Mit geübtem Blick überprüfte Tomas die Wüste die vor ihm lag und nickte dann zufrieden. So wie es schien, waren sie allein und somit in Sicherheit. Er wusste, er sollte zurück in das Hauptquartier, aber er konnte es noch nicht, er musterte noch einmal die unendliche Weite die vor ihm lag und konnte den Seufzer nicht unterdrücken. Heute waren es auf den Tag genau zehn Jahre her.
Vorsichtig zog Tomas ein vergilbtes Papier aus der Tasche, dem man ansah, wie oft er es in den letzten Jahren schon angesehen hatte. Als er das Bild betrachtete, stiegen ihm Tränen in die Augen. So sah es früher aus, Wasser, Bäume, Berge, einfach wunderschön, kein Vergleich zu heute.
„Vater!“, erschrocken zuckte der Gerufene zusammen und drehte sich um.
„Luna, musst du dich so anschleichen?“
Verlegen grinste das zierliche Mädchen ihn an: „Tut mir Leid, aber wir haben uns alle Sorgen gemacht, wo du bleibst.“
Mit einem lauten Plumps ließ sie sich neben ihn fallen. Neugierig schielte sie auf das Bild in Tomas’ Hand.
„Was hast du da, Vater?“
Er hatte schon mit dieser Frage gerechnet, immerhin hatte er Luna aufgezogen und kannte ihre ungeheuer große Neugierde.
„Das hier?“, lächelnd sah er zu ihr runter, „Das ist ein Bild von der Welt, wie sie früher war. Vor langer Zeit.“
„Früher?“, verwirrt schaute sie ihn an, „Heißt das, die Wüste sah mal anders aus?“
Nachdenklich hob Tomas seinen Blick und sah in den wolkigen Himmel auf.
„Ja, vor zehn Jahren sah die Welt so aus…“
Mit großen Augen betrachtete Luna das Bild und knabberte an ihrer Unterlippe, wie immer, wenn sie etwas nicht ganz verstand.
„Was ist das?“, mit einem Finger zeigte sie auf den Wald.
„Bäume, Wald…“, Tomas musste schlucken, das Mädchen und auch die anderen Waisen, die er nach diesem großen Unglück aufgezogen hatten, mussten auf so viele verzichten, alles, was sie kannten, waren die zerstörten Städte, die Wüste und den ständig grauen Himmel, „Früher gab es überall unterschiedliche Bäume. Linden, Ahorn, Tannen, Fichten, Eichen… Kirschbäume und so viele mehr.“
Eng schmiegte Luna sich an ihn und sah zu ihm hoch: „Erzähl mir mehr darüber. Was ist passiert? Wohin sind die Bäume verschwunden?“
„Vor zehn Jahren sah fast die ganze Erde so aus. Es gab Ozeane, die voll mit Wasser waren…“
„So wie auf dem Bild hier?“, fragend deutete das Mädchen auf den See.
„Nein, noch viel mehr Wasser, das hier ist nur ein kleiner Teil davon“, Tomas lächelte leicht, „Aber es gab auch da schon die Wüste. Nur war sie viel kleiner als heute. Hier, wo wir jetzt sitzen, war früher dieser See von dem Bild und die Berge.“
„Aber wo ist das Ganze hin?“
„Es gab einen Krieg. Damals lebten Millionen, nein, Milliarden von Menschen auf der Erde und einige davon haben einen Krieg ausgelöst.“
Immer heftiger knabberte Luna an der Unterlippe: „Was ist ein Krieg?“
„Das Schlimmste, was einem Menschen passieren kann. Viele Menschen kämpfen gegeneinander.“
„Haben die etwas Superkräfte, dass sie die ganzen Bäume und die Berge und den See zerstören konnten?“, gespannt und aufgeregt sah sie ihn an und Tomas musste bei diesem Blick laut lachen.
„Nein, Kleines, Superkräfte haben sie keine“, immer noch schmunzelnd strich er ihr über das weiche Haar, „Aber Super-Waffen. Waffen, die die ganze Erde zerstört haben.“
Schweigend betrachtete Luna das Bild. Dann gab sie es Tomas zurück und gab ihm einen Kuss auf die Wange: „Ich bin froh, dass wir dich haben. Bleib nicht zu lange hier oben, die anderen vermissen dich schon, Vater.“
Dann ging sie winkend davon. Tomas sah ihr hinterher und wandte dann den Blick wieder nach vorne. Nachdem er sicher war, dass sie weg war, sackte er ganz in sich zusammen und lachte bitter auf. Ja, ein Glück, dass die Kinder ihn hatten.
Kopfschüttelnd sah er auf den Boden. Kein Glück, nichts… Er war schuld, er hatte die Zerstörung eingeleitet, er hatte an der Waffe gesessen, er hatte sie aktiviert, er, Leutnant Tomas D. Johnson. Alles war seine Schuld.
Mit einem Wutschrei zerriss er das Bild. Was brachte diese Erinnerung? Er musste lernen, in der Gegenwart zu leben und er musste seinen Schützlingen endlich die Wahrheit sagen. Ihnen alles erzählen, alles…
Langsam stand er auf und klopfte den Sand von seinen Hosen. Tief durchatmend ging er zu den Treppen ihres Quartiers. Es war an der Zeit für die Wahrheit, die ganze Wahrheit.
Texte: Copyright des Textes liegt bei Rina.
Tag der Veröffentlichung: 29.05.2009
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