Der Student (homo academicus) – dessen weibliche Form (die Studentin bzw. homo academica) noch angemessene Berücksichtigung finden wird – ist nach dem weit verbreiteten Spartendenken vieler Nicht-Studenten (homo azubicus, homo alcoholicus und homo senilicus) ein recht faules Tier und wird deshalb immer wieder zu Unrecht mit einem ihm nicht artverwandten Lebewesen verwechselt: Dem echten Faultier aus Südamerika (Folivora).
Im Gegensatz zum echten Faultier, das nicht im feuchtenwarmen Tropenterrarium von Hagenbeck’s Tierpark, sondern ursprünglich im tropischen Regenwald zwischen Panamakanal und Amazonas seinen steuerrechtlichen Erstwohnsitz hatte, hat das unechte Faultier (der Student) keinen geographisch begrenzten Lebensraum, sondern verteilt sich samt seiner äußerst vielseitigen Artgenossen über die gesamte nördliche und südliche Hemisphäre. Dabei schließt sich der Student bevorzugt zu zweit, zu dritt, zu viert, zu fünft, zu sechst, zu siebt, zu acht (...) in so genannten Wohngemeinschaften (der Wunsch nach Privatsphäre wird hier als soziale Gleichgültigkeit und beim Verhaltenstherapeuten zu behandelnde Neurose empfunden), in Studentenwohnheimen (das individuelle Recht auf Privatsphäre wird hier in gezielten Flugblattaktionen als kapitalistisches Luxusgut der postkommunistischen Bourgeoisie deklariert) und auf speziell dafür vorgesehenen Verbindungshäusern (die Definition von Privatsphäre darf hier lediglich im Fremdwörterlexikon nachgeschlagen werden) zusammen.
Zoologisch gesehen ist der Student nicht Mitglied der Familie der Ameisenbären und Gürteltiere, hat somit auch keine klauenartigen Zehen, kein buschiges Fell und mit Sicherheit auch keinen stummelartig zurückgebildeten Schwanz. Außerdem frisst der Student nicht ausschließlich Laub, Früchte und wirbellose Kleintiere und hängt ebenso wenig den ganzen Tag auf irgendwelchen Bäumen herum, um das Gefressene langsam verdauen und seine faulen Artgenossen nebenbei besser beobachten zu können. Des weiteren ist der Student nicht ganzjährig an einem Ort – wie dem südamerikanischen Regenwald – beheimatet, sondern wechselt sein Revier in periodischen und nicht-periodischen Abständen: An warmen Sommertagen ist er überwiegend auf diversen Grünflächen, schattigen Parkbänken, gepolsterten Caféstühlen, dem glühend heißen Asphalt heimischer und exotischer Großstädte oder an mit zahlreichen Nicht-Studenten überfüllten Sandstränden zu finden. Während er an kalten Wintertagen lieber geschlossene und beheizte Innenräume oder paradoxerweise mit Heizstrahlern erwärmte Außenräume aufsucht, damit er sich bei Letzterem einzeln, paar- oder rudelweise an die in der Allwettergastronomie herumstehenden Flammenwerfer klammern, sich von seinen Frostbeulen befreien und dabei gemütlich einen großen Café Latte mit Karamell und extra viel Milchschaum trinken kann.
Das Leben des Studenten beginnt in der Regel mit 19, 20 oder 21 Jahren und endet dann je nach Studiengang – also der ersten Phase des akademischen Lebenszyklus – mit 25, 26 oder 27 Jahren, obwohl bei einzelnen Expeditionen in bislang noch weitestgehend unerforschte Ecken des wilden Universitätsgeländes (z.B. in die Abstellkammer vom Audimax, in die private Duschkabine des Universitätsdirektors oder in den unterirdischen Toilettenkerker vom Uni-Verwaltungshochhaus, in dem nach den Anschlägen vom 11. September 2001 übrigens auch terrorverdächtige Kieler Chemiedozenten festgehalten wurden) äußerst seltene Exemplare gesichtet werden konnten, deren langsam zerfallende Außenhaut auf über 40 geschätzt wurde.
Hingegen müssen sich die kraftstrotzenden männlichen und weiblichen Jungtiere zu Beginn ihres noch erwartungsvollen Studentenlebens zunächst an die neue Umgebung gewöhnen, sich auf dem Campus orientieren und völlig selbstständig ihren eigenen Weg finden, da sie – juristisch gesehen – nun eigentlich erwachsen sind oder – biologisch oder aus der eingeschränkten Perspektive einer alternden Wildgans gesehen – zumindest flügge sein sollten, nachdem sie das abermals brütende Muttertier rücksichtslos aus dem Nest geworfen hatte.
Demzufolge bewegen sich die noch jungen Erstsemester schutzsuchend in studentischen Großgruppen – vergleichbar mit den bis zum Horizont grasenden Rinderherden des Mittleren Westens der USA – von der Immatrikulationsbescheinigung, dem amtlichen Zertifikat für ordnungsgemäße Verpflegung (siehe Zugang zu sauberem Trinkwasser und keimfreien Studentenfutter) und Schulung (siehe Angebot an audiovisuellen Informationsfluten), artgerechte Unterbringung (siehe geschätzte Anzahl an halbwegs warmen und trockenen innerstädtischen Übernachtungsmöglichkeiten) und Dressur (dies gilt eigentlich nur für Sportstudenten) der sich entwickelnden Jungtiere, zur Mensa, wo sie sich in bandwurmartige Schlangen einreihen müssen, um nicht versehentlich der liebevollen Trogfütterung des geschulten Veterinärpersonals zu entgehen.
Nach dem Mittagessen schieben sich die Erstsemester innerhalb der Herde, mit der sie höchstwahrscheinlich auch gekommen waren, weiter zum Audimax und seinem in den 1960er Jahren von der CIA kodifizierten Treppen-, Gang- und Hörsaallabyrinth, welches im Kalten Krieg ein abschreckendes Beispiel für die überlegene Intelligenz des Westens darstellen und nach einem atomaren Erstschlag der Sowjetunion als atombunkerähnliche Behausung das Überleben der Menschheit bzw. der zahlungskräftigen Bevölkerung in Kiel, Kronshagen und Altenholz sichern sollte. Zwar gibt es im Audimax bis Heute keine langfristig gesicherte Lebensmittelversorgung für länger anhaltende atomare Winter, dafür beinhalten die beiden im Erdgeschoss stationierten Automaten eine umso reichhaltigere Auswahl an in blauen 0,2 Liter Plastikbechern servierten Kaffeesorten und kleinen Snacks.
Haben die mittlerweile nach der heißen Phase des Kalten Krieges geborenen Erstsemester als Teil einer sich schimmelpilzartig in mehrere Himmelsrichtungen windenden Campuskarnevalspolonäse endlich ihr Ziel (das manchmal auch an die Römerzeit erinnernde Auditorium Maximum) erreicht, so müssen sie im Rahmen der klassischen Konditionierung dort erst einmal den CIA Code knacken, bevor sie den harmonischen Dreiklang bzw. die heilige Dreifaltigkeit des akademischen Lebenszyklus empfangen können, d.h. zur rechten Zeit am richtigen Ort zu sein, ohne dabei eine für das eigene Studium vollkommen irrelevante Vorlesung zu hören.
Klausuren, Hausarbeiten und Referate bilden neben kleinen, mittleren und großen Saufgelagen (Partys) sowie dem inflationär ansteigenden Balzverhalten männlicher Studenten zur Frühlingszeit die Essenz des gesamten Studiums und markieren gleichzeitig wegweisende Richtwerte, an denen sich der Student – ähnlich wie die Teilnehmer/innen des alljährlichen Wildschweinrennens im Teutoburger Wald – messen lassen muss.
Zwar kann man sich als verspäteter Anhänger von Andreas Baader und seinen Freunden ebenso jahrelang in der Abstellkammer vom Audimax verstecken und heimlich darauf warten, dass ein kompetenter Sachbearbeiter einer schleswig-holsteinischen Al Kaida Außenstelle einem ein lukratives Angebot zum Entflammen der einzigartigen Orchideenkolonie im Botanischen Garten unterbreitet. Oder man kann sich jedes Semester aufs Neue auf die speziell zur Vorbeugung einer humanitären Katastrophe entwickelten Erstsemesterbegrüßungspakete stürzen und dabei inständig hoffen, man möge dieses Mal doch bitte die Männer- und nicht schon wieder die Mädchen-Tüte erhalten. Oder man lässt den ganzen hirnverbrannten Schwachsinn und besinnt sich darauf, dass der Student als ganzjährig aktives Arbeitstier keinen Winterschlaf, sondern höchstens einen auf Vorlesungen und Seminare ausgedehnten Mittagsschlaf hält und dabei möglichst zügig und zielorientiert fertig werden will, um nach dem Studium dann endlich seinen/ihren Traumberuf ausüben zu können: Zweite Bibliothekarin im geschlossenen Magazin der Universitätsbibliothek oder Stellvertretender Abteilungsleiter im Campus-Pförtnerhäuschen.
Christian Diers.
Texte: Christian Diers
Tag der Veröffentlichung: 01.02.2009
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Für meine Familie und meine Freunde, die mich immer und überall finanziell und emotional unterstützt haben. Und insbesondere für die baldige Genesung meines Vaters.