Sofie zuckte mit den Schultern und sah ihn aus ihren katzengrünen Augen ernst an.
„Wir sind tot, also, was willst du noch ändern?“
„Wie kannst du nur so ruhig bleiben? Warum macht es dir nichts aus? Ich will leben.“
„Dann hättest du nichts trinken sollen. Außerdem bin ich nicht Schuld daran, dass du auch hier bist. Hättest du nicht noch versucht auszuweichen, würdest du leben.“
Fassungslos schaute Alec sie an und fragte mit deutlichem Entsetzen in der Stimme: „Was denkst du dir eigentlich? Glaubst du, ich überfahre einfach so einen Menschen? Ich mag zwar tot sein, was nicht unbedingt von Vorteil ist, aber wenigstens habe ich kein schlechtes Gewissen.“
„Warum eigentlich nicht? Immerhin hast du mich trotzdem getötet.“, erwiderte Sofie ruhig und lehnte sich auf dem Sitz zurück.
„Aber… ich… wenigstens… Ach verdammt, wir sind beide tot, was soll das denn noch? Mich würde viel eher interessieren, wo wir hier sind.“
„In einer Kutsche.“
„Darauf wäre ich jetzt aber nicht gekommen, du bist wirklich genial“, genervt verdrehte Alec die Augen, „Wohin fahren wir?“
„Fahren wir überhaupt?“
Jetzt war der Schwarzhaarige irritiert.
„Wir sind tot, wir sind in einer Kutsche, wir müssen irgendwohin fahren.“
Er zerrte an einem der Vorhänge, die die Fenster verdeckten, doch er konnte nicht nach draußen schauen. Enttäuscht drehte er sich zu Sofie, die ihm einen weiteren scharfen Blick zuwarf.
„Wie hast du dir den Tod vorgestellt?“, fragte er sie leise.
Eine Weile sah sie ihn einfach nur schweigend an, doch dann gab sie ihr Schweigen auf: „Was für eine Frage. Normalerweise stellt man sich mit 22 Jahren noch nicht seinen Tod vor.“
„Du schon.“, antwortete Alec mit fester Stimme, „So gelassen, wie du das Ganze siehst…“
„Ja, du hast Recht. Ich habe es mir schon öfters vorgestellt, wie ich sterbe und was hinterher sein wird.“
„Und?“
„Schlaftabletten. Ein sanfter schmerzfreier Tod, einfach nur einschlafen.“
„Hast du… hast du gelitten?“
„Erstaunlicherweise nein. Ich glaube, ich war sofort tot… Und du?“
„Es war ein seltsames Gefühl, ich war wach, habe alles klar wahrgenommen, aber ich hatte keine Schmerzen. Mein Körper fühlte sich taub an und dann, mit einem Mal, war alles kurz schwarz und dann war ich hier.“
„Ja, ich habe die Lichter von deinem Auto gesehen, dann war alles dunkel und ich bin hier gewesen, allein.“
„Ich frage mich nur, wo all die hübschen Engel sind, die Blumenwiese und Gott. Das klingt vielleicht albern, aber ich habe mir den Tod irgendwie immer schön vorgestellt, hell, wolkig. Jedenfalls war mein Himmel nie eine Kutsche.“, Alec lächelte leicht bei seinen alten Wunschträumen.
„Eine Blumenwiese? Der Tod ist das Ende. Danach sollte nichts mehr kommen. Keine Erinnerungen, keine Gedanken, keine Kutschen, keine Wiesen, nichts.“
„Aber nichts davon erklärt, warum wir in dieser dämlichen Kutsche sitzen. Aus den Fenstern sieht man nichts, die Türen kann man nicht öffnen und aufs Klo muss ich auch.“
Sofie sah ihn aus großen Augen an und musste dann lachen: „Du musst auf Toilette? Ich dachte, wenn man tot ist, erledigt sich das von selbst.“
„Anscheinend nicht.“
„Schon gut, ehrlich gesagt habe ich dafür Hunger. Das ist doch irgendwie verrückt. Ich habe mir so oft den Tod gewünscht, einen absoluten Schlussstrich und jetzt bin ich tot, aber hungrig.“
„Warum wolltest du sterben?“, wieder stellte Alec eine schlichte und doch schwere Frage.
„In meinem Leben ist zu vieles schief gelaufen. Das Übliche, nur eine weitere der vielen jungen Frauen, die mit sich selbst nicht mehr klar kommen.“
„Glaubst du, die da unten werden uns vermissen?“
„Unten? Sie könnten doch auch oben sein…“
„Also gut, glaubst du unsere Hinterbliebenen werden uns vermissen?“
„Sicherlich gibt es irgendwo irgendjemanden, dem wir fehlen.“
„Das glaube ich auch. Seltsam, über so etwas nachzudenken.“
„Du stellst vielleicht Fragen, ich glaube, du hast dir mehr Gedanken über den Tod gemacht, als ich…“
„Hm…“, antwortete Alec ausweichend, „Ich habe nur noch eine Frage.“
„Ja?“
„Warum bist du nicht noch ausgewichen? Du hast mein Auto doch schon viel früher gesehen. Wolltest du sterben?“
Sofie musste schlucken und antwortete nur sehr leise: „Eigentlich wollte ich ausweichen, aber meine Beine waren wie erstarrt, ich konnte mich nicht bewegen. Es war wohl meine Chance…“
„Okay.“
„Wie ‚Okay’?“
„Einfach nur okay, ich kann es verstehen, ich wollte es nur wissen. Zur Beruhigung für mein Gewissen.“
„Aber…“, Sofie wollte gerade zu einer Frage ansetzen, als die Kutsche sich langsam in Bewegung setzte, „Wir fahren!“
„Ja, zu Blumenwiesen und Engeln“, sagte Alec lächelnd.
„Woher willst du das denn jetzt schon wieder wissen?“
„Jeder macht den Tod zu dem, was er will. Und ich will, dass wir zwei auf den Wolken rumtanzen und dort die Himmelsblumen pflücken. So einfach ist das.“
Tag der Veröffentlichung: 26.05.2009
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