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„Herzlich Willkommen auf dem Bahnhof der Erinnerungen. Ihr Zug steht jederzeit für Sie bereit.“



Gähnend streckte und dehnte James sich, er hatte eine schlecht Nacht gehabt, war müde und verspannt. Eigentlich wollte er so gar nicht die Augen öffnen, sie waren schwer und zugeklebt, doch irgendwas drückte ihm in den Rücken und so richtete er sich mit einem weiteren lauten Gähnen langsam auf. Mühsam schaffte er es dann die Augen doch noch zu öffnen und sah sich verschlafen um.
Sekunden später hatte er auch den Übeltäter für seinen schmerzenden Rücken entdeckt, so eine Wartebank im Bahnhof war nun mal nicht sonderlich bequem. James streckte sich noch einmal, nur um mitten in der Bewegung zu erstarren.
Moment? Bahnhof? Warum war er auf einem Bahnhof? Mehr oder weniger panisch sah der junge Mann sich um, tastete die Bank ab, sah an sich und seinem Pyjama runter, lief einmal rund um den Wartebereich herum und stellte es dann wieder fest. Er war auf dem Bahnhof. Aber nicht auf dem in seiner Stadt, nein, diesen Ort hatte er noch nie zuvor gesehen. Dabei sollte er eindeutig in seinem warmen, kuscheligen Bett liegen und sich von seiner Arbeit als Bäcker erholen. Schlafen, träumen, aber nicht im Schlafanzug auf diesem seltsamen, menschenleeren Bahnhof stehen.
Vielleicht war das ja auch ein Traum? Ja, das würde es wohl sein. James nickte einmal kurz, um sich selbst davon zu überzeugen. Sicher war das hier alles nur ein Traum und wenn er sich jetzt wieder hinlegen und die Augen schließen würde, würde er bald in seinem Bett aufwachen.
Also begab er sich zu seiner Bank zurück und legte sich mit über dem Bauch gefalteten Händen hin, schloss die Augen und wartete. Und dann wartete er immer noch.
„Ähm, Junge?“, erklang plötzlich eine Stimme direkt neben seinem Ohr und James zuckte erschrocken zusammen.
„Was?“ Er sah sich nervös um, konnte jedoch niemanden entdecken. „Na toll, jetzt hör ich auch noch Geister reden…“
„Ich bin hier unten, Kleiner“, ertönte es wieder höflich.
„Oh, Entschuldigung“, erwiderte der junge Mann und sah dann nach unten. „Das gibt’s doch nicht!“
Verwirrt betrachtete er den sehr kleinen und ziemlich alten Mann, der auf einen Krückstock gelehnt vor ihm stand.
„Hallo“, breit lächelnd begrüßte dieser ihn und winkte ihm fröhlich zu, „Entschuldige, mein Junge, aber schlafen ist hier verboten. Du bist doch kein Obdachloser, oder?“
Als er den besorgten Blick des Älteren wahrnahm, schüttelte James verneinend den Kopf. Noch bevor er etwas sagen oder fragen konnte, nahm sein Gegenüber ihm das Wort ab: „Mein Name ist Yoseph. Kommst du oft hierher?“
„Hierher?“, fragte James verwirrt zurück.
Erschrocken schlug sich der Alte die Hand vor den Mund.
„Sag nicht, du bist das erste Mal hier?!“
„Doch“, seine Antwort klang schon ziemlich verzweifelt.
„Junge, Junge, dann will ich nichts gesagt haben… Ich muss dann mal los, mein Zug fährt bald ab. Ach, wie war dein Name noch mal?“
„Mein Name? Ich heiße James, aber…“, stellte er sich vor und setzte zu einer weiteren Frage an, doch Yoseph war für sein Alter sehr behände und war mit einem erneuten Winken schon um die Ecke verschwunden.
Etwas ratlos sah er sich um und betrachtete den Wartesaal. Sehr freundlich, sehr hell, viel Holz, viele Pflanzen und sehr sauber. Bewundernswert, James hatte noch nie einen Bahnhof wie diesen gesehen, nur die Zuganzeigen waren seltsam. Sie schienen nicht zu funktionieren, ebenso wie die Uhr, die, seitdem er aufgewacht war, ihre Zeiger nicht weiterbewegt hatte.
Bis auf Yoseph hatte er auch keine anderen Menschen hier wahrgenommen, aber vielleicht waren sie auch an den Gleisen. Er beschloss, das Ganze sofort zu überprüfen und schlenderte dann langsam durch die Wartebänke durch.
Neugierig steckte er erst seinen Kopf durch den Bogen, der zu den Gleisen führte, aber als er entdeckte, dass die wenigen Menschen, die sich dort befanden, auch nicht besser angezogen waren als er, folgte auch der Rest seines Körpers und er sah sich staunend um.

“Die Züge, die Ihnen bei der Erinnerung helfen, finden sie an den Gleisen 1 – 10. Die Züge, die Sie zum Vergessen bringen, stehen an den Gleisen 11 – 20. Genießen Sie weiterhin Ihren Aufenthalt auf dem Bahnhof der Erinnerungen.“



Was war denn das für eine Durchsage? Und überhaupt: Bahnhof der Erinnerungen? Züge zum Vergessen? Was war das für ein Unsinn?
Kopfschüttelnd stand James da und betrachtete die Züge vor ihm. Dampfzüge, ICEs, Maschinen, die nicht mehr auslaufen dürften und futuristische Waggons, wie er sie noch nie zuvor gesehen hatte. Noch einmal fragte er sich, was er hier zu suchen hatte, er sollte schleunigst gehen. Suchend sah er sich um und konnte keine Tür entdecken, die ihm einen Ausgang aus diesem seltsamen Bahnhof bot.
„Hey!“, rief er laut dem Stationsvorsteher zu, den er ein paar Meter entfernt entdeckte, „Hey, können Sie mir helfen? Wie komme ich hier weg?“
Gelangweilt musterte dieser ihn von oben bis unten und rückte seine gestreifte Kappe zurecht. Dann deutete er schweigend auf die Züge und wandte sich wieder ab.
„Hallo? Entschuldigung, aber was soll das heißen?“, fragte James hartnäckig weiter.
Hinter ihm ertönte ein Seufzen.
„Junge, er spricht nicht und der einzige Weg hier raus sind die Züge“, erklärte Yoseph, der wieder hinter ihm aufgetaucht war.
„Aber welcher Zug ist der Richtige?“
Mit einem Schulterzucken verschwand der ältere Mann wieder, doch dieses Mal ließ James sich nicht so leicht abhängen. Er folgte ihm bis zu Gleis 12 und sah dann, wie Yoseph in einen Dampfzug einstieg.
„Warte auf mich!“, rief er ihm zu und eilte zu der Tür, doch in dem Moment, in dem er sie erreichte, verließ der Zug den Bahnhof.
„Verdammt.“ Wütend schlug er auf den abfahrenden Zug.
„Junge, du musst deinen eigenen Zug finden. Erinnern oder vergessen, was willst du?“, erklang noch einmal Yosephs Stimme, bevor die Dampflok ganz verschwand.
Frustriert verließ James das Gleis und sah, wie nach und nach ein Zug nach dem anderen davon fuhr. Am Ende standen noch drei Züge da, der ICE an Gleis 4, eine schrottreife S-Bahn an Gleis 7 und dann noch der futuristische Zug an Gleis 19.

“Sehr verehrte Suchende, bitte entscheiden Sie sich in den nächsten zehn Minuten für einen der Züge. Der Bahnhof der Erinnerungen schließt in Kürze. Denken Sie bitte auch an die Folgen, die Sie erwarten, wenn sie keinen der Züge nehmen. Vielen Dank.“



Folgen? Was war denn nun schon wieder? Erneut versuchte James sein Glück bei dem Stationsvorsteher.
„Was war mit der Durchsage gemeint?“
Dieses Mal war der Blick des Mannes durchdringend und auch leicht genervt, doch dann hob er die Hand und lächelte gleichzeitig. Als James erkannte, was für eine Geste der Mann mit der gestreiften Mütze ausgeführt hatte, wurde ihm schlecht.
„Soll das heißen, ich kann hier sterben? Bloß, weil ich keinen Zug kriege?“, fragte er hoffnungsvoll nach, doch seine Angst wurde durch das Grinsen des Mannes nur verstärkt.
Er musste sich entscheiden. Erinnern oder Vergessen…
Ein Blick zu dem futuristischen Zug zeigte ihm, dass diese Entscheidung soeben gefallen war, er würde die Erinnerung nehmen.
„Unsicher, hm?“, erneut erklang eine Stimme neben ihm, dieses Mal eine weibliche.
„Ja, ich weiß nicht, welchen Zug ich nehmen soll und ich will nicht sterben“, sprudelte es aus dem mittlerweile verzweifelten James heraus, noch bevor er das Mädchen neben ihm richtig wahrnahm.
Diese sah ihn an, als wäre er wahnsinnig.
„Welcher Idiot hat gesagt, du stirbst, wenn du keinen Zug nimmst?“, fragte sie empört, die Hände in die Hüften gestemmt.
„Der Vorsteher.“ Während er das sagte, deutete er auf den Mann, der immer noch teilnahmslos die Gleise überwachte.
„Ach Gott… Hör mal zu, du stirbst nicht, du schläfst nur so lange, bis du den richtigen Zug nehmen kannst. Es ist also nicht schlimm, wenn du dich heute nicht entscheiden kannst, dann verschläfst du einfach einen Tag und morgen Nacht hast du eine neue Chance.“
„Was?“
„Du weißt wohl nicht, wofür der Bahnhof da ist, oder?“, fragte die junge Frau leicht lachend und als James den Kopf schüttelte, sprach sie erklärend weiter: „Er ist da, um entweder eine Erinnerung zu vergessen oder eine Erinnerung wiederzubeleben. An diesen Ort kommen nur wenige Auserwählte, die Hilfe benötigen. Du hast doch Yoseph kennen gelernt, ja? Er ist fast jeden Abend hier, denn er möchte vergessen. Die Menschen halten ihn für dement, doch er will jede schlechte Erinnerung, die er in seinem Leben erfahren musste, auslöschen, so lange, bis er friedlich einschlafen kann.“
Sie lächelte sanft bei dem Gedanken an den alten Mann.
„Aber warum bin ich hier?“
„Du bist hier, um dich zu erinnern. James, nicht wahr? Schon seit Jahren lebst du allein, kannst dich kaum an deine Kindheit erinnern, oder?“ Als er auf ihre Fragen nur mit einem erstaunten Nicken antworten konnte, lächelte sie wieder. „Das ist dein Grund und dein Ziel.“
Schweigend ließ er seinen Blick über die beiden Züge schweifen und wusste, welchen Zug er nehmen sollte, die S-Bahn. Eilig lief er los, nur noch sein Ziel vor Augen, doch dann kurz von seinem Gleis hielt er inne und drehte sich um.
„Wer bist du?“
„Du solltest dich beeilen…“, erwiderte sie wieder mit diesem sanften Lächeln, doch James ließ sich nicht beeinflussen.
„Wer bist du?“, fragte er erneut.
„Ich bin Myrna.“
„Danke.“
Ein Blick auf die Uhr und James spurtete los, er hatte nur noch wenige Sekunden Zeit und doch erreichte er seine Bahn mühelos. Als er den Bahnhof verließ, sah er zurück und entdeckte die winkende Gestalt des jungen Mädchens.

„Vielen Dank, dass Sie sich für diesen Zug entschieden haben. Wir wünschen Ihnen eine angenehme Reise durch ihre Erinnerungen. Sollten Sie Probleme haben, können Sie jederzeit die Notbremse ziehen und ihre Reise fortsetzen, wenn Sie bereit dazu sind. Im Namen des gesamten Teams des Bahnhofs der Erinnerungen verabschiede ich mich nun von Ihnen und freue mich auf ein mögliches Wiedersehen.“



Zufrieden wandte Myrna sich ab, wieder hatte sie einem Menschen auf den richtigen Weg geholfen, sie, die Seele des Bahnhofs.

Impressum

Texte: Das Copyright für den Text liegt bei Rina. Das Copyright für das Bild liegt bei Parawan ( www.deviantart.com ).
Tag der Veröffentlichung: 18.07.2009

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