Petitfours Geheimnis
Es ist Sommer und auf dem Rummelplatz liegt der Sonntag träge unter süßem Kandisduft, der ringsherum aufsteigt und um die Buden weht, um Fahrgeschäft und Losglück, um Spiel und Zauber. Und der zu Zuckerguss und Lebkuchen lockt, die sich türmen und Herz und Gaumen verführen. Musik klingt und pfeift, Drehorgeln rumpeln und stampfen, Glöckchen klimpern hell. Durch das kleine und große Trara rieseln fröhliche Stimmen. Gelächter und Worte fliegen über die Besucher weg ohne ein bestimmtes Ziel und ohne Unterlass. „Papa, darf ich Zuckerwatte haben?“, ruft ein kleines Mädchen. Inmitten des bunten Glücks glänzen ihre Augen, ihre Arme deuten in alle Himmelsrichtungen und teilen die süße Luft in wohlschmeckende Portionen. Ihr Näschen schnuppert. „Darf ich? Es kribbelt so schön im Mund! Oder einen Apfel am Stil?“ Die Antwort wartet sie gar nicht erst ab, sie zieht den Vater sofort von Stand zu Stand. Ungeduldig flattert ihr rosa Kleid ihnen nach. „Lass uns Karussell fahren! Riesenrad? Erst Karussell, dann Riesenrad, ja? Darf ich Ringe werfen? Pony reiten? Sie haben gelbe Schleifen in der Mähne.“ Sie wirft den Kopf nach vorne und schüttelt ihre Locken. „Ich auch!“, stellt sie fest. Dann prustet sie laut los vor Lachen.
An ihrer Seite der stille Mann. Er hält das Mädchen bei der Hand und folgt ihren Herzenswünschen. Sie scheint den Tag zu feiern, denkt er, sie schaut zu, wie die Welt sich dreht, wie sie musiziert und in Farben erblüht. Ich liebe meine Tochter. Doch wie mag es sich wohl anfühlen, wenn die Welt sich dreht? Und welche Farbe hat der Sommer? Er hat es vergessen, es ist verloren gegangen unter dem grauen Hut des Vielen, Großen und unerlässlich Wichtigen, unter dem steifen Mantel der strengen Erwachsenenpflicht. Ihm ist heute, als stießen die Buden brutal und stählern aus der Erde. Mit klaffenden Mündern, aus denen gierige Verkäufer wie spitze Zähne hervorragten, bereit sich bei seinem Kauf der klebrigen Masse in ihm zu verbeißen. In ihm, der hier stumpf und willig steht und glatt eins wird mit der Menschenreihe. Pfahl um Pfahl starren sie auf ihre Uhren an traurig hängenden Armen. Riesige Uhren, die mit noch größeren Zeigern den Verlust der Zeit anzeigen. Und endlos sinnlos drehen sich die leblosen Plastikpferde, Fahrt um Fahrt, mit leerem Blick und hohlem Grinsen um den schwarz gestrichenen Mund. Nichts unterscheidet ihn noch von ihnen.
„Papa, schau da vorne das rote Zelt mit der dicken Frau! Ihr Kleid ist voller Blumen und auf ihrem Kopf sitzt eine Katze. Da will ich hin!“ Der stille Mann schaut zu dem Zelt hinüber. „Lass uns hingehen!“ Die Kleine hüpft auf und ab, bis der Vater bei Madame Millefleurs endlich zwei Karten löst. Sogleich springt der Kater von dem Haupt der Dame herab und schlüpft durch einen Vorhang in das Zelt. „Petitfour!“, ruft Madame ihm nach, doch schon folgen Tochter und Vater dem Kater.
Drinnen ist der Rummel verschwunden, verstummt sind die Musik, die Stimmen und auch die Rufe ohne Ziel. Verbrannt riechen Zuckerguss und Lebkuchenherz. Ein stummes Nichts verschluckt alles Lachen und stiehlt die Farben aus der Welt. Nach und nach wird eine gepflasterte Straße im fahlen Licht sichtbar. An ihrem Wegesrand wachsen auf schmalem Fundament dunkle Häuserkästen unendlich in die Höhe, immer breiter werden ihre steinernen Wände. Sie biegen sich bedrohlich nach hinten als fielen sie um. Schwarze Fenster lugen finster nach unten wie kleine, durchdringende Augen. Zwischen den Steingiganten sprießen krumme Hexenhäuser. Über ihren zwei niedrigen Stockwerken ducken sich die Dächer. Extra für sie hat sich die Perspektive aufgelöst. In der Mitte der Straße verlaufen mächtige Schienen, schnurgerade, bis sich die Stahlbänder am Horizont zu einem Punkt vereinen. Vor dem stillen Mann und dem Mädchen wartet eine verrostete Eisenkarre, bereit für die Reise durch die Stadt. Die beiden nehmen darin Platz.
„Dieser Ort ist gruselig.“ Die Kleine ergreift die Hand des Vaters, der schweigt. Er sieht sich unbewegt um. „Keine Bange, kleines Mädchen.“ Als ob in der Karre noch genügend Platz für ihn wäre, drückt Madame Millefleurs ihren dicken Hintern auf die Sitzbank, auf ihrem Kopf hockt Petitfour, der Kater mit den flaschengrünen Augen. „Keine Bange“, wiederholt sie, „wir sind ja da. Dein Vater kann mich und Petitfour hier drin übrigens nicht sehen und auch nicht hören. Weißt du, warum er sich nicht fürchtet?“ – „Nein.“ – „Dein Vater fürchtet sich nicht, weil er nichts an unserer Stadt ungewöhnlich findet. Seine Augen und sein Herz sind diese Welt gewohnt, denn wir fahren durch die innere Stadt der Erwachsenen.“ – „Was ist die innere Stadt der Erwachsenen?“ – „Warte, bis wir Station machen. Dann wirst du die Stadt und ihre Bewohner erleben.“ Madame Millefleurs rückt mit beiden Händen ihren großen Busen zurecht. „Sie brauchen dich“, fügt sie ihr zunickend hinzu und auch der Kater nickt bedächtig. Die Kleine blinzelt, denn die dicke Dame spuckt ein wenig beim Sprechen. Derweil hängt der Blick des Vaters an einem besonders kuriosen Gebäude. Da hebt Madame Millefleurs die Hand und das rostige Gefährt hält quietschend an.
„Zeit für dich, mein Kind!“, flötet sie und schürzt die Lippen. Mit aufgeblasenen, roten Backen pustet sie kräftig gegen die steinerne Wand des Hauses vor ihnen. Einmal, zweimal, dreimal. Die graue Fläche verschwindet, dahinter wird ein Wohnzimmer sichtbar, irgendwo brennt eine Kerze. Der Vater schaut interessiert hinein, unbemerkt bleibt jedoch Madames Zauber. Drinnen flackern Schatten über dutzende von Uhren, ein junger Mann eilt von einer zur anderen. Hin und her, von Wand zu Wand. An jeder Uhr stellt er die Zeit zurück. Wieder und wieder, im Minutentakt, ohne Atem. Ein anderer sitzt am Tisch, er schreibt, dann telefoniert er, dann schaufelt er Essen in seinen Schlund. Schreibt und telefoniert und schaufelt. Rastlos. Vor einem alten Spiegel rückt ein weiterer Mann mit fahrigen Händen Kragen und Krawatte zurecht und schielt gleichzeitig unentwegt auf den Türrahmen in seinem Rücken. Dort huschen so schnell, dass sie kaum lesbar sind, lange Zahlenkolonnen über den Sturz, Aktienwerte und Kontonummern. Wie aufgezogen bewegen sich die Lippen des Mannes dazu. Zahl um Zahl wird analysiert, sondiert, addiert und summiert. Der Wert gekauft, verkauft. Gewinn. Verlust. Ganz hinten im Zimmer steht ein Bett. Darin schläft ein alter Mann mit weit aufgerissenen Augen. Neben ihm am Boden liegt eine zerkratzte Fotografie, eine traurige Frau blickt hinauf zu dem Kranken, der Besucherstuhl ist leer. Einsam.
„Das ist ja immer derselbe Mann!“ – „Ja, mein Kind. Das ist ein Bewohner der inneren Stadt der Erwachsenen. Das ist sein Leben. Menschlichkeit und Fantasie, Lebendigkeit und Freude, Farbe und Musik, Zeit und Ruhe“, erklärt Madame Millefleurs, „Vieles davon ist den Bewohnern verloren gegangen.“ Und wieder nickt Petitfour und lässt dabei die Schnurrhaare hängen. Die Kleine macht große Augen und der stille Mann schaut reglos weiter in das Zimmer. „Liebes Kind, nun brauchen sie dich. Spitze also deine Lippen, forme einen Trichter mit den Händen und puste kräftig, ganz so wie ich es eben getan habe.“
Die Kleine richtet sich von ihrem Sitz auf, legt die Hände an den Mund. Sie holt tief Luft und pustet einmal, zweimal. Und ein drittes Mal. Sofort strömen zwischen ihren Fingern unzählige glänzende Seifenblasen hervor, die sanft und leise ins Innere des Hauses schweben. Feucht und glitzernd legen sie sich über die tickenden Uhren, den alten Spiegel, über die Tür und das Bett. Und über den Mann, der plötzlich ganz allein im Raum ist. „Das ist toll!“, ruft sie. Auch Madame Millefleurs springt nun vor Begeisterung von ihrem Sitz auf. „Jetzt gestalte du das Bild, Kind!“ Und weiter dröhnt sie: „Male die innere Stadt der Erwachsenen nach deinem Herzen! Nach deinen Träumen! Nutze deine Fantasie!“ Bei diesen großen Worten wankt die Karre gefährlich. Selbst Petitfour fährt erschrocken die Krallen aus und sein Fell sträubt sich über dem Katzenbuckel. Voller Übermut kneift das Mädchen die Augen zusammen. Sie denkt kurz nach, dann strahlt sie. Sie pustet. Diesmal fliegt haufenweise farbenprächtiger Glitter durch ihre Hände, der sich fein glitzernd mit den Seifenblasen vermischt.
Die Szene wandelt sich, warmes Licht erhellt jetzt den Raum. An den Wänden tanzen rosa Punkte auf blauem Grund und vertreiben munter das verhängnisvolle Einerlei. Eine knorrige Standuhr will von der Zeit nichts wissen und hält einfach selbst das tickende Pendel an. Ein Telefon gibt es nicht, auch keine Kragen und Krawatten und Taschenrechner. Geblieben ist der Mann, nun ein alter Großvater. Der Kleinen Fantasie kleidet ihn in zerrissene Jeans und in eine schwarze Lederjacke. Dazu bekommt er eine dunkle Sonnenbrille in das faltige und gütige Gesicht gesetzt. Dann tischt sie ihm dampfende gelbe und grüne Kuchen auf. Kekse und Kakao warten auf den Rest der Familie. Sie lässt Kinder durch das Zimmer tollen, Ball spielen und die Flöte laut und falsch pfeifen. Dabei übertrumpfen sie einander krähend mit ihren wilden Geschichten. Nur ein kleiner Junge ist in ein Märchenbuch versunken, das er auf die Knie seines Vaters gelegt hatte und der ihm daraus leise vorliest. In eine ruhige Ecke träumt sich die Kleine ein altes Grammophon, aus dem Rockmusik ertönt. Auch eine alte Fotografie steht dort. Davor hat sie den Großvater sorgsam frische Blumen stellen lassen, selbstverständlich selbst gepflückt. Aus der Fotografie folgen die Augen einer jungen Frau im altmodischen Kleid freundlich dem gewandelten Geschehen.
„Madame, ist es gut geworden? Hab’ ich es gut gemacht?“ – „Ja, mein Kind. Es ist ganz wunderbar geworden.“ Da setzt sich die rostige Eisenkarre mit einem Ruck wieder in Bewegung. Immer kleiner werden das leuchtende Haus und auch die steinernen Riesen, die jetzt ganz leicht nach frischer Seife duften.
Am Ende der Fahrt steht das Gefährt wieder dort, wo die graue Straße der inneren Stadt der Erwachsenen beginnt. Madame Millefleurs steigt mit einem „Eine schöne Fahrt diesmal, nicht wahr Petitfour?“ aus. – „Ja, Madame“, antwortet der Kater. Dann schreitet die dicke Dame durch den schweren Vorhang hinaus in die Welt. Dabei erhascht die Kleine einen Blick auf den Rummel. Einzelne Noten tröpfeln in die innere Stadt, Stimmen, Rufe und der Duft von Zuckerwatte und Lebkuchen. Das Mädchen greift nach der Hand des Vaters. „Keine Bange“, tröstet sie ihn, „du hast ja mich.“ Das ist mein Glück, denkt sich der stille Mann. Er streicht ihr sanft übers Haar und fegt dann lächelnd einen Rest von dem bunten Glitter vom feuchten Mantel. Gemeinsam treten sie ins Freie. Vor dem Zelt sieht er wieder die dicke Frau in dem Kleid voller Blumen, auf ihrem Kopf sitzt noch immer die seltsame schwarze Katze.
Komm heran, Mensch deiner Zeit! Leg‘ die Hand ans Ohr und höre meinen Worten nach. Petitfour bin ich und stolz ist mein Gang, rabenschwarz mein Fell, flaschengrün die schlauen Augenschlitze. Eine Geste der Pfote, sieh dich um! Durch den schmalen Gang links, dann rechts, gleich hinter dem Karussell, eng zwischen die Buden gedrückt. Dort findest du das Geheimnis von Petitfour und Madame Millefleurs. Hast du es entdeckt? Dann lüfte den grauen Hut und schäle dich aus dem starren Mantel. Wirf das drahtige Korsett des Lebens fort und befreie dich von dumpfem Geist. Befreie dein Herz und den von Eile zugeschnürten Leib und fühle den seifigen Kuss der Unschuld auf deiner Wange. Auf deiner Fahrt durch die innere Stadt der Erwachsenen, auf deiner Reise über den unsichtbaren Grat zwischen der Kindheit Leben und der Kindheit Tod. Finde es und halte es fest, das schwindende Reich der Fantasie!
Tag der Veröffentlichung: 17.07.2011
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Widmung:
Siegergeschichte des Finales des 1. Kurzgeschichten-Turniers, das Thema: "Wenn wir ganz und gar aufgehört haben, Kinder zu sein, dann sind wir schon tot." (Michael Ende)