1
Sie stand am Herd, den sie mühsam mit Holz angeheizt hatte, und wendete die Kartoffelscheiben im zerlassenen Schweineschmalz, in der schweren gusseisernen Pfanne. Hinter ihr, am Küchentisch, saß der Mann, der auf sein Abendessen wartete und bereits geschimpft hatte, dass es noch nicht fertig war, als er von der Arbeit nach Hause kam. Was nicht ganz fair war, denn er kam jeden Abend zu einer anderen Zeit.
Sie fügte die Zwiebelwürfel hinzu und wollte gerade mit Salz und Pfeffer würzen, als sie seine Hand, grob wie immer, unter ihrem Rock fühlte. Sie erstarrte, ihr Magen verkrampfte sich, ihre Haut wurde zu einer empfindungslosen Schicht, die sich nicht ihrem Körper zugehörig anfühlte. Dann seine verhasste Stimme: „Nun mach hin mit dem Essen, dann kriegst du auch hinterher deine Belohnung!“, gekrönt von einem dreckigen Lachen.
Sie wendete weiterhin die Bratkartoffeln, während ein eisiges Gefühl sich in ihr breit machte. Sie blickte sich um. Er saß mit dem Rücken zu ihr, trank Bier aus der Flasche. Sie musterte seine Gestalt: vierschrötig, grob und dumm. Sein unangenehmer Körpergeruch drang ihr in die Nase, übertönte selbst den Duft der Bratkartoffeln. Seine durch das Saufen gerötete Halbglatze glänzte verschwitzt.
Die Eiseskälte in ihr erreichte ihren Nacken, dann ihr Hirn. Nein, heute nicht, du Dreckschwein. Sie packte die heiße, schwere Pfanne mit beiden Händen, schwang mit dem ganzen Körper herum und hieb sie dem Mann mit voller Wucht seitlich gegen den Schädel.
Er kippte ohne einen Laut vom Stuhl, blieb reglos liegen. Sie stand noch einen Augenblick da, fühlte Erstaunen, Erleichterung – schließlich Genugtuung. Sie sah, dass er atmete.
Dann geschah alles ganz schnell. Sie rannte in das Zimmer, dass sie mit ihren Schwestern teilte, griff sich einen Kissenbezug und stopfte alles hinein, was ihr gehörte – was nicht viel war.
Erst vor 4 Wochen war ihre Mutter gestorben – im Kindbett, da sie das sechste Kind nie hätte bekommen dürfen.
Das Mädchen hieß Ursula, man schrieb das Jahr 1935, und sie war damals 15. Der Mann, den sie bewusstlos geschlagen hatte, war ihr Vater.
Diese Nacht verbrachte sie zusammengekauert in einem Hauseingang, zitternd vor Kälte, Angst und Schuldgefühlen. Angst davor, dass ihr Vater auf der Suche nach ihr sein könnte. Schuldgefühle wegen ihrer fünf Geschwister, die nun dem Zorn des Vaters ausgeliefert waren. Obschon sie wusste, dass ihre nächstjüngere Schwester - Herta – mit Leichtigkeit imstande war, den Alten um den Finger zu wickeln, wenn auch um einen ekelhaften Preis.
Ursula konnte sich nicht an die Wand hinter ihr lehnen, da die älteren und frischen Wunden auf ihrem Rücken zu sehr schmerzten. Erst gestern wieder hatte er sie, wie er es nannte, „gemaßregelt“, für etwas, das ihre jüngste Schwester - Herma – verbockt hatte. Sie hatte ein gefülltes Bierglas fallen lassen, nach dem ihr Vater verlangt hatte.
Für derartige Verfehlungen war dann immer Ursula verantwortlich. Der Vater rief alle Kinder zusammen, Ursula musste sich obenherum ausziehen. Der Vater zog langsam und genüßlich seinen Koppelgürtel aus der Hose und schlug ihr etwa ein dutzendmal mit dem Gürtelschloss kreuz und quer über den Rücken.
Während sie dann halb bewusstlos vor Schmerzen auf dem Küchenfußboden kauerte, und ihre kleineren Schwestern die Wunden versorgten, zog sich der Vater „zum Abreagieren“ mit Herta ins Schlafzimmer zurück.
Schließlich fiel sie in einen unruhigen Schlaf, aus dem sie von einer alten Frau geweckt wurde. „Ja Määken, wat makst du denne hier? Holst dir ja den Tod! Kumm ma mit inne, hab grad Tee jemacht.“
Dann saß Ursula in der gemütlich warmen, sehr sauberen Küche der Frau, die sich ihr als „Tante Marthchen – so nennse mich alle“ vorgestellt hatte, schlürfte heißen Kräutertee und kaute hungrig an einem Butterbrot. „Waaßte wat, Määken, du siehst aus, als könnste n paar Stunnen Schlaf jebrauchen. Ich muss nu malochen gehen. Komma mit, kannst dich in mein Bett lejen. Innen paar Stunden bin ich wieda da. Wär dir dankbar, wenne mich nich beklaust und dann abhaust. Ich übaleech mir wat für dich."
2
Ursula schlief geschlagene 10 Stunden durch. Tante Marthchen war längst wieder zu Hause, brachte es aber nicht über´s Herz, sie zu wecken. Sie machte sich Gedanken, was weiter werden sollte mit dem Mädchen. Marthchen hatte eine Nichte, etwa im gleichen Alter wie Ursula, vielleicht 1 Jahr älter. Diese Nichte arbeitete in der Gastronomie als Bedienung. Vielleicht wäre das eine Möglichkeit.
Unterdessen lag Ursula im gemütlich weichen und warmen Bett und grübelte ihrerseits über das gleiche Thema. Nach Hause zurück? Unmöglich. Auch zur Schule konnte sie nicht mehr gehen – dort wäre sie zu leichte Beute für ihren Vater, der sie, wenn er sie erwischte, wahrscheinlich totschlagen würde. Bei Tante Marthchen konnte sie auch nicht bleiben, denn dieses kleine Schlafzimmer und die Küche waren die einzigen Räumlichkeiten in dieser Wohnung.
Schließlich rappelte sie sich auf, zog sich an und ging zu Marthchen in die Küche. „Na Kleene, hier haste erstmal wat zum Frühstück, und denn sehn wa weiter.“ Mit diesen Worten stellte sie Ursula einen dampfenden Teller Haferbrei unter die Nase. Während Ursula eifrig löffelte, erzählte Marthchen ihr von ihrer Nichte, die mit ihrer Mutter allein wohnte und dort, wo sie arbeitete, gutes Geld verdiente.
Marthchen musterte das Mädchen, während es seinen Brei verschlang: etwas dünn, aber gut gewachsen, sehr schönes langes, welliges, kastanienbraunes Haar, und ein ebenmäßiges, hübsches Gesicht mit schrägen grünen Augen. Wenn Ursula auch sonst nichts hatte – Schönheit besaß sie. Eine Schönheit, die auch das Vieh, das sich ihr Vater nannte, nicht hatte zerstören können. Marthchen erkannte in Ursulas Zügen auch eine große Willenskraft, eine gewisse Härte. Genau das machte sie noch attraktiver.
„Marthchen, wie heißt denn deine Nichte?“ fragte Ursula, als sie den Haferbrei restlos verdrückt hatte und sich allmählich ganz wohl fühlte. Sie hatte Marthchen bereits gern, vertraute ihr. „Die heißt Evelyn. Viellleicht kennt ihr euch sogar – sie ist 16, so groß wie du, und hat lange rote Haare und ganz viele Sommersprossen.“ Ursula horchte auf – sie kannte tatsächlich eine Evelyn, auf die die Beschreibung passte. Sie war in der Schule immer eine Klasse über ihr gewesen, und Ursula hatte immer ihr brennend rotes Haar und ihre schöne Kleidung bewundert. Bei Ursula und ihren Schwestern herrschte, was Kleidung anging, immer das Gesetz der Schnelleren und Brutaleren. Es gab nur einen Kleiderschrank, in dem sich die sämtliche Kleidung der Mädchen befand. Wer morgens als Erste aufstand, hatte halt die besten Sachen.
Eigentlich war die Familie nicht wirklich arm – letztlich aber eben doch. Der Vater arbeitete als Maurer, bezog wöchentlich seinen Lohn, den er aber mit schöner Regelmäßigkeit in Kneipen und Puffs verjubelte. Die Mutter stand schon vor dem Morgengrauen auf und machte sich auf den Weg zu ihren zahlreichen Putzstellen bei „Herrschaften“, außerdem übernahm sie Näharbeiten. Oft kam sie erst spätabends völlig erschöpft wieder nach Hause. Aber durch diese Tätigkeiten ernährte sie ihre Kinder. Hinzu kam, dass sie fast ständig schwanger war, was einige Male in Totgeburten endete. So blieb die Hausarbeit an Ursula und ihrer nächstjüngeren Schwester Herta hängen, und Herta drückte sich gern mal.
Wenn diese Evelyn die war, die Ursula vermutete, dann kannte sie sie als ein sehr nettes Mädchen. Ihre Unsicherheit legte sich ein wenig.
3
„Nu komm, Kleene, du brauchst Arbeit.“ Mit diesen Worten zog Marthchen die gerade satte Ursula in´s Schlafzimmer. „Kuck ma, ich hab hier noch `ne Bluse von Evelyn, die ihr etwas zu eng is – probier ma an – un denn kucken wa ma, was wa mit deine Haare machen können!“
Ursula tat, wie ihr geheißen. Die Bluse saß gut, und passte auch zu ihrem grünen Rock. Marthchen bürstete ihr das Haar, steckte es mit vielen Nadeln hoch – nach 15 Minuten sah Ursula völlig verändert aus.
„So, na siehste, dat is doch schon ganz wat anneres!“, meinte Marthchen zufrieden.
Mittlerweile war es fast Mittag. Ursula wurde immer nervöser. „Marthchen – meinst du, ich bekomme die Stelle?“ Marthchen beruhigte das Mädchen, meinte, dass das schon klar ginge. Dann gingen sie los. Ursula hielt sich auf der Straße immer dicht an den Wänden, und blickte ständig unruhig um sich – sie hatte Angst, dass ihr Vater plötzlich auftauchen könnte.
Aber das war nicht der Fall. Die beiden erreichten unbehelligt den Eingang des Ballsaals – und traten ein.
Als Erstes überfiel Ursula in dem dunklen Raum der Geruch nach abgestandenem Bier und Tabakqualm – ein Geruch, den sie hasste – erinnerte er sie doch überdeutlich an ihren Vater, der jeden Abend so gerochen hatte.
Sie verdrängte die Erinnerungen, die der Geruch hervorrief. Sie hob den Kopf und sah sich um.
Links von ihr befand sich eine beeindruckende, lange Theke aus Mahagoni und Messing. Darüber hingen Gläser in allen möglichen Formen; hinter der Theke Regale mit allen Spirituosen, die es so gab. Eine große Zapfanlage für viele Sorten Bier krönte das Ganze.
Direkt vor Ursula war ein – wie es ihr vorkam – riesiger Raum mit unüberschaubar vielen Tischen, auf denen kleine Lämpchen standen. Jenseits davon, am anderen Ende, war eine erhöhte Bühne – wohl für Musiker. Davor eine runde Tanzfläche.
In der rechten Wand waren Nischen eingelassen, mit rotem Plüsch ausgeschlagen, in denen ebenfalls Tische standen, und plüschige Sofas. Ursula staunte, sie hatte so etwas noch nie gesehen.
„Ja, wen haben wir denn da? So nette Gäste am hellen Mittag?“ Ursula schreckte zusammen – die laute, dunkle Stimme kam völlig unerwartet. Sie fuhr herum und konnte erst einmal nur schauen.
Ein sehr modisch und gut gekleideter Mann stand vor ihr. Groß und kräftig, mit breiten Schultern, schwarzen, gewellten Haaren und einem für einen Mann hübschen Gesicht mit metallisch grauen Augen. Ursula bekam kein Wort heraus.
Marthchen sah die Unsicherheit des Mädchens und übernahm das Reden.
„Tach Herr Krohne! Wir schauen mal rein und wollten fragen, ob´s für die Kleene hier nicht ne Arbeit gibt. Mit meiner Nichte sind Se doch noch zufrieden? Sehn Se – mit dem Mädel hier wern Se´s auch sein!“
5
Ursula war sehr verlegen, wusste nicht, wohin sie schauen sollte. Der gut aussehende Mann musterte sie unverhohlen, lächelnd. Schließlich – nach einer für Ursulas Empfinden endlosen Zeitspanne – sagte er mit seiner dunklen, angenehmen Stimme: „Aber natürlich, Marthchen, gute Arbeitskräfte kann ich immer brauchen! Ist sie denn ein wenig Maloche gewöhnt?“ Marthchen wollte antworten, aber Ursula kam ihr zuvor: „Und ob ich das bin, da könn´ se sich drauf verlassen!“ Mit diesen Worten sah sie ihm gerade in die Augen und hielt den Blick.
Herr Krohne warf den Kopf in den Nacken und lachte lauthals. „Marthchen, die ist richtig! Kann sofort anfangen. Sag, Mädel, brauchst du ein Zimmer? Oben ist noch eins frei, kannst sofort einziehen, wenn du willst.“ Ursula konnte ihr Glück kaum fassen. Alles, was sie besaß, hatte sie bei sich, und so blieb sie gleich da.
Ihr Zimmer – für sie ganz allein! – kam ihr vor wie ein kleines Paradies. Blümchentapete an den Wänden, eine Waschgelegenheit mit Spiegel, ein schmales, aber sauberes Bett, ein kleiner Kleiderschrank. Vor dem Fenster eine Spitzengardine, auf dem Linoleum vor dem Bett ein runder, hübscher Teppich mit Blumenmuster. Für sie ganz allein....für sie ganz allein. Dass ihre Tür nicht abschließbar war, bemerkte sie nicht in ihrer Euphorie.
Tag der Veröffentlichung: 19.01.2012
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