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Nicht zum ersten Mal schlüpfe ich in ihr Zimmer, und wie bei allen meinen Besuchen zuvor, fliehen die Wände vor mir, sobald ich eintrete. Kindertapeten, große gelbe Flächen, treiben auseinander. Ein darin eingefangenes Lachen verhallt mit ihnen. Das kleine Fenster, der Baum davor und die Tür sind jetzt nunmehr rasch hingeworfene Striche aus schwarzer Kohle. Räume können sich im Traum ausdehnen, und was des Tags den Menschen Gesetz ist oder Physik oder Zeit, das löse ich, das löst ihr nächtlicher Geist ins Flüchtige auf. Dann besitze ich auch jenes, was ihnen Gedanke ist, Angst und Bange.

Im Zimmer schwebt seltsam fußlos ein Bett, das kleine Mädchen darin schläft. Ihre Brust ist mein Sitz, Nachtalbens Wache. „Du zerdrückst mich. Geh’ runter von mir!“, blafft es mich plötzlich an. Das überrascht mich, denn sonst beginne ich das Zwiegespräch mit meinen Menschen. Ich entlocke ihnen Furcht und nächtlichen Schrecken mit Geschichten, die die ihrigen sind. „Warum starrst du mich so an?“, faucht sie jetzt. „Ich mag das nicht.“ – „Ich weiß.“ – „Und ich mag dich nicht. Hau ab!“ Kind, ich kann nicht. „Ich kann nicht so einfach gehen, denn bin ich doch auch ein wenig du. Das habe ich dir schon versucht zu erklären.“ – „Ich versteh’ es aber nicht. Du bist klein, hässlich und hast krumme Beine. Du kannst nicht ich sein.“ Und dann ist’s wie immer, sie sagt leise: „Mir graut aber so, wenn du da bist. Erzähl bitte keine Geschichte mehr.“ Kind, ich muss. Ich bin du.

„Deine Schwester könnte einmal nicht mehr da sein“, beginne ich mit einem ihrer ärgsten nächtlichen Gedanken, mit der Geschichte, die ich ihr in diesem Jahr bereits oft erzählt habe. „Dann wird sie dich nicht mehr beschützen können. Du wirst allein zurückbleiben, du wirst sehr traurig sein und dich einsam fühlen.“ Sie weint bitterlich, weil das schmerzt. Dann schnieft sie plötzlich kräftig und strafft die Schultern. Und als ob ihr gerade etwas eingefallen wäre, antwortet sie mit fester Stimme: „Ich weiß, du willst mir Angst machen. Schau da rüber, da drüben schläft meine große Schwester. Sie ist sehr stark und sie weiß alles.“ Die Kleine überlegt. „Ich werde mir jeden Abend wünschen, dass sie und ich jeden Tag zusammen spielen werden und Eis essen, jeden Sommer Blumen pflücken und immer, wenn wir wollen, die Katze ärgern. Ich weiß nämlich, dass, wenn man sich etwas sehr wünscht und es laut aufsagt, es in Erfüllung geht. Das ist so!“ Dann kneift sie die Augen zusammen und spricht feierlich in die Dunkelheit: „Ich wünsche mir, dass du verschwindest und nicht wiederkommst.“ Ach Kind, das mag mich nur heute vertreiben. Ich seufze, mache mich leicht, gebe ihren Atem und das, was ihr Angst und Bange ist, frei. Warmes Licht dringt unter der Tür hindurch in das Zimmer. Raum, Zeit, die gelben Wände und das Kinderlachen finden wieder ihren Platz. Flüchtiger Kohlestrich wird feste Kontur und ihr Traum zerfällt. Ich ziehe weiter.

Verschwindend klein steht das eiserne Bett ganz hinten im dunklen Zimmer. Für die weitere Nacht ist seine Brust mein Sitz. Auch in seinen Traum dringe ich, bin sein nächtlicher Geist. „Du hast Schuld.“ Ich eröffne unsere Begegnung mit seinem quälendsten Gedanken. Dann kehre ich die Gesetze um und ziehe die schwarzen Wände bedrohlich weit in seinen Schlaf herab. Dann lasse ich sie wie Glas zerspringen. Lautlos, für ihn ein Peitschenknall. Er fährt auf, er schreit, er glaubt, an seinen Ketten zu reißen. „Du hast Schuld am Tod deines besten Freundes.“ Während ich erzähle, reihe ich Splitter an Splitter, Wunde an Wunde, bis uns unendlich viele Narben umgeben, die wie kalte, nackte Würmer durch den Raum kriechen. „Ein kurzer Streit“, fahre ich fort, „auflodernder Hass für einen Abend.“ – „Ich habe ihm das Schlimmste gewünscht. Und das Schlimmste ist eingetroffen. Ein Auto hat ihn zwei Wochen später überrollt. Mein Wunsch hat ihn getötet.“ Mann, du hast vergessen, dass du aufgehört hast, wie ein Kind zu denken. Solange aber halte ich deine Pein fest im Griff. Er atmet noch schwer unter meiner Last, gibt sich noch ganz meiner Geschichte, seinen Gedanken hin. Bis ihm gewahr wird, was ich bin, werde ich noch ein paar Mal wiederkommen müssen. Für heute aber mag es genug sein. So erhebe ich mich von meinem Sitz, richte sorgfältig die Wände auf und glätte alle Narben. Durch das Fenster müsste bald das erste Morgenlicht seinem Zimmer die Farben zurückgeben.

Eine weitere Wache muss ich noch halten diese Nacht. Ihr Fenster steht offen, und ich dränge in das stille, weiße Zimmer. Alles darin scheint rein und friedlich. Alt und blass liegt sie unter dem Federbett und hat die Augen geschlossen. Wie gewohnt setze ich mich auf ihre Brust. Raum und Zeit brauche ich nicht aufzulösen, oder die Dinge ins Flüchtige verwandeln. Sie wird es auch ohne mein Zutun in dieser Stunde noch erfahren. „Es ist meine letzte Wache bei dir.“ Sie richtet ihre Augen auf mich. „Da bist du ja! Ich hatte mich schon gefragt, wann du kommst.“ Dann stellt sie verwundert fest: „Bist ja gar nicht schwer.“ – „Hast du mich erwartet?“, frage ich. „Mein Lieber“, ist ihre Antwort, „mein Leben lang kamst du in meinen dunkelsten Stunden, warst meine Furcht, meine Angst, warst meine Schuld und meine Pein, warst mein Gegenüber. Oft habe ich unsere Gespräche am nächsten Morgen aufgeschrieben. Irgendwann waren sie die ersten Schritte meiner Gesundung, ich begann deine Besuche zu verstehen.“ – „Du hast Angst vor dem Tod.“ – „Ein wenig“, gibt sie gelassen zu. Dann schaut sie mich an. „Du sitzt hier voller Wehmut.“ Woher weiß sie das? „Ich weiß es, mein Kleiner, wir waren ein Leben lang eins.“ Dann plötzlich wird alles Weiße schmerzlich grell, unter mir steht ihr Atem still und es ist kühl ohne sie. Ich verlasse meinen Sitz.

(Gedanken zu Johann Heinrich Füssli, Nachtmahr, 1781)

Impressum

Texte: (c) Miriam Kaiser
Tag der Veröffentlichung: 10.06.2011

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Widmung:
Beitrag zum Kurzgeschichten-Wettbewerb im Juni

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