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Paul

Choosie

Philipp

Fuller




04:37




Paul



Mein Herz? Fühle ich mein Herz? Ich muss die Hand auf meine Brust legen. Ja, da ist es. Mein Herz, es schlägt noch. Es hat nicht aufgegeben. Ich habe es bewacht bis in die Nacht, bis ich nicht mehr konnte, bis ich eingeschlafen war. Schlag für Schlag habe ich erspürt. Warum sollte es auch aufgeben? Und doch könnte es jede Sekunde aufhören zu schlagen. Ich weiß es, ich habe Angst, ich muss sterben.


06:15




Paul



Ich bin so müde, keine Kraft aufzustehen. Angst frisst alle Kraft. Ich muss aufstehen. Mich anziehen. Nicht diesen Anzug, den anderen. Diese Krawatte muss ich nehmen, nicht binden. Sonst wird sie nachher zu eng sein auf dem Weg. Auf dem Weg zur Arbeit wie jeden Morgen. Weiß jemand, dass ein Weg die gesamte Kraft eines Mannes benötigt? Kennt jemand meine Ängste? Bleib stumm, Paul. Das sind nicht gesellschaftsfähige Fragen. Wo ist der Koffer? Ich muss.


Choosie



Es wird Zeit, aufzustehen. Mum und Dad, ihr würdet jetzt lachen, bei aller Tragik. Eure kleine Choosie muss eine Entscheidung treffen. Choosie, so habt ihr immer zu mir gesagt. Weil ich mich nie für diese oder jene Süßigkeit entscheiden konnte. Fruchtgummi oder Lakritz? Mini Milk oder Schokolade? Ach, wenn’s doch heute auch noch so einfach wäre. Die Eltern sind nicht mehr. Ja, ich hätte es ihnen gesagt. Ja, ich hätte sie gefragt: „Was soll ich machen?“ Und vielleicht hätte ich sie auch gefragt: „Helft ihr mir?“ Ich vermisse ihre Liebe. Jetzt aber, auf! Ich muss mich beeilen, will pünktlich sein. Oh, ist mir übel! Schnell ins Bad.


Philipp



Mutter schläft noch, ich muss leise sein. Mein Gott, wie lange noch muss ich leise sein? Wie lange noch in diesem Haus, in diesem Gefängnis. Morgens, mittags, abends, nachts leise sein. „Ich habe einen leichten Schlaf“, haucht sie geschwächt. Oder: „Bring mir doch bitte!“ Sie winselt die Sätze in ihrem verdammten Leid. Mit großer Geste fleht mich ihr winziger Körper im spitzenbesetzten Federbett an. Neben sich hütet sie ihre Absolution, ihren Rollstuhl. Mutterhilflosigkeit kerkert den einzigen Sohn ein. „Sei leise!“ – „Bring mir doch!“ Ihre Worte hämmern in meinem Kopf wie Pistolenfeuer. Mutterschwäche foltert. Es muss ein Ende haben. Schluss. Ich muss weg hier. Aber wie?


06:33




Paul



Mein Weg. Ich habe Angst, mein Herz rast. Namenlose Panik, der ich nicht auf den Grund sehen kann. Ich atme schnell, jetzt flach. Mein Atem hat keinen Rhythmus. Wie geht Atmen? Ich gehe schief. Oder nicht? Da, die Straße. Ich muss die Straße überqueren. Auf der Straße kein Halt. Würde ich fallen, kein Halt. So weit weg ist die andere Straßenseite. Ich kralle mich an mir fest. Seit Wochen schon am Oberarm ein gekrallter blauer Fleck. Ich muss die Straßenbahn erreichen. Lieber Gott, bitte einen Sitzplatz. Dann kann ich loslassen. Vier Haltestellen. Von dort aus ist’s ein Häuserblock bis ins Büro. Nur einmal geradeaus gehen. Das ist die schwierigste Aufgabe, geradeaus. Eine Unendlichkeit, kein Halt dazwischen.


Choosie



Herbstlich ist es draußen, kühl. Egal, wenigstens ist mir nicht mehr übel. Das hätte mir noch gefehlt, mich in der Tram übergeben zu müssen. Die Übelkeit, nicht allein das hat sich in den letzten acht Wochen und vier Tagen verändert. Eigentlich sollte ich mich auf das Examen konzentrieren, auf das Referendariat vorbereiten, in der Gerichtskantine etwas Geld verdienen.

Dann war Tom gegangen. Mein Tom, der angehende Halbgott in Weiß, ging. Zusammen mit der Nachricht, dass nicht alles so verlaufen würde, wie wir es geplant hatten. Und mit Tom gingen seine gutsituierte Familie, sein Tennisclub und seine schicken Freunde. Mit Tom ging aller Glanz, die Sicherheit, die Zukunft, meine Existenz. Der Glanz ging, dann der Schein, zuletzt nur noch der Anschein. Da warst du schon sechs Wochen da. Du in mir.

Über Tom komme ich hinweg. Aber wie an Geld? An einen Abschluss? An Arbeit? An Sicherheit? An Zuversicht? Andererseits, wie würde ich über diesen mörderischen Schritt hinwegkommen? Einen Schritt wider meine gesamte Natur.


Fuller



Scheiße ist das hell! Licht. Die Jalousie ist oben. Wer? Wieso zum Henker? Wie viel Uhr ist es? Fuck! Verpennt. Der Fototermin an der Location. Fuck! Mein Schädel. Leg dich besser wieder hin, Fuller.

„Fuller“, hatte sie gestern Nacht gesagt, „DJ Fuller! Das war ein abgefahrener Mix, ein echt starker Auftritt.“ Unser erster Live-Act. Unser erstes Label-Event. Sie war Gast. Ihr Mund mit roten Lippen. Was für ein Lächeln. Dann hat sie mich geküsst und ich sie und eins kam, dann das andere.

Wo ist sie eigentlich? Das Bett ist leer. Ihre Sachen? Am Boden. Wasser rauscht. Sie ist noch da! Duscht, dieser Busen, diese Beine, ihre Haut, so weich. Ihre Kraft. Sie steht vor mir. Eine Göttin, Muse, Inspiration. Bitte, lass uns noch einmal ... - "Komm!“

Sie knöpft die Bluse zu. Diese Bluse, herrlich ihr Busen.

„Kaffee?“

Sie greift nach den Jeans, den Schuhen.

„Deine Nummer?“

Ihre Augen, ihr Lächeln, ihre Kusshand.

„Ciao, Fuller.“

Sie geht. Sie ist weg. Diese göttliche Nacht ist zur Tür raus. Einfach so.


Philipp



„Bring mir doch!“ Ich höre Mutter oben in ihrem Zimmer jammern. Das Bett, eingenässt. Ihr stinkender Körper, ihr kranker Geist. Verzeih mir, Gott. Ja, Mutter. Ich komme. "Sofort!" Hab ich das gerufen? Oder hat sie es befohlen? Sauberes Nachthemd, frische Wäsche sind jetzt meine Aufgabe. Die Pflegerin hilft erst am Mittag. "Bring mir doch!" Herz verbrennt. Vor mir liegt das lange Messer. Lieber Gott, vergib mir. Ich habe keine Liebe mehr.


06:53




Choosie



Gut, nicht in die Tram gekotzt. Das da drüben müsste das Haus sein. Haben sie dort für mich den ersehnten Lichtblick? Antworten auf meine Unsicherheiten? Sie haben es mir versprochen. Mir und meinem Geschenk des Lebens.

Ach, Mum, Dad! Choosie muss eine Entscheidung treffen! Obwohl, gibt es hier noch etwas zu entscheiden? Dein Herz schlägt schon, Kleines. Und wenn die Wissenschaft recht hat, dann besitzt du auch schon Rückrat. Okay, ein klein wenig nur. Dann muss ich eben für den Rest unserer Stärke aufkommen. Da ist feuchtes Laub auf den Schienen. „Vorsicht! Stolpern Sie nicht, fallen Sie nicht!“ Er könnte mein Vater sein. Das Kleine wird seinen Vater erleben.


Paul



Das Mädchen, hat sie etwas gesagt? Was hat sie gesagt? Sie hat gelächelt. Ich habe Angst. Sie sagen, das sei normal nach einem Verlust. Manchmal käme statt der Trauer ein anderer zu Wort. Angst hat mein Innerstes eingenommen. Sie beherrscht mich, raubt mein Leben. Sie hält mich gefangen. Sie vollstreckt das Urteil über meine Schuld.

Liebste, warum hast du diesen Weg gewählt? Das Auto. Die Allee. Der Ahorn. Warum hast du die Kleine mitgenommen an diesem Tag? Kindergeburtstag. Rosa Schleifchen im Haar. Warum hast du sie mitgenommen? Warum für immer? Warum habe ich es nicht gesehen? Warum habe ich dich nicht gesehen? Schuld. Lieber Gott, gib mir Kraft.


Philipp



Ich hab’s geschafft. Es hat ein Ende. Ich bin raus. Nun muss ich weg hier. Wohin? In ein Hotel? Erst einmal. Dann alles überdenken. Dann eine andere Wohnung? Ja! Es muss sein. Doch jetzt muss ich weg. Von ihr. Vor mir. Schnell über die Straße. Hab dank, lieber Gott. Danke Gott. Dafür, dass du mir Kraft gabst. Ich habe es nicht getan. „Hey, pass doch auf!“


Fuller



„Verpiss dich, du Penner, mach dich von den Schienen!“ Scheiße, die Tram. Grade noch. Los, Fuller, Alter, gib Stoff, tritt in die Pedale, der Shot muss heute klappen. Göttin, Muse, Inspiration. Ich muss sie wiedersehen. Was willst du von ihr, Fuller? Was Festes? Die Frau, die mehr aus dir macht? Keine Kippen, Manieren, Löffelchen liegen? Später. Heute ist Musik, heute ist unser Label. Gestern Nacht hat voll reingehauen. Greco sollte unsere Seite überarbeiten, Blog und Foren durchgehen, Dan das neue Release vorziehen ...


Impressum

Texte: Beitrag zum Kurzgeschichten-Wettbewerb August Text und Bildbearbeitung: Miriam Kaiser Originalbild: "seven thirty bourke street" von mugley
Tag der Veröffentlichung: 06.08.2010

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