Lokale, sporadische
Lichterscheinungen
am Himmel und
an der Erdoberfläche
nennt der Volksmund auch
Sternschnuppen.
Frau Stern ist nicht mehr ganz so jung
Verzeihen Sie mir diesen etwas groben Beginn. Immerhin handelt diese Geschichte von einer Dame. Doch ist es so, dass Frau Stern die Fünfzig bereits passiert hat. Und so jung oder alt ist Frau Stern eben.
Jedenfalls kann ich Frau Sterns Jahre guten Gewissens mit "durchschnittlich verlaufend" beschreiben. Fürs Alter ist vorgesorgt und Frau Stern derart mit Gesundheit begünstigt, dass ein Arzt ihr gern attestieren würde, dass sie selbiges auch erreichen wird.
Auch das Bankhaus sieht Frau Stern gern. Denn seit mehr als 35 Jahren bringt sie an jedem Ersten einen Teil ihres Geldes zur Kassa. Punkt 17 Uhr 40 greift dann ein junger Bankangestellter Frau Stern sanft unter den gebeugten Arm mit der eingehängten Handtasche und geleitet sie persönlich durch den Schalterraum.
"Guten Abend, Frau Stern, wie ist das Befinden?"
"Danke, Herr Farblos, ich kann nicht klagen."
"Schön, Frau Stern, schön. Darf ich bitten."
Es würde etwas fehlen an jedem Ersten in dem Schaltervorraum, fehlte dieser kleine Wortwechsel. Als hätte ein grauer Herr ein Stück vertraute Zeit gestohlen.
Frau Stern liebt's klassisch
Und ich meine klassisch im ganz klassischen Sinne. Denn Frau Sterns Leben ist mustergültig.
Daher ist auch Frau Sterns Kostüm mustergültig. Aus englischem Tweed, genau genommen. Robust ist Frau Sterns Kostüm und etwas kratzig auf der Haut. Doch wärmt es zu jeder Zeit und schützt vor jeglicher Witterung. Ihr mittlerweile ergrautes Haar kämmt Frau Stern jeden Morgen straff zurück, zunächst über die dunkle Hornbrille, dann über die kluge Stirn. Eine unauffällige Nadel hält den wohlrunden Dutt am Hinterkopf.
Wann sich Frau Stern dem Klassischen zuwandte, vermögen Sie und ich nicht zu sagen. Es muss in ihren 30ern gewesen sein. Sie selbst kann sich nicht erinnern.
"Frau Stern, wie war es denn früher, Ihr Leben?"
"Wissen Sie, mein Lieber, es verhält sich so: Heute war schon immer sogleich mein Gestern. Deshalb erinnere ich mich nicht."
"So ist es also, Frau Stern, so ist es also."
Würde dem Spiegelbild von Frau Stern etwas fehlen, fehlte ihm der Blick auf das mustergültige Kostüm? Wäre es nicht so, als hätte ein grauer Herr ein Stück vertraute Zeit gestohlen?
Frau Stern ist routiniert
Sie werden es schon unbewusst Ihrem Bild von Frau Stern zugefügt haben. Frau Stern ist kinderlos und lebt alleine in einem kleinen Haus in einer ruhigen Straße am Rande der Stadt. Jedes Jahr erstrahlt ein leuchtender Weihnachtsbaum in ihrem Vorgarten. Jeden Monat bringt ein Bote einen Brief aus einem fernen Land. Und jeden Morgen nimmt sie den Bus in die Stadt.
"Wo soll’s denn hingehen, Frau Stern?"
"Ach, in die Stadt, mein Kleiner."
"Viel Vergnügen, Frau Stern, viel Vergnügen!"
Es würde den Alten und den Jungen in der Straße etwas fehlen, fehlte Frau Sterns Weihnachtsbaum. Als hätte ein grauer Herr ein Stück vertraute Zeit gestohlen.
Frau Stern hatte einmal Glanz
In der Stadt arbeitet Frau Stern in einem Kaufhaus. In einem Kaufhaus, wie Sie es auch aus Ihrer Stadt kennen. Sie treten durch eine wie von Geisterhand auffliegende Tür und finden sich im Parterre zwischen Herrenuhren und Damenstrümpfen wieder. Genau hier könnten Sie Frau Stern treffen.
Frau Stern arbeitete schon immer an diesem Ort, nur nicht immer in dem Kaufhaus. Einst befand sich hier das "Miederwarengeschäft Theo Lebesanft", lebhaft besucht von den Damen wie von den Herren. Dies lag nicht zuletzt an Herrn Lebesanfts glanzvollem Aushängeschild, dem Fräulein Stern. Fräulein Stern wusste, was den Damen gefiel, den Herren wusste sie immer Rat. Bis eines Tages der Herr Lebesanft schlag tot längs umfiel, geradewegs hinter die Ladenkasse.
"Waren Sie damals sehr traurig, Frau Stern?"
"Nun, der alte Herr Lebesanft, der war schon alt. Und der Junge wusste es nicht besser."
"So wird’s gewesen sein, Frau Stern, so wird’s gewesen sein."
Den Damen und den Herren war es, als fehlte ihnen etwas, fehlten doch das „Miederwarengeschäft Theo Lebesanft“ und das glänzende Fräulein Stern. Es war, als hätte ein grauer Herr ein Stück vertraute Zeit gestohlen.
Frau Stern hat einen schlechten Tag
So war das einst. Seither arbeitet Frau Stern in dem großen Kaufhaus im Parterre, hilft anderen gediegenen Herren bei der Wahl der Uhr und anderen dicken Damen bei der Wahl des kaschierenden Strumpfes. Auch weiß Frau Stern die moderne Registrierkasse zu bedienen. In die Beletage des Hauses, zu Extravaganz und Luxus, steigt Frau Stern dagegen nie hinauf.
Bis zu diesem Dienstag. Frau Stern bedient soeben die moderne Registrierkasse und berät die dicken Damen bei der Wahl des kaschierenden Strumpfes, als Kollege Herr Aalglatt die Hand von Kollegin Jungbeins Hintern nimmt und hinter Frau Stern tritt. "Der Chef will Sie sehen."
Nur für den Fall, dass Sie sich fragen. Den gediegenen Herren hilft jetzt Frau Jungbein bei der Wahl der Uhr.
"Sie haben Geld aus der Registrierkasse genommen, Frau Stern, die Pausen dauern zu lange und Ihre Höflichkeit lässt zu wünschen übrig."
"Das stimmt nicht. Was nun?"
"Nehmen Sie Urlaub, Frau Stern, gehen Sie sofort und kommen Sie nicht wieder ins Kaufhaus."
Ich frage Sie: Würde Frau Stern etwas fehlen, fehlte in ihrem Leben das große Kaufhaus? Wäre es, als hätte ihr ein grauer Herr ein Stück vertraute Zeit gestohlen?
Frau Stern gibt die Antwort und glänzt noch einmal
Am nächsten Morgen betritt Frau Stern zur ersten Öffnungsstunde das große Kaufhaus und steigt in die Beletage hinauf.
Wenig später durchschreitet eine zierliche, sorgsam und fein gekleidete Dame das Parterre. Glänzende Stoffe umgeben sie und ein weicher Handschuh schmiegt sich um den gebeugten Arm mit der eingehängten Handtasche.
Sie passiert Herrn Aalglatt und Frau Jungbein, die sich gerade hinter der modernen Registrierkasse näher kommen. Inzwischen streifen die gediegenen Herren verloren um die Vitrinen und die dicken Damen wühlen vergeblich nach den kaschierenden Strümpfen.
Frau Stern tritt entschlossen durch die wie von Geisterhand auffliegende Tür hinaus ins Freie. Sie hebt mit einer eleganten Bewegung den Arm und winkt. Sofort hält ein Taxi.
"Wo soll’s denn hingehen, meine Dame?"
"Zum Airport, bitte schön."
"Sehr wohl, meine Dame, so soll es sein."
Tag der Veröffentlichung: 14.09.2010
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Beitrag zum
Kurzgeschichten-Wettbewerb
im September 2010