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Himmel und Hose



Dover, halb fünf Uhr in der Früh. Grau tastet sich der Julimorgen aus der dunklen Nordsee die Klippen herauf und kühle Luft kriecht über den sandigen Boden. Feucht wischt sie letzten Schlaf aus meinem Gesicht. Meine Finger streifen über die Streben des Eindeckers, über die geliehene Blériot, Louis‘ hölzerne Flugpionierin, tapfere Jungfer der Lüfte und erste tollkühne Kiste über dem Kanal. Stillst gleich auch meinen Drang nach Abenteuer, trägst auch meinen Mut, steuerst meine Ungeduld, bist Facette meiner Leidenschaft. Flieg Vogel, und erlöse mich von der Suche nach Freiheit. Zwei Tage sind schon vertan, verregnete, untätige Zeit. Heute ist mir das Wetter wohlgesinnt und ich zurre das Lederband der Fliegerbrille fest, rücke das Tuch über meinem Haar zurecht und rüste mich in meinem Sitz. Ich starte die Maschinen, den schon gewohnten Ablauf. Es dröhnt in meinen Ohren, und Umdrehung für Umdrehung schluckt der Motor den stillen, noch jungen Tag. Ich hebe den Arm zum Zeichen, dann rollt mein Vogel. Schneller und schneller wird die Fahrt. Ich hebe ab, mein Leben ist ein Rausch.

Nicht mehr enden soll dieses Gefühl. „Ich fliege, Vater! Ich fliege, sieh, wie ich schwebe!“ Ich hänge wieder wie einst an deinen ausgestreckten Armen, meine Beine wirbeln wild durch die Luft. Gemeinsam drehen wir uns schwindlig, bis wir lachend auf den weichen Rasen fallen. Im Heute ziehe ich Kreis um Kreis, schraube mich mit ferner Erinnerung den Wolken entgegen und in hundert Metern Höhe gehört die Welt mir. Die Welt, erobert von Charlotte Gardner, von Charlotte Näherin, und Modehausbesitzerin. Der Himmel, die Freiheit, erobert von Charlotte Pilotin.

Erinnerst du dich an das alte Kirchenlied, Vater? Wie du es uns leise gesungen hast, bevor wir einschliefen? „All creatures great and small, all things wise and wonderful, the Lord God made them all. Each little flower that opens, each little bird that sings, God made their glowing colors and made their tiny wings.“ Von Gottes Schöpfung sei ein jedes Wesen, haben wir von dir gehört. Dem Bruder aber durfte ich es nicht gleichtun. „Mädchen haben in der Stadt nichts verloren“, beharrtest du. Ich beharrte auch, bis du mich enttäuscht und grollend vor Angst fortschicktest. Vater, weißt du um meinen Weg, um meine Ideen, meine Träume? Inmitten der kahlen und schroffen Hügel Nordenglands, liest dir Mutter meine Briefe vor? Zwischen zwei Kälbergeburten, denkst du an Charlotte?

„Charlie!“ Von unten dringt Hollys Kreischen durch das Dröhnen. „Charlie, du schaffst es rüber!“ Ihre Stimme überschlägt sich. Ich erhasche noch einen Blick auf meine Freundin. Auf Holly March, auf den kleinen, hüpfenden Punkt unter bizarrem Strohhut und extravaganter Pelzstola. Unbändiges Temperament auf der Bühne und im Leben, launische Diva in meinen für sie entworfenen lilafarbenen Rockhosen, meiner Revolution gegen Schnürleib und Korsett. „Die Welt droht aus den Angeln zu gehen über die Hosentracht der Frau“, schrieben sie. Wen kümmert‘s? Mich nicht. Holly nicht.

Holly, La Belle Helène aus dem West End, der Erde schönste Frau und ich. Kaum dass ich die Großstadt erreichte, schlossen wir Freundschaft. Wir verlangten nach der Freiheit, du in der Musik, ich in Kostümen, Farben und Stoffen. Unsere Leben? Ganz und gar Offenbachs erster Akt. Umschwärmt von Freunden, liebesmüde unserer Könige und hoffend auf die mögliche stürmische Befreiung eines herrlichen Paris. Entführen ließen wir uns nicht, denn mit der Könige Kredit kalkulierte es sich besser als mit Lust und Leidenschaft. Wir eröffneten unser Modehaus, stellten unser Selbst auf eigene Füße. Halb London trägt in diesen Tagen unsere Modelle, sitzt in unserem Room de Luxe auf Hillhouse Stühlen, flaniert in unserer Probierstube für wagemutige Mode und lobt den Inbegriff der Eleganz.

Mich friert in der feuchten Morgenluft über dem Kanal, wie Gischt netzt sie meine Wangen. Dover Castle weist mir den Weg, zeigt mir die Küste Frankreichs, zeigt mir Calais. Mein Ziel und Endstation dieses einen Traumes. Dann hüllt mich dichter Nebel ein und unter mir öffnet die Nordsee ihre gierigen Arme nach meinem riskanten Wagnis. Ich kann sie verstehen.

Ich fliege! James, wo bist du in diesem Augenblick? Du warst mein König und Paris, mein Wegbereiter und Begleiter, nahmst mich bei dir auf und führtest mich ein in Londons erste Gesellschaft. Dafür liebte ich dich, du hast mir meine Wünsche gelassen und gabst meinen Ideen Raum. Mit dir wurde ich Charlotte Näherin. Wir wetteten bei Pferderennen, fuhren Autorennen, drehten uns unermüdlich mit der Welt in atemberaubender Geschwindigkeit. Und heimlich webte ich weiter an meinen Träumen. Bis mich mein Leben eines Tages überholte und ich dein Auto steuernd deine Träume von Charlotte Ehegattin überfuhr, zu viel Frau war ich dir. Dann flog der Franzose über den Kanal und ich fiel ein in das große Hurra auf die Technik. Ich wollte fliegen, den Himmel stürmen. Bereust du es, mir den Helden vorgestellt zu haben? Er lud mich ein, ich blieb für einen Sommer auf dem Kontinent. Zurück kam ich mit neuen Traumgespinsten und der Kunst des Fliegens. Du bliebst am Boden, denn noch mehr Fremde war ich dir geworden. Darf ich dir vorsingen, James? „Each little flower that opens, each little bird that sings, God made their glowing colors and made their tiny wings.“

Mein Blick haftet fest auf dem Kompass, im dichten Nebel habe ich die Richtung verloren. Der heiße Motor kämpft sich voran. Doch setzt Regen ein und kühlt. Den Motor? Mich? Ich gehe auf die halbe Höhe unter den Nebel. Calais! Ich folge den Fischerbooten, die ihre Netze einholen, und mit den ersten Sonnenstrahlen setze ich den Vogel auf. Etwas an der Verstrebung ist gebrochen, doch mir kann es nichts mehr anhaben. Von weitem sehe ich den Franzosen herbeieilen, der kleine Mann schwenkt die Arme. Hinter seinem Flügelschlag? „Ich wollte dich sicher an deinem Ziel ankommen sehen“, sagst du später. Dort aber, wo ein Traum endet, beginnt ein weiterer. Wirst du mich von nun an begleiten, Vater?

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 17.07.2011

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Siegergeschichte der zweiten Runde des Kurzgeschichten-Turniers, das Thema: "Im Flugzeug"

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