Cover

„Vermutlich enthielt dieses Buch schon vom ersten Moment an die Tiefen der Liebe. Doch das konnte ich noch nicht wissen, als es zu mir kam.“

Carla hielt beim Schreiben inne und blickte auf den mit Stoff bespannten Buchrücken vor ihr.

Carl Gustav Meyers Jahrbuch der Pflanzen, Berlin 1897

stand da in großen Lettern. In der Tat, Glück wurde normalerweise nicht zwischen den vergilbten Seiten eines alten Lexikons versteckt.

Sie legte den Stift beiseite, stand auf und ging zum Fenster. November. Draußen war es inzwischen Nacht geworden. Schwere Wolken hingen über dem Berliner Hinterhof. Sie lächelte. „Tatsächlich, der erste Schnee.“ Dicke Flocken schwebten an ihr vorbei. Leise und fast unbemerkt, so unbemerkt wie nur das reine Glück fallen konnte. Doch das hatte sie erst heute begriffen.

Als sie am Nachmittag nach Hause gekommen war, lag dieses Buch vor ihrer Tür. Es war ordentlich mit Paketschnur umwickelt. Eine Wolke Staub nahm ihr den Atem, als sie es aufhob. Verwundert blickte sie hinter sich die Treppe hinunter. Keiner zu sehen, nichts zu hören. Sie schaute sogar nach oben. Hier war nur die Luke zum Dachboden. Sie klemmte sich das Lexikon unter den Arm, schloss die Tür auf und ging hinein.

Carla legte ihren Fund auf den Küchentisch. Seltsam. Sie löste den Knoten, hob den Buchdeckel. Braune Flecken und der Geruch alter Bücher. Unbekanntes Wissen, eine Welt voller Geheimnisse. Deshalb liebte Carla die alte Bibliothek, in der sie arbeitete, so sehr.

Dieses hier war ein Pflanzenlexikon. Es gab keine Widmung, keine Notizen. Sie blätterte weiter. Nicht gerade mein Fachgebiet. Wer und wieso also? Fünf alte Postkarten und eine abgegriffene Fotografie rutschten aus den altersstarren Seiten. Sie fielen auf den Boden; ein Durcheinander aus Bildern, den Fetzen einer zierlichen, verblassten Handschrift und dem herzlichen Lachen eines jungen Mannes breitete sich vor ihr aus.

Carla kniete nieder. Berliner Ansichten, aus den 20er Jahren, vermutete sie. Der Alexanderplatz und die Prachtstraße Unter den Linden. Dann das einstige Café Victoria, direkt Unter den Linden, Ecke Friedrichstraße; das Strandbad Wannsee und ein Rummelplatz.

Die Fotografie war auf dem Rummel aufgenommen worden. Der junge Mann stand vor einer Bude, einem Fahrgeschäft, einer Walzerfahrt. Mit Vollbart und im schwarzen Sonntagsanzug. Die Hände auf dem Rücken verschränkt, lachte er glücklich in die Kamera. Ungeduldig schien er auf seinen Füßen vor- und zurückzuwippen. Und es sah aus, als ob er gleich den Arm heben und fröhlich dem Fotograf zuwinken würde.

Wer wohl auf der anderen Seite der Kamera stand? Unwillkürlich lächelte Carla den Kerl auf dem Foto an. Sie war zu beneiden.

Carla drehte die Fotografie um. Die Hand einer Frau hatte geschrieben:

Jakob vor der Walzerfahrt, 1927.

„Hallo Jakob!“, begrüßte Carla den lachenden Kerl, der jetzt einen Namen hatte. Sie stöberte weiter. Auf den Ansichtskarten waren keine Briefmarken, stellte sie nachdenklich fest, nur Botschaften. In derselben Handschrift wie auf der Fotografie. Vier der Karten trugen ein Datum: den 22. November 1942, den 23., 24. und den 25. Carla überflog die kurzen Texte. Sie fröstelte in der düsteren Küche und machte das Licht an. Zeit für einen Tee.

Das Telefon klingelte. Teo, sagte sie sich und ging nicht ran. In der vergangenen Nacht war sie ihm im Traum unaufhörlich hinterhergerannt. Gerannt in seiner Welt, ohne Carla. Nur um zu hören, was sie schon zu wissen glaubte. „Tut mir Leid, Carla“, sagte Teo, der Ehrliche. „Ich glaube nicht, dass wir beide füreinander bestimmt sind. Das war Teo, der Idealist. Teo, der Suchende.

Seit acht Jahren waren Carla und Teo ein Paar. Sieben davon lebten sie zusammen, gaben sich gegenseitig ein Stück ungekanntes Zuhause. Sie waren einander Anker, wenn einer drohte, sich zu verlieren. Andockstation, wenn die Reise im Orbit zu schnell ging. Carla und Teo, Meilensteine im Leben des anderen. Liebe ungeschminkt, nannte Carla das, was sie miteinander verband. Doch das behielt sie lieber für sich.

Mit Teo gab es nur das nackte Dasein im Jetzt. Zu ehrlich für den rosa-roten Flitter einer Romanze. Zu ehrlich für den klischeehaften Mann, Familienvater und Versorger. „Niemand für dich“, sagten die Freundinnen. „Für mich der verlässlichste und einzige Gefährte“, sagte Carla dann. Und doch fuhr sie von ihm fort. Vor beinahe einem Jahr fuhr sie von ihm, fort nach Berlin. Er blieb in Frankfurt. Ein weiteres Stück Weg wollten sie gehen, sich etwas Wichtigerem, Höherem stellen. Und das in der sicheren Meinung, das alles ginge nur ohne den anderen. Anfang Dreißig wollten ein paar Dinge im Leben eben entschieden werden.

Doch hier und heute schmerzte es Carla bereits, wenn sie alleine zwischen den Supermarktregalen herumirrte oder sich auch nur alleine im Bad die Zähne putzte. Kein Lächeln zwischendurch. Kein Kuss am Morgen, am Abend, zur Begrüßung, zum Abschied. Keine Hand auf dem Arm, keine zufällige Berührung, kein stundenlanges stilles Beieinander. Nur alle zwei Wochen gestohlene Stunden zu zweit und die Feststellung, dass vorher jede Sekunde, jeder Quadratzentimeter voller Liebe war. Jetzt war sie wirklich nackt. Und Teo? Der Suchende? Sie hatte keine Ahnung.

Sie kehrte zu ihrem Fund zurück. Heute war der 22. November. Die Postkarten wurden vor 65 Jahren geschrieben. Sie steckten zusammen mit der Fotografie von 1927 in diesem Lexikon. Carla nahm die erste Karte: Unter den Linden. Die Berliner Spaziermeile der 20er Jahre. Elegante Menschen flanierten zwischen den Alleebäumen. Lächelnd, gestikulierend, sich unterhaltend. Die Zeit schien stillzustehen an diesem sonnigen Nachmittag. Auf der Rückseite der Karte flossen die Zeilen eng aneinander gepresst über die weiße Fläche.

„22. November 1942. Ach Jakob, vier Tage sind vergangen, seit du von deiner Visite bei den Walters nicht mehr nach Hause kamst. Schlimmes habe ich gehört. Sie hätten dich verraten. Max und Rita habe ich aus der Stadt gebracht. Ich verstecke mich bei Maria Grabenhorst. Auf dem Dachboden. Sie versorgt mich gut hier oben. Ich traf Maria vor zwei Tagen. Sie bot an, mir zu helfen. Bei mir habe ich nur die Erinnerungen an unsere allererste Fahrt nach Berlin. Jetzt schreibe ich auf ihnen. So bin ich in deiner Nähe, bei dir. Jakob, mit ihnen hat alles begonnen. Unsere Liebe, unser Glück, unsere gemeinsame Zukunft. Rahel.“

Rahel gehörte also die Handschrift auf den Karten. Rahel stand hinter der Kamera. Rahel und Jakob hatten das Foto auf dem Rummel gemacht. Rahel und Jakob wie sie 1927 vergnügt Arm in Arm durch Berlin streiften, neugierig eine Sehenswürdigkeit nach der anderen entdecken. Der Jakob vor der Walzerfahrt lachte Carla immer noch an. Süße Zeit der Verlobung. Fünfzehn Jahre mussten es sein, bevor der Dachboden Rahels einziges Stück Leben wurde.

Als Rahel die Karten schrieb, war sie nur etwas älter als ich, vermutete Carla. Verheiratet mit Jakob. Wohl waren da auch Kinder, Max und Rita. Aber kein Berlin der 20er Jahre, keine Rummelmusik, kein Auf und Ab bei der Walzerfahrt mit fliegenden Haaren. Vor allem kein fröhlich winkender Jakob. Rahel saß auf dem Dachboden und Ungewissheit füllte den Raum aus. Carla nahm die zweite Karte: Das Café Victoria.


„23. November 1942. Liebster Jakob, erinnerst du dich? Der Kuchen im Victoria Café war für uns Studenten und Landeier so teuer, dass wir am Abend das Essen ausfallen lassen mussten. Aber besseren Kuchen hatten wir nie wieder! Wir saßen draußen, es war warm. Wir konnten nicht genug kriegen vom Schauen, von den Menschen in der Stadt, von dem Treiben um uns. Jakob, von uns konnten wir nicht genug kriegen! Von unseren Plänen! Du würdest bald dein Examen schaffen. Du als Arzt und ich als Krankenschwester, wir würden unsere Ideale leben, in diese tolle Stadt ziehen, gemeinsam deine Praxis führen und unsere Zukunft gestalten. Jakob, was für ein Glück wir hatten – es ist alles so gekommen, wie wir uns das damals erträumt hatten. Rahel.“



Carla sah Rahel vor sich. Sie lächelte versonnen vor sich hin, in der Erinnerung an die schönen und stürmischen Zeiten dieser Tage. Der Dachboden ums sie war verschwunden. Das grüne Laubdach der Lindenallee wölbte sich wieder über ihr und Jakob. Das Gemurmel der Menschen drang leise zu ihnen. Schwerer Blüten- und herrlicher Kaffeduft machten die Luft schwer. Carla konnte sich Rahel gar nicht anders als lächelnd vorstellen. Carla dachte an Teo. Teo, der Ehrliche. Zu ehrlich für die großen, wilden Träume einer gemeinsamen Zukunft? Traurig nahm Carla die dritte Karte zur Hand: Ein Rummelplatz irgendwo in Berlin.


„24. November 1942. Einzigartiger Jakob. Zu dir hat mich Gott geführt. Erst mit dir wurde ich vollständig. An deiner Seite wird mein Lachen erst zu einem echten Lachen. Bei dir heißt traurig sein, nie ganz zu fallen. Mit dir zusammen sehe ich die Welt erst richtig. Mit dir leben heißt, sich zu Hause fühlen. Bei dir heißt Mut, tatsächlich etwas wagen. Jakob, mit dir heißt Lieben wahrhaftig lieben. Danke, Rahel.“



Rahels Liebe. Ungeschminkt, dachte Carla. Ob Jakobs diese Liebe spürte? Hatte sie ihm aus ihr Inneres preisgegeben? Sie wünschte es den Liebenden von Herzen. Für Rahel hatte es immer diese eine Fahrt nach Berlin gegeben. Ihre Reise mit einer, zu einer besonderen Liebe. Da war sich Carla ganz sicher. Die große Kunst war es, sich immer wieder dorthin aufzumachen. Teo und ich sollten diese Kunst erlernen, dachte sie. Reiseziele haben auch wir. Die letzte beschrieben Postkarte zeigte Badende im Strandbad am Wannsee.


„25. November 1942. Jakob, es ist soweit. Sie kommen.“



Carla sah Rahel diese Zeilen zwischen den Seiten des Lexikons verbergen. Die letzte Ansichtskarte aber war noch leer. Schwere Stiefel polterten unter der Luke zum Dachboden. Sie richtete sich auf, hob den Kopf und blickte den grau-uniformierten Männern gerade ins Gesicht.

Carla saß noch lange Zeit regungslos da. Später schob sie behutsam die Postkarten und Jakobs Fotografie wieder zurück in das Lexikon. Sie holte ihren Mantel, nahm das Buch und schloss die Wohnungstür hinter sich. Ohne noch einmal nach oben zur Dachbodenluke zu schauen, ging sie hinunter und überquerte den Hinterhof.

Im Vorderhaus fand sie, was sie suchte. „Ja, hier ist es. Grabenhorst.“ Sie klingelte neben dem Namen an der Tür. Eine kleine Frau öffnete ihr und lächelte sie faltig und gütig an. „Carla. Ich habe Sie schon erwartet. Ich bin Marias Tochter. Kommen Sie herein, ich erzähle Ihnen mehr über Rahel und Jakob.“ Sie drehte sich noch einmal um, bevor sie Carla in ihre Wohnung führte: „Sie sehen jedes Mal so traurig aus, wenn er nach Frankfurt aufbricht. Da dachte ich ...“

Später, als sich Carla verabschiedete, war der nächtliche Winterhimmel über den Hinterhof gezogen. Dicke Wolken verhießen den ersten Schnee. Sie stieg hinauf zu ihrer Wohnung. Rahel und Jakob, dachte sie. Rahel und Jakob. Wo Liebe ist, da nimmt Gott die Liebe nicht. Ein beruhigendes Gefühl.

Sie rief endlich Teo an.
„Hallo?“
„Ich bin’s.“
„Ja!“
„Teo, ich liebe dich.“
„Ich weiß. Zweifle nicht.“
Das war Teo, der Liebende.

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Tag der Veröffentlichung: 26.06.2010

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