Beinah feierlich wirkt das Halbdunkel in dem engen Krankenzimmer. Alle sind sie gekommen und ihre Blicke tasten vorsichtig über meinen Körper, über den alten Mann in weißen Laken.
Keimfrei. Sterilität, eingetauscht gegen mein Leben. Doch warum seid ihr so besorgt? Es ist ja alles friedlich. Ich bin nur müde und will schlafen.
Irgendwo über mir schweben ihre traurigen Gesichter. „Vater!“ Das war Marga. „Karl!“, mein Bruder. Über meine Wange streift eine Hand, über mein Ohr eine feine Haarlocke. „Mein Lieber.“ Das war sie. Ihre Stimme, sanft und dunkel. „Lieber Mann ...“ Dann ein Kuss.
Dein Kuss, so lebendig. Du so nah bei mir, so vertraut. Du wirst mir fehlen. Gute Nacht, meine Liebe.
Klare Stille. Ich tauche in sie ein und die Welt wandelt sich. Eine Schneewelt ohne Schnee. Nur Facetten von Weiß. Nur Konturen, die sich erst langsam lösen aus einem blassen Nebel, der weder feucht ist, noch kühl. Ein Junge wartet.
Hallo, mein Junge.
„Kommssu jetz’ mit, oder nich’?“ Ungeduldig quetschen sich die Worte an einem saftlosen Kaugummi vorbei, dazu zieht er geräuschvoll den Rotz die Nase hoch. Die kurzen Hosen starren schwarz vor Dreck und leuchtend rot stehen seine struppigen Haare vom Kopf ab. Eine feurige Explosion vor dem Weiß der Welt. „Was’n jetz’?“
Wir brechen auf und treten Hand in Hand ein in das Weiß. Bald formt sich ein Feldweg unter unseren Füßen; bald eine knorrige Eiche am Wegesrand, ein schmaler Flusslauf dahinter. An einer Viehweide halten wir vor einem hölzernen Gatter. Die Bretter sind mattweiß lackiert, Splitter glänzen im schwachen Licht. „Das ist mein Zaun. Den habe ich zusammen mit Großvater repariert. Hält ewig. Und die Berta bleibt jetzt, wo sie ist.“
Beim Großvater war Berta meine Lieblingskuh.
Wir gehen weiter, bis in der Ferne ein Bauerndorf sichtbar wird. Der Junge weist in den fahlen Dunst. „Dort hinten wohne ich jeden Sommer, wenn ich beim Großvater bin.“
Die schönsten Sommer meines Lebens.
„Da drüben wohnt Thea. Sie wohnt immer im Dorf. Sie ist meine beste Freundin. Sie ist toll, ich mag sie.“
Sie ist toll. Ich liebe sie.
Wir kommen zu einer Holzbrücke und bleiben stehen. „Da ist sie ja!“, schreit er freudig. Dann lässt er meine Hand los und rennt hinab zu dem Mädchen, das unten am seichten Flussufer hockt. „Karl! Da bist du ja endlich wieder. Lass uns weiterspielen."
Hallo, Thea. Meine Liebe …
Thea lacht zu mir herauf, die flachsblonden Locken fallen ihr dabei in die Stirn und das Blau ihres Kleides schiebt die Welt in Weiß beiseite.
Die beiden stecken die Köpfe zusammen und lassen ein kleines Boot zu Wasser. Sie necken sich und übertrumpfen sich gegenseitig mit Ideen und Plänen. Zwei strahlende Farbtupfer.
So waren unsere Sommer, Thea. So vertraut, so nah. Du wirst mir fehlen.
„Duhuu!“ Der Junge ruft mich. „Wir bringen dich jetzt wieder zurück."
Gut. Es ist noch nicht an der Zeit.
„Mein Lieber." Im feierlichen Halbdunkel empfängt mich Thea. Ich spüre ihre Hand auf meiner Wange und lausche ihrer Stimme, sanft und dunkel. Ich schmecke ihren Kuss. Die Farben meines Lebens.
Texte: Text & Bild Miriam Kaiser
Tag der Veröffentlichung: 05.12.2010
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