade mit hoch erhobenem Kopf da stand und in die Gassen blickte. <i>„Auf deine Hilfe kann man sich immer verlassen, wie praktisch!“</i>, knurrte der Andere Es an und funkelte Es zornig an. Harper seufzte. Nicht schon wieder.
Kopfschüttelnd drehte er sich um, als plötzlich ein leises knirschen seine Aufmerksamkeit erweckte. Ruckartig drehte er sich um und wäre dabei fast gegen das Schild geprallt, das die Gassen trennte. Mittlerweile waren die Laternen, die die Eingänge flankierten, eingegangen. Diese Dinger stehen hier überall rum…
Entschlossen betrat Harper den linken Gang, aus dem das Geräusch gekommen war und ließ Es und den Anderen stehen. Doch schon nach wenigen Schritten hatten sie ihn wieder eingeholt und kehrten auf ihre Posten links und rechts von ihm zurück.
Woher war dieses Geräusch gekommen? Es war leise, kaum hörbar, aber doch da gewesen! Nun stieg ihm auch ein unbekannter Geruch in die Nase. Diese Gasse war wahrhaftig eng und ihre Wände säumten Schilder, doch nur wenige Läden. Es schien fast so als bestünden die Wände aus Schildern, nicht aus Ziegeln. Auch hier war der Boden gepflastert und hier und dort prangte eine Zierplatte oder ein runder Deckel aus Glas zwischen den blanken Steinen. Merkwürdig. Wunderschön, doch merkwürdig. Da, das Geräusch war lauter geworden, Es hatte wieder die Führung übernommen und der Andere war still auf seinem Posten, bei dem Rest von ihnen. Harper kam an kleinen Lädchen, mit Glasbaldachinen im Stil des Cobweb Castle vorbei, doch je schneller er ging, desto näher kam er dem Ende der Straße, bis er es schließlich erreichte. Vor ihm tat sich eine hohe Wand aus Schildern auf, eine Sackgasse. Doch dann ertönte wieder dieses Geräusch. Sein Kopf zuckte in die Richtung aus es gekommen war und er erblickte einen Eingang zu einer weiteren Nebengasse. Fluchs huschte er hinein und bald schon stand er vor einem Laden. Seine Fassade bestand aus barock artigen Elementen, die wie ein Puppenhaus in die Wand aus Schildern eingesetzt zu sein schien. Zwei Schaufenster mit verschnörkelten Rahmen flankierten das Puppenhäuschen und über dem Eingang prangte ein Schild, das aus einem Buch bestand, auf dem eine Tasse stand, in welcher eine kopflose Figur in einem Dienstmädchendress herumrührte. Ihr Kopf schwamm in der Tasse, ein breites Grinsen überzog ihr Gesicht. Die verspielte Aufschrift verkündete in wirren Lettern „The Maid’s Head“. Auf einem kleinen Schild darunter stand: „House of Books and Beverages“.
Ein gewisses Funkeln erleuchtete Harpers Augen als er die Klinke der hölzernen, gemusterten Pforte, ein gezwirbeltes Gebilde das an eine Blumenranke erinnerte, herunter drückte und eintrat.
Ein Hauch von Gewürzen und diversen Sorten Tee hüllte ihn ein, als er in die Stube trat. Ihre Wände waren mit hohen Regalen zugestellt, die wie Bögen antiker Pforten aussahen und von der Decke baumelten ein großer Luster und viele bunte Laternchen aus Mosaikglas. Der Raum war überraschend groß, viel größer als er nach außen hin schien und bot Platz für zahlreiche runde Tischchen in den verschiedensten Größen. In der Mitte des Raumes führte eine Wendeltreppe nach oben, auf eine Galerie, die sich wie ein Ring um den Raum zog. Sie wurde von weißen Säulen getragen, um die sich Blumen rankten. Ein ebenfalls weißer Zaun bildete ein verschnörkeltes Geländer und zwischen den weißen Regalen brachen Bogenfenster mit Splitterglas hervor. Der Raum erinnerte vom Mobiliar an einen Palast aus barocker Zeit, auch der Boden war mit Glassplittern gepflastert. Einige Leute saßen an den Tischen und unterhielten sich, tranken Tee aus altmodischem Porzellan und aßen kleine Kuchen. Zu Harpers linken thronte eine Theke aus weißem Marmor, perfekt in die Rundung des kreisförmigen Raumes angepasst. An ihren Flanken ragten zwei Säulen empor, Efeu wucherte um sie herum und zwischen ihnen baumelte ein Schild mit der Aufschrift „Welcome“.
Im Bauch des Tresens befanden sich allerlei Leckereien, Teekannen türmten sich hinter ihr und Tassen waren zu erblicken, wohin das Auge nur reichte.
Plötzlich trat eine Frau in einem schwarzen Kleid mit weißem Rüschenunterrock hinter die Theke, eine ebenso weiße, mit Spitze verzierte Schürze spannte sich vor ihrer Brust. Ihre Ärmel endeten an den Ellenbogen, dort lugte ebenfalls weiße Spitze hervor. Ihr hellbraunes Haar war seitlich zu zwei Haarkugeln zusammengesteckt und auf ihrem Kopf thronte eine Dienstmädchenmütze. Sie blinzelte ihn aus ihren braun-grünen Augen an und lächelte breit. „Uiuiui, ein neues Gesicht! Sieh sich das einer an, was für eine Überraschung! Was wünscht der junge Herr denn? Tee? Wir bieten den besten Tee in der Stadt! Ja gar den besten, den du je getrunken hast! Und wenn‘s nicht hinkommt, dann den außergewöhnlichsten!“ Ihr grinsen wurde noch breiter, um ihre kleine Stupsnase bildeten sich kleine Lachfältchen. Ehe Harper etwas erwidern konnte, hatte sie ihn schon am Arm gepackt und schob ihn zu einem Tisch. Der Freundliche wurde nach draußen geordert und so schenkte auch Harper ihr ein verdutztes Lächeln. Doch schon war die flinke Frau verschwunden. Auch die Leute gingen allmählich. Harper blickte sich um. Auf den Podesten war niemand mehr zu sehen.
Schon kam die Frau im Zimmermädchenkostüm erneut angeflitzt, dieses Mal schob sie ein Wägelchen mit einer weißen Spitzendecke vor sich her, auf dem sich Kuchen, Kekse, bunte Törtchen in allen Regenbogenfarben türmten. Fluchs knallte sie ihm eine kitschige Tasse vor die Nase und fuchtelte mit einer Kanne dampfenden Tees herum. Sie wirbelte einmal um den Tisch, bevor sie ihm schließlich mit einer weit ausholenden Bewegung den brühend heißen Tee in die Tasse kippte. Harper hielt die Luft an und fürchtete einige bange Sekunden um seine Contenance, doch der Freundliche war erstaunlich geduldig und widerstandsfähig. „Hahaha, hättn wir’s!“ Sie gluckste triumphierend und zog sich einen Sessel heran. „Na dann, hoch die Tassen!“. Sie fischte sich vom Nachbarstisch eine Tasse herbei und hielt sie Harper entgegen. Gezwungener maßen hob auch er seine Tasse ihrer entgegen. Sie stieß ihre gegen die seine, dass der Tee nur so spritzte. „Hoppala!“, lachte sie.
Mit einer eleganten Bewegung setzte Harper die Tasse an die Lippen und trank einen Schluck. Es war in der Tat sehr guter Tee.
„So, Sie sind also neu hier? Musst wohl ein Reisender sein. Ein blaublütiger vielleicht! Sie sehen recht teuer aus, junger Herr. Mundet der Tee?“ Harper wollte gerade zu einer Antwort ansetzen, da fing die junge Frau erneut an zu plappern.
„Himmel, ich vergaß ganz mich vorzustellen!“ Entrüstet sprang sie auf. „Ich bin…“ „Hyperaktiv, etwas chaotisch und ein wahrer Wirbelwind?“ versetzte Harper und der Freundliche sah sie mit einer hochgezogenen Augenbraue leicht lächelnd an. Sie brach in schallendes Gelächter aus. „Das auch, in der Tat! Ich heiße Meena, Meena Burrows! Die Besitzerin des Teehauses! Sehr erfreut!“, sie streckte ihm die Hand entgegen.
„Was soll ich damit?“, fragte Harper.
„Na was wohl, schütteln?“
„Ich schüttle keine Hände, warum in aller Welt auch?“
„Gut, gut, was für ein komischer Kauz“, murrte sie und setzte sich.
Die Sonne brach mit dem letzten Rest ihres Lichtes durch die Bogenfenster. Es wurde Abend. Langsam schien sie ruhiger zu werden. „Und Sie? Wer sind Sie?“
„Man nennt mich Harper, Josh Harper.“
„Woher kommen Sie, kommen sie von weit her?“
„Woher ich komme weiß ich nicht, ich weiß nur wo ich war.“
Sie runzelte die Stirn. „Ein Weltenbummler also? Wie schön!“
„Hmhm.“ Er nahm noch einen Schluck Tee. Die Törtchen sahen auch verführerisch aus, auch wenn einige von ihnen etwas wunderlich giftig aussahen.
Die Sonne sank immer tiefer, auch die letzten Gäste machten sich zum Aufbruch bereit und Meena schickte sich dazu an Ordnung zu machen.
„Schließen Sie gleich?“ erkundigte sich Harper.
Die Frau lachte abermals. „Nein, wir schließen nie!“ „Wollen Sie eins? Nur zu, sie sind ja zum Lesen da!“
Ihr war sein Blick zu den Büchern nicht entgangen. „Danke“, murmelte er. Er hatte nicht beabsichtigt sich eines zu holen, doch die Neugierde besiegte den Freundlichen und so erhob er sich und nahm die Regale unter die Lupe. Es dauerte nicht lange und er hatte ein Werk gefunden, das seine Aufmerksamkeit fesselte. Er nahm es mit sich und war alsbald darin versunken. Die Sonne war nun fast untergegangen, alle Lampen im Raum sprangen an. Ein klackern und klirren ertönte, gefolgt von einem Rascheln und einem Beben. Verwundert blickte Harper auf und traute seinen Augen nicht. Die Teetassensammlung hinter der Theke war einer Wand aus Büchern gewichen und auch alles andere, was sonst noch an das Teehaus erinnerte, war verschwunden. Überall waren Bücher, auf dem Schild der Theke stand nun „Bookstore“ anstatt „Teahouse“. Statt der Kuchen und Köstlichkeiten waren nun sonderbare Werkzeuge in der Auslage. Auch auf den Tischen waren Bücher. Die Frau im Dienstmädchenkostüm war ebenfalls verschwunden.
Plötzlich tauchte vor ihm eine große Gestalt auf. Sie trug einen dunkelvioletten Gehrock, mit hochgestelltem Kragen und einen absonderlich hohen Zylinder, der ebenfalls aus dunkelviolettem Stoff war. Ein grünes Band und eine Ranke Efeu zierten den Hut, sowie eine waldgrüne Feder. Der Mann steckte in halbhohen, nach oben gezwirbelten Schuhen, in die seine schwarze Hose gesteckt waren. Auch sein Gesicht war von einem Grinsen überzogen, seine stahlgrauen Augen leuchteten aus seinem rundlichen Gesicht, aus dem eine lange, spitze Nase herausragte. Er zog sich den Hut vom Kopf und verbeugte sich tief, wobei ihm seine Mähne aus dunkelbraunem Haar ins scheinbar alterslose Gesicht fiel. „Wilbur Burrows mein Name, willkommen im Maid’s Head Bookstore! Sie müssen Josh Harper sein!“ Er grinste.
Harper funkelte ihn misstrauisch an, seine Saphiraugen sondierten ihn kritisch. Was für ein Sonderling! Er lächelte den Mann an. Der Freundliche hatte Recht, er würde sich gut mit diesem Kauz verstehen.
„In der Tat, der bin ich. Woher..“
„Meine Frau hat von dir erzählt.“, unterbrach ihn der Mann. „Sie ist Inhaberin des Teehauses.“ Er bemerkte Harpers Blick und beugte sich vertraulich zu ihm vor. „Du scheinst anders zu sein junger Freund, ich sehe es in deinen Augen! Also hör zu, ich will dir –ich darf doch DU sagen? Fein, fein. Ich will dir ein Geheimnis verraten. Dies ist, wie du sicherlich bemerkt hast, kein einfaches Teehaus. Nun, ich bin Buchbinder, meine Frau wollte allerdings schon immer ein Teehaus. Daher haben wir uns etwas Besonderes ausgedacht… Sie war einst eine von den Fahrenden und ich kam als Buchbinder auch um die Welt. Daher entschlossen wir uns ein besonderes Haus zu eröffnen. Eines, das es noch nie, niemals wo anders auf dieser Welt gibt. Weißt du, dies ist eine besondere Stadt… Ach herrje, wo waren wir? Achja, Haus. Nun, dies ist ein besonderes Haus. Es wechselt seine Gestalt, je nach Tageszeit. Solange es hell ist, ist dies ein Teehaus. Wenn es aber Nacht wird, drehen wir die Wände und es wird zum Buchladen. Während der Dämmerzeiten ist es beides.“, er grinste und blickte Harper an. „Toll nicht wahr?“
Ein Lächeln erhellte Harpers Gesicht, seine Augen leuchteten. „Wohl wahr, absolut verrückt! Wunderbar!“
„Wills du wissen, wie es funktioniert? Auf auf, ich zeig es dir!“ Schon sprang er auf und eilte zu einer der Wände. „Hier, man kann sie drehen!“ Er stemmte sich dagegen und die Wand aus Büchern drehte sich tatsächlich. Harper blickte in die entstandene Lücke. Dahinter war die Wand mit einer bunten Tapete überzogen. „Drehbare Regalwände!“ flüsterte Wilbur.
Sie setzten sich an den Tisch zurück und unterhielten sich eine Weile, als die Frau erneut auftauchte. Nun jedoch war sie gefasst und elegant. Sie glättete den Rock ihres Magdkostüms und lächelte Harper an. „Sie und Will verstehen sich offenbar sehr gut! Er ist nicht immer freundlich zu Fremden. Für gewöhnlich traut er keinen Unbekannten.“, flüsterte sie, als ihr Mann aufgestanden war.
„Ich auch nicht, für gewöhnlich traue ich keinen Leuten. Ich bevorzuge Bücher gegenüber Menschen, wissen Sie.“ Sie lächelte. „Wie Will. Darum ist er auch ein Papierdoktor geworden.“ Hinter ihnen raschelte und polterte es, Meena drehte sich um und wandte sich an ihren Mann.
„Schatz, was suchst du denn nun schon wieder?“
„Meinen Verstand!“, kicherte Wilbur aus der Ferne.
Meena seufzte. „Gib es auf, den siehst du im Leben nicht wieder!“
Er lachte schallend, Meena kicherte und auch Harper musste lächeln. Dieses Mal sogar ohne richtiges Zutun des Freundlichen.
Was für ein merkwürdiges Paar. Dennoch, so gut es ihm hier auch gefiel, er musste langsam gehen. Der Andere drängte. Seufzend erhob er sich, bezahlte und bedankte sich. Will und Meena Burrows geleiteten ihn zur Pforte und winkten ihm auf bald.
Er würde wiederkommen, ganz gewiss. Doch nun hatte er etwas zu erledigen. Federnden Schrittes glitt er nahezu lautlos wie ein Schatten durch die kalte Nachtluft. Der Mond stand hoch am Himmel und er legte den Kopf zur Seite, um ihn grinsen zu sehen. Sein Licht ließ seine Augen funkeln und so schritt er fort, in die dunkle Nacht hinein.
Seine Mutter? Was für ein Humbug, als ob er sich für sie interessieren würde! <i>Ach nein? Wir sind schuld an dem was aus ihr wurde. Doch woher wollen wir wissen, ob wir denn gute Arbeit geleistet haben?</i> Der Andere hatte Recht. Er interessierte sich nicht im Geringsten für das Wohl dieser Frau, doch es dürfte in der Tat interessant und auch recht amüsant sein zu wissen wie sie jetzt so vegetiert. Allein, ohne ihren Mann. Ohne ihren geliebten Robert. Ein Grinsen schlich sich auf Harpers Gesicht und es war der Grausame der sprach, als er Norrins Antwortbrief verfasste. Ein Seufzen entrang seiner Kehle. Der alte Kauz war für wahr noch um einiges scharfsinniger als man es von ihm erwartet hätte. Jedoch wusste Harper dies schon seit dem Moment, in dem er dieses eine, ganz bestimmte funkeln in den Augen des alten Mannes gesehen hatte. Wenn man es so bedachte, könnte er tatsächlich sein Großvater sein. Er schmunzelte. Dennoch, so erfolgreich seine Pläne auch verlaufen waren, etwas sagte ihm, dass es noch eine Lücke gab, die es zu stopfen galt. Norrin hatte also von Anfang an alles gewusst. Er hatte Robert das Buch verkauft, und er wusste auch, dass er es noch besaß, wie er auch wusste, oder ahnte, dass er etwas mit Roberts Verschwinden zu tun hatte, wie auch mit dem mentalen Verfall seiner Mutter und der Trennung seiner Eltern. Rasch vollendete er seinen Brief, morgen würde er ihn in den Kasten in der Lobby werfen. Wobei der Raum, von der Größe eines Wohnzimmers, diesen Ausdruck kaum gerecht wurde. Bis auf einen Luster an der Decke und einen großen Tresen für den leicht senilen Rezeptionisten hatte der Raum nicht mehr mit einer Lobby gemeinsam als ein größeres Wohnzimmer, mit einem senilen Greis, einem Luster und einem Tresen.
Wie auch immer, es war Zeit für ein Bad. Lautlos durchquerte er sein kleines Zimmer, selbst das Badezimmer war im Verhältnis größer als sein Schlafgemach. Doch zuvor musste noch etwas erledigt werden. Harper kramte ein leeres Buch aus seinem Kästchen hervor, dort hatte er auch seine Karte verstaut. Es war kein besonderes Buch, ein einfaches, kleines Büchlein, mit rotem Einband und einem ebenso roten Band als Lesezeichen. Nur war dieses Buch bis auf wenige Worte leer. Diese Worte waren Namen. Es waren die Namen von allen, denen er bisweilen begegnet war. Er schrieb alle auf, und dazu die Masken dieser Menschen. Dies war sozusagen sein Maskenbuch, das er verwendete um sie zu analysieren. Sie alle standen da, von Robert, über Aida, bis hin zu Meena und Wilbur. Diese Beiden waren neu, noch stand nicht viel unter ihren Namen auf den entsprechenden Seiten. Jeder Name hatte eine Seite, doch sie alle waren ganz vorne in einer Liste aufgereiht. Einige von ihnen waren fertig, wie alle aus seinem alten Ort. Sie waren durchgestrichen. Doch nun interessierte ihn die Rückseite des Buches. Denn dort stand sein eigener Name. Hier war Platz für ihn und seine Masken, für ihn und das Team. Organisation war schließlich alles. Darum erfasste er jede seiner Masken dort, und es half ihm auch dabei sich neue anzuschaffen. Der Freundliche war eine nützliche Anschaffung gewesen, er hatte sie von Maggie Dorsey, der Wirtin abgeschaut. Es war wichtig ständig im Wandel zu sein, sich zu erneuern und sein Repertoire zu erweitern. Wann immer er unter Menschen war setzte er sie auf, doch alsbald er mit seinem Team alleine war legte er sie ab wie einen Mantel.
Sie waren dann zwar noch bei ihm, durften aber nicht nach draußen, was manchmal zu kleinen Reibereien untereinander führte. Seit der Andere aufgetaucht war fühlte der Rest sich unwohl. Nun war der Freundliche sein neues Gesicht, was an sich niemanden störte, da er sich hin und wieder mit dem Schelm, dem Lustigen, abwechselte. Sie bildeten gemeinsam mit dem Optimistischen Partei II. Jede seiner Masken gehörte einer Partei an. Es, der Andere, der Kritische, der Perfektionist und der Unsichtbare bildeten Partei I und der Rest gehörte der Partei III an, wozu der Grimmige, der Hinterhältige, der Kritische und der Chaot gehörten.
Sie alle teilten jedoch alles was Josh Harper an sich ausmachte, all sein Wissen, seine Eigenschaften und so weiter. Jedoch vermochten sie damit anders umzugehen. So verhielt der Freundliche sich immer umgänglich, ungeachtet der Tatsache, dass Menschen ihm im Grunde zu wieder waren, überspielte er dies, indem er sie kennen lernte. Was Josh Harper die Möglichkeit gab sie besser zu analysieren.
Das war es, was er am Team schätzte. Er hatte sie unter Kontrolle, konnte sie benutzen. Sie funktionierten. Ja, wie ein Uhrwerk, jedes Zahnrädchen griff perfekt ins andere und das Beste daran war, dass er sie beliebig austauschen konnte.
<i>Wir sind eine Maschine, ein Projekt. Wir sind perfekt! </i>Diesmal hatte der Andere Unrecht, er war nicht perfekt, er hatte noch viel an ihm und seinem Team zu feilen.
Doch das war gut so, er befand sich im ständigen Wandel. Denn so würden sie ihn niemals kriegen. Niemals, nein.
Er legte die Feder beiseite und machte sich daran das Badewasser einzulassen. Der Mond schien durch das kleine Fenster und grinste ihn an und Harper grinste zurück. Dieses Mal war es Harper der grinste, nicht der Freundliche. Dieses Grinsen war von Grund auf anders. Es hatte etwas geheimnisvolles, etwas undefinierbares an sich. Er mochte dieses Grinsen, es erinnerte ihn an den Mond. Das Wasser war heiß und brannte auf seiner weißen Haut, als er sich in die Wanne aus Glas gleiten ließ. Er hasste wärme. Entweder klirrende Kälte oder sengende Hitze, wobei er die Kälte bevorzugte. Doch für ein Bad kam nur die Hitze infrage, auch wenn er sie nicht mochte. Sie brannte, prickelte auf seiner Porzellanhaut und das war gut.
So ließ es sich gut nachdenken…
Langsam tappte er durch den Gang, das Licht der Mittagssonne erhellte das verfallende Gemäuer. Laub säumte den halb verrotteten Teppichboden, überall stapelten sich Zeitungen und Bücher und von den Wänden starrten Gesichter auf alten Bildern auf ihn herab. Der Geruch nach Moder, altem Papier und Verfall drang tief in seine Lungen als er durch das alte Haus schritt. Er war zu Hause, er war dort wo er Es gefunden hatte. „Kling“, wieder dieses Geräusch. Niemals würde er es vergessen, es gab kein zweites, das so klang wie dieses. „Kling“, da war es wieder, glockenhell und klar. Er befand sich nun in dem Raum mit einem großen Schreibtisch, auch das gigantische Fenster war da. Alles war wie er es in Erinnerung hatte. Sein Blick fiel auf einen Trüben Spiegel zu seiner Linken. Er blickte hinein und erkannte sein Gesicht darin. Trotz des sternförmigen Risses in der Mitte des Spiegels konnte er sich deutlich sehen. Doch was war das? Irgendetwas stimmte nicht. Etwas war…anders. Plötzlich huschte etwas hinter der Tür vorbei, ein Schatten spiegelte sich in dem alten Glas. Erschrocken fuhr Harper herum, doch nichts war zu sehen. Bis auf den Schlüssel, der am Boden lag. Ein Lächeln erwärmte seine Züge. Er fasste sich an den Hals und musste feststellen, dass sein Schlüssel verschwunden war. Nur der, der am Boden lag, war da. Es war der Selbe, doch etwas war anders. Ein merkwürdiges Geräusch ertönte. Stirnrunzelnd lauschte Harper in die Stille. Nichts, kein Laut war mehr zu hören. Skeptisch beäugte er den Schlüssel zu seinen Füßen. Etwas raschelte, wieder dieses Geräusch. Diesmal hörte er es ganz deutlich. Jemand lachte, nein kicherte. Er glaubte seinen Namen zu hören und drehte sich um. Eine schemenhafte Gestalt flitzte an ihm vorbei. Harper rieb sich die Augen und blinzelte. Niemand war zu sehen. Erneut bewegte sich etwas, im Spiegel tauchte eine Gestalt auf. Vorsichtig nahm er ihn von der Wand und blickte hinein. „Hallo Josh!“, kicherte Roberts Stimme, er blickte ihn durch das blinde Glas an. Entsetzt ließ Harper den Spiegel fallen, er prallte auf dem Boden auf und zerbarst in tausende Scherben. Sein Herz raste, er blickte sich suchend um, wie ein Tier, das man in eine Ecke gedrängt hatte. Doch er konnte nichts und niemanden entdecken. Seufzend begab er sich erneut in die Mitte des Raumes, dorthin, wo der Schlüssel lag. Zitternd streckte er die Hand aus um ihn zu holen, doch als er ihn berührte schnellte seine Hand ruckartig zurück. Der Schlüssel war heiß, glühend heiß! Brennender Schmerz raste durch seine Finger, entsetzt starrte er den Schlüssel an. Wieder dieses Kichern. Harper drehte sich im Kreise, seine Augen glitten hektisch durch den Raum. Doch er war leer, einzig er und der Schlüssel waren hier. Aber es war merkwürdig warm geworden. Noch einmal beugte er sich hinab um den Schlüssel zu greifen, zögerte aber dann und zog sich erst den Ärmel seines Mantels über die Hand ehe er den Schlüssel griff. Er drückte ihn an sich und stellte verblüfft fest, dass er kalt war. Eiskalt. Auf einmal erklang ein fragwürdiges Geräusch. Ein eigenartiger Geruch breitete sich aus, schwarzer Qualm kroch in den Raum. Plötzlich barst das riesige Fenster und ein Regen aus Asche und Scherben ergoss sich über ihn. Zungen aus Feuer leckten durch die Lücke. Binnen weniger Augenblicke verwandelte sich das gesamte Haus in einen lodernden Höllenschlund. Panisch blickte er sich um, suchte nach einem Ausgang aus dem Meer aus Flammen, doch es war vergebens. Die glühenden Zungen fraßen sich durch alles was ihnen in den Weg kam. Ein Zischen durchfuhr das Gebäude, die Kupferrohre barsten, Dampf entwich. Die Luft wurde zu heiß um sie Atmen zu können, jeder Atemzug verbrannte seine Lungen. Pechschwarzer Rauch kroch ihm in die Nase und das Feuer fraß sich durch sein Fleisch. Es stank erbärmlich, vor Qual sank er in die Knie. Inmitten der flammenden Hölle ertönte eine Melodie. Jemand summte. Als er seinen Blick hob, blickte er in Roberts Gesicht. Er stand dort, mitten in den Flammen, grinste sein Grinsen und summte. Im Gegensatz zu ihm schien er weder Qual noch Angst zu empfinden. Er kam näher, streckte die Hand nach ihm aus und als er zurückwich erblickte er in seiner Hand den Schlüssel. Seinen Schlüssel. Er wollte schreien, doch kein Laut entrang seiner Kehle. Ein Balken löste sich von der Decke, stürzte herab und begrub ihn unter sich. Robert stand da und kicherte sein Kichern, die Melodie tönte in seinen Ohren. „Ach wenn doch, ach wenn doch…“
Harper schnappte nach Luft und fuhr hoch. Sein Herz raste und seine Atmung glich dem Hecheln eines Hundes. Das Badewasser war mittlerweile eiskalt geworden. Ebenso wie der Schlüssel, der auf seiner Brust lag. Ein Traum, es war alles nur ein Traum gewesen. Erleichtert ließ er sich nach hinten gleiten und verweilte ein wenig in der eiskalten Wanne. Er blickte auf und dort saß der Andere und beobachtete ihn. Von dem Rest war keine Spur, weit und breit nicht.
Der Andere grinste und entblößte dabei seine spitzen Eckzähne. Sie sahen alle gleich aus, nur der Ausdruck in ihren Augen war anders. Der Andere hockte da, mit angezogenen Knien, den Kopf auf den Händen gestützt und fixierte ihn mit seinem Blick. <i>Alpträume? </i>Seine Stimme war nicht mehr als ein Hauch, doch so durchdringend wie eine Klinge. „Ja, Alpträume…“ Er musterte den Anderen. Sie sahen alle aus wie er, ja, glichen ihm bis aufs Haar. „Du bist nackt.“, stellte er fest. Das Gesicht des Anderen verzog sich zu einem amüsierten halblächeln. Du auch. „Ich bade allerdings, du nicht und bist trotzdem nackt.“<i> Sind wir das nicht alle? </i>Nun zog er die Augenbrauen hoch, wie Harper es auch manchmal tat. Harper seufzte, erhob sich und ging in sein kleines Schlafzimmer um sich anzukleiden. Wieder hatte der Andere Recht, unter der Kleidung waren sie alle nackt.
Es war fast Mittag als Harper sich auf den Weg zum Maid’s Head machte. Die Neugierde zog ihn wie von Geisterhand dorthin, als hinge er an einer unsichtbaren Schnur. Wie es wohl bei Tag aussehen würde? Gespannt drückte er die Klinke der Tür herunter, über der nun „The Maid’s Head Teahouse“ zu lesen war. Nun war innen keine Spur mehr von den unzähligen Büchern, die in der Nacht zuvor die Wände gefüllt hatten. Die kunstvolle Theke war wieder da, an ihren weißen Säulen tankte sich Efeu empor, weit zum gläsernen Dach hinauf. Die Treppe ringelte an den Wänden, die nun eine scheinbar uralte Tapete mit künstlerischen Blumenmuster und allerlei Details zierte. Anstatt der Werkzeuge im Schaufenster unter dem Tresen fanden sich dort nun wieder allerlei Leckereien. An den Tischen saßen viele Menschen und plapperten wild durcheinander. Sie tranken Tee, aßen die bunten Küchlein, Torten und Kekse. Die Sonne schien durch das Kristalldach und ließ den Raum strahlen, wie Meena, die wieder quietschfidel durch das Areal wuselte und Gäste bediente. Sie lächelte Harper an als sie ihn sah und zog ihn sogleich zu einem Tisch. „Schön dich zu sehen“ Du siehst hungrig aus! Warte, ich bringe dir Frühstück!“ Sie hatte wieder diese überschwängliche Freude an sich, die Harper schon als ihre Maske kannte und notiert hatte. Auch er lächelte sie an und begrüßte sie freundlich. Das taten hier alle, eine Eigenschaft, die er dem Freundlichen angelernt hatte: Höflichkeit und Nettigkeit. <i>Widerlich.</i> Er setzte sich auf den gepolsterten Sessel und zog sein Buch und die Feder aus seinen Manteltaschen. Noch bevor er etwas schreiben konnte tauche Meena wieder mit einem silbernen Tablett auf, auf dem eine wunderliche Teekanne, eine Tasse mit Untersetzer und ein Teller Kekse standen. „Wie findest du es?“ flüsterte sie und blickte sich im Raum um. Harper runzelte die Stirn und versuchte ihrem Blick zu folgen. „Du weißt schon, das hier.“ Nun fuchtelte sie mit der Hand im Kreis herum, bis Harper begriff was sie meinte. Wieder lächelte er. „Es ist wunderschön, wirklich toll!“ Das war es wirklich. <i>Du kleiner, dreckiger Lügner. Es mag schön sein, aber so toll ist es auch nicht. </i>Meena’s Grinsen wurde noch viel breiter, dieses Mal wirkte es allerdings weniger übertrieben. „Schön, dass es dir gefällt. In der Tat, es stimmt dass es wunderschön ist… Es ist ja auch meins!“ Sie kicherte und zwinkerte ihm zu. Ein Klingeln ließ ihren Kopf zur Seite schnellen. Es kam vom Tresen, wo eine drahtige Frau mit einem Kind stand. Sie schenkte Harper noch ein letztes wahres Lächeln bevor sie zum Tresen trippelte und die Frau mit ihrer typischen Überfreude begrüßte. Offenbar kannte sie sie, offenbar kannte man sich hier. Harpers Blick glitt durch den Raum und fiel schlussendlich wieder auf die Teekanne. Sie war braun und glänzte, an sich nichts Besonderes, doch auf ihrem Deckel befanden sich ein Picknickkorb neben dem sich Teller, Äpfel, Gläser und sogar eine Kanne Milch türmen. Er stand auf einem Tuch, auch aus seinem Inneren ragten Teller und eine Decke mit der Aufschrift „Teatowel“ hervor. Was für ein schrulliges Ding! Es gefiel ihm sehr, auch die Tasse und der Teller passten dazu. Eine kleine Rauchfahne schlängelte sich aus dem geschwungenen Hals der bauchigen Kanne, behutsam ergriff er den Henkel und schenkte sich Tee ein. Earl Grey. Nicht übel. Es war tatsächlich nicht übel, um nicht zu sagen, es schmeckte fantastisch. Auch die Kekse waren absolut köstlich, die Tatsache, dass sie die Größe eines Gesichts hatten erwies sich dabei als äußerst praktisch. Das Klirren von Tassen, die auf Unterteller gestellt wurden, das Klappern der Gabeln und Teller und das Geplapper der Leute mischten sich zu einer eigenen Melodie, die den Raum füllte. Die Leute waren allesamt ähnlich, Großteils Frauen, die zu zweit oder in Grüppchen an Tischen saßen und über Gott und die Welt plauderten. Wenig interessant. Vereinzelt saßen auch Männer allein an Tischen und studierten die riesigen Blätter der Tageszeitung. Meena unterhielt sich offenbar immer noch mit der Dame am Tresen. Harper nahm einen Schluck Tee, ehe er sein Buch aufschlug und die leere Seite betrachtete. Gerade als er zur Feder griff, nahm er eine huschende Bewegung aus dem Augenwinkel wahr. „Versuch es und ich schneide dir deine Finger allesamt einzeln ab.“, flüsterte er fast beiläufig ohne auch nur aufzusehen. „Ich hab doch gar nichts gemacht!“
„Noch nicht“. Nun hob er den Blick und funkelte das kleine Mädchen messend an. Sie blickte ihm stur entgegen, die Lippen zu einem Schmollmund verzogen. Ihr braunes Haar war zu zwei Zöpfen geflochten, Sommersprossen zierten ihr kleines Näschen, doch der Schalk blickte ihr eindeutig aus den braunen Augen. Sie verschränkte die Arme hinter ihrem Rücken, stellte sich auf die Zehenspitzen und lugte neugierig über die Tischkante. Sie trug ein halblanges Kleid aus dunkelgrünem Samt, weiße Strümpfe wärmten ihre Füße, die in schwarzen Lackschuhen steckten. „Du bist neu hier, oder?“, fragte sie und musterte ihn mit großen Augen. Es stimmte, man kannte sich hier. „Ja, doch dieser Tatsache legt man noch lange nicht für einen Diebstahl als Rechtfertigung fest. Überdies ist es durchaus fragwürdig etwas zu entwenden, das wenige Meter ferner zu erwerben ist.“ Er zog eine Augenbraue hoch und funkelte sie aus seinen Saphiraugen an. „Zudem hast du dich gänzlich ungeschickt angestellt.“ Ein Lächeln schlich auf seine Lippen. Der Freundliche gab sich wirklich alle Mühe. „Ich… Ich wollte gar nicht…“ Die Wangen des Mädchens färbten sich purpurn, voller Scham blickte sie zu Boden.“ Schon gut.“, seufzte Harper und widmete sich wieder seinem Buch. Sie streckte ihm die Hand entgegen. „Ich bin Marie, würdest du die wirklich alle abschneiden?“ Er streifte ihre Hand mit einem Blick, bevor er wieder ihr kleines Gesicht fixierte. „Natürlich.“ Sie starrte ihn mit einer Mischung aus blankem Entsetzten und Faszination an. „Du bist ja irre!“, feixte sie.
„In der Tat, das bin ich.“ Harpers Grinsen wurde noch breiter, seine spitzen Eckzähne blitzen hervor. Das Mädchen kicherte. „Boah du hast ja Eisaugen und Vampirzähne! Woher kommst du? Sind alle Leute bei dir zu Hause so? Sind die dort alle Irre? Wie heißt du?“ Ein wahrer Wasserfall aus Worten brach aus ihrem kleinen Mund. „Ich bin Josh.“ „Josh… hab ich noch nie gehört. Du bist neu hier.“, stellte sie erneut fest. „Ja, das bin ich.“ „Bist du Reisender? Wie lange willst du bleiben? Also ich wohne schon lange hier, ich komme aus dem zweiten Ring von innen und meine Tante nimmt mich oooooooft hierher mit. Ich mag keinen Tee, außer da is viiiiiel Zucker drin und ich liiiiiebe Kekse! Aber meine Tante kauft mir keine, niiiiie….“ „Holst du auch ab und zu Luft?“, unterbrach Harper ihren Redeschwall. Es war etwas nervenzehrend Selbstlaute in solch gezogener Form zu hören. Marie sog demonstrativ die Luft ein. „Dooch das tue ich schon, da!“ Ein zischender Laut erklang als sie die Luft durch ihre aufgeblasenen Backen entweichen ließ. „He, in deinem Buch steht ja nichts drin!“, meinte sie plötzlich.
„Ach nein, tut es das nicht?“
Sie runzelte die Stirn. „Ne, da steht nichts, alles leer.“
„Unfug.“ „Nein, kein Unfug! Da ist ja alles weiß! Es ist leer.“ Trotzig verschränkte sie die Arme vor der Brust.
„Nur weil du es nicht vermagst, zu sehen was du dort sehen könntest, ist es noch lange nicht leer.“ Harper zwinkerte ihr zu.
„Soll das hießen, dass ich blöd oder blind bin?!“ Harper lachte, auch Marie lachte.
„Du bist anders.“, sagte sie und kletterte auf den Stuhl. Mit schräg gelegtem Kopf betrachtete sie ihn, als wäre er das Interessanteste, das sie je gesehen hatte. <i>Dummes Gör, selbstredend sind wir anders.</i> „Warum bist du hier? Bist du von zu Hause weggelaufen? Ich bin’s mal, aber meine Tante hat mich heim geholt. Warum bist du von zu Hause fort? Ist deine Mommy nicht traurig? Wo kommst du überhaupt her?“
„Es spielt keine Rolle woher ich komme, es zählt einzig allein wo ich war und wohin ich gehe.“
„Du bist wirklich komisch. Komische Menschen sind selten, weil alle nicht komisch sind, sondern alle wie alle. Alle sind jeder. Total langweilig. Ich bin auch wie jeder, weil jeder irgendwie wie jeder ist, nur du nicht.“
Lächelnd musterte er Marie. „Du bist nicht jeder. Du bist du, und was du bist bestimmst allein du selbst. Du bist es das dich anders macht. Du musst es nur zulassen.“ Seine Saphiraugen hafteten an ihren braunen Rehaugen, sie starrte ihn an. „Du bist Josh, und ich bin Marie.“, murmelte sie. Verwundert stellte er fest, dass sie wahrhaftig über seine Worte nachdachte. „Das sag ich zu Bettie, wenn sie mich wieder ärgert und sagt, dass ich nicht so hübsch bin wie sie!“ Herrje. „Weißt du was, ich mag dich!“ Sie strahlte. Plötzlich schallte eine schrille Stimme zu ihnen herüber: „Marianne! Was in drei Teufels Namen treibst du da? Himmel, dich darf man keine Sekunde aus den Augen lassen! Komm augenblicklich hierher junge Dame!“
Marie zog eine Schnute und verdrehte die Augen. Sie sah verärgert aber auch zu tiefst enttäuscht aus. „ Na los, nimm einen und verschwinde.“
„Echt, ich darf einen haben?“ „Sicher.“ „Und du schnibbelst mir nicht sie Finger ab?“ „Nein, sicher nicht.“ Überglücklich schnappte sie sich einen Keks und versteckte ihn unter der Schürze ihres Kleidchens. „Du bist echt Irre! Und…danke für den Keks!“ ,gluckste sie lächelnd und trollte sich endlich. „Bis bald Josh!“, flüsterte sie zwischen ihren Zahnlücken hervor. „Auf bald.“ flüsterte auch Josh ihr hinterher. Er hatte ihr seinen letzten Keks geschenkt.
<i>Erstick daran. </i>
Endlich ergriff er seine Feder und schrieb in sein Buch.
Kinder sind neugierig, hinterhältig und verlogen. Sie machen sich ihre Unschuld zu Nutze um uns hinters Licht zu führen, selbst für die banalsten Dinge wagen sie gar enormes. Sie haben wenig Scham, denken kaum über Ihr tun nach und sind naiv, von sich überzeugt und doch so beinflussbar. Instrumentales Potential im Höchstmaß. Doch es gibt Ausnahmen, mache von ihnen sind anders, manche von ihnen sind weniger verachtenswerte, durchaus annehmbare Kreaturen, aus denen man gar großes machen kann. Marie.
Die kleine Göre hatte doch tatsächlich Eindruck bei ihm hinterlassen. Dennoch, er hasste Kinder. Sie alle taten das.
Nun, geneigter Leser, was halten Sie von Kindern? Wie Sie wissen hält unser werter Freund Josh Harper nicht viel von ihnen und zugegeben, ich tue dies auch nicht. Warum? Nun ja, Kinder sind süß, sie wissen nicht was sie tun, sie sind neugierig und stets so quicklebendig, als hätte man ihnen Tabletten mit Smileys anstatt von Smarties in die kleinen Kehlen gestopft. Kinder sind eben Kinder, doch ich sage Ihnen etwas, Kinder sind gottverdammt nochmal grausam, berechnend und falsch. Warum? Denken Sie doch nach, geneigter Leser, haben Sie denn Kinder? Wenn ja, dann werfen Sie dieses Buch womöglich gleich ins Feuer, oder aber Sie lernen daraus und behalten es. Wir werden sehen. Doch wo waren wir? Achja, Kinder. Diese dreckigen kleinen Biester sind in der Tat nicht so dumm wie sie vielleicht scheinen mögen, weil sie noch ihre Finger hochhalten um uns Angaben über ihr Alter zu geben. Oh nein, Kinder sind kalkulierende kleine Ratten. Haben Sie denn schon jemals an einem Tresen gestanden und gewartet bis das kleine Balg vor Ihnen zu schreien aufhört? Da haben Sie es. Wie Sie sicherlich wissen hört dieses Balg erst auf, wenn Mütterchen brav war und ihm den Lutscher kauft, den es dort am Tresen gesehen hat. Wir erziehen unsere Kinder? Wohl kaum, wie dieses Beispiel zeigt, erziehen SIE UNS, wenn wir nicht aufpassen. Doch ein jeder weiß um dieses Spiel der Kinder. Mit ihren Unschuldsmienen, ihren gar ohrenbetäubenden Schreitiraden und dem Hundeblick bekommen sie was sie wollen. Sollte dem einmal nicht so sein, dann machen sie sich auf ein Heulkonzert allerersten Grades gefasst. Spätestens dann bekommen sie ihren verfluchten Lutscher von Mütterchen in den gierigen, geifernden Schlund gestopft und es herrscht wieder Ruhe, zumindest für eine Weile. Sie alle kennen sicher den Spruch, dass Kinder grausam sind. Kinder sind nicht grausam, Kinder sind eben Kinder, nicht wahr? Tja, sie sind es eben doch. Kinder sind grausam, mein lieber Leser, sie sind es in der Tat und wissen sie denn, was das Schlimmste daran ist? Sie sind es unbedingt mit Absicht. Kindliche Grausamkeit resultiert aus dem wohl stärksten aller menschlichen Dränge: Neugierde. Warum sonst tritt ein Kind auf einen Käfer und betrachtet lachend, wie „der Glibber aus dem Teil raus flutscht“? Ganz einfach, Kinder sind nicht dumm, sie wissen nur nicht so viel wie wir und dieses Unwissen züchtet eine gar unmenschliche Menge an Neugierde, die erst einmal verbraucht werden muss. Kinder wissen nicht was passiert wenn sie sterben. Wir wissen dies zwar auch niemals mit Sicherheit, doch welches Kind kennt den Ablauf des Verfalls? Darum treten sie lachend auf Käfer, sehen Ameisen zu wie sie verbrennen, lauschen mit leuchtenden Augen dem Knistern der kleinen, schwelenden Insekten und stochern das überfahrene Eichhörnchen mit Stöcken an, um zu sehen ob sein kleines Herz noch schlägt. Wenn nicht, dann spießen sie es auf. Was für ein Spaß! Allem zum Trotz können sie diese Neugierden kaum stillen, was in ihrer „warum“ Phase nur allzu deutlich wird. Zudem haben sie Angst vor allem, was sie nicht kennen. Das haben Sie auch, doch Sie haben im Laufe der Jahre gelernt dies zu verbergen und Sie bringen den Kindern bei, dies zu tun, indem Sie so sind, wie Sie sind. Warum verspotten Kinder wohl das dicke Kind von neben an? Es ist fett, ganz einfach und damit ist es anders. Was anders ist, ist nichts von uns, so einfach ist das. Mit diesem Verhalten, das wir –wenn vielleicht auch unbewusst- unseren Sprösslingen anerziehen, züchten wir die Welt von Morgen. Eine Welt voller Tunichtgute, Pseudooptimisten, überfreundlichen Dauergrinsern, Jesus-Fans, Nachwuchshuren, engstirnigen „Weltverbesserern“ und -und das sind wohl die schlimmsten von allen- „normalen“ Durchschnittsbürgern. Kinder sind manipulativ, sie können nicht viel dafür, dass sie so sind, wie es ihnen anerzogen wird, denn wohl das erste, was wir ihnen Lehren ist: „Sei folgsam, sonst kommt der schwarze Mann dich holen!“ Wo bleibt da eine Alternative? Sie glauben uns doch schließlich, dass wirklich ein kohlrabenschwarzer Mensch mir glühenden Augen und Krallenhänden kommt, um sie zu holen und in den Kohlenkeller zu stecken. So fängt es an und ehe wir uns versehen, haben wir ihnen alles aberzogen, was nur wichtig ist und sie müssen es später in den „Problemphasen“ wieder neu erlernen. Wir verlieren die Macht über sie und wundern uns was nur aus ihnen geworden ist. Was wohl, das, was wir aus ihnen gemacht haben. Kleine, pseudorebellische Besserwisser, die sich für Gott und die Welt oder Satan in der Hölle halten, eine Brut, die uns selbst im Grunde bis aufs Haar gleicht. Kurzum, Bälger, deren Verstände nur so vor lauter Nichts sprudeln, die nicht mehr im Kopf haben, als ihre „Träume“. Sie wissen schon, was ich meine. Wenn sie zu Teenagern werden, werden sie noch schlimmer, denn dann sind sie fast wie wir. Furchtbar. Wir züchten uns unsere Welt, machen unsere Kinder zu dem, was wir sind und wer sich auch nur irgendwie dagegen wehrt, ist anders und anders ist falsch. Darum stecken sie Leute wie uns in Klapsen, Gefängnisse oder lassen uns in unseren finsteren Ecken schmoren, tirezen uns, bis wir es ihnen heimzahlen und dann erst recht in der Klapse oder im Knast landen. Unsere Kinder tun uns dies nach und so beginnt der Teufelskreis von Neuem.
Kinder sind nicht nur Kinder. Kinder sind grausam, ob aus Neugierde und/oder Absicht, es gibt nichts grausameres als ein Kind und sei das Grausame daran auch nur, dass das Kind nicht weiß, dass es grausam ist. Es weiß, dass der Käfer „Aua“ hat, wenn es drauftritt, wie es auch weiß, dass die Ameisen „Aua“ haben, wenn sie es mit einem Schwefelhölzchen ansteckt, doch es ist ihm egal. Warum? Nun, es will wissen was passiert, wenn das Tierchen „Aua“ hat. Stirb es? Wenn ja, wie? Tut es auch dann noch weh? Kommen denn tatsächlich Engel um seine Seele zu holen? Wenn ja, kann man diese Engel fangen? Geben Sie es zu, auch sie haben als Kind Schmetterlingen oder Fliegen die Flügel ausgerissen, um zu sehen, ob sie noch fliegen können oder danach einfach sterben! Wer zertritt –auch jetzt noch- keine Spinnen, weil sie ekelig sind? Sie wissen doch, was Josh Harper über Spinnen sagte, nicht wahr? Sowohl wissen Sie auch, was er über Menschen und Kinder sagte? Gut, sollten sie es aber vergessen haben, dann sage ich ihnen noch einmal mit meinen Worten, was Spinnen, Menschen und Kinder sind, passen Sie gut auf: W-i-d-e-r-l-i-c-h. Da haben Sie es, wir sind widerlich. Nehmen Sie es nicht persönlich, aber wie sie Spinnen widerlich finden, findet Josh Harper Menschen und Kinder widerlich, zu Recht, wissen Sie. Doch grämen Sie sich nicht, er hat Recht, Menschen sind auf eine Weise widerlich, wie Kinder grausam sind-unbewusst und dennoch unausweichlich.
So unbewusst und doch unumgänglich wie gewisse Dinge sind, wie sie sind, ohne es doch zu wollen, schlich sich auch der Wandel in das Leben unseres Freundes und seiner Kameraden. Es war nur eine Frage der Zeit, bis der stetige Wandel der Welt auch ihn einholen würde.
Eine Stadt aus Glas, ein Gebäude, dessen Dach dem Netz einer Spinne glich. Cobweb Castle… Ein Geschäft, das mit dem Wandel von Tag und Nacht seine Gestalt veränderte, dazu ein Buchbinder und seine Frau. An welch fragwürdigen Ort war der Junge denn nur gelandet? Norrin Davis faltete den Packen Briefpapier zusammen und legte ihn in die Kiste, in der er alles aufbewahrte, was er von Josh bekam und jemals bekommen hatte. Seufzend erhob er sich von dem kleinen Schemel, sein Rücken knarzte und knacke wie der Boden unter seinen Füßen. Sie saß dort, in der Auslage und spähte zähnefletschend zu ihm herüber. Dennoch, in letzter Zeit hatte sie die Güte, ihre Erscheinungsform zu zensieren. Sie sah aus, wie zu dem Zeitpunkt, als er sie geliebt hatte. Schwarzes Haar umfloss ihre schmalen Schultern, ihre dunkelbraunen Augen funkelten hinterhältig aus ihrem zarten, schokoladenbraunen Gesicht. Doch Norrin Davis war zwar ein alter Narr, doch noch lange nicht närrisch genug, um auf ihre Spielereien hereinzufallen, nein. Er wusste, was sie wollte, doch er würde es ihr nicht geben, egal was sie versuchte. Fast war sie ihm lieber gewesen, als sie noch in ihrer Grabesgestalt zu ihm kam um ihn heimzusuchen, aber was sollte man tun? Frauen waren eben etwas eigen, um nicht zu sagen störrisch, hinterhältig und narzisstisch. Und bei Gott, Runa war eine Frau und was für eine! Zudem war sie einst seine gewesen, doch dies war lange her…
Ächzend begab sich Norrin, auf seinen gezwirbelten Gehstock gestützt nach draußen. Er musste fort von hier, ein Spaziergang würde seine Gedanken etwas auflockern und die Frische, spätherbstliche Luft würde ihm gut tun. Zumal SIE ihm nicht folgen würde. So strolchte er durch die Gassen und wunderte sich, dass er die Frau, die nach ihrem kleinen Robert suchte noch nicht gesehen hatte. In Gedanken versunken wanderte er umher, dorthin, wohin der Wind ihn zu tragen schien. Doch heute war etwas anders als sonst, ja etwas war bei ihm, so seltsam es sich auch anhörte, er schien plötzlich einen Begleiter zu haben, der ihn umher führte. Ein Zweig knackste unter seinen Füßen, verwirrt blickte er sich um. Nanu? Wo war er denn hing gewandert? Er war ohne Sinn und Verstand gewandert, den Kopf in den Wolken, wie man so schön sagte und nun fand er sich plötzlich in der Nähe eines Parkes wieder. Seltsam, dieser Park gehörte doch zu dem klitzekleinen Örtchen, in dem Josh gelebt hatte! Ob er wohl oft hier gewesen war? Freiwillig ganz sicher nicht. Ein großer Baum dominierte die Wiese, einige Schaukeln und Klettermöglichkeiten standen in einiger Entfernung herum, so rostig und defekt, dass selbst Norrin es sehen konnte. Auch ein Fußballplatz war vorhanden, keine Frage, wer hier wohl seine Wochenenden und Nachmittage verbracht hat. Er konnte Robert förmlich sehen, wie er einem Ball nachjagte, mit roten Bäckchen und zerschundenen Knien. Josh hatte vermutlich unter dem Baum gesessen und eine blasse Nase in ein Buch gesteckt. Oder aber er war auf dem Baum gewesen, um sich vor den Anderen zu verstecken. Das Bild Roberts, wie er mit einem Fußball, welchen er ihm als Bobbels vorgestellt hatte, in seinen Laden getreten war um ein Geschenk für seinen geliebten Josh zu suchen. Das Funkeln in seinen Augen, als er über ihn gesprochen hatte, wie er ihm erzählte, dass sein Josh für alle unsichtbar war, wie klug er war und was er nicht alles zu tun vermochte. Dummer, dummer Junge. Dummer Robert. Erneut dachte er an die Frau, die ihn suchte, eben diesen Jungen, der dem Robert glich, der schon vor Jahren nichtmehr klein gewesen war. Wo war er nur abgeblieben? Josh hatte ihn gesehen, als er die Stadt verließ, das hatte er ihm erzählt, er war über den Hügel geklettert, hatte er ihm gesagt. Ein Rascheln riss Norrin aus seinen Überlegungen eine Krähe flatterte aus dem Gebüsch hinter ihm. Erschrocken Drehte er sich um und erblickte etwas, das wie ein Trampelpfad aussah. Stirnrunzelnd trat er näher. Tatsächlich, es war ein geheimer Weg. Gänsehaut keimte auf seinen Armen und überzog bald schon seinen ganzen Körper. Herrje, er konnte doch keinem Trampelpfad folgen, dazu war er viel zu alt. Er könnte ausrutschen und sich ein Bein, die Hüfte oder gar den Hals brechen! Wer würde ihn finden? Niemand, er würde einsam und allein dort oben sterben und sie würde kommen und sich holen, was sie wollte und ihn auslachen. Nein, er konnte dort nicht hinauf. „Himmel Arsch und Zwirn, du bist ein Narr Norrin Davis!“, verfluchte er sich selbst, schob mit seinem Gehstock das Unkraut beiseite und machte sich auf den Weg, um den Pfad zu erkunden. „Wie ein kleiner Junge, wirklich furchtbar, du scheußlicher, kleiner Narr! Was denkst du dir nur dabei…?“, murmelte er während er keuchend den immer steiler werdenden Weg folgte. Seine Gänsehaut wurde stärker und stärker, sie spannte so sehr, dass er fürchtete, sie würde ihm sogleich das Fleisch von den alten Knochen schälen. Doch irgendetwas zog ihn voran, unermüdlich und unerbittlich zog es ihn geradewegs Richtung Irgendwo ins Unbekannte.
Das Gelände wurde immer unwegsamer, das verdorrte Unkraut streckte seine dornigen Klauen nach Norrin aus, Wurzeln und Gewächse aller Art erschwerten ihm seinen Weg. Doch er schritt voran, auf seinen Stock gestützt erklomm er den Hügel und mit jede Schritt, den er tat, wuchs dieses eine, undefinierbare aber doch unerbittliche Gefühl in ihm. Forschend blickte er sich um. Langsam war der Weg steiler und steiler geworden, nun erhob sich vor ihm der Hang eines Hügels. Es roch seltsam, irgendwie nach Rauch, alter Asche und etwas anderem, das er noch nie zu vor gerochen hatte. Die Erde zu seinen Füßen wurde immer schwärzer, verkohlte Baumreste ragten empor wie Hände, die aus ihren Gräbern drohend gen Himmel zeigten. Keuchend und ächzend erklomm er den Hügel und als er endlich auf dessen Kuppe stand und auf den Weg zurückblickte, dämmerte ihm, wo er sich befand. Plötzlich leuchtete es ihm ein, er wusste nun, wo er war. Bedächtig drehte er sich um, fast traute er sich nicht, den Blick auf das zu richten, was dort war. Ein Schauer lief über seinen schmerzenden Rücken, die Ruinen des Bennington Inn erhoben sich vor ihm. Sie waren pechschwarz, verkohlt und schienen, selbst nach so langer Zeit immer noch zu glühen. Dennoch, er befand sich an der Rückseite des Gebäudes, es hatte der Stadt stets den Rücken zugewandt, wie seine Erbauer selbst. Zögernd tapste er durch das Trümmerfeld. Ein Weg aus gesprungenen, überwucherten und angekohlten Marmorsteinen führte ihn durch einen Garten aus verbrannten Bäumen um das Haus herum. Einer der beiden Türme ragte noch zur Hälfte neben den Resten der großen Treppe empor. Eie Krähe schrie und Norrins Blick fiel auf eine riesige, knorrige Trauerweide, deren Äste einen Pavillon bildeten. Der Schauer kehrte wieder, doch dieses Mal machte es ihm nichts aus. Fast andächtig begab er sich zu der Weide. Sie hatte offenbar am wenigsten vom Feuer gespürt, obgleich sie nicht allzu weit vom Gebäude entfernt wuchs. Schicksal? Er hatte hier gesessen, genau dort, unter dem Dach aus Blättern und hatte gelesen. Er hatte es ihm nie erzählt und dennoch wusste Norrin es, als er den Baum erblickt hatte. Es war ein Wissen, das man nicht erwerben kann, eine Art… intuitives Wissen. Er war hier gewesen, genau hier. Behutsam glitt Norrins Hand über den rußgeschwärzten Stamm des alten Baumes. Eine Weile stand er so da und dachte an Josh, bis ihn plötzlich etwas herumfahren ließ. „Josh?“, flüsterte er. Humbug, er konnte nicht hier sein, er war es auch nicht. Trotzig verließ er das Weidenzelt und stiefelte weiter, er wollte es von vorne sehen, wie Josh es gesehen haben musste. Doch als er an der Fron des Gebäudes angelangte, sah er nur ein großes Areal, wie eine Bühne, neben der der Turm emporragte. Einzig die große Treppe führte noch zur „Bühne“ hinauf, doch was war das? Dort oben baumelte etwas von einem Balken. Neugierig und doch etwas widerwillig machte Norrin sich auf, um nachzusehen, was denn dort hing. Ein, zwei Schritte, dann stand er vor dem bühnenartigen Gebilde mit seiner Treppe. Hier war wieder dieser seltsame Geruch, nur an diesem Ort war er stärker… Erneut schallte der Schrei einer Krähe zu ihm, erschrocken drehte er sich um und ärgerte sich sogleich über seine eigene Schreckhaftigkeit. Grummelnd wandte er sich wieder der Bühne zu. Ein Donnerschlag schien ihn zu treffen, sein Herz drohte in seiner Brust zu zerspringen. Mit weit aufgerissenen Augen blickte er in ein zerschundenes, schlaffes, aufgequollenes Etwas, das einmal ein Gesicht gewesen war. Jeder Laut um ihn herum schien zu ersterben, als er auf den hängenden Leib blickte, der von der Bühne baumelte. Norrin keuchte, rang nach Luft, gleich wie widerlich der Gestank auch war. Was um alles in der Welt… Er musste sich nicht fragen wer denn dort oben hing. Das Gesicht, oder das was die Krähen davon übrig gelassen hatten, war ihm nur allzu bekannt. Zwar hatte er es nur einmal gesehen, als es noch jung war und rosige Bäckchen hatte, doch er wusste, wen er vor sich hatte. Auch ihm fehlte ein Auge, ironischer Weiße das Selbe wie ihr, das Linke. Das Andere musterte ihn mit seinem trüben, toten Blick. Efeu hatte begonnen, sich um den Stick zu ranken, wie um ihn zu zieren. Norrin schluckte und trat näher heran. Er grinste ihn an, mit diesem wirren, toten Grinsen. Doch Norrin glaubte Trauer in seinem toten Auge zu sehen, Trauer, Schuld und Verzweiflung. Er wollte gerade gehen, sich von diesem schier unerträglichen Anblick abwenden, als ein Windstoß über den Hügel strich und den Hängenden etwas drehte. Nun blickte er nicht mehr wahllos auf das kleine Örtchen, er schien auf ein bestimmtes Haus zu blicken. Sein Haus. Doch etwas ließ Norrin stutzen. Hörte er ein Klingeln? Nein, das war unmöglich. Sein Blick fiel auf den Fetzen Stoff, das Hemd des Hängenden und Norrin erblickte ein Symbol darauf. Ein silberner Schlüssel war dort eingestickt worden, mit wackeligen Stichen und Silbergarn aus dem Schneiderladen an der Ecke zu seinem Geschäft. Jeglicher Zweifel wurde von dem Sturm aus Entsetzen und Unglauben fortgeblasen. Er war es. Und es war SEINE Schuld gewesen. Robert Harper. Er hatte es getan, er hatte ihn dazu gebracht es zu tun. Josh Harper.
Ein wirres Lachen kletterte aus den Tiefen seiner Kehle empor und schallte über den Hügel, hinab auf den unsäglichen Ort. Er hatte es tatsächlich geschafft! Er hatte es geschafft, wahrlich er hatte es getan! Er hatte sie alle dessen beraubt, was sie geliebt hatten! Der Junge war ein Genie. Auch Robert schien zu lachen, er grinste sein Grinsen, ewig festgefroren auf seinem toten Antlitz. So hing er da und grinste, dazu verdammt, ewig in den Ruinen des Bennington Inn zu hängen, auf sein Heim zu blicken und sich nach seinem geliebten Josh zu sehnen. So hing er da, auf seiner „Bühne“. Der Vorhang war gefallen.
So machte Norrin sich an den Abstieg, zwar war er erst schockiert gewesen, doch dann war ihm klar geworden, dass er es schon immer geahnt hatte. Er wusste, dass der Junge zu mehr in der Lage gewesen war, dies hatte sich nur bestätigt. Er lächelte in sich hinein, fast glaubte er, Josh würde neben ihm den Hügel hinab schreiten, auf seinem geheimen Pfad zu seinem Refugium. Er hatte die bestraft, die ihm Unrecht getan hatten, die, die es verdient hatten. Er hatte den jenigen Bestraft, der ihm das genommen hatte, was er liebte und er hatte ihnen genommen, was sie geliebt hatten. Was blieb, sind Ruinen, verbitterte Menschen, Feinde und ein Engel, der perfekte kleine Engel Robert, der im Himmel ertrunken war und nun dort hing, um über die Hölle zu wachen die ER erschaffen hatte. Er, Josh Harper.
Ein letzes Mal blickte Norrin auf das Haus am Hügel zurück, ehe er den Weg zurück spazierte. Er hatte ein Ziel, er wollte es sich noch einmal ansehen, den Ort, an dem er gelebt hatte. So machte er sich auf den Weg in den das kleine Örtchen und es bedurfte keiner langen Wanderung, da hatte er ihn schon erreicht. Man musste nur dem Weg aus diesen grässlichen, gelben Pflastersteinen folgen. Ein Glück, es fehlten schon unzählige, der Weg hatte zu beiden Seiten mehr Lücken als die Zahnreihen eines alten Greises. Immer noch dachte er an Josh und auch beiläufig an Robert, doch eher an Josh. Warum hatte er es ihm nie erzählt? Er war schließlich involviert gewesen, von dem Zeitpunkt an dem der Junge die Schreibmaschine gesehen hatte, bis er fort gegangen war. Gedankenversunken schlenderte er weiter, den Blick in den Himmel gerichtet, wo die Wolken die Sonne verdeckten. Was der Junge wohl gerade trieb? Waren die Wolken in seiner gläsernen Stadt auch so grau und fahl? Plötzlich rammte ihn etwas in der Seite, sein Spazierstock verfing sich in einer der Lücken am Boden und Norrin landete unsanft auf seinen Knien. „Himmel, Arsch und Zwirn, was um alles in dieser gottverdammten Welt…“ Der Ansatz eines Fluches kroch über seine Lippen, doch dieser wurde sogleich jäh vom Jammern einer Frau niedergerungen.
„V-verzeiht, Herr! Oh je, oh je, ist alles in Ordnung?“, murmelte eine wirre Stimme. Norrin hob den Blick und sah die Frau, die vor ihm stand und ihm die Hand entgegenstreckte. Graue Strähnen durchzogen ihr schwarzes Haar, blaue Augen blickten ihn verwirrt und leer aus dem eingefallenen Gesicht an. Das war sie, SIE. Schnell griff Norrin nach seinem Stock und hievte sich nach oben. Sein Rücken ächzte und seine Knie brannten. Doch seine Neugierde überstieg seinen Zorn über die Unachtsamkeit der Frau, auch ein Hauch von Mitleid hatte sich mit ein geschlichen.
„Schon gut, alles in bester Ordnung Mrs.. Bei Ihnen?“
„Oh, oh ja, ja… alles ist gut.“ Ihr Blick wurde dunkel, Trauer schwärzte selbst das hellste Augenblau.
„Mrs., fehlt ihnen etwas?“ Norrin heuchelte mitleidiges Interesse, es wäre tunlichst unhöflich die Frau direkt darauf anzusprechen, ob die Pfefferminzprinzen ihren armen kleinen Jungen denn schon aufgestöbert hatten. Zumal wusste sie nicht, wer er war, er jedoch genau, wer sie war. Und anderweitig würde es auch keinen Spaß machen.
„Nein, das heißt, ja, ja doch ja. M-mir fehlt etwas, äh, jemand, genau jemand!“ Das wirre Funkeln leuchtete in ihren Augen auf und sie fuhr sogleich fort:
„Mir fehlt mein Junge, mein Sohn! Ich suche ihn schon seit ein paar Tagen! Sein Name ist Robert, er ist zum Fußballspielen gegangen und seither habe ich ihn nicht mehr gesehen! Er hat auch seinen Lieblingsball vergessen!“ Tränen glänzen in ihren Augen als sie ihm den Ball unter die Nase hielt. Norrin kannte den Ball, der Junge hatte ihn auch in seinen Laden gebracht, damals. Er wollte ihn gegen das Buch tauschen, als er nicht genug Geld hatte. Norrin hatte ihm den Rest erlassen.
„Er nannte ihn Bobbles, sein Lieblingsball. Er geht nie ohne ihn fort, niemals! Sehen Sie, das ist er, mein kleiner Junge, mein kleiner Robert…“ Sie zog ein gerahmtes Bild aus der Tasche ihrer Schürze hervor und hielt es ihm hin. Norrin nahm es an sich. Es war ein Familienfoto, drei Leute waren darauf zu sehen. Eine hübsche junge Frau, deren Reste vor ihm standen, ein Mann, dessen Statur einem Schrank glich und ein kleiner Junge, etwa neun oder zehn Jahre alt, der einen Ball hielt. Er hatte unweigerlich das Gesicht seines Vaters. Norrin musste an ihn denken, wie er dort oben baumelte, auf sie herabblickte und sein Grinsen grinste. Fast konnte seinen toten Blick spüren.
„Da, das ist er! Mein liebster kleiner Robert! Mein Sohn. Haben Sie ihn denn gesehen?“ Ihre Stimme riss ihn aus seinen Gedanken.
„Nein, bedauerlicher Weise nicht Mrs. Aber sollte ich ihn sehen, schicke ich ihn her.“
„Oh… D-dann nehmen Sie das mit, damit sie nicht vergessen, wie er aussieht!“
Norrin nahm das Foto an sich und steckte es in die Innentasche seines Mantels.
Er setze dazu an, etwas zu sagen, doch da fing Aida erneut an zu brabbeln.
„Oh, sehen Sie nur wie spät es ist! Robert kommt bald nach Hause und mein Mann auch! Das Essen muss noch fertig gekocht werden und ich habe einen Kuchen im Ofen!“ Sie rang die Hände, in diesem Augenblick war Norrin vergessen. Schnell stapfte sie zu ihrem Haus zurück, den Holzeimer voller Abfall, den sie bei ihrem Zusammenprall hatte fallen lassen, schien sie nicht zu sehen. Auch Norrin war für sie unsichtbar geworden. Ehe er sich versah war sie im Haus verschwunden um Essen für einen Mann zu kochen, der sie schon vor langer Zeit verlassen hatte und natürlich für ihren Sohn, der oben auf seiner Bühne an einem Balken im Bennington Inn baumelte und auf sie herab blickte. Was für eine arme Frau. Ob Josh sie auch hatte strafen wollen? Natürlich und er hatte sie getroffen mitten ins Herz. Doch er konnte ihn verstehen, er war für sie offenbar immer unsichtbar gewesen, selbst auf dem Familienfoto war er nicht zu sehen. Kopfschüttelnd machte Norrin sich auf den Heimweg.
Der Abend lag bereits im Sterben, die Nacht brach herein als Norrin endlich in seinem kleinen Laden ankam.
Müde und doch von Neugierde getrieben setzte er sich hinter den Tresen, auf den kleinen Schemel und zog das Bild aus seiner Manteltasche. Sie war auch dort und beobachtete ihn. Noch hatte sie ihre freundliche Gestalt und Norrin hoffte, dass dies so bleiben würde. Runa… Kaum zu glauben, dass sie immer noch da war. Lange Zeit war sie verschwunden gewesen, gefangen in seinem alten Leben, dem das er in der Vergangenheit zurück gelassen hatte. Oh wie sehr hatte er doch gebetet, dass es dort bleiben würde, in der Vergangenheit. Doch die Regeln unseres Lebens gelten nicht für das Schicksal und sein grausames Spiel. So war sie gekommen, als er gegangen war und nun saß sie dort, im Schaufenster und blickte ihn aus ihrem wunderschönen Auge an. Sie wollte das Andere wieder haben, doch Norrin würde es ihr niemals geben. Warum? Nun er hatte seine Gründe. Jeder hat sie. Kritisch und mit einem Lächeln, das süßer war als aller Honig der Welt beäugte sie Norrin, als er das Bild hoch hob und in den Schein der glimmenden Lampe hielt. Seltsam. Eine glückliche Familie, ein stolzer Mann mit seinem glücklichen Kind und seiner wunderschönen Frau. Seine Familie… Doch, wo war ER? Norrin drehte und wendete das Bild, tausend Gedanken rasten ihm durch den Kopf. Robert lächelte ihn an, mit leuchtenden Augen und Bobbles, dem Lieblingsball. Runa war vor ihn hin getreten und starrte grinsend auf das Bild. „Wo stier denn nur? Wo ist denn dein Liebling, Nono? Er ist fort, auf dem Bild wie hier auch. Jammer, Jammer Schade, Nono!“, ihre Stimme triefte vor Sarkasmus und Gehässigkeit, wie blanke Galle brannte sie in seinen Ohren. „Sie es ein, Nono, er ist fort und niemals, niemals nie wirst du ihn wiedersehen!“
„Das hatte ich von dir auch behauptet und doch bist du da.“
Er blickte sie an, ihr Auge funkelte voller Hass und auch das in seiner Brusttasche schien vor Hass zu glühen, als wollte es ihm das Herz verbrennen. Wieder stimmte sie ihre Tirade an, immer lauter und immer schlimmer. Wie klingen aus Eis schnitten sie in sein Herz. Josh war nicht fort. Nicht wegen ihm. Der junge lebte, zum Teufel er lebte!
„Bist du dir ganz sicher Nono? Bei mir warst du dir auch sicher und doch bin ich hier…“ Ihr Lachen schrille durch den kleinen Raum und lies den Staub von den Regalen rieseln. Norrin ballte die knorrigen Hände zu Fäusten und starrte auf das Bild. Man durfte ihr keine Aufmerksamkeit schenken, das machte alles nur schlimmer. „Ach ja? Was du nicht siehst ist nicht da, nicht wahr? Nun, doch. Es ist da, obwohl du es nicht sehen kannst, und das macht es nur noch schlimmer.“ Roberts Gesicht hatte all sein Leben verloren, nun blickte ihm der tote Robert mit seinem verfaulten Gesicht an und zwinkerte ihm mit dem einen Auge, das er noch hatte zu. Er lachte und sie stimmte mit ein. Sie lachten ihn aus. Hastig warf Norrin das Bild nach ihr, doch sie wich aus es prallte krachend gegen die Tür. Er zitterte als er dort auf seinem Schemel hockte und das Bild anstarrte. Sie war fort und auch Roberts Lachen war verklungen. Nach einer Weile erhob er sich um das Bild aufzuheben. Der Rahmen war kaputt, das Glas war gesprungen. Die kleine, glückliche Familie lag begraben unter Scherben da. Doch was war das? Norrin nahm das Bild an sich und zog an der Ecke. Sie war wohl geknittert worden, was das Bild mit dem Boden oder der Wand kollidierte. Aber nein, es war noch auf seiner Holzplatte befestigt, nur eine Ecke stand vor. Norrin zog daran. Voller Verwunderung stellte er fest, dass das Bild umgeschlagen worden war, um in den Rahmen zu passen. Behutsam faltete er es auseinander und zum Teufel was war das?! Auf der umgeschlagenen Seite kam ein kleiner Junge mit pechschwarzem Haar, porzellanweißer Haut und glänzenden, saphirblauen Augen zum Vorschein. Er stand etwas abseits, nicht so, dass es jemandem aufgefallen wäre, doch der Knick, an der Stelle, an der das Bild umgebogen worden war machte die unsichtbare Mauer sichtbar, die den Jungen von den anderen Ausschloss. Norrin sog die Luft ein. Großer Gott, Josh Harper. Und er sah genau so aus, wie sein Bruder ihn beschrieben hatte! Der kleine Josh… Ein Schauer lief ihm über den Rücken. Es stimmte also, und da stand er. Von seiner Familie ausgegrenzt, umgebogen, um ihn zu verbergen. Doch es schien ihn nicht zu stören, ganz gelassen stand er da, als würde er wissen, dass sie ihn nicht sehen. Seine Augen funkelten, sein Blick war aus Eis und in der Hand hielt er ein Buch, DAS BUCH. Hier war er also.
Das unsichtbare Kind. Josh Harper.
Behutsam strich Norrin mit seiner Hand über das Bild. In seinem Hals war ein Klos, so groß wie eine Zitrone. Seine Hände zitterten, sein Blick war trüb und verschwommen. All die Jahre war er unsichtbar gewesen, für alle. Was musste das wohl für ein Gefühl gewesen sein? Armer, kleiner, liebster Josh… Mit einem Schlag wurde Norrin die Bedeutung hinter seinen Letzen Worten klar. „Du bist der einzige Mensch, der mir wirklich etwas bedeutet, Norrin.“ Alles, was der Junge je zu ihm gesagt hat, wirbelte in einem einzigen Sturm aus rabenschwarzen Federfetzen durch seine Kopf. Wie er dort gestanden hatte, als sie die letzte Wahrheit zusammen ausgestellt hatten. „Siehst du das, Norrin? Es ist vollbracht und da bin ich!“ „Ich sehe dich, jawohl mein Junge, es ist wahrhaftig vollbracht!“ Ich sehe dich… Plötzlich wurde ihm klar, dass dies seine letzen Worte waren, die er persönlich an den Jungen gerichtet hatte. Ich sehe dich. Sein Blick ertrank in Verschwommenheit. Eine Träne tropfte auf das Bild. Wie seltsam sie im dimmen Licht der glimmenden Lampe glitzerte. Er schluchzte. „ Ich sehe dich.“ flüsterte er zu dem Jungen auf dem Bild. „Ich sehe dich“. Ein letztes Mal noch strich er die Tränen fort. „Ich sehe dich!“ Seine Stimme brach und die Welt ertrank in Nachtdiamanten.
<i>Ich sehe dich!</i>
Er schreckte hoch, was war das? Ein Traum? Er hatte Geschlafen? Seufzend erhob Josh sich von seinem kleinen Bett. Sein Geld reichte kaum mehr für eine Woche, er musste etwas unternehmen, doch was? <i>Arbeit, mein Freund, wir müssen uns Arbeit suchen!<i> Der Andere hatte Recht, wie immer. Doch wo sollte er arbeiten? Zur Hölle er ertrug den freundlichen kaum mehr! Darum war er auch die letzen Tage hier geblieben und hatte geschrieben. An Norrin, in sein Buch… Erneut seufzte er und trat ans Fenster, die Nacht brach herein. Die gläserne Stadt sank in den Schlaf, doch nicht alles schlief, das hatte er gelernt. Alsbald die Nacht ihre pechschwarze Decke über das Land breitete, verkrochen sich die Menschen vor der Dunkelheit. Denn mit der Dunkelheit kamen die Schatten. Die Menschen konnten sie nicht länger unter ihren Füßen verstecken, sie hinter sich her schleifen und sie durch den Dreck ziehen, wie am Tage. Nein, die Dunkelheit ermöglichte es ihnen, aus ihren Verstecken zu kriechen und sich zu einer schwarzen Masse zu vereinen. Schatten waren die Dunkelheit. Die Dunkelheit bestand aus Schatten, daran hatte er schon als Kind geglaubt. Darum fürchteten die Menschen sie auch insgeheim. Er aber mochte sie sehr. Sie barg zahlreiche Geheimnisse und sie enthüllte die der Anderen. Im Schlaf wurden sie frei, die Sorgen, Wünsche, Sehnsüchte und Ängste der Leute. In der Dunkelheit konnten sie wachsen und frei sein. Er öffnete das Fenster und schaute auf die gepflasterte Straße hinab. Noch glommen keine Laternen, noch ruhte alles in Dunkelheit, einzig der Mond blickte vom Himmel. Und da kamen sie auch schon, der Klang ihrer gleichmäßigen Schritte hallte durch die Nacht wie das Donnern von Trommeln. Die Soldaten der Glasstadt, die gläsernen Geister. Einige Leute krochen noch schnellen Schrittes nach Hause, sie schienen sie nicht zu sehen. Dunkel wie Trommeln und doch hell wie das Klingeln einer Glocke klangen die Schritte ihrer gläsernen Füße. Langsam schlurften sie voran, von überall her kamen sie um der schwarzen Parade zu folgen. Die gläsernen Geister. Die Geister der gläsernen Stadt. Sie waren die Sorgen und Ängste der Menschen, doch auch ihre Wünsche und Träume. Des Nachts, alsbald die Lichter erloschen waren kamen sie hervor und streiften durch die Dunkelheit. Bei Tage waren sie unsichtbar und auch nun schien sie niemand zu sehen, oder besser gesagt, niemand wollte sie sehen. Er kannte dieses Gefühl nur zu gut. Ob sie es auch spürten? Was du nicht siehst, ist nicht da. So sehen es Kinder, wenn sie sich die Bettdecke über den Kopf ziehen, um das Untermbettmonster nicht sehen zu müssen. Du siehst mich nicht, ich sehe dich nicht, du bist nicht da, verschwinde. Ein trauriges Lächeln umspielte seine Lippen. Arme Kreaturen. Unsichtbare Soldaten, gläserne Geister, einzig die Dunkelheit verleiht ihnen Substanz. Wie wunderbar ihre durchscheinenden Körper im Mondlicht schimmerten. Wenn dies die Sorgen, Wünsche und Träume der Menschen waren, warum waren sie dann unsichtbar? <i>Weil es die dunklen Sehnsüchte, die bösen, unerfüllbaren Wünsche und die toten, unerreichbaren Träume sind.</i> Es ist wahr, sie waren unsichtbar und tot. Gespenster die zu Gespinsten geworden waren. Eine Parade unsichtbarer Soldaten. Woran sie wohl gestorben waren? Der Mond grinste sein silbernes, geheimnisvolles Grinsen. Plötzlich tauchte ein Mann mit einem langen Stab auf. Unberührt schritt er an den Glasgeistern vorbei, schien durch sie hindurch zu gehen. Ihre kummervollen Blicke begleiteten ihn als er mit seinem Stab kam und mit dessen glimmender Spitze Löcher in die schwarze Decke der Nacht zu stechen. Er sticht leuchtende Löcher in das schwarze Dunkel. Eine Laterne nach der Anderen begann zu schimmern und bald schon füllte glimmendes Licht die Gassen. Es brach sich in den durchscheinenden Körpern der gläsernen Geister und vertrieb die Dunkelheit. Es machte sie unsichtbar und mit jedem Licht, das leuchtete, mit jedem Loch, das sie Dunkelheit hell machte, verschwanden sie mehr und mehr. Bis sie nicht mehr zu sehen waren. Unsichtbar aber noch lange nicht fort. Sie waren wieder zu unsichtbaren Soldaten geworden. Doch er konnte sie sehen, die Geister der gläsernen Stadt.
Noch immer wartete er auf einen Brief von Norrin Davis, wobei warten unermesslich untertrieben war. Er sehnte sich schier nach ein paar Worten des alten Mannes. Ob er ihn je wieder sehen würde?
<i>Unwahrscheinlich.</i>
Schweig!
<i>Nun, es ist doch so. Er ist alt und alte Menschen sterben.</i>
Alle Menschen sterben.
<i>Ein Glück.</i>
Erschöpft strich er sich die fransigen Strähnen aus der Stirn. Obwohl der Andere Recht hatte, er hatte nicht das geringste Recht der Welt, so über Norrin zu sprechen. Er war der einzige Mensch gewesen, für den er nicht immer unsichtbar gewesen war. Nun fühlte er sich wie einer der gläsernen Geister. Norrin… ging es ihm gut? Was machte er wohl gerade? Ob er glücklich war? Herrje, er begann, sentimental zu werden und das obwohl der Freundliche nicht in der Nähe war. Harper blickte sich um, er war allein. Weder der Freundliche, noch Es waren zu sehen. Einzig der Andere hockte da, auf dem kleinen Bett und schielte ihn an. Er grinste schelmisch. <i>Nur wir beide mein Freund, nur wir beide.<i> Sein Blick jagte ihm einen Schauer über den Rücken, die Gedanken rund um Norrin Davis trudelten wie betrunkene Landstreicher durch seinen Kopf. Seufzend griff er seinen Mantel und schlüpfte in die schwarzen, glänzenden Schuhe. Zeit für einen Spaziergang. Auch der Andere machte sich bereit zu gehen und folgte ihm wie ein Schatten.
Ihre Schritte hallten durch die gepflasterten Wege und Straßen, kein Mensch war zu sehen, einzig der Mond schien auf sie herab. Die Flammen der Laternen schimmerten wie Splitter der Sonne und erhellten die nachtschwarzen Pfade der gläsernen Stadt. Harper wanderte ziellos umher, streifte durch die finsteren Gassen ohne sich umzublicken als plötzlich eine Stimme an sein Ohr drang. „Einen wunderschönen guten Abend Josh!“ Er fuhr herum und blickte in Wilbur Burrows Gesicht, das von einem strahlenden Lächeln erhellt wurde. Seine Augen blitzen wie poliertes Silber. „Was für eine wunderschöne Nacht für einen Spaziergang, nicht wahr?“
Halb verdutzt musterte Harper den Mann, bis er sich darüber im Klaren war, wer denn dort vor ihm stand und ihn anstrahlte. Blitzartig erschien ein breites Lächeln auf seinem Gesicht. Er hob die Hand und zog sich seinen unsichtbaren Hut vom Kopf. „Guten Abend Mr. Burrows!“
„Mr. Burrows?“ Wilbur kicherte. „Mr. Burrows ist mein Vater und der ist tot! Ich bin Wilbur! Herrje, Mr. Burrows, wie hochgestochen das klingt.“ Auch Harper lächelte, dieser irgendwie mochte er diesen Mann, er hatte etwas an sich… Er ist anders, wie wir. Das musste es wohl sein, er war anders.
„Nun, was schleichst du so spät noch durch die Gassen? Bist du auf der Suche nach Sternsplittern oder jagst du nach Feuerzweibeln? Ich muss dich enttäuschen, heute findet man keine Sternsplitter, dafür war das Wetter zu schön und für Feuerzweibeln ist es noch zu früh.“ Er zwinkerte ihm zu. „Man will doch nicht, dass man von den Glimmstechern erwischt wird. Sie werden böse, wenn man ihre Zwiebeln klaut.“ Er hielt sich die Hand vor den Mund und kicherte vor sich hin. Harper schenkte ihm ein Lächeln und der Freundliche richtete das Wort an Wilbur. „Pardon, Feuerzwiebeln? Sternsplitter? Was ist das?“ Entsetzen machte sich auf Wilburs Gesicht breit. „Himmel-Herrje! Ich vergaß, du bist von weit her. Aber keine Sorge mein Junge, kaum jemand hier weiß, wovon der gute Will spricht!“ Er legte den Arm um Joshs Schulter und zog ihn sanft mit sich. „Also hör gut zu mein Junge!“, seine Stimme hatte einen freudig-verschwörerischen Ton angenommen, „Du bist einer von uns, darum vertraue ich dir das an. Nun spitz die Ohren Jungchen! Sternsplitter findet man nur wenn es besonders kalt ist, im Winter oder aber ja, doch nur dort, es sei denn, es schneit im Juli, dann auch. Aber nur wenn es im Juli schneit, im August nicht. Man muss schnell sein, sonst holen sie sie fort und werfen sie weg. Dabei sind sie so schön, nicht eignet sich besser als Schmuck für einen schönen Einband als Sternsplitter mein Junge!“ Der Mann war verrückt, völlig durch den Wind. <i>Wir mögen ihn, nicht wahr? Sehr sogar. </i>„….Und dann sind da die Feuerzwiebeln, sieh nur!“ Er zeigte auf eine Laterne, in deren Glaskuppel eine Flamme glomm. „Sieht so aus, als würde sie bald ausgehen.“, wandte sich Harper an Wilbur. „Seltsam, sie funktionieren doch mit Petroleum, oder Gas nicht wahr?“ „Ei, ei, was für ein schlauer Junge! Sie funktionieren in der Tat mit Petroleum oder Gas, doch die eine oder andere wird noch mit speziellen Kerzen erleuchtet. Sie sind von besonders reinem und vor allem, aus einem speziellen Wachs gefertigt! Sie brennen langsam, rinnen kaum… Es gibt kein besseres Material um seine Werkzeuge zu wachsen!“ Ein leises „pling“ erklang. „Sieh nur!“, Wilbur hob die Hand und zeigte nach oben, seine Augen leuchteten. „Sie ist erloschen“, flüsterte Harper. „Jawohl, nun flink, denn sie hören es!“ Wilbur war mit einem Satz bei der Laterne und ehe Harper sich versah, war er an deren Spitze angelangt. „Vorsicht heiß!“, gluckste Wilbur als er Harper das gläserne Verdeck der Laterne zuwarf. Harper fing es geschickt auf, es war tatsächlich heiß. Schnell wickelte er seinen Mantel darum. Wilbur pickte zeitweilen den glimmenden Rest des Wachses aus der Laterne. „Hurtig, Hurtig! Bald kommen sie wieder!“ Gluckste er und Harper warf ihm den Lampenschirm zu. Blitzschnell drehte Wilbur ihn mit einer gekonnten Bewegung fest und glitt elegant vom Mast er Laterne. „Tadaaa!“ Triumphierend hielt er den Wachsklumpen empor als wäre er ein Schatz. Er sah in der Tat aus, wie eine glimmende Zwiebel. Die Beiden blickten sich an und brachen in schallendes Gelächter aus. Es dauerte nicht lange, als Schritte in der Ferne laut wurden. Wilbur verstummte abrupt, seine Augen nahmen einen bisher ungesehenen Ausdruck an. „Los, fort! Augenblicklich.“, zischte er Harper zu und zog ihn sogleich mit sich, in eine dunkle Nische. Plötzlich tauchten im Licht der noch brennenden Laternen zwei Körper auf. Umhänge wallten über ihren Körpern, der Eine war klein, fast wie ein Gnom und der Andere groß, wie ein Klischeepärchen sahen sie aus. Beide aber trugen lange Stäbe mit glühenden Spitzen. Fasziniert beobachtete Harper die Männer, die leise fluchend die Laterne begutachteten. Die Luft schien vor Spannung fas zu zerreißen, was, wenn man sie erwischte? Was konnten sie ihnen schon tun? <i>Sie brennen uns Löcher ins Fell, aber große! </i>Harper schluckte. Er war nie ein Angsthase gewesen, doch er spürte Wilburs Anspannung. Warum war es denn verboten, Wachs aus Leuchten zu stehlen? Er würde ihn fragen. Der kleine Mann öffnete seine Tasche und zog eine lange Kette hervor, die er nach oben, um den Hals der Laterne warf. Der große Mann kletterte empor –bei Weitem nicht so flink und elegant wie Wilbur es getan hatte – und schlang sie durch die geschwungenen Verzierungen der Lampe. Zum Schluss fädelte er die Kette durch die beiden Schlaufen, an denen der Schirm befestigt war und hing ein Schloss darum. Mit einem lauten Knacken rastete es ein und der Mann ließ sich zu Boden fallen. Immer noch fluchend stapften sie von dannen. Sie kamen direkt auf sie zu! Harpers Herz pochte. Die Männer schienen keine Augen zu haben, zwei kreisrunde, glühende Scheiben leuchteten an den Stellen, wo sonst die Augen gewesen wären. Gebannt starrte Harper den Männern nach, bis sie verschwunden waren. „Was war das?“, wisperte er. „Beleuchtete Sehgläser, damit sie keine Lampen schleppen müssen.“, erklärte Wilbur lächelnd, aber immer noch im Flüsterton. „Sie haben die Lampe verschlossen. Was ist an diesem Wachs so besonders?“
Wilburs Augen funkelten, sie hatten erneut diesen Ausdruck. „Das hier,“, er hielt das Wachs hoch, „ist Laternenwachs. Es rinnt so gut wie überhaupt nicht. Keinen Tropfen macht es und es brennt über eine lange, sehr, sehr lange Zeit. Außerdem ist es elendsteuer, nur die Stadt selbst leistet sich diese Überbleibsel aus alten Tagen. Zudem ist es selten. Aber dennoch, teuer…“ Er grinste schelmisch, der merkwürdige Ausdruck war verschwunden. Er ließ die Feuerzwiebel in seine Tasche gleiten. „Was suchst du überhaupt so spät noch hier?“ fragte er fast beiläufig. „Ich suche… Meinen Verstand.“ Haper schielte mit einem schurkischen Grinsen zu ihm hinüber. Seine Augen funkelten im Licht des Mondes. „Ein Jammer, den findest du wohl im Leben nicht wieder!“. gluckste Wilbur. Sie kicherten, doch Wilbur schien Harpers nachdenklichen Blick zu bemerken. „Was ist los? Du scheinst weniger zu sein als sonst. Mehr so, aber weniger so, weißt du?“ Er bedachte ihm mit einem sorgenvollen Blick. „Es ist nichts, Geldnöte, du weißt.“, erwiderte Harper ausweichend. „Soso? Nun, da lässt sich Abhilfe schaffen!“
„Arbeit suchen, ich weiß. Doch wo findet unsereins Arbeit.“
Stille umhüllte die Beiden wie eine dicke Decke, Wilbur blickte nachdenklich in den Himmel, als würde er in den Sternen lesen.
„Du magst Bücher, nicht wahr Josh?“ Harper nickte, doch Wilbur schien ihn nicht zu sehen. „Bücher sind empfindliche Wesen, nur allzu anfällig für allerlei Krankheiten. Ich liebe Bücher, Josh. Darum bin ich Papierdoktor geworden.“ Ein Lächeln schlich sich auf seine Züge. „Ich könnte Hilfe gebrauchen, ob du es glaubst oder nicht. Ich habe lange nach einem klugen Kopf mit viel Sinn und verlorenem verstand gesucht. Du bist anders Junge, wir sind es alle Beide.“ Er tippte ihm mit dem Finger gegen die Brust. „Hast du nicht Lust, mir zu assistieren? Lerne was ich dir beibringe! Na, was ist?“ Fassungslos starrte Harper ihn an. Wilbur musterte ihn amüsiert. Hatte er ihm so eben Arbeit angeboten? <i>Ja, das hat er.</i> „In der Tat, das habe ich.“ Er grinste ihn an und streckte ihm die Hand entgegen. „Komm mit mir.“ flüsterte er. „Und ich werde dir zeigen, was du noch niemals zuvor gesehen hast! Lerne mein Handwerk und ich biete dir Obdach. Meine Berufung stirbt aus, ich bin der letze meiner Art in dieser Stadt und auch sonst wo. Von uns gibt es nicht mehr viele. Willst du einer von uns werden?“ Was gab es da noch zu denken? Der Andere sprühte vor Misstrauen, der Freundliche schrie vor Glück und Es riet ihm, seinem Herzen zu folgen. <i>Was sagst du? Werden wir Buchbinder?</i> „Ja, einverstanden! Und...Danke!“ Harper schenkte Wilbur sein echtestes Lächeln, diesmal war es Josh der lächelte und nicht der Freundliche. „Ich schüttle keine Hände, schon vergessen?“, flüsterte er. Wilbur klopfte ihm auf die Schulter, zog ihn an sich und drückte ihn. „Ich vergaß, ich vergaß! Welch Freude! Nichts zu danken!“ Er drehte sich mit ihm im Kreis und lachte in die Nacht hinein. „Aber du musst auch bei uns wohnen, als mein Lehrling kommt da nichts Anderen in Frage, hörst du? Und keine Wiederrede! Pack die Koffer, auf, auf!“ Kopfschüttelnd folgte Harper dem kichernden Mann mit dem violetten Zylinder und den gebogenen Stiefeln. Ein seltsames Gefühl breitete sich in seinem Brustkorb und seiner Magenrube aus. <i>Großartig, wir sind glücklich. Jetzt haben wir den Salat! </i>
In der Tat, er war glücklich und das blieb er auch als er mit Wilburs Hilfe seine sieben Sachen packte und zum Maid’s Head aufbrach.
Auf halbem Wege trennten sie sich aber, Wilbur wollte sich noch auf die Suche nach ein paar Feuerzwiebeln machen. Er verließ Harper vor dem Gässchen, das zum Maid’s Head führte und bat ihn, Meena nicht zu sagen, was er trieb. Er hatte etwas Kindliches, Jungenhaftes an sich, aber auch etwas, das Harper noch nicht recht definieren konnte. Kaum zu glauben, dass er so eben sein Zimmer aufgegeben hatte. Er hätte es ohnehin kaum eine Woche länger bezahlen können. Sein Gehirn arbeitete auf Hochtouren, es gab viel zu überdenken und zu planen. Wie würde es nun weitergehen? Er beschloss vorerst abzuwarten und die Dinge einfach geschehen zu lassen. Improvisation sollte schließlich auch geübt werden.<i> Anfänger. </i>Grübelnd schritt er auf das kleine Gässchen zu, der Morgen graute bereits und des Mondes silbernes Gesicht verblasste zu totem, verwaschenem Weis. Am Horizont begann es hell zu werden, ein grüner Streifen trennte die schwarze Nacht vom anbrechenden Tag. Er war allein auf dem gepflasterten Weg, dennoch glitt er fast lautlos über die steinerne Straße. Plötzlich ertönte hinter ihm ein Klackern, wie von Schuhen. Seltsam, für gewöhnlich klackerten Schuhe nicht so. Seine taten es zumindest nicht. Vorsichtig blickte er sich um.<i> Paranoia, mein Freund. Wir werden paranoid.</i> Humbug, er wusste, was er gehört hatte. Auch Es wusste das. Sie spürten es. Hier war jemand, doch wo? Links und rechts von ihm ragten die Fassaden der Häuser empor, auf den Balkonen fand sich keine Menschenseele und allmählich schwanden auch die Zierbäume und Laternen, hinter denen man sich verstecken konnte. Dennoch, hier war jemand. Zügigen Schrittes glitt er weiter durch die Nacht, wer auch immer dort war, Harper war sich nicht sicher, ob er ihm begegnen wollte. <i>Oh doch, wir wollen. Immerhin sind wir neugierige Wesen! </i>Der Andere kicherte. Kopfschüttelnd zog Harper weiter, er hatte wenig Lust auf eine Begegnung mit Leuten wie den Glimmstangenträgern. Er passierte so eben eine Nische, als er einen Schatten aus dem Augenwinkel wahr nahm. Er drehte sich um und starrte in die Finsternis. Doch in der Gasse war nichts als Schwärze. <i>Und eine Gestalt, gib es zu, du hast sie auch gesehen! </i>In der Tat, er hatte einen Schemen gesehen. Die Dunkelheit aber verschlang jeden Umriss und obwohl er die Gegenwart eines Anderen spürte, ging er weiter. <i>Das ist jetzt nicht dein Ernst! Feigling! Feiger Narr! </i>„Still! Es ist nicht die Zeit um Schatten zu jagen. Du weißt, was Will gesagt hat.“ <i>Man jagt keine Schatten, stielt aber Licht. </i>Die Stimme des Anderen war verächtlich, doch er wusste, dass Harper Recht hatte. Wilbur hatte Harper geheißen, schnellstmöglich zu Meena zu gehen, die Stadt war des Nachts eine Brutstätte für Unheil aller Art. Von den Flüchen des Anderen begleitet strich er also weiter. Laternen wichen Lampen, die aus den Wänden der Häuser ragten, Kerzen glommen in ihnen. Die Nischen wurden enger, die Wege verschlungener und die Gasse immer schmäler. Endlich tauchten vor ihm die zwei steinernen Laternen auf, welche die kunstvolle Fassade des Maid’s Head zierten. Die Magd auf dem Schild rührte immer noch heiter in der Teetasse, in der ihr Kopf schwamm und die Lettern auf dem Emblem verkündeten, was auch das Zwielicht Harper sagte: Teahouse & Bookstore. Lächelnd hielt er einen Moment inne und sog die kalte Luft ein. Er liebte die Nacht, doch er mochte auch die Zeiten dazwischen. Diese undefinierbaren Zeiten, in denen ein grüner Streifen den Horizont zierte und niemand wusste, was es war. tag oder Nacht? Morgen oder Abend? Er mochte diese kurzen, kostbaren Momente sehr. Es gab nur eine kurze Zeit, die diese vier Phänomene trennte und kaum einer schenkte ihnen Beachtung. Zumal man zu diesen Zeiten meistens schlief. Es waren kurze, zeitlose Augenblicke, die Zeiten des Zwielichts zwischen dem Sterben von Tag und Nacht.
Lautlos wie ein Schatten war er aus der Dunkelheit gekommen. Elegant und geschmeidig glitt er über den Boden, fast so, als würde er schweben. Seine schlanke Gestalt war in einen schwarzen Mantel mit silbernen Knöpfen gehüllt, blanke, schwarze Stiefel trugen ihn fast lautlos durch die Nacht. Pechschwarzes Haar umrahmte sein markantes, knochenweißes Gesicht. Und diese Augen erst! Wie brennendes Eis hatten sie in der Dunkelheit gestrahlt. Ihr Herz schlug immer noch, als wollte es ihr in der Brust zerspringen. Sie atmete tief ein und sank gegen die Wand. Was war sie doch für ein dummes, dummes Mädchen! Sie war ihm gefolgt, doch dann hatte sie die Angst gepackt und sie hatte sich versteckt. Noch nie hatte sie so jemanden gesehen. Diese Augen! Immer noch sah sie sie vor sich, wie sie in diese Nische geblickt hatten, in der sie sich verkrochen hatte. Saphirblau. Es schien fast so, als hätte er sie direkt angeblickt. Ob er mit diesen Augen im Dunkeln sehn konnte? Wer weiß… Sie schüttelte den Kopf. „Reiß dich zusammen, dummes Mädchen!“ Wäre sie doch nur nicht so ängstlich gewesen! Er hätte ihr sicher den Weg aus diesem Labyrinth zeigen können. Verwirrt und voller Unbehagen schlich sie aus der Nische. Wohin sie ging wusste sie nicht, doch sie blickte noch einmal in die Richtung, in die ER gegangen war. Plötzlich drang eine kalte Stimme an ihr Ohr. „Wohin des Weges, junge Frau?“ Erschrocken drehte sie sich um erblickte einen Mann in einem seltsamen Mantel. Auf seinem Kopf thronte ein ebenso seltsamer Hut, er war vom selben Violett wie der Mantel. Doch die Schuhe waren noch seltsamer, so komisch nach oben gebogen. Sie trat einen Schritt zurück, wobei die Absätze ihrer Schuhe klapperten. Verflucht. Noch ehe sie etwas sagen konnte, ergriff der Mann erneut das Wort. „Es ist gefährlich, in solchen Zeiten hier herumzustreichen. Wie kommen Sie überhaupt hier her?“ Seine Stimme war zuckersüß, freundlich doch in seinen Augen lauerte etwas, das ihr das Blut in den Adern gefrieren lies. Sie schluckte. „Ich…habe mich verlaufen Sir. Ich weiß nicht wo ich bin, ich bin zum ersten Mal hier. Ich bin von… anderswo.“ Sie blickte ihn flehend an. Ein zauberhaftes Lächeln umspielte seine geschwungenen Lippen. „Ist das so? Nun in diese Richtung –„, er hob seinen gezwirbelten Stock und zeigte in die Richtung, in die der junge Mann verschwunden war, „-würde ich nicht gehen. Beim besten Willen nicht.“ Kopfschüttelnd nahm er sie am Arm. „Dort ist ein Ort, der nichts ist für Leute wie Sie, junge Dame. Gehen sie dort, entlang!“ Sanft aber bestimmend schob er sie in die entgegengesetzte Richtung. „Was…ist dort? Ich meine wo komme ich dann hin?“ Er lachte und erwiderte „Dort ist der Ort, der fort von dem Ort ist, an den sie nicht gehen sollten. Man sollte nicht an Orte gehen, die man nicht kennt. Wie kamen Sie überhaupt auf die Idee, in diesen Abschnitt zu kommen?“ Sie konnte ihm schlecht sagen, dass sie einem jungen Mann gefolgt war. „Ich… ich war auf der Suche nach dem Haus einer Freundin. Ich bin falsch abgebogen und dann…nun dann war ich hier. Ein schrecklicher Ort….“ „Gewiss, gewiss. Dies ist in der Tat ein gar schrecklicher Ort. Und an schrecklichen orten tummeln sich noch schrecklichere Gestalten!“ Er kicherte. Auch sie lachte, sein Lachen war ansteckend, obwohl es etwas Grimmiges an sich hatte. „Darum sollte man auch an keine schrecklichen Orte gehen, Mrs.“ Er war stehen geblieben. Sie blickte sich um und sah die Straße vor sich. Laternen brannten, obwohl das Tageslicht nicht mehr fern war. Was für ein Glück! Sie drehte sich zu dem Mann um, der unter einer Art Torbogen Stand, über dem zwei Lampen brannten. Wie unheimlich er aussah, und doch so fröhlich. Sein Lächeln strahlte heller als die Laternen leuchteten und seine kalten, Stahlaugen funkelten. „Danke, Mr…? Mr, wie? Ich kann Ihnen kaum danken, da ich ihren Namen nicht kenne!“ Sie schämte sich ein bisschen, wie unhöflich sie doch war! Der Mann aber funkelte sie nur mit seinen Augen an und lächelte sein Lächeln. „Es gibt Orte, die man besser niemals nach Einbruch der Dunkelheit betritt, Mrs. Dies ist so ein Ort. Es ist ein furchtbarer Ort und an furchtbaren Orten, leben noch viel furchtbarere Gestalten.“ Er grinste schelmisch. „Passen Sie auf, wo sie hin wandern, dann verlaufen Sie sich auch nicht mehr. Und... Mrs? Suchen Sie nichts, was nicht gefunden werden will.“ Mit diesen Worten drehte er sich um. Sie aber rief ihm hinterher „Wie ist Ihr Name, ich kann Ihnen kaum danken ohne ihn!“ „Ich kenne den Ihren auch nicht, also macht das nichts. Namen sind nur Schall und Rauch. Ihrer wie auch der Meine.“ Seine Stimme verklang in der Ferne. Sie hatte ihm ihren Namen nicht gesagt. Wie dumm von ihr! Hastig rief sie ihm hinterer, doch die Dunkelheit der Gasse schien ihn zu verschlingen. Fast lautlos hallte er dem Mann hinterher, sie war sich nicht sicher, ob er ihn gehört hatte.
Eleonora.
Wilbur drehte sich nicht um als sie ihm hinterher rief, er wusste wer sie war. Doch was wollte sie von dem Jungen? Von SEINEM Jungen? Er war seine neueste Entdeckung, seine letzte Hoffnung. Und das schlimmste war, er mochte ihn, sehr sogar. Schon vom ersten Augenblick an hatte er ihn ins Herz geschlossen. Er war anders gewesen, wie er dort saß, mit großen Augen um sich blicke –großer Gott, diese Augen! Dieser Junge war etwas besonderes, er war anders, ja er war wie er. Angeknackst, von der Rolle, etwas zerstreut, seine Weltanschauung war anders, sein Kopf ein Irrgarten. Schon allein wie er sich kleidete suggerierte ihm, dass es ihn einen feuchten Kehricht scherte, was Andere von ihm dachten. Er teilte sein Faible für alte Dinge, für den alten Stil. Und er liebte Bücher, genau wie er selbst, der Junge hatte Ahnung von Antiquitäten, woher er diese hatte würde er schon noch herausfinden. Zumal er etwas bei sich trug, das Will aufs äußerste interessierte. Wahrlich, dieses kleine rote Büchlein, in welches er laufend schrieb wenn er im Maid‘s Head war…
„Hallo Liebes!“
Meena’s Stimme klang wie das Läuten von tausend Glocken. Pünktlich zu Einbruch der Dunkelheit betrat Wilbur Burrows das Maid’s Head. Mit dem letzen Funken Licht der erlosch, betätigte er die Vorrichtung im Keller des Hauses. Die Wände begannen zu tanzen und drehten ihnen nach einer Pirouette nun den bücherbekleideten Rücken zu. Die Theke drehte sich um und das Teehaus verwandelte sich in eine Welt aus Büchern. Harpers Augen funkelten, noch nie hatte er es in voller Verwandlung gesehen. Mit leuchtenden Augen musterte er seine neue Umgebung, während sein neuer Meister ihn durch einen, scheinbar aus Büchern bestehenden Gang schliff und freudig vor sich hin kicherte. Harper hatte mit Meena unten im kreisrunden Salon auf Will gewartet und Tee getrunken, nun hielt Will ihn am Ärmel gepackt wie ein kleines Kind und führte ihn zu einem kleinen Zimmer im Dachgeschoss des Hauses. Genauer gesagt, er hatte ihm durch eine Tür in der Bücherwand geschoben, die das kreisrunde Verkaufslokal vom Rest des Turmhauses trennte. Von außen sah das Maid’s Head aus wie ein dicklicher Turm mit Spitzdach und allem was dazu gehörte. Die Schindeln des Daches schimmerten wie gläserne Drachenschuppen in den herrlichsten Dunkelblau-Dunkelgrün und Lila-Tönen wenn die Sonne darauf schien. Sie passten zu dem grau-weißlichem Stein aus dem das Türmchen hochgezogen worden war. Das Gebäude wurde flankiert von zwei alten, knorrigen Bäumen, an die hohe Mauern grenzten, die nach wenigen Metern erneut in hohe, jedoch leer stehende Häuser mündeten. Es sah aus wie eine kleine Festung. Harpers neues Zu Hause lag unter dem Dach, doch bevor er es zu sehen bekam, führte Wilbur ihn durch das gesamte Haus. Harper kannte den hohen „Verkaufsraum“ durch den sich die Wendeltreppe an den Wänden schlängelte sodass es aussah, wie in einem zweistöckigen Schneckenhaus. Zu Harpers Erstaunen gab es jedoch zwei versteckte Türen, eine führte nach oben, in ein weiteres, wie ein normales Haus eingerichtetes, kreisrundes Stockwerk, von aus eine weitere Tür nach oben führte und eine, die nach unten führte, doch diese blieb verschlossen. Selbstverständlich gab es mehrere versteckte Türen, doch Wilbur erklärte Harper mit einem schelmischen Grinsen, dass er diese selbst suchen müsse, wenn er sie denn finden wolle. Einzig die eine Tür, die versteckt an der Hinterseite des Wohnstockwerkes lag, war verschlossen, alle anderen Türen hatten einen Schlüssel, den er selbstredend auch finden musste, wenn er durch die Türen wollte. Im Wohnstock saß Meena in einem alten Schaukelstuhl mit gezwirbelten Beinen und strickte an etwas, das sich quer durch den ganzen Raum zog. An der Tür, welche mit einem Schriftzug aus geschwungenen Buchstaben geschmückt war, verabschiedete sie sich von Harper und wünschte ihm eine gute Nacht. Wilbur begleitete ihn noch durch die Tür auf der „Up and Out“ stand. Harper fragte erst gar nicht warum.
Eine kleine Treppe führte ihn nach oben, an die Spitze des Turmes zu einer kleinen, kunstvoll, verspielten Tür aus lila-blau gefärbtem Holz. Wilbur leuchtete ihm den Weg mit einer Lampe und als Harper die Tür zu seinem neuen Heim aufstieß, tat sich vor ihm ein runder Raum auf, an dessen Decke ein Luster aus bunten Glaskristallen hing. In der Mitte des Raumes befand sich ein runder Tisch voller Bücher, unter einem großen, runden Fenster stand ein alter Ohrensessel. Die Wände waren voller Regale doch sie waren bis auf wenige Ausnahmen völlig leer. Mit einem Lächeln und einem gewisperten „Viel Spaß, auf das du dich hier fühlst wie eine Made im Körper eines Toten.“ Verschwand Wilbur und ließ einen erstaunten Harper zurück. Der Luster leuchtete in einem seltsamen Licht, ohne jede Spur einer Kerze oder dergleichen. Benommen begann Harper sein neues Reich zu erkunden. An vier Stellen waren die Regale ausgehöhlt und bildeten somit Pforten zu angrenzenden Räumen. Die erste Pforte befand sich rechts von der Eingangstür und führte in ein kleines Badezimmer. Dort befand sich, an der getäfelten Wand stehend, eine Badewanne mit Duschkopf und Vorhang, daneben fand sich ein Waschbecken und eine Toilette. Auch ein Wäscheschrank und ein Regal für Kosmetika befand sich dort. Über dem Waschbecken hing ein Spiegel und der Raum spiegelte, wie scheinbar alles hier, Wilburs Lieblingsfarben wieder. Zwar waren Badewanne und der Rest der Keramik in einem Creme-Ton gehalten, so war die Decke smaragdgrün und die Täfelung schillerte in einem dunklen Violett, das in eine dunkelblaue Wand überging. Der kleine Stuhl und das Regal waren in den selben Farbtönen gehalten und auch der Hauptraum hatte eine smaragdgrüne Decke und, bunt bemalte Regale und auch der Holzboden war in den verschiedensten Violett und Blautönen gezimmert. Die zweite Nische, gegenüber der ersten, führte in ein Schlafzimmerchen, das von einem gar lächerlich großen Himmelbett dominiert wurde. Außer einem Stuhl, einem Schrank und einem Tischchen fand sich dort nichts. Auch dieser Raum war in der üblichen Farbkombination gehalten. Die verbleibenden Öffnungen bildeten den Zugang zur Tür, durch die er eingetreten war und die Freilassung des großen, runden Fensters.
Das Fenster lag offenbar an der Rückseite des Türmchens und so blickte er direkt auf den Mond, der auf einen Garten hinab schien. Wie benommen glitt er durch den Raum, er wagte kaum, seinen Augen zu trauen. Das Licht des Kronleuchters warf funkelnde, bunte Lichtpunkte in die leeren Regale. Hier würde er also wohne bleiben. Wie lange wusste er noch nicht, doch er hoffte insgeheim, dass es von längerer Dauer sein würde. Doch es gab noch etwas, das er unbedingt zu erledigen hatte, dies war weit wichtiger als jeder Schlaf der Welt. Müde setzte er sich an den runden violetten Tisch, zog einen Bogen Papier hervor und setze seine Feder an.
Mein lieber Norrin,
Zu viel Zeit ist verstrichen, seit wir uns zum letzen Mal von Antlitz zu Antlitz gegenüber standen. Doch ich habe die Zeit genutzt und habe nun nicht nur viel gesehen, sondern eine neue Aufgabe und mehr noch, einen Grund gefunden, in dieser Stadt zu verweilen.
Du hattest Recht mit deiner Vermutung über seltsame Menschen und ich bin ich auf einen wahrlich absonderlich komischen Kauz gestoßen. Sein Name ist Wilbur Burrows und der ist Buchbinder. Ist das nicht absolut großartig! Das Beste aber ist, das ich fortan von ihm lernen werde! Jawohl, ich Josh Harper, werde Buchbinder!
Verzeih, dass ich so lange brauchte um dir zu antworten. Du gabst mir einiges, worüber ich mir den Kopf zerbrochen habe, doch so leid es mir tut, ich weiß auf so viele deiner Fragen keine Antwort. Doch das ist es, was ich hier zu tun gedenke: Ich suche nach Antworten wie du nach deinen Schätzen gesucht hast.
Ich will ehrlich zu dir sein und ja, Robert ist tot, was dir sicherlich klar ist, ansonsten hättest du niemals gefragt. Ob ich etwas damit zu tun habe? Nun, ich will ehrlich zu dir sein, darum verrate ich dir ein Geheimnis:
Ja Robert ist tot und ich wollte es nicht anders. Gewiss, doch es liegt mir fern zu behaupten, dass es mich Mühe gekostet hat, ihn vom Antlitz dieser Welt zu wischen. Er hat es selbst getan, als er zu meiner Marionette wurde, wurde ich seiner zunehmen Müde, doch glücklicher Weise hat er dieser Farce selbst ein Ende gesetzt. Er ist im Himmel ertrunken, jammerschade und so weiter, du weißt, was ich meine, was für ein Verlust, tralalala das Übliche. Meine Mutter…nun, sie wird es vermutlich nicht wahrhaben wollen und somit geht sie von selbst zu Grunde, doch dies ist kaum der Rede wert.
Sag mir nur eins, hat man ihn denn gefunden?
Men Erzeuger habe ich nie wieder gesehen seit dem Tage an dem er uns verlassen hat. Ich weiß, du willst wissen warum. Weißt du, mir liegt es wahrlich fern, dich anzulügen, da du, als einziger Mensch, der mir etwas bedeutet, die Wahrheit mehr als jeder andere verdienst.
Ich habe meinen Vater nicht gehasst, nein. Hass ist ein Gefühl und Menschen wie er haben so etwas wie Gefühle nicht im Mindesten verdient, nein ich verachtete ihn. Oh ja, ich verachtete ihn so sehr, er war wie Robert! Er wollte, dass ich werde wie sie! Ich kann nicht so werde wie sie, verstehst du?! Er hat auch sie zerstört, meine Mutter. Er hat sie zu Grunde gerichtet, seinetwegen hat sie sich selbst gehasst und sich nur auf Robert konzentriert. Seinetwegen habe ich auch sie verloren. Er musste gehen, verstehst du? Ich konnte ihn nicht töten, sie liebte ihn doch, dieses dumme Ding. Darum habe ich Misstrauen in ihr gesät, was nicht sonderlich schwer war, er hat mich unterstützt. Unsere Welt war niemals so heil wie sie zu sein schien. Doch ich war offenbar der Einzige, der sich darüber im Klaren war. Ich musste Handeln und das tat ich auch. Sie beide waren dumm, furchtbar leichtgläubig, labil und so unglaublich dumm. Wie naiv die Menschen doch sind. Es dauerte nicht lange und ich war ihn los. Ich musste lediglich die Säulen zertrümmern, sie selbst waren es, die den vernichtenden Schlag taten, der ihre heile Welt in Trümmer schlug. Wie dumm sie doch waren, das waren sie alle.
Ich bin ehrlich zu dir gewesen Norrin, immer. Doch ich weiß kaum mehr über dich als das, was du mir preis gegeben hast. Dies ist bei weitem nicht alles, das ist mir klar. Du bedeutest mir so unsagbar viel, darum sage ich dir Wahrheit, auch wenn sie nicht schön ist, doch das hat sie so an sich. Doch mir ist klar geworden, dass ich viel mehr über DICH wissen will! Ich will alles wissen Norrin, alles!
Es vergeht kein Tag, an dem ich nicht an dich denke, an dem ich dich nicht vermisse, wir werden uns wiedersehen, oder? Gewiss werden wir das, verprich es mir!
Du fehlst mir Norrin, das ist die Wahrheit.
-Josh
Behutsam faltete Harper das Papier, steckte es in den Umschlag und versah diesen mit einer roten Schleife, wie jeden Brief zuvor. Er stellte fest, dass es das allerletzte Stück war. Er würde ein neues Band kaufen, diesmal ein noch längeres. Morgen würde er den Brief aufgeben, er konnte Norrins Antwort kaum erwarten.
Eine Träne kullerte über Norrins faltige Wange. Seine blutunterlaufenden Augen schwammen in Seelenwasser, wie er Tränen als Kind genannt hatte.
Das Bild, welches er von der alten Frau bekommen hatte, hatte er in den Rahmen zurückgesteckt. Doch er hatte es umgedreht, sodass nur noch Josh zu sehen war. Kummervoll betrachtete er den kleinen Jungen mit dem pechschwarzen Haar dessen Saphiraugen ihn anblitzen. Er hat das alles getan. Er hat Robert getötet, seine Familie entzweit und die heile Welt seiner Nachbarn in Trümmer geschlagen. Nun, zumindest hatte er sie dazu gebracht, dies mit eigenen Händen zu tun, was noch viel schlimmer war. Bei letzterem hatte Norrin ihm auch noch geholfen. Doch er verspürte weder Reue noch Abscheu gegenüber dem Jungen. Er liebte ihn mehr als einen eigenen Sohn und daran konnte selbst die Wahrheit nichts ändern, egal wie grausam sie auch sein mochte.
Seufzend setze er seine Feder aufs Papier und begann zu schreiben.
Auch er schuldete ihm die Wahrheit, selbst wenn es die schwersten Worte waren, die er jemals geschrieben hatte.
Sanftes Mondlicht flutete den Raum und tränkte ihn mit seinem silbrigen Schimmer. Harper blickte sich um, er kannte diesen Raum, doch etwas war anders, etwas war….falsch. Neugierig schritt er durch den seltsamen Raum, die hölzernen Dielen knarrten unter seinen Füßen, bei jedem Schritt wirbelte Staub auf und tanzte im Licht des Mondes. Vorsichtig blickte er sich um. An der rechten Wand stand ein großes Bett, an der linken Wand ein Schrank und eine Kommode. Vor ihm riss das Fenster ein helles Loch in die verblichene Tapete. Erneut kroch der Mond hinter den Wolken hervor und flutete den Raum mit seinem Licht. Die seltsamen Flecken an der Tapete entpuppten sich als Drucke von schwarz weiß gefleckten Bällen. Eigenartig, er war schon einmal hier gewesen. Ein seltsames Gefühl machte sich in ihm breit. Hinter ihm huschte etwas über den Boden, sein Schatten vermutlich. Er drehte sich um, doch hier gab es weit und breit keine Schatten, selbst sein eigener war verschwunden. Merkwürdig… Harper musterte den Boden, der übersät war mit Spuren. Seinen Spuren? Auf der Kommode kippte etwas um, ein leises knacken erfüllte den Raum. Harper ging darauf zu und stellte das eckige etwas auf. Auch dieses Ding war über und über mit Staub bedeckt. Vorsichtig wischte er mit seinem Ärmel den Staub beiseite. Ein eisiger Schauer schoss durch seinen Körper, voller Entsetzen ließ er das Ding fallen. Es schlug mit dem Knirschen von brechendem Glas auf. Keuchend starrte Harper das Ding an, doch es starrte aus blauen Augen zurück. Was zur Hölle… Noch einmal hob Harper es auf, voller Entsetzen erkannte er sich auf dem Bild. Doch noch bedeckte Staub den Rest des Bildes und verhüllte, was noch darunter verborgen war. Wiederstrebend wischte er den Staub vollends beiseite. Er erstarrte. Sein Gesicht blickte ihm entgegen, jedoch von einem völlig fremden Körper. Völlig fremd? Nein, er kannte diesen Körper nur zu gut. Er war muskulös und hatte die Gestalt eines Schrankes, doch irgendetwas hatte den Kopf von den Schultern gekratzt und den seinen anstatt den seines Vaters darauf geklebt. Die Hand seines Vaters ruhte auf der Schulter eines Jungen, dessen Bein auf einen Fußball gestützt war. In der Hand hielt er einen lächerlich großen Pokal, ein breites Lächeln schmückte sein Gesicht. Robert. Harpers Herz setzte aus, als er begriff, was er dort sah. Sein Kopf ruhte anstatt dem seines Vaters auf dessen Körper. Robert hatte ihn ersetzt. „Mein Josh ist stolz auf mich, nicht wahr? Robert liebt seinen Josh und will ihn stolz machen“. Diese Stimme schoss ihm durch den Kopf. Er fuhr herum und sein Blick fiel auf die Wand, an der das Bett platziert war. Die Tapete hier war anders… Ein Streifen Mondlicht fiel auf diesen Fleck und Harper blickte in unzählige Gesichter. Sie alle gehörten ihm. Verblüfft starrte er die Wand an. Es gab keine Bilder von ihm, im ganzen Haus nicht! Doch diese Wand strafte ihn Lügen. Hier blickte er in einen Pool aus Bildern, bestehend aus seinem Gesicht. Wie in Trance trat er näher und nahm sie genauer unter die Lupe. Auf vielen von ihnen fand er selbiges Schema wie auf dem Bild der Kommode. Jemand hatte seinen Kopf auf die ausgekratzte Lücke am Körper seines Vaters geklebt. Völlig irritiert trat er nach hinten, er wollte weg von diesem Anblick. Plötzlich stolperte er über etwas Rundes. Es rollte fort, in eine Ecke, seine schwarzen und weißen Flecken verschwommen zu einen grauen Masse. Harpers Blick folgte dem Ball. Schlagartig wurde ihm klar, wo er sich befand. Sein Herz begann zu rasen, die Trance endete mit einem Mal und wich Ekel, Wut und einer Mischung aus Abscheu und Hysterie. Das Gefühl, brechen zu müssen schlug wie ein Hammer in seiner Magengrube ein und er sank zu Boden. Keuchend Blickte er auf und dort, in einer Ecke, von silbernem Mondlicht geküsst saß er und umklammerte seinen Ball. ER. „Hallo Josh, mein lieber, lieber, überalles geliebter Josh…“ Seine blutig roten Lippen formten diese Worte, diese Stimme…. Dort in der Ecke saß er, summte seinen Namen, strich mit seinen wunden Fingern über seinen Lieblingsball und verzierte ihn so mit roten schlieren. „Josh…“
ROBERT. NEIN!
Ein Schlag traf seinen Hinterkopf, keuchend schnellte Harper hoch. Panisch blickte er sich um. Erleichtert stellte er fest, dass er sich in seinem violett-blauen Zuhause befand. Allerdings lag er neben dem Bett. Seufzend richtete er sich auf, streckte seine schmerzenden Glieder und legte sich erneut ins warme, weiche Bett und schloss die Augen. Er hatte geträumt, es war alles nur ein Traum, oder? Oder? Ein finsteres Kichern erklang über ihm. Ich denke, wir wissen beide, dass es kein Traum war. „Ach nein? Was soll es dann gewesen sein?!“ Seine Augen öffneten sich und funkelten den Anderen an. Er saß neben ihm im Bett, seine Arme lagen verschränkt auf seine angezogenen Knie gestützt, sein undurchdringlicher, wissender Blick ruhte auf Harper. Sein Körper war in einen langen, schwarzen Mantel gehüllt. Oder war es ein Umhang? Harper war sich nicht sicher. Doch er kannte den Körper und das Gesicht des Anderen. Selbstredend kannte er es, es war schließlich sein eigener. Der Andere streckte seine Hand aus und strich ihm die schweißnassen, pechschwarzen Strähnen aus der Stirn. Wir haben nicht geträumt, oh nein. Es war viel, viel schlimmer. Ein Lächeln schmückte sein Gesicht. Ihr Gesicht. Harper blickte ihn an. Langsam dämmerte ihm, was der Andere meinte, doch er wollte es nicht aussprechen, er wagte es nicht. Wir haben uns erinnert, mein Freund. Seine Stimme war sanft, immer noch strich er über Harpers Stirn. Gänsehaut breitete sich auf Harpers Körper aus. Auch auf den Armen des Anderen begann die Haut, sich zu kräuseln. Bevor Harper etwas tun oder sagen konnte, zog der Andere ihm die Decke über den zitternden Körper, auch er zog die langen Ärmel seines Umhangs herunter und hüllte sich enger in den schwarzen Stoff. Er trug nichts als den Umhang, darunter war er nackt, schoss es Harper durch den Kopf. Darunter sind wir alle Nackt, mein lieber Freund. Wieder dieses Grinsen. So wissend, verrucht, geheimnisvoll und doch vertraut. Sein Lächeln, mein Lächeln. Unser Lächeln. Unser alles, mein Freund. Er Seufzte. „Woher willst du wissen…“ Ich weiß es, weil du es weißt. Wir wissen es alle. Wir teilen uns immerhin alles. Ein Lächeln, ein Gesicht, einen Kopf und einen Körper. Wir sind du und du bist wir. Wir sind Josh Harper. Wir wissen es, weil wir uns den selben Verstand teilen. Wir sind zwei Seiten ein und der Selben Medaille, untrennbar miteinander vereint. Du hast dich erinnert Josh, wir haben uns an Robert erinnert. Es war kein Traum. Träume sind für die Nacht, Erinnerungen bleiben für immer.
„Doch… ich hatte dies vergessen! Diesen Raum, diese Bilder…“ Er presste seine Hände auf die saphirblauen Augen um die Bilder zu vertreiben. Der Andere beugte sich über ihn, sein Atem war so wunderbar kühl und streichelte sein brennendes Gesicht. Seine kalten Hände umfassten die brennenden Harpers und zogen sie von seinen Augen. Er zwang ihn sanft, ihn anzusehen. Sein Gesicht war nun direkt über dem Harpers. Einig die Breite eines ihrer pechschwarzen Haare trennte sie von einender. Licht zu Schatten. Tag zu Nacht. Blau zu Blau. Zwei Seiten ein und der Selben Medaille. Die zarten Lippen des Anderen begannen erneut, Worte zu formen, seine Hände hielten Harpers Hände fest. Er wehrte sich nicht, gebannt starrte er in das Gesicht, das dem seinen so sehr glich und versank in den Augen des Anderen. Der Kopf mag vergessen, doch das Herz verweilt stets in Erinnerung. Das Herz vergisst nie, niemals. Auch wenn es noch so sehr schmerzt und blutet, es erinnert. Das Herz erinnert sich an alles, selbst wenn der Kopf es längst vergessen hat. Wir müssen stark sein und es akzeptieren. Erinnerungen sind stark und viel, viel grausamer als jeder Alptraum dieser Welt. Denn sie sind wahr. Harper schluckte und nickte. Der Andere hatte Recht, wie immer. Seufzend versuchte er, sich aufzurichten, doch der Andere drückte ihn zurück in die weichen Kissen seines Bettes. Er beugte sich über ihn und küsste Harpers Stirn. Kalt schmiegten sich seine Lippen an seinen glühend heißen Kopf. Seine funkelnden Augen ruhten auf ihm. Schlaf. „Ich kann nicht. Sie werden wieder kommen.“ Schlaf. Ich werde bleiben. Ich wache über dich, während du schläfst. Während wir schlafen. Seine Stimme war immer noch sanft, doch Harper wusste, dass der Andere keinerlei Wiederspruch duldete. Also blickte er ihn ein allerletzes Mal an. Er sah aus wie er. Er war er und doch war er anders. Er war der Andere und Harper liebte ihn dafür. „Danke“, seine Worte waren kaum mehr als der Hauch eines Flüsterns, doch mehr brachte er nicht über seine Lippen ehe er in das tiefe Dunkel des Reichs des Dämmerlichts sank. Der Schlaf zog ihn mit sich, sanft doch unerbittlich. Wie der Andere, wie sie alle.
Tappsende Schritte erklangen im halbdunkeln Zwielicht des Raumes, Schatten tanzen an den Wänden. Der Andere saß noch immer unverändert an Harpers Bett. Die Schritte kamen näher und verklangen schließlich hinter ihm. Was willst du hier? Zischte er ohne sich umzudrehen. Verschwinde, er schläft. Du hast schon genug angerichtet. Es… es t-tut mir leid! Ich wollte ihm nicht wehtun. Wie kleinlaut und verheult seine Stimme doch klang. Furchtbar laut und nerv tötend, obwohl sie kaum mehr als ein kummervolles Flüstern war. Ich kann nichts dafür, ich bin ein Teil von ihm wie ihr alle auch! Ich mache es nicht mit Absicht. Der Andere Seufze und drehte sich um. Es stand dort und blickte ihn an. Verwundert stellte er fest, dass Es sich verändert hatte. Es, du bist gewachsen. Du bist…größer. Ja, ich wachse immer, wenn er sich erinnert. Wenn er aber vergisst, werde ich kleiner und muss mich verstecken. In seinem Herz, damit er mich nicht vergisst. Es blickte auf den schlafenden Harper, seine Augen hafteten an seinem Gesicht, ehe sie zum Schlüssel glitten, der auf seiner Brust ruhe. Langsam streckte Es die kleine Hand aus. Der Andere griff Es mit seinen Klauen und funkelte Es finster an. Fort, lass ihn ruhen! Seine Stimme war nicht mehr als ein Zischen, doch Es fürchtete sich vor dem Anderen, wenn er so war. Es wich zurück und schlang die Hände um seinen kleinen Körper. Warum bist du hier? Weil er sich erinnert hat… Das hat er nur deinetwegen getan. Das kann er auch gut ohne mich! Trotzig starrte Es den Anderen an. Doch der Andere wusste bereits, was Es quälte. Es war das Kind, Es hatte sich zum ersten Mal in Harpers Kopf gezeigt, als er das Klingeln des Schlüssels vernommen hatte. Der Andere wusste es, denn sie teilten alle die Selben Erinnerungen. Es wuchs wenn Harper es zuließ, wenn er unbeschwert war, wenn er es hervor ließ. Es leitete ihn, denn es saß am liebsten in seinem Herzen, auf dem der Schlüssel ruhte. Es war das Kind. Es war wichtig, für sie alle, denn solange er sein Es hatte, konnte er auch sie hören und sehen. Es hielt sich immer am Schlüssel fest, er war sein Ankerpunkt. Ich sterbe, wenn er vergisst. Warum will er vergessen? Will er, dass ich sterbe? Ich will nicht sterben! Ich liebe ihn doch! Seine Stimme war zu einem feuchten Jammern geworden, Tränen sammelten sich in seinen Augen. Im Moment hatte er die Gestalt Harpers als er in etwa 12 war. Doch alsbald die erste Träne seine weise Wange benetze begann, schrumpfte er zu einem sechsjährigen. Verdammt! Schuhkotze und Sch.. Der Andere legte die Hand über seinen Mund um seine Flüche zu ersticken und zog Es zu sich. Es schlang seine kleinen Ärmchen um den Körper des Anderen. Er seufzte. Er wird dich nicht vergessen, niemals. Du musst verstehen, dass du für ihn leichter zu Tragen warst, als ihr gleich alt wart. Nun ist er erwachsen, fast zumindest. Wir sind alle erwachsen. Aber ICH nicht. Ich bin ein Kind! Ich bin Es und muss klein blieben! Psssst, du kleiner Narr. Du bist das Kind, du bist er als er eines war. Wir sind er als er irgendwie anders war. Ich verrate dir ein Geheimnis. Wir haben dem Rest von uns etwas voraus. Anders als der Freundliche und seinesgleichen, hat er uns nicht bewusst geschaffen, wir waren schon immer ein Teil von ihm. Wir sind stärker als sie, darum kann er uns nicht vergessen, weil wir in seinem Herzen sitzen, nicht in seinem Kopf. Wir vermögen es, zu wandern. Es starrte ihn an. Du meinst…
Ja. Flüsterte der Andere. Wir sind sein „mehr“. Darum müssen wir stark sein, weil wir von Anbeginn da waren. Er braucht uns. Er kann dich nicht vergessen, selbst wenn du dich im Hintergrund hälst. Du kannst dich ruhig öfter blicken lassen. Es ist wichtig, dass er sich erinnert. Erinnerungen mögen nicht immer schön sein. Erinnerungen sind Fehler, wie auch Erfolge, sie sind Schmerz wie auch Freude, Trauer wie auch Glück. Erinnerungen machen uns zu dem was wir sind.
Ohne sie gäbe es uns nicht. Ohne Vergangenheit gäbe es kein Jetzt und ohne Jetzt gäbe es keine Zukunft. Er strich über die wuscheligen Haare des Kindes. Es blickte ihn an und umarmte ihn erneut. Widerlich. Ich weiß. Der Andere blickte Es an. Alles in Ordnung? Ja und… danke. Dann fort mit dir, er wacht bald auf. Es schmollte, doch dann wurde Es durchsichtig bis Es schließlich verschwand. Auch der Andere warf noch einen letzen Blick auf sein Gegenstück, die andere Seite ihrer Medaille, bevor das Licht sich in seinem schwindenden Körper brach und er schließlich fort war, zurück im Labyrinth ihres Verstandes.
Erinnern Sie sich an mich? Nun, geneigter Leser, das hoffe ich doch sehr. Es ist schön, Sie hier zu sehen, wahrlich ich lüge nicht! Wie ich sehe, haben Sie diese Geschichte noch immer nicht aufgegeben. Das ist schön, das ist schön. Ich verrate Ihnen ein Geheimnis: Ich habe sie auch noch nicht aufgegeben. Wir haben noch etwa gemeinsam. Doch ich bin nicht hier, um mit Ihnen über Gemeinsamkeiten zu plaudern, nein. Sie erinnern sich sicher an meine Tirade über Kinder? Sehr schön. Nun, ich will ihnen etwas erzählen, also hören Sie gut zu, es betrifft uns alle. Sie haben sicherlich schon Bekanntschaft mit Es geschlossen, nicht wahr?
Nun denn, Es –wie unser Freund Harper es nennt- ist nicht mehr und nicht weniger als sein inneres Kind. So lächerlich sich dies auch anhören mag, doch in jedem von uns schlummert der Rest unseres Kindseins, das sich in einem Moment von uns abgespalten hat, in dem wir begonnen haben „erwachsen“ zu werden. Jeder von uns wird erwachsen, dies ist natürlich und es kann manchmal nicht schnell genug gehen, nicht wahr? Doch erwachsen werden ist nicht mehr, als das unser Kind-sein zu töten. Als Kind ist die Welt noch unendlich groß und Weit, voll mit Abenteuern und ohne Grenzen. Doch mit jedem Tag den wir wachsen und jedem Tag den wir altern ändert sich dies um ein Stück mehr. Aus unendlichen Weiten und grenzenlosen Ebenen werden Länder mit Grenzen, Regeln und bestimmten Eigenschaften. Aus Abenteuern werden Probleme, der Osterhase und der Nikolaus entpuppen sich als Mom und Dad und wer sich noch in die weiten seiner Fantasie flüchtet ist kindisch. Man sagt uns, dass gewisse Dinge unmöglich sind, wir bekommen Ansichten und Gewohnheiten aufgezwungen und angelernt. Unmerklich aber doch werden wir im Trubel des Erwachsenwerdens gezwungen, unser Kind zu vernachlässigen. Nein, schlimmer noch, wir werden gezwungen, es zu töten. Erwachsene denken sich keine Welten aus, sie spielen nicht mit Bauklötzen oder Puppen. Unsere Fantasiewelten werden Stück für Stück in Trümmer geschlagen- durch unsere eigene Hand. Kinder glauben an Märchen, Erwachsene lesen die Zeitung. Erwachsene kümmern sich um Probleme, nicht um ihren imaginären Freund. Wir töten unser inneres Kind. Wir erschlagen es, wir lassen es verhungern oder verdursten. Oder wir stecken es in eine finstere Ecke unseres Unterbewusstseins und ignorieren es bis es schließlich qualvoll verendet ohne, dass wir es merken. Doch eines Tages, wenn ein Kind bei strömendem Regen lachen hinter einem Papierboot hinterher jagt, erinnern wir uns, dies auch getan zu haben. Doch wir können darüber nichtmehr lachen, nein. Wir denken an die Erkältung, die wir uns gefangen haben, die Schimpftirade unserer Eltern, die grauenvolle Medizin des weißen Mannes. Doch kaum einer unter uns vermag dieses eine Gefühl zu verspüren. Dieses Glück, diese Freude, die nur ein Kind empfinden kann, das sich einen feuchten Kehricht um den Börsenkur und die Finanzkriese schert. Warum auch? Man bekommt für 25 Cent einen Kaugummi, der den ganzen Tag den Geschmack behält! Die Länder, in denen Leute verhungern sind so unendlich weit weg und hier gibt es Wasser und Essen im Überfluss. Ja, es kommt sogar aus dem Gully, wenn es so viel Regnet und verwandelt die Straßen und Wege in reißende Flüsse, auf denen unser gigantisches Flaggschiff treibt, auf dem Weg um dem Schiff unseres Freundes ein paar Kanonenkugeln in den Rumpf zu jagen. Der Gewinner bekommt eine Kiste voll Golddublonen und Ruhm und Ehre…
Erwachsene hingegen sehen ein Boot aus Papier, das auf überfluteten Straßen treibt. Sie sehen die Straßen mit knöchelhohem Wasser, das sie daran hindert, zur Arbeit zu gehen und Geld für Essen zu verdienen, von Kaugummi kann man sich schließlich nicht ernähren. Sie sehen zwei Kinder, dumme Kinder, die ihren Papierbooten nachjagen, von dummer Fantasie geblendet, die sich eine Lungenentzündung fangen werden.
Wissen Sie, es ist so und nicht anders. Habe ich nicht Recht? Doch es gibt auch jene unter uns, die sich ihr Kind erhalten, die, die ihre Fantasie nicht aufgegeben, sonder ausgebaut haben. Darf ich vorstellen, das sind wir, die Beknackten, die Wunderlichen, die seltsamen Leute, die wir von unseren Kindern fernhalten. Die, die in Clownskostümen beim Zirkus agieren, die die sich Welten auf Papier erschaffen, die wir nur allzu gerne Lesen, die, die die Welten in ihren Köpfen auf Bilder bannen und schlussendlich wir, die Wahnsinnigen. Wir haben uns unser inneres Kind erhalten, unsere Fantasie. Doch dies macht uns nicht zwing end wahnsinnig oder dergleichen, nein. Wir haben euch etwas voraus. Unser Verstand ist frei, er kann flüchten.
Ihr lebt in einer Welt, eurer Welt, der einzigen Welt.
Ich aber verrate euch nun, was unser lieber Freund Josh Harper einmal zu Robert sagte, als dieser ihn fragte, was er von dieser Welt hält.
Er blickte ihn aus seinen saphirblauen Augen an. „Es macht mich krank, in einer Welt zu leben, in der ich nicht mehr bin als Fleck auf dem pseudoperfekten Antlitz einer oberflächlichen, verkappten Gesellschaft, wo doch alles, was ich tue falsch ist, nicht mehr als ein Tropfen auf dem heißen Stein. Ich hatte es satt, in einer Welt zu leben, die von anderen geformt, beherrscht, zu Grunde gerichtet und geliebt wurde. Darum schuf ich mir meine eigene.“
Texte: Das Copyright dieser Geschichte liegt vollends in den Händen der Autorin.Cover Quelle: G.B
Tag der Veröffentlichung: 23.05.2011
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Ich widme dieses Buch all jenen die es lesen, denn ein Buch ohne Leser, ist nicht mehr als ein Haufen Seiten den man mit Wörtern füllt.
Besonderer Dank gebührt jedoch den wenigen Menschen, denen ich es zu verdanken habe, dass ich diese Geschichte überhaupt verwirklicht habe.
Diese wenigen, besonderen Menschen wissen, wen ich meine, selbst ohne ihre Namen zu nennen.
Ich danke euch, für alles und nichts.