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Seit langer Zeit, niemand wusste die Anzahl der Jahre genau, kam er jedes Jahr an dem einen bestimmten Tag zu ihnen ins Dorf, oder eher auf die Lichtung, die sich hinter dem Ort verbarg. Sein Name war ihnen nicht bekannt, so nannten sie ihn nur den Magier oder den großen Unbekannten. Wenn er kam, sprach er kein Wort, versteckte sich nur in seinem silbrigen Mantel, lief ohne einen Blick auf die Dorfbewohner über die Hauptstraße zum großen Wald und der kleinen Lichtung. Die Menschen mieden ihn, denn unter ihnen ging das Gerücht um, dass ein Blick von ihm Unglück brachte und eine Berührung seines Mantels den Tod. Sie fürchteten und verachteten ihn zugleich, bemitleideten und verabscheuten ihn. Sein Gesicht, hässlich, entstellt, seine Finger, dick, ungeschickt, sein Gang, lauernd, demütigend, sein Haar, fettig, lang, unter einem verschlissenen Hut mit dem Zeichen des Zauberers versehen.
Niemand wusste, was er auf der Lichtung trieb und niemand wollte es wissen. Wenn er seine Schritte durch ihr Dorf lenkte, ignorierten sie ihn, versteckten sich und ihre Kinder oder tuschelten hinter seinem Rücken, dass er von Jahr zu Jahr hässlicher wurde.
Auch dieses Jahr kehrte er zurück, schlich durch das Dorf, den Blick dem Boden zugewandt, das Ziel vor seinem inneren Auge. Er konnte ihre Stimmen hören, ihre Angst spüren, versuchte sich unsichtbar zu machen, doch es gelang ihm nicht, er wollte seine Stimme erheben, sie beruhigen, doch er hatte schon vor langem seine Sprache verloren, er wusste nicht einmal mehr, wie seine Stimme klang. So musste er jedes Jahr ihre Blicke ertragen, konnte sich und ihnen keine Erleichterung schenken.
„Edler Herr.“
Alle zuckten angesichts dieser Anrede zusammen, alle wandten ihren Blick auf das kleine, blonde Mädchen, das mit einem tiefen Hofknicks vor dem Magier zusammengesunken war.
„Edler Herr, Ihr seid ein Zauberer, nicht wahr? Ihr könnt Erleichterung schenken und meinen Bruder heilen, so ist es doch?“ Unerschrocken erwiderte sie seinen undurchschaubaren Blick, wartete vor ihm, fest entschlossen, ihn nicht weiterziehen zu lassen.
„Mayu!“ Eine ältere Frau, rundlich wie ein Fass, eine blütenweiße Schürze und rote Flecken auf den Wangen, eilte an ihre Seite, versuchte das Mädchen zur Seite zu ziehen, doch es gelang ihr trotz des geringen Körpergewichts der Kleinen nicht.
„Edler Herr.“ Ihre Stimme klang nicht flehend, nur der leise Unterton einer Bitte schwang in der Ergebenheit, der Hoffnungslosigkeit mit.
„Komm mit, Kind, lass es, dieser Mann ist kein Zauberer, er ist böse, er wird dich verwünschen und verfluchen!“, zischte die Frau, die sie retten wollte, doch das Mädchen ignorierte sie, in diesem Moment existierte für sie nur der Magier, in den sie ihre letzte Hoffnung steckte.
„Was… was fehlt deinem Bruder?“, krächzte dieser leise und kaum verständlich, aber doch so hörbar, dass die Dorfbewohner um ihn herum zusammenzuckten und unwillkürlich einen Schritt zurücktraten.
„Das weiß niemand, edler Herr. Keiner der Ärzte konnte ihm helfen“, erwiderte Mayu leise und mit fester Stimme, „Keiner wollte ihm helfen.“
„Ärzte, Quacksalber, Dummschwätzer.“ Sein Blick aus den wässrigen Augen war verächtlich und voller Hass. „Bring deinen Bruder zu mir, Mädchen.“
„Er ist schon hier, edler Herr. Karasu, komm her“, forderte sie in Richtung Häuserschatten.
Voller Entsetzen keuchten die Leute auf, als ein junger, schwarzhaarige Mann hervortrat. Nicht sein Antlitz, sondern seine Gestalt fügte ihnen den Schrecken zu. Statt Händen und Armen hingen schwarze Flügel schlapp an seiner Seite herunter. Doch der Magier empfand keine Furcht, mit einer Geschwindigkeit, die ihm kein Dorfbewohner zugetraut hatte, eilte er an die Seite des bemitleidenswerten jungen Manns, hob die Flügel, strich über die Federn.
„Eine Krähe, ein Rabe, ein Wesen der Magie.“
„Könnt Ihr ihn heilen?“ Dieses Mal klang mehr Hoffnung und Mut in der Stimme des Mädchens mit.
„Heute und nur heute, am letzten Tag des magischen Jahres“, murmelte der Magier weiter, „Folgt mir, so soll es sein, ja, so soll es sein.“
Ohne auf die Geschwister oder gar die Dorfbewohner zu achten, zog er weiter seinen Weg entlang, doch aufrechter, stolzer, ohne seine Demut. Dann vernahm er die Schritte, die ihm folgten, kleine, trippelnde von dem Mädchen, lange, schlurfende von dem Raben und viele mehr, kleine, große, schwere, leichte, stapfend, schwebend, eilig, gemütlich, ein ganzes Dorf voller Schritte, die sie erst am Rande des dunklen Waldes verließen. Die Nacht brach an, die Bäume waren noch finsterer als zuvor, Dunkelheit, Schatten, unendliche Schwärze, die Nacht von Samhain, von Halloween, die letzte Nacht im Hexenjahr, eine Nacht, in der die Türen zum Jenseits so weit offen waren, wie nie, eine Nacht voller Magie.
Das Mädchen hielt sich am Flügel ihres trübsinnigen Bruders fest, starrte angestrengt in das Dunkle und bemerkte voller Staunen die Veränderung des großen Unbekannten. Mit jedem Schritt, der sie näher an die Lichtung brachte, schien er zu wachsen, verlor er seinen buckligen Gang und schritt energischer aus, der silbrige Umhang glänzte mehr, die fettigen Haare wurden seidig und der Hut schien vor Energie zu strotzen. Dann betraten sie die Lichtung.
Staunend sah die Kleine sich um und auch ihr Bruder erwachte aus seiner Lethargie. Obwohl der Mond nicht schien, sondern von Wolken verborgen war, erstrahlte die Lichtung im hellen Licht, die magische Energie wurde sichtbar, stieg in kleinen Kugeln von Boden hoch und tauchte das Gras in einen silbrigen Schein.
„Komm her, Krähe“, ertönte plötzlich die sanfte Stimme des Magiers, verändert, so wie der Rest seines Körpers.
Willig folgte Karasu der Aufforderung, betört von der Magie der Lichtung, von der Magie dieser Nacht. Das Mädchen betrachtete den großen Unbekannten, suchte vergeblich nach den ihr bekannten Gesichtszügen voller Narben, fand jedoch nur schöne, graue Augen, samtige Haut und ein sanftes Lächeln.
„Kind, geh, versteck dich hinter dem Stein, sonst verwandelt dich die Magie und du wirst so aussehen wie ich ohne die Kraft dieser Nacht. Geh!“ Nur widerwillig wandte Mayu sich von der faszinierenden Gestalt des Magiers ab, verkroch sich hinter einem großen Stein, der den Rand der Lichtung markierte.
„Geh in Frieden, Karasu, erkenne, was du wirklich bist, erhebe dich aus deinem Gefängnis, werde du selbst.“ Angestrengt lauschte das Mädchen den Wortfetzen, die der Wind zu ihr trug, versuchte zu verstehen, was geschah, blieb in ihrem sicheren Versteck. Doch dann kam ein markerschütternder Schrei, der sie aufschrak, sie hinter dem Stein hervorjagte und voller Grauen auf der Ereignis vor ihr sehen ließ.
Ihr Bruder, ihr geliebter Bruder, lag auf dem Boden, in dem Licht der Magie noch blasser als sonst, die Flügel waren verschwunden, doch eine fette Krähe saß neben ihm und sah sie aus den gemein blitzenden Augen wissend an.
„Er ist frei“, ertönte wieder die sanfte Stimme des Magiers, der an ihrer Seite aufgetaucht war. „Lass ihn gehen, lass ihn fliegen, lass ihn noch freier sein.“
Sie stand an seiner Seite, blickte auf den Vogel hinab, sah wie er sie fixierte, so als ob er warten würde.
„Flieg, Karasu, flieg!“, flüsterte sie ihm zu und sah dann, wie der Rabe seine schwarzen Schwingen ausbreitete und sanft in die Nacht davon glitt.

Impressum

Texte: Das Copyright für den Text liegt bei Rina. Das Copyright für das Cover liegt bei highdarktemplar ( www.deviantart.com )
Tag der Veröffentlichung: 17.10.2009

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Für Rabenmond.

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