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Unten in der Welt: Ein Hotelzimmer



Sicherheitshalber hatte er seine Brille neben das Bett gelegt. Minus sieben Komma fünf Dioptrien links, acht rechts. Georg kamen seine Blindheit, das dunkle Horngestell auf Kasse und die plumpen dicken Gläser gerade recht. Sie verliehen ihm den altmodischen Charme der 60er Jahre und ließen ihn gediegen genug erscheinen, um ohne Reiz und unsichtbar das Leben zu überleben. In aller Ruhe. In aller Sicherheit. Dankbar.

Ohne Brille verschwammen die Dinge hinter einem dichten Schleier. So wie in diesem Moment Möbel, Fenster und Wände in einem Schleier verwebt waren. Die Maße des Zimmers konnte er vom Bett aus kaum erkennen. Dabei wäre dies jetzt so wichtig. Vier mal drei Meter, schätzte er. Zweidreißig in der Höhe. Er kniff die Augen zusammen. Die Grenzen des Raumes waren jedoch nicht zu fassen.

Neben ihm lag Lola. Genauer gesagt das, was er von ihr kannte. Georg schielte auf ihren nackten, weichen Körper. Sie musste über zwanzig Jahre jünger sein als er. Gleich würde sie sich wieder in jene Farbenwelt hüllen, die ihre Kleidung war. Ein explodierendes Gelb, ein sattstopfendes Grün, ein nach schreiendes Rot. Auf dem Markt hatte er sie erspäht. War ihr gefolgt. Er hatte sie gesehen und war ihr einfach nachgegangen.


Jetzt, danach, leuchtete nur noch die pinke Plastikhaarspange. Und irgendwo hinter dem Nebel seiner Kurzsichtigkeit lagen die riesigen Mengen von frischen Blumen, die sie im Arm getragen und dann im Hotel achtlos auf den Tisch geworfen hatte. Die Blumen waren es, die ihn glauben machten, dass Lola ihr richtiger Name war.

Er hatte mit ihr Sex gehabt. Mitten am Tag. Hatte sich wild in fremden Laken gewälzt und stumm diese Fremde geliebt. Außerehelich, außerberuflich, außerhalb seiner Gesellschaft und außerhalb seiner Altersklasse. Er musste die Hand flach auf seine Brust legen und in sich hineinhorchen. Sein Herz schlug immer noch, und auf wundersame Weise lag er nicht tot im Bett.

Der Klang ihrer Stimme durchzog den Nebel um ihn. Sie fragte: „Ob uns irgendjemand sieht? Sieht, was wir tun? Ich meine, wirklich sieht. Nicht das hier“, sie vollführte mit beiden Armen eine ausholende Bewegung, die alles umfasste: das schäbige Zimmer, den Nachhall ihrer in der Atemlosigkeit des Beischlafs aufeinander klatschenden Leiber. „Ich meine jemand, der in uns hinein sieht. Sieht, warum wir etwas tun? Sieht, wer wir sind?“ Sie drehte den Kopf zu ihm. „Ich meine, siehst du, wer ich bin? Siehst du weiter als dieses Hotelzimmer?“


Im Irgendwo der Götter: Ein Puppentheater von vielen



Ausnahmsweise war es im Theater des Kleinen einmal ruhig. Nichts in den Kulissen bewegte sich. Kein Lärmen, kein Poltern und kein Zetern war zu hören. Der Dicke steckte seinen runden Kopf zur Tür herein, sein feister Körper folgte. Weiße Gewänder hingen über seinem fetten Leib. Hinter ihm schlüpfte der lange Dürre durch die Öffnung. Sie schlossen die Tür und traten leise an die Bühne des Kleinen heran. Beide betrachteten neugierig die Szene, die sich ihnen dort bot.

Der Dürre wiegte das schmale Haupt schulmeisterlich hin und her. Mit geschürzten Lippen bemerkte er: „Er muss mit ihr noch üben.“
Der andere kniff die kleinen Augen zusammen und beugte sich vor.

Eine einzelne Puppe lag in den Kulissen. Die Glieder leblos, den Kopf nach unten geklappt, saß eine Frauengestalt mitten in einem mächtigen Scherbenhaufen. Die Arme der Puppe samt den Fäden hingen schlaff am Körper herab. Wut blitzte aus ihren Augen herauf. Der Dicke zog eine Augenbraue hoch. „Wohl war.“

Ein verzweifeltes Heulen drang hinter den Kulissen hervor und schwoll an zu einem stattlichen Plärren. Nach Luft schnappend ging es über in ein klebriges Schniefen. Die beiden Götter traten über die Bühne nach hinten.


Wie in ihrem eigenen war auch hier im Puppentheater des Kleinen hinter den Kulissen eine Art Empore angebracht. Sie stiegen die Treppen hinauf.

Dieser Ort ist unsere Bestimmung, dachte der Dürre bei sich. Hier stehen wir. Von hier steuern wir unsere Puppen, führen wir unsere Menschen. Wir lenken, stützen und halten ihre Geschichten in Händen. In unserem eigenen Theater und im Leben unserer Menschen spielen wir eine göttliche Rolle.

Hier oben, auf der Empore, saß ein Häuflein göttliches Elend. Tränen und glänzender Rotz auf den runden Wangen. Ein Schluckauf machte dem Kleinen das Reden schwer: „Ich schaff‘ das nicht. Ich kann das nicht.“

„Na, na“, beruhigte ihn der Dürre und half ihm auf die Beine. Dann beugten sich alle drei Götter gemeinsam über den oberen Rand der Kulisse und schauten hinunter auf die Bühne zu der Frau. „Seht ihr?“

Unten in der Welt saß Grete auf dem Boden mitten in ihrer kleinen Küche. Sämtliche Schranktüren standen offen, die Scherben von Tellern und Tassen lagen verstreut im Raum. Tiefe Kerben in den Wänden erzählten von Gretes wütenden Würfen.

„Du Idiot!“ Sie holte aus und schrie dem nächsten Teller hinterher: „Du Scheißkerl!“

Ein ohrenbetäubendes Klirren drang zu den Puppenspielern hinauf. Der Kleine zuckte zusammen.

Der Dicke fragte: „Was ist passiert?“ – „Es ist wieder der falsche Mann“, jammerte der Knabe. „Dabei dachte ich, der könnte passen.“ Ratlos zog er die Schultern hoch. „Aber sie streiten immer. Das heißt, sie schreit, er glotzt nur und rennt weg. Ich weiß nicht, was ich machen soll, damit sie aufhört, Geschirr zu zerschlagen. Sie soll wieder lachen.“

„Merke dir“, begann der lange Dürre behutsam seine Lektion, „die Menschen sind stets auf der Suche. Einige nennen das, was sie finden wollen, das Höhere oder die wahre Bestimmung. Oder auch die wahre Liebe – so wie Grete. Andere suchen ihren Seelenverwandten. Doch in einem sind sie wahrhaftig alle Gefährten: Ihre Seelen suchen eine Heimat.“

Und er fuhr fort: „Die Kunst des Puppenspiels ist, der Seele des Menschen diesen Ort zu weisen, und ihn auf seinem Weg dorthin zu begleiten. Das Geheimnis des Puppenspielers ist: Spiele wie du bist, dann wirkst du in deinem Menschen. Kennen wir die Kunst und das Geheimnis nicht, gehen dein Mensch und du verloren.“

Der Knabe war still. „Warum spielst du Lola?“ fragte er dann den Dürren. „Wer außerhalb der Grenzen lebt, dem gebe ich ein Maß. Wer ausbricht, den fange ich ein. Wer grell blendet, dem gebe ich seine natürliche Farbe. Mein Spiel ist, Extremes in Erträgliches zu verwandeln. Ich versuche, das Erträgliche für Lola zu schaffen.“


„Und Georg?“ Der Dicke zwinkerte dem Kleinen zu: „Ich halte mich nicht immer an die Spielregeln.“ Dann drehte er sich zu dem Dürren um. „Komm, wir müssen wieder zu unserer Bühne zurück.“

Der Kleine straffte von Neuem die dünnen Fäden, die ihn mit Grete verbanden. Ein Kind lernt laufen, in dem es immer wieder aufsteht, wenn es gefallen ist. Es denkt nicht über ein Scheitern nach. Seine Kraft ist dann unerschöpflich.

Vorne auf der Bühne hob Grete den Kopf und sammelte vorsichtig die Scherben ihrer Liebe ein.


Unten in der Welt: Ein Hotelzimmer



Georg hatte die Brille wieder aufgesetzt. Was hatte Lola ihn gefragt? Ob er sehe, wer sie wirklich sei? Ob er weiter sehe, als bis zu den Grenzen dieses Zimmers?

Er erinnerte sich vage an das, was er heute Morgen im Spiegel gesehen hatte. Einen 55-jährigen Architekten, der pflichterfüllt vor der Ehefrau, der Familie, seiner Arbeit und vor dem schalen Ablauf der Gewohnheiten bestand. Alles war Form auf einem Reißbrett, gerahmt von einer alles erstickenden Kontur.

Angstschweiß würde auf Georgs Stirn treten, wenn er auch nur daran dachte, eine der Regeln zu brechen. Sein Herz würde rasen, sich überschlagen, bis er leblos in seinem Bett läge.

Hinter der Kontur lauerte der Tod. Davon war er bis zum heutigen Tag überzeugt gewesen. Doch dann hatte er Lola gesehen. Sie trug eine weite Bluse, einen weiten Rock, darüber einen noch weiteren Mantel. Gewaltige, bunte Stoffe in unendlich vielen Schichten umgaben diese Frau. Sie schien beinahe auseinanderzufließen, sich in Materie und Farben aufzulösen.

Dieses Bild hatte den Augenblick gesprengt, sein Dasein zum Bersten gebracht. Nur der Berg frischer Blumen in ihrem Arm hielt sie beide in dieser Welt. Er hatte ihr folgen müssen. Es fiel ihm nicht schwer, sie im Blick zu behalten.


Schräges war ihm dabei in den Sinn gekommen: die Fortpflanzung der Pantoffeltierchen. Ein Einzeller, umgeben von einer Leben spendenden Hülle. Plötzlich wölbt sich diese Kontur nach außen und etwas drängt aus der Fläche. Eine neue Blase tritt aus der ersten hervor. Langsam löst sie sich von ihrer Begrenzung. Nichts verbindet am Ende das alte und das neue Leben.

Georgs Gedanken kehrten zurück in das Hotelzimmer. Nein, wenn er Lola betrachtete, konnte er nicht sehen, wer sie wirklich war. Im Gegenteil. Das, was er in ihr gefunden hatte, war er selbst; hatte ihn Regeln brechen lassen, ihn herausgeführt aus der täglichen Vermessung seiner Lebensblase.

Er sagte laut zu Lola: „Nein, ich kann nicht sehen, wer du wirklich bist. Aber ich sehe weiter als dieses Zimmer.“

Georg stand auf und zog seinen Anzug an. An der Tür drehte er sich noch einmal um. „Als ich deine Blumen sah, wusste ich, dass du mir deinen richtigen Namen nennen würdest. Sie sind nicht mehr und nicht weniger als ihre eigene Natur.“ Er lächelte. Dann verließ er das Zimmer.

Lola wickelte das Bettlaken um sich. Eben noch hatte sie Georgs Körper mit Armen und Beinen umschlungen. Sein schwammiger Rücken war zu dem des Jüngeren geworden, bei dem sie noch bis gestern verzweifelt Halt gesucht hatte.


Danach hatte sie ihren Kopf wie ein Kind sanft an seine Brust geschmiegt. Dort fand sie einen Augenblick lang des nie gekannten Vaters Geborgenheit.

Sie ging zum Spiegel, ließ das Laken fallen und betrachtete ihren weißen Körper. Warum hüllte sie sich in Farben? In dicke Farbkleckse, die wie Griffe das Abgleiten im Leben verhinderten? Besser, sie zog sich wieder an.

Lola nahm die Blumen vom Tisch. Als sie hinter Georg die Straße hinunterging, war alles wie immer.

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Tag der Veröffentlichung: 25.06.2010

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