„Vielen Dank noch mal, dass Sie das machen“, zögernd legte die Rektorin eine Hand auf seine Schulter, „Ich weiß, es fällt ihnen sicher nicht leicht, aber…“
„Schon in Ordnung. Wirklich, kein Problem“, erwiderte Kay leise.
Natürlich war es das doch. Es fiel ihm nicht leicht, es schmerzte ihn immer noch, die Erinnerungen, alles, was passiert war, doch er wusste, wenn er heute zu den Schülern und Schülerinnen der Sankt-Raphael-Schule sprach, konnte er vielleicht ein bisschen was verändern. Nicht seine Vergangenheit, aber die Zukunft einiger Kinder. Er holte noch einmal tief Luft und trat dann auf die kleine erhöhte Bühne in der Aula. Sein Blick wanderte über die Reihen gelangweilter Jugendlicher und sofort wurde er an seine Schulzeit erinnert.
„Schüler, hört mir bitte zu“, mit ihrer durchdringenden Stimme verschaffte die Schulleiterin sich Gehör, „Ich möchte euch Kay vorstellen. Auch er war mal Schüler an unserer Schule und…“
Sie unterbrach sich kurz und warf ihm einen traurigen, weichen Blick zu: „… und er möchte euch heute erzählen, warum er die Schule unterbrochen hat.“
Sie trat zur Seite und überließ ihm das Mikrofon. Er zitterte, kaum wahrnehmbar, aber trotzdem zitterte er. Nicht aus Angst vor den Schülern, nein, er hatte Angst davor, seine Geschichte zu erzählen, Angst davor noch einmal daran erinnert zu werden.
Ohne ein Wort der Begrüßung fing er an zu erzählen, leise und schnell, aber dennoch deutlich: „Ich war 15, als ich von der Schule abgegangen bin. Ein Säufer, ein Schläger, ein Idiot. Zu der Zeit war alles noch schön, ich hatte Spaß, trieb mich gerne auf den Straßen herum, blieb wochenlang von zu Hause weg.
Heute ist mir bewusst, was für Sorgen ich meiner Mutter und meinem Stiefvater bereitet haben musste, aber damals war mir das alles egal. Scheiß auf die Alten, die dich sowieso immer bevormunden und dich keinen Spaß haben lassen. Ich brauchte nur zwei Freunde, die Zigaretten und den Alkohol. Wenn ich diese beiden hatte, dann war ich glücklich, mehr brauchte ich nicht.
Natürlich wollte ich auch mal mehr und habe Huren besucht oder mich mit Mädchen von der Straße eingelassen, aber das Wichtigste war, Tag und Nacht besoffen zu sein. Anfangs hatte ich noch Geld für den Alk, habe mein gesamtes Gespartes dafür ausgegeben. Doch irgendwann war ich pleite, in meiner Not habe ich meine Mutter beklaut. Sie wusste es, hat jedoch geschwiegen, wahrscheinlich hatte sie Angst mich ganz zu verlieren und diese Angst war nicht unbegründet. Um ehrlich zu sein, kam ich damals nur noch heim, um Alk oder Geld zu klauen.
Aber irgendwann, irgendwann hat es Klick gemacht. Ich bin nicht mehr heim, ich dachte mir, hey, du kannst deine Mutter beklauen, warum beklaust du nicht gleich Passanten oder holst dir den Alk direkt aus dem Geschäft? Tja, das habe ich danach getan und es hat funktioniert. Ich bin tatsächlich nicht erwischt worden, ich hatte einfach Schwein gehabt.
Kontakt zu meiner Familie gab’s keinen mehr, zumindest keinen, den ich wollte. Meine Mutter wurde zu der Zeit krank und sie starb kurz darauf, sie kam mich also nicht besuchen. Ja, mein Stiefvater hatte es ein paar Mal probiert, mich heimzubringen, zu meiner kranken Mutter, die Schuldnummer, aber das war mir scheißegal. Nach einer Zeit hat er dann wohl auch aufgegeben, hat mich nie mehr besucht, er hat auch meine Mutter nicht lange überlebt. Der Einzige, der mich nicht aufgeben wollte, war mein Stiefbruder, Alec. Ein Medizinstudent, der am liebsten die ganze Welt retten wollte, vor allem mich. Jeden verdammten Tag kam er zu mir, redete auf mich ein und versuchte mir mit ein paar ekligen, aber anschaulichen Bildern das Rauchen ausreden. Und die Drogen. Damals hatte ich ne kurze Drogenphase.
Aber egal, auf jeden Fall gelang es keinem von ihnen mich aus dem Abgrund zurückzuholen. Ich war nicht mal auf der Beerdigung meiner Mutter, wenn ich mich richtig erinnere, lag ich da vollkommen zugedröhnt in einer Seitengasse und hab gekotzt.
Kurz nachdem auch mein Stiefvater abgetreten war, hab ich ein Straßenmädel kennen und lieben gelernt. Finn, meine erste große Liebe. Ich weiß nicht mal ihren richtigen Namen. Na ja…
Oh man, das waren Wochen. Sex, Drogen, Alkohol, ein einziger Rausch. Es war eine schöne Zeit, zumindest erschien es mir so, aber pausenlos im Dreck miteinander schlafen und sich dauernd übergeben, nein, das ist wirklich nicht das Beste, was einem passieren kann.
Aber die Zeit war eh ziemlich schnell vorbei. Eines Abends setzte Finn sich den goldenen Schuss, das war’s, ein ziemlich unrühmliches Ende.
Keine Ahnung, was danach passiert ist, da hab ich einen ziemlichen Filmriss. Das Erste, an das ich mich wieder erinnere, ist Alecs Wohnung. Ich lag in der Badewanne und er hat mich eiskalt abgeduscht, in Klamotten. Wütend ging ich auf ihn los, schrie tobte, zerstörte einige Dinge in seiner Wohnung, nur um dann abzuhauen.
Ich frag mich, warum er damals nicht aufgegeben hat, aber auf alle Fälle verdanke ich ihm wohl mein Leben.
Ihr fragt euch jetzt sicher, was danach geschehen ist…“
Schweigen herrschte im Saal, alle sahen ihn erwartungsvoll an und Kay sprach auch schnell weiter: „Das Gleiche wie vorher, nur auf die Drogen habe ich verzichtet. Die haben mich zu sehr an Finn erinnert.
Als ich von Alec geflohen war, hab ich mir von ein paar Kumpels ne Flasche Whisky geschnorrt und schnell geleert. Erst danach hatte ich mich wieder halbwegs unter Kontrolle.
Am nächsten Abend stand er wieder vor mir, in seinen sauberen Klamotten, der besorgte Gesichtsausdruck und auch die Angst um mich. Er beschwor mich, mitzugehen, bei ihm zu leben, in den Entzug zu gehen, doch ich habe abgelehnt, kein Interesse, außerdem war ich doch gar nicht süchtig. Süchtig war der alte, irre Max an der Straßenecke, nicht ich. Ich habe alles verleugnet, es verdrängt, mich selbst belogen. Alec musste unverrichteter Dinge abziehen.
Trotzdem kam er jeden gottverdammten Abend wieder und redete auf mich ein. Ich erinnere mich, dass ich ihn einmal verprügelt habe und er am nächsten Tag trotzdem wieder vor mir stand.
Eines Abends blieb er aber aus, ebenso den nächsten und den übernächsten Abend. Eine ganze Woche kein Alec. In meinem Suff fragte ich mich, ob er wohl wirklich aufgegeben hatte, doch dann war er plötzlich wieder da. Aber nicht alleine.
Das war ein Anfang für mich, wenn auch noch nicht der entscheidende Wendepunkt.
Egal, auf alle Fälle hatte Alec einen Koch dabei. Einen Koch.
Ich lachte ihn herzhaft aus und griff nach meiner Flasche. Doch der Koch war schneller, griff nach der Flasche und trank sie aus. Schreiend und zitternd vor Wut ging ich auf ihn los, doch er wich aus. Nachdem er mich ko geschlagen hatte, was ne Weile gedauert hatte, verfrachteten die beiden mich in ein Auto und dann in das Restaurant. Eine üble Stelle sag ich euch.
Als ich wieder aufwachte, konnte ich mich nicht bewegen, die hatten mich gefesselt. Leider nicht geknebelt und so schrie ich, so laut ich konnte. Die Zwei haben mich nur angesehen und gewartet, bis ich zu erschöpft zum Schreien war, das ging schnell, denn mein Körper brauchte seinen Alkohol.
Ich zitterte, der Schweiß lief mir runter, Panik kam in mir hoch, ich war auf Entzug. Doch der Koch, der sich später als Pat vorstellte, hatte Erbarmen mit mir und flößte mir ein paar Schlücke Alk ein.
Dann erklärten sie mir, was sie wollten. Pat war Patient bei Alec und hatte zufällig mit angesehen, wie mein Stiefbruder jeden Abend zu mir kam und auf mich einredete. Er erinnerte sich an früher, als er noch drogensüchtig war und entschloss sich dann, Alec oder eher mir zu helfen. Der Plan der Beiden sah vor, dass ich eine Ausbildung unter Pats strenger Aufsicht durchführen sollte. Mit Alkohol.
Kontrolliertes Trinken, das war ihr erstes Ziel. Vermutlich war beiden klar, dass ich bei einem vollkommenen Entzug ganz schnell wieder weggewesen wäre.
Ehrlich gesagt, ich weiß nicht, wie ich die Ausbildung abgeschlossen hatte, aber ich bin tatsächlich Koch geworden. Früher, als Kind, hatte ich immer gerne gekocht und das war wohl nicht schlecht.
Im ersten Jahr meiner Lehre lebte ich bei Pat, musste ihm wie ein Schlosshündchen folgen und hab nur Mist gebaut. Doch dann hab ich meine eigene Wohnung bekommen und tatsächlich hatte ich mich in der Zeit relativ gut im Griff. Zwar weiß ich nicht, wie die beiden es geschafft hatten, aber ich trank in Maßen. Rauchte zwar wie ein Schlot und konnte nicht auf den Alk verzichten, aber ohne Wutausbrüche, kontrolliertes Trinken.
Nach der Ausbildung übernahm Pat mich in seinem Betrieb und ich fühlte mich eigentlich ziemlich wohl dort, mir ging es gut. Aber dann musste er, nach einem schweren Autounfall, das Restaurant schließen.
Da stand ich nun, hatte zwar die Wohnung, die Alec mir unter der Bedingung arbeiten zu gehen weiter bezahlte, musste mir aber einen Job suchen. Das war aufgrund meiner Vergangenheit alles andere als einfach.
Ich fand Jobs und verlor sie wieder. Überall eckte ich an, konnte mich nicht einfügen. Ganz langsam, fast unmerklich trank ich wieder mehr, ich war unglücklich, unzufrieden. Trotzdem hielt ich, irgendwie und zumindest anfangs, das Ganze vor Alec geheim.
Doch eines Tages, ich hatte wieder mal meinen Job verloren, ging ich heim und sah mich im Spiegel an. Gott, sah ich aus. Blutunterlaufene Augen, Bartstoppeln, eingefallenes Gesicht. Das sollte ich sein?
In diesem Moment fasste ich einen Entschluss. Könnt ihr es euch denken?“
Eine Schülerin hob zaghaft die Hand und fragte nach Kays Zunicken leise: „In den Entzug zu gehen?“
„Nein. Leider nicht. Ich entschloss mich zu sterben. Mich in den Tod zu saufen. Und so trank ich und trank und trank. Ich weiß nicht mehr, wie viele Flaschen es waren, aber ich trank so viel, wie noch nie zuvor. Die Flaschen rutschten mir aus der Hand, zerbrachen auf dem Boden, es stank nach Whisky, nach abgestandenem Alkohol, aber es war mir egal. Ich sank ganz langsam in eine schon fast wohltuende Apathie, vergaß alles um mich herum, spürte nicht einmal die Schnitte in den Fußsohlen, die ich mir dabei zuzog, es war ein wundervolles Gefühl.
Irgendwann war dann auch alles schwarz, ich habe keine Erinnerungen mehr an das, was passiert ist. Da ist einfach nur schwarze Leere bis zu dem Moment, wo ich in einem weißen Zimmer aufwachte.
Strahlendweiß, zu weiß, ich bekam Kopfweh davon, mein Hals tat weh, meine Zunge fühlte sich pelzig an und mein Magen schmerzte. Die Augen konnte ich nur mühsam öffnen und dann sah ich etwas, dieses Bild hat sich mir eingebrannt.
Alec saß erschöpft auf dem Stuhl vor meinem Bett, den Blick auf den Boden gerichtet. Er weinte, meinetwegen. Und nicht nur das, im Hintergrund stand Pat und er betete. Mit einem Rosenkranz, auch er hatte glänzende Augen. Im ersten Moment bemerkten sie nicht, dass ich wach war, denn ich bewegte mich nicht, doch als sie es bemerkten, liefen Alec noch mehr Tränen herunter und auch Pat wischte unauffällig eine Träne weg, vor Freude.
Ich hatte ihnen so viel Kummer bereitet und sie freuten sich, dass ich noch lebte. Es war… es war eine schönes und bedrückendes Gefühl.“
Hier endete Kay mit seinem Bericht und sah die Schüler an, die seinen Blick nachdenklich erwiderten.
„Habt ihr noch Fragen?“
„Wie… wie haben sie dich gefunden und gerettet?“
„Alec hat erfahren, dass ich meinen Job verloren hatte und ist dann in meine Wohnung gefahren. Dort hat er mich gefunden, kurz vor knapp…“
„Bist du freiwillig in den Entzug? War es schwer?“
„Es war die Hölle. Ich bin zwar freiwillig rein, wollte aber genauso schnell wieder raus…“
„Warum hast du mit dem Trinken angefangen?“
„Trinkst du heute noch Alkohol?“
„Alle haben es gemacht, also habe ich auch probieren wollen und es hat mir geschmeckt. Heute trinke ich nicht mehr, ich bin trocken…“
Die Rektorin, die Kay genau beobachtete, trat dazwischen, um das die Fragerunde zu unterbrechen: „Das reicht jetzt. Vielen Dank, dass Sie heute hier waren, Kay.“
„Sehr gerne“, erschöpft von seiner langen Rede erwiderte er ihren Blick und verließ dann mit einem letzten Winken in Runde die Aula.
Texte: Das Copyright für den Text liegt bei Rina.
Das Copyright für das Coverbild liegt bei Rina.
Tag der Veröffentlichung: 02.06.2009
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Cy, das hier widme ich dir allein.