„Plong!“ – ein weißer Kieselstein, und zwar nicht der erste an diesem Tag, knallte an die leere Regentonne, die an einer Ecke des Hauses direkt unter dem Fallrohr stand und dieser Tage ein nutzloses Dasein fristete. Neun Uhr morgens und bereits 32 Grad im Schatten! So ging das schon seit zwei Wochen, ein Ende der Hitzeperiode war nicht in Sicht. Einigermaßen apathisch lümmelte der Junge in dem alten Gartenstuhl aus politisch korrektem Plantagenholz, ließ seine Rechte über der Armlehne baumeln. Beinahe automatisch tasteten seine Finger nach einem weiteren Steinchen aus der Beetumrandung, die seine Mutter vergangene Woche angelegt hatte. „Es sieht ordentlicher aus und unterdrückt die Wildkräuter.“ hatte seine Mutter auf die Frage seines Vaters, warum sie von dem wenigen Geld, das die Familie zur Zeit zur Verfügung hatte, ein ordentliches Sümmchen für `blöde Steine, mein Gott!´ zum Fenster ´rauswarf geantwortet. Der Junge fand, die ordentlichen Kiesstreifen in schneeweiß ließen den Rest des Gartens nur umso unordentlicher aussehen.
Gegen Wildkräuter (manche sagen Unkraut) hatte Mum nämlich ansonsten nichts einzuwenden. Brennesseln waren für sie eine Bienenweide, Wegerich und Schachtelhalm Heilkäuter, und immer so weiter. Nicht dass sie mit den vielen Heilkräutern, die ihren Garten `zierten´, auch nur das Geringste anzufangen wusste. In den Büchern über Naturheilkunde, die die Reihen der Regale im Àrbeitszimmer´ Mums auffüllten, waren zwar alle Anwendungen zu finden, nur hatte sie nach eigenem Bekunden keine Zeit (nach Ansicht des Jungen keine Lust), sich zu damit befassen.
Da, er hatte wieder Einen. Die ganz glatten, fast perfekt runden Kiesel mochte Simon am liebsten. Simon J. Bucher, so lautete sein Name. Simon nach Paul Simon, so wollte es seine Mutter, das J. war die Abkürzung für John, den Vornamen seines Vaters. Er ließ den Stein zwischen den Fingern herumrollen, fühlte die angenehm kühle Oberfläche, bevor er ihn locker aus dem Handgelenk über seinen Bauch hinweg in die linke Hand fliegen ließ, die entspannt offen auf seinem Oberschenkel lag.
„Ballgefühl, der Junge hat ein natürliches Ballgefühl, und macht nicht das Geringste daraus!“ polterte unlängst sein Großvater mütterlicherseits, als er beim letzten Barbecue, ein großes Glas Bier in der Hand, auf der Veranda saß und seinen Enkel bei seinen Steinspielchen beobachtete.
Natürlich gab Opa Dad die Schuld daran, daß der Junge nicht schon seit Jahren eine vernünftige Ballsportart ausübte. Für seinen Opa war sein Dad an allem schuld, was irgendwie schief ging. Und jetzt auch noch Arbeitslosigkeit! Seit drei Monaten schon! Für Großvater war es eine groteske Vorstellung, daß ein Mann von 40 „den lieben langen Tag zu Hause herumhängt“. „Wer arbeiten will, der findet auch Arbeit! Punkt!“ war bei weitem nicht die einzige Platitüde, die er anlässlich des besagten Barbecues von sich gegeben hatte. Auch die Tatsache, dass er das Fleisch und das Bier, das alle konsumierten, bezahlt hatte, fand Erwähnung. Dementsprechend war die Atmosphäre, die über diesem Grillfest hing, ziemlich düster.
Alle waren insgeheim froh, als um circa zehn Uhr abends Granny Müdigkeit meldete, worauf die Großeltern sich in die Ledersitze ihres großen, dunkelgrünen Mercedes pflanzten und endlich nach Hause fuhren. Simon fragte sich manchmal, ob es unter seinen Freunden wohl noch jemanden gab, der seinen eigenen Opa nicht mochte. Aber wie sollte er einen despotischen, selbstgerechten alten Sack mögen, der seinen über alles geliebten Dad als Versager, Spinner und Schmarotzer bezeichnete? Noch dazu in aller Öffentlichkeit?
„So, jetzt reicht´s! Wenn ich noch einmal dieses verdammte Plonnnggg höre, drehe ich durch! Es macht mich wahn-sin-nig! Hör sofort auf damit! Kannst du dich nicht mal mit was Anderem beschäftigen?“, brüllte Simons Mutter aus dem Küchenfenster und knallte Letzteres dann geräuschvoll zu. Der Junge legte den Kopf in den Nacken, sah durch das schattenspendende Blätterdach der großen Kastanie in den gnadenlos blauen Himmel und seufzte herzzerreißend. „Wenn dieser Baum erst seine Kastanien abwirft, wirst du das verdammte Plonnnggg noch viel öfter hören.“, murmelte er in die hitzeflirrende Luft.
Simon hörte Hundekrallen auf Asphalt und wusste, dass sein Kumpel Elvis auf dem Weg ins Wäldchen war. Elvis gehörte Willi Behrens, dem Nachbarn, Vertrauten, Kumpel und obendrein dem Sorgentelefon der Familie.
Simon liebte Elvis abgöttisch, wünschte, es wäre sein Hund. Aber Mom hatte eine Hundehaarallergie, eine Katzenhaarallergie, eine Allergie gegen Nagetierexkremente, eine Stauballergie. Sie hatte all die Allergien, von denen sie je gelesen hatte. Sie trieb diese eindeutig psychosomatische Macke so weit, auch all die Symptome zu entwickeln, die im `Klinischen Wörterbuch´ ausführlich beschrieben wurden. Beispielsweise bemerkte sie Hundehaare auf Simons Sweatshirts, die sie gerade in die Waschmaschine stecken wollte. Zehn Minuten später hatte sie Atembeschwerden, rote Flecken im Gesicht, Durchfall und einen heftigen Juckreiz, meistens in der Nähe ihres Nabels.
Jedoch bei anderen Gelegenheiten, beispielsweise wenn ihre Freundin June den Cockerspaniel Missy mitbrachte zum `Frauenabend´, war von derartigen Erscheinungen nichts zu sehen. Auf Argumente diesbezüglich meinte sie nur:“ Kann ja sein, dass nicht alle Hunde die gleiche Art Haare haben. Ich reagiere halt nur auf Haare, wie sie Elvis hat.“ Was, wie Simon durch die interessierte Lektüre von medizinischen Fachbüchern wusste, völliger Hirnriss war.
Seiner Meinung nach lebte seine Mutter nur ihren Frust aus. Brachte irgendwie die negativen Energien nach draußen, die sich angestaut hatten. Seit nämlich ihr Esoterikladen pleite gegangen war, in den sie soviel Energie, Engagement und Hoffnung investiert hatte, mehrten sich Moms Allergien drastisch. Das hatte zur Folge, dass er keinen eigenen Hund, keine Katze, kein Meerschweinchen und um Gottes Willen schon gar keine Ratte! haben durfte, wie sein bester Kumpel Adi eine besaß, was Simon zum Niederknieen cool fand.
Simon hing deshalb sehr an Elvis, und der Mangel an Aufmerksamkeit, den Willi seinem Hund zuteil werden ließ, nährte dieses Verhältnis zusätzlich.
Simon beschloss, Elvis zu folgen. Er ging nicht gern in den Wald, fand es dort unheimlich. Nie traf man dort einen Menschen, es gab kaum Trampelpfade, nur ziemlich dicht stehende Bäume und sehr verfilztes Unterholz. Die Spaziergänger und Jogger zogen den gepflegteren Forst am anderen Ende des Dorfes vor. Dort gab es Bänke entlang der befestigten Wege und sogar einen vom Schützenverein gestifteten Trimmpfad.
In den letzten Herbstferien gingen Simon und sein bester Kumpel Adrian „Adi“ Dietrich in das unordentliche Wäldchen, um dort ein ausgiebiges Survivaltraining zu absolvieren. Auf gut Deutsch, um sich mal richtig dreckig zu machen. Adi hatte seine Ratte dabei, die auf den schönen Namen Sieglinde hörte. Sieglinde deswegen, weil das Tier ganz verrückt nach rohen Kartoffeln war und Adi die Sortenbezeichnung auf dem Kartoffelbeutel seiner Mutter gelesen hatte.
Siggi war keine von den zahmen Farbratten, die man in der Zoohandlung kaufen konnte, sondern das graubraune Original. Adi hatte vor einem Jahr während einem ihrer Streifzüge nahe eines alten Kanalrohres, das in einen Feldbach mündete, ein Rattennest aufgestöbert. Die Babies darin hatten bereits Fell und waren nicht mehr ganz winzig. Adi nahm vorsichtig das größte Tierchen heraus und barg es unter seinem Shirt, wo es sich sofort ankuschelte. Er zog die kleine Ratte mit Ziegenmilch auf, die er ihr mit einer Pipette verabreichte. Jetzt, wo sie ausgewachsen war, war Siggi völlig zahm, sehr anhänglich und schlau. Adi hatte sie immer bei sich, sogar in der Schule. Nach anfänglichen Widerständen erklärten sich die Lehrer einverstanden, zumal Siggi die meiste Zeit des Unterrichts unter Adis Hemd schlief.
An jenem Tag der Herbstferien gingen Simon und Adi gleich nach dem Mittagessen in den Wald, natürlich in Begleitung von Elvis. Es war ein schöner Tag, 20 Grad und sonnig, aber hier herrschte ein anderes Klima. Einige Grad kühler und die Luftfeuchtigkeit war höher, was die Jungen aber erst merkten, als sie in ihren Shirts zu frösteln begannen. „Boah, was sind wir Warmduscher,“ meinte Adi, „kaum in the forrest und schon die Sweatshirts anziehen. Von wegen Survival!“ Sie gingen immer tiefer in den Wald, redeten über diverse PC-Spiele, mit denen sie sich am Vortag beschäftigt hatten, als der Trampelpfad ziemlich abrupt endete. Es war still hier, auffallend still. Das Rauschen des Herbstlaubes war verstummt, kein Vogel war zu hören.
Die Jungen, die sich bislang recht laut unterhalten, auch rumgeblödelt und gelacht hatten, sprachen nun automatisch gedämpfter. Simon fiel es als Erstem auf. „Sag mal, wieso flüstern wir eigentlich?“ „Weiß nich, hab irgendwie keinen Bock mehr rumzubrüllen. Lass mal eine rauchen!“ meinte Adrian, der seiner Mutter einige Zigaretten geklaut hatte. Die beiden rauchten nicht gewohnheitsmäßig. Simons Eltern waren überzeugte Nichtraucher, und Adi konnte seiner Mutter nur ganz selten ein paar Sargnägel entwenden, ohne dass es aufgefallen wäre. Ihr Taschengeld gaben beide lieber für Computerspiele aus.
Sie setzten sich rittlings auf einen moosigen, umgestürzten Baumstamm und pafften andächtig, während Elvis daneben mit Elan in der lockeren Erde buddelte.
Adi kramte seine Ratte unter seinem Hemd hervor und setzte sie zwischen sich und Simon auf den Stamm. Sieglinde blinzelte verschlafen, kauerte sich leicht fröstelnd zusammen und wirkte recht verdrieslich. „Siggi fühlt sich unter deiner stinkigen Achselhöhle echt wohler als an der frischen Luft. Ist schon genau so´n Penner wie du,“ grinste Simon, „wenn du morgens aus der Poofe kriechst, siehst du aus wie sie jetzt. Irgendwie nicht menschlich.“
Adrian nahm im Sitzen Haltung an, machte ein strenges Gesicht und sprach mit pathetischer Stimme, wobei die erhabene Wirkung seiner Worte durch seinen heftigen Stimmbruch ruiniert wurde: „Ihr verfügt über eine flinke Zunge, Schurke, doch vermögt ihr euer Schwert ebenso behende zu führen?“, worauf Simon sich mit einem kieksigen Kampfschrei über die sich erschreckt duckende Sieglinde hinweg auf Adi stürzte. Sie fielen vom Baumstamm, wälzten sich ringend und boxend durchs Unterholz und durch feuchtes, modriges Laub, bis Simon Adi in den Schwitzkasten bekam und brüllte: „Gib er auf, unwürdiger Sohn einer Made!“, ihn dann jedoch plötzlich losließ. Adrian kicherte wie verrückt, drehte sich um und wollte sich gerade erneut auf seinen Freund stürzen, als er sah, dass Simon mit entgeistertem Gesicht hektisch umherblickte. „Wasn los?“ fragte Adi, aber da sprang Simon auch schon auf, lief zum nächsten Baum, spähte vorsichtig dahinter, ging schließlich drum herum und kam zu Adi zurück, der noch immer auf dem Boden saß und sich langsam einen feuchten Hintern holte.
Simon sah verwirrt und ein wenig ängstlich aus. Elvis hatte das Buddeln eingestellt, stand mit eingeklemmter Rute da und winselte. Simon setzte sich wieder auf den Baumstamm, steckte sich noch eine Zigarette an und sah sich noch immer nervös um. „Da stand grad einer,“ sagte er leise und deutete dabei auf den Baum, den er umkreist hatte, „der stand da rum und hat uns zugeguckt. Der sah voll merkwürdig aus.“ Adrian setzte sich neben ihn und meinte: „ Ich hab keinen gesehen. Wie sah der denn aus?“ Simon schüttelte den Kopf. „ Kann ich dir garnicht genau sagen, voll seltsam halt. Ich hab ihn nur aus den Augenwinkeln gesehen. Als ich dann direkt hingesehen habe, war er plötzlich verschwunden, einfach so! Lass uns hier abhauen, ok?“, „Bin ich auch für, ist sowieso irgendwie ungemütlich hier. Elvis und Siggi fühlen sich hier anscheinend auch nicht wohl.“
Er schnappte sich die Ratte, die erleichtert war, wieder unter sein T-Shirt krabbeln zu dürfen. Auch der Hund hatte es jetzt eilig, auf den Trampelpfad zurück zu kommen. Die Jungen gingen zügig, aber nicht zu schnell (das wäre uncool gewesen) aus dem Wald heraus, nicht ohne sich alle paar Schritte verstohlen umzusehen. Sie sahen jedoch nichts weiter Verdächtiges an jenem Tag im Herbst.
2
Simon sprang auf und rannte zum Gartenzaun. „He Elvis! Warte doch mal!“ rief er, doch der Hund hielt nur kurz inne, sah sich zu ihm um und lief dann weiter auf den ungefähr 200 Meter entfernten Waldrand zu. Simon flankte über den Zaun und rannte hinterher.
Als er am Wald ankam, tat ihm das Gerenne bereits leid. Er keuchte und schwitzte wie nach einem 5000m-Lauf, denn mittlerweile war die Temperatur ordentlich gestiegen. Simon spähte durch die Bäume und sah gerade noch Elvis´ Hinterteil links im Unterholz verschwinden. Er hatte den Weg verlassen und sich in die Büsche geschlagen. Schnell ging der Junge hinterher, bahnte sich seinen Weg durch das dichte Gestrüpp und ärgerte sich, keine lange Hose zu tragen, denn seine Beine wurden von Dornen und Zweigen heftig zerkratzt. Es dauerte ein wenig, aber er schaffte es. Das dichte Unterholz lichtete sich, wich zurück.
Simon fand sich auf einer großen, kreisrunden Lichtung wieder, die diese Bezeichnung eigentlich nicht verdiente. Es war hier viel dunkler als im übrigen Wald, obwohl das Blätterdach nicht dichter war. Die Temperatur war sehr angenehm – schon sommerwarm, aber nicht so unerträglich heiß wie im elterlichen Garten. Simon fühlte sich sofort erfrischt, regeneriert. Genau in der Mitte der `Lichtung´ entdeckte er einen Teich, an dessen Ufer Elvis stand, sich zu ihm umsah und wedelte. Simon sah sich in Ruhe um. Er fand es schön hier, das gedämpfte Licht verwandelte die umstehende Vegetation in eine Zauberlandschaft. Die Farben waren wunderschön, herrliche Grün- und Blautöne ringsum, die eine ganz besondere Atmosphäre schufen. Dies alles gipfelte im leuchtenden, changierenden Türkis des perfekt runden Teichs.
Simon ging wie hypnotisiert zum Ufer, zu Elvis. Der Hund sprang an ihm hoch, fiepte aufgeregt, ging dann ins Wasser. Er schwamm durch den See, drehte seine Runden. Simon sah ihm lächelnd zu und überlegte gerade, seine Sachen auszuziehen und auch eine Runde zu schwimmen, als Elvis unterging. Nicht abrupt, als würde er nach unten gezogen, sondern langsam, allmählich. Dabei wurde der Hund keineswegs nervös, nein, er ließ ganz gelassen zu, daß sein Kopf unter Wasser tauchte, bis auch die schwarze Nase unter der Wasseroberfläche war.
Simon geriet in Panik. Er riss sich die Klamotten vom Leib, hechtete ins Wasser. Und bekam prompt einen Kälteschock. Das Wasser war nach der Hitze draußen eiskalt, aber Simon gewöhnte sich bald daran. Er sah sich hektisch um, suchte Elvis, konnte ihn jedoch nicht ausmachen.
Eine gewisse Ruhe kam über ihn. Er schwamm ganz gemächlich durch den See, bis er eine sanfte Berührung am Fuß spürte. Auch das regte ihn nicht auf, er glitt gleichsam in diese Hände, die ihn empfingen. Anders konnte man es nicht audrücken, da war keine Gewalt, kein Zupacken. Simon fühlte sich völlig sicher und geborgen. Sein Gesicht glitt ganz langsam unter Wasser, genau wie bei Elvis zuvor. Jetzt war auch die Nase unten. Er sah sich um, sah Lichtreflexe in allen Farben, es war beinahe schon hypnotisierend. Dann bemerkte er, daß er atmete. Ein wenig langamer und mühsamer, als wenn er Luft inhalierte, aber da war kein Würgen, keine Atemnot. Simon sah nach unten, wollte sehen, wohin er gebracht wurde.
Und er sah – eine fremde Landschaft, blaue Hügel, Blumen, die er nie zuvor gesehen hatte. Es war unbeschreiblich fremdartig und - ja, schön.
Tag der Veröffentlichung: 18.01.2012
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