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Iris stieß den Spaten in die Erde und wischte sich mit dem Handrücken über die Stirn. Wenn der März weiterhin so ungewöhnlich warm bliebe, könnte sie die Wildnis roden und bis zum Sommer in einen Garten verwandeln. Sie sah zum Haus hinüber und lächelte bei dem Gedanken, wie schön es mit blühenden Spalieren aussehen mochte.
Das Haus lächelte zurück.
„Spinn dich aus“, sagte Iris ärgerlich. „Es ist nur die Anordnung der Fenster und Türen. Ein Haus kann nicht lächeln!“
Das Haus lächelte unbeirrt weiter.
Iris betrachtete lieber ihre Fingernägel, den verwilderten Garten, den Schuppen unter der großen Eiche – alles war besser als der unwillkürliche Blick zum Dachbodenfenster.
„Ein Haus kann nicht lächeln“, wiederholte sie, „und da ist auch kein Gesicht hinter dem Fenster!“
Drei Spatenstiche später hatte sie den Blick lange genug vermieden und sah auf.
Ein heller Fleck ist nur ein heller Fleck. Eine Wolke spiegelt sich, daran ist nichts ungewöhnlich, und beunruhigend schon gar nicht. Sie nahm sich mal wieder ganz fest vor, nach dem verflixten Schlüssel zu suchen, damit sie endlich die Tür zum Dachboden öffnen konnte. Dann würde sie schon sehen, dass da nur ein vergessenes Kleidungsstück an einem Haken hing, denn es war schlicht nicht möglich, dass ihr von da oben ein kleines Mädchen zuwinkte. Eins war mal ganz sicher: in ihrem Haus spukte es nicht. Nachts hörte sie weder Stöhnen noch Wimmern noch Kettengerassel.
Allegra hätte schon längst ihre Angst überwunden und notfalls diese verdammte Tür eingeschlagen. Allegra hätte gar nicht erst Angst gehabt, sondern wäre gleich am ersten Tag nach oben gestürmt und hätte mit allen Gerüchten aufgeräumt.
Iris streckte sich selber die Zunge raus. Was für hässliche Gedanken an so einem schönen Tag! Als der Lieferwagen vorfuhr, war sie beinahe froh darüber, dass sie in ihrer Einsiedelei gestört wurde. In einem ihrer Bücher würde jetzt ein pickliger Jüngling mit drei hoffnungsvollen Barthaaren Allegra anstarren und vor Bewunderung ganz vergessen, seinen Kaugummi zu bearbeiten. Im echten Leben holte eine junge Frau die Kiste mit Lebensmitteln aus dem Transporter und fragte nach dem Weg zur Küche.
Iris warf einen schnellen Blick nach oben (Richtig, kein heller Fleck am Fenster. Keine Wolke, auch kein Gesicht. Doch alles nur Einbildung!) und ging voraus. Jetzt fiel ihr auch wieder ein, weshalb sie sich so weit draußen auf dem Land verkrochen hatte: um den plappernden Mündern, den neugierigen Nasen, dem hohlen Gewäsch zu entgehen. Um Ruhe zu haben. Beinahe wünschte sie, sie könnte der Lieferantin einen Kaugummi anbieten, damit das Geschwätz von Geschmatz abgelöst würde.
„Wir hätten ja nicht gedacht, dass das Haus so schnell verkauft wird, schon ein halbes Jahr nach seinem Tod. Von uns hätte es jedenfalls keiner genommen, runtergekommen, wie es ist. Er war schon ein wunderlicher alter Kauz, auch wenn man nichts auf die Gerüchte gibt, seltsam war er allemal. Sie haben doch sicher gehört?“
Iris hatte gehört. Mehr als einmal. Wenn sie ehrlich war, musste sie zugeben, dass das eher als der Wunsch nach Abgeschiedenheit der Grund war, weshalb sie den Ort mied und sich alles, was sie brauchte, ins Haus liefern ließ: das unvermeidliche Bombardement mit Geschichten aus der Vergangenheit. Was ging es sie an, was vor einem halben Jahrhundert hier passiert war – oder vielleicht auch nicht?
„Ich hab mich mal schlau gemacht,“ – Natürlich. Jeder in dem Ort hatte sich schlau gemacht und war nur zu gerne bereit, sein Wissen zu teilen - „die Polizei hatte ihn nie richtig in Verdacht. Er hatte ja auch kaum mit den Leuten zu tun und mit dem Kind schon gar nicht. Er wurde nur mal routinemäßig befragt, aber Sie wissen ja, was die Leute gleich aus sowas machen.“
Iris wusste das, es wurde ihr oft genug um die Ohren gehauen.
„Ich glaube, dass es nur eine Hexenjagd war, weil er und seine Frau sich so eingeigelt hatten, aber das kann man doch verstehen, nach dieser Tragödie. Sie wissen vielleicht nicht, dass die Tochter der beiden kurz davor ertrunken war.“
Iris wusste, dass sie anfangen würde zu schreien, wenn die Frau nicht endlich in ihr Fahrzeug krabbelte und abfuhr. Ruhe, Frieden, Einsamkeit hatte sie sich anders vorgestellt. Sie begleitete die junge Frau zum Gartentor zurück. Das war keine Höflichkeit, sondern das beste Mittel, sie wieder aus dem Haus zu kriegen.
Auf dem Rückweg warf sie einen Blick auf das Fenster im obersten Stock: der helle Fleck war wieder da. In einem Buch würde jetzt stehen: „‚Du Närrin, da ist kein Gesicht hinter dem Fenster‘, schalt sie sich“, doch Iris sah keinen Sinn darin, sich selber auszuzanken. Es gab eine natürliche, einleuchtende Erklärung dafür. Ein weißer Gegenstand. Nur irgendein Ding, das so stand, dass man es von unten sehen konnte. Sie müsste nur endlich die Dachbodentür öffnen, dann würde sie da oben jede Menge Gerümpel finden und mittendrin dieses weiße Ding. Alles ganz harmlos.
Fünf Spatenstiche später hielt das nächste Auto vor dem Haus. Iris rammte den Spaten wieder in die Erde und ging nachsehen. Dass da jemand zu den Nachbarn wollte, war nicht zu hoffen. Es gab hier keine Nachbarn. Nur ein Haus, Wildnis, und vielleicht ein Blick auf das Meer, wenn man von ganz oben aus dem Fenster sah. Sie versteckte den Gedanken ganz weit hinten und setzte eine Art Begrüßungslächeln auf. Das war besser als ein Grinsen, auch wenn Gitta zum Schreien komisch aussah, wie sie versuchte, ihre Stadtwürde selbst beim unbeholfenen Stöckeln durch Gestrüpp zu wahren. Iris ersparte Gitta lieber ein paar undamenhafte Laufmaschen und lotste sie ins Wohnzimmer. Agentinnen sollte man nicht verärgern, auch wenn man sie ganz weit weg wünschte, und diese Agentin war ohnehin schon gereizt genug.
„Ich verstehe es nicht“, legte sie los, sobald sie auf dem dornenfreien Sofa in Sicherheit war, „niemand versteht es. Hättest du nicht einfach nur das Telefon abstellen können?“
„Damit du dann an meine Tür hämmerst?“
„Sei nicht albern, Süße, ich hab dich noch immer in Ruhe gelassen, wenn du schreiben wolltest.“
Das stimmte. Solange der Abgabetermin nicht zu nahe rückte, war Gitta für ihre Verhältnisse recht zurückhaltend.
„Ich schreibe ja nicht“, antwortete Iris. „Mit Ruhe meine ich Ruhe vor allem und besonders vor Allegra. Wenn ich diesen albernen Namen nur höre, könnte ich die Wände hochgehen!“
Gitta gackerte. Anders konnte man dieses Geräusch kaum nennen: sie gackerte.
„Mach nur, Liebchen, das vereinfacht die Sache. Brauchst keine Leiter. Lieber Himmel, wieso musste es ausgerechnet diese Bruchbude sein! Du kannst dir doch wirklich was Besseres leisten, und das verdankst du ausschließlich Allegra, also rede nicht schlecht über das Mädel. Setz dich lieber hin und gönne ihr ein neues Abenteuer.“
Iris seufzte. Das schien ihr jetzt eine angemessene Reaktion zu sein.
„Schreib du doch selber“, sagte sie. „Ist gar nicht so schwer. Ich schenk dir ein Lexikon der Klischees, die gruppierst du einfach um ein paar fabelhafte Menschen, packst eine Jacht dazu und etwas Mondschein, ne kleine Schießerei – fertig.“
Gitta gluckste, was nur wenig besser war als das Gackern.
„Sei nicht albern“, wiederholte sie. „Niemand reiht Klischees so gut aneinander wie du.“
Den Rest der Rede kannte Iris schon. Sie schaltete ab und grunzte nur noch in unregelmäßigen Abständen.
Erst bei: „… wenn du dich davor fürchtest, auf den Dachboden zu gehen!“, klinkte sie sich wieder in die Unterhaltung ein.
„Ich fürchte mich nicht!“, protestierte sie. „Ich bin nur noch nicht dazu gekommen. Hier ist genug anderes zu tun, da muss der Dachboden warten. Der ist überhaupt nicht wichtig.“
„Der ist überhaupt wichtig, und du weißt genau, warum!“, widersprach Gitta. „Tu es! Pack es endlich an, du blockierst dich sonst nur selber.“
„Was mich blockiert, sind eher die Leute, die dauernd hier angerauscht kommen, um mich zu etwas zu überreden, das ich gar nicht will!“
Der Ausbruch tat Iris beinahe leid, als Gitta daraufhin beleidigt abrauschte.
‚Die kommt wieder‘, dachte sie. ‚In einer Woche spätestens startet sie den nächsten Versuch, einen Kitschroman aus mir rauszuleiern.‘
Iris wollte sich keine Abenteuer mehr ausdenken, die nur das Ziel hatten, die bildschöne Heldin vor malerischem Sonnenuntergang in die Arme eines ansehnlichen Mannes sinken zu lassen. Iris wollte den Garten umgraben.

Wenige Spatenstiche später machte ihr Herz einen Satz, als sie auf etwas Metallenes stieß. ‚Nein‘, korrigierte sie sich selber, ‚Allegras Herz hätte einen Satz gemacht. Ich fühle mich nur … seltsam. Ein wenig wie gelähmt und ein bisschen aufgeregt.‘
Mit den Händen grub sie den Gegenstand aus, wischte die Erde ab und entschied dann, dass eine leere Keksdose kein besonders interessanter Fund war.
‚Da! Die ganze Aufregung umsonst. Ich lasse mich doch nicht von ein paar vagen Gerüchten ins Bockshorn jagen!‘
Dämmerung kam durch die kahlen Äste der Eiche gekrochen. Iris kickte die Dose tief in das Gestrüpp, das einmal eine Hecke gewesen sein musste, und stützte die Arme auf den Spaten. Der Himmel verdunkelte sich zu einem tieferen Blau, das bald in dieses samtige Violett übergehen würde, wie man es nur an einem klaren Frühlingsabend sehen konnte.
Dieser schimmernde Fleck konnte doch auch die Spiegelung des Mondes sein, oder? Iris hob die Hand zu einem zaghaften Winken. Das Mädchen mit den struppigen Haaren rückte näher ans Fenster und winkte zurück, und Iris beschloss, nie, aber auch wirklich niemals die Dachbodentür zu öffnen. Sie wollte nicht wissen, was dahinter war. Am Ende käme doch nur dabei heraus, dass sie halluzinierte und in die nächste Klapsmühle gehörte.
Sie wandte dem Haus mitsamt seinen Fenstern den Rücken zu und klopfte die Erde vom Spaten. Sie wollte ihn jetzt im Schuppen verstauen, sich die Hände waschen und am besten das Gesicht gleich mit, und zwar mit eiskaltem Wasser. Sie wollte sich mit belegten Broten und einem Buch auf ihr Sofa zurückziehen und von dem Tag träumen, an dem der Schornsteinfeger grünes Licht für ein gemütliches Kaminfeuer geben würde. Und wenn es dem Kaminfeuer dann je einfiele, auch ohne nennenswerten Luftzug wild zu flackern oder gar auszugehen, wollte sie ganz sicher nicht über mögliche Ursachen nachdenken, sondern einfach ein neues anmachen.
Gerade als sie sich stark, selbstbewusst und kein bisschen furchtsam fühlte und die Härchen auf ihrem Rücken sich wieder hinlegten, hielt das nächste Auto vor dem Haus. Iris strich sich die Haare aus der Stirn und kletterte über aufgeworfene Erde zum Gartentor, wo der nächste Lieferant in der Dunkelheit vergeblich nach einem Klingelknopf suchte.
„Sie sollten eine Außenbeleuchtung auf die Liste setzen!“
Deutlich ungehalten trug er Kartons mit den bestellten Tapeten und Farbeimern ins Haus und stapelte alles im Flur.
Seine Laune besserte sich, als er Iris im Licht sah.
„Sie haben da …“, sagte er, „Sie haben da was. Sieht wie Erde aus. Haben Sie im Garten gebuddelt?“
Iris nickte und kramte ein Taschentuch hervor.
„Finde ich gut“, meinte der Tapetenmann. „Wenn eine Frau ordentlich anpacken kann, meine ich. Nicht, dass sie nicht trotzdem noch Hilfe von einem Mann brauchen kann.“
Iris unterdrückte den Wunsch, einmal – wirklich nur ein einziges Mal – wie Allegra handeln zu dürfen und dem Mann mit einer Rolle Tapeten eins überzuziehen.
„Dann wollen wir mal einen Blick auf Ihr Holzproblem werfen“, sagte er und marschierte schon mal voraus ins Wohnzimmer. Während er die Wandvertäfelung auf Herz, Nieren und Risse prüfte, stand sein Mundwerk keinen Moment still.
‚Schwätzt wie ein Marktweib‘, dachte Iris und fragte sich, wann er wohl zu dem Thema kommen würde, das ihn am meisten beschäftigte.
„Ist alles erst so um die fünfzig Jahre alt“, meinte das Marktweib, „dafür ist der Zustand miserabel. Da werden Sie ne Menge Material brauchen. Ich schreib’s auf die Liste, gleich hinter die Außenbeleuchtung. Und Sie wollen das alles selber wieder herrichten? Na, Sie haben Mut, junge Frau! Dass Sie überhaupt in dieses Haus … Sie wissen schon, was hier passiert ist, ja?“
Iris nickte, aber er sah gar nicht hin. Er klopfte an der Wand herum, zerrte an der Vertäfelung und bohrte hier und da mit einem Taschenmesser Löcher hinein.
„Die haben nämlich dieses Kind entführt. Manche sagen, sie waren es nicht, aber ich glaube schon. Erst ertrank ihre eigene Tochter, und nicht lange danach, es war kein halbes Jahr später, da verschwand die Tochter von diesem Keksdosenfabrikant.“
„Keksfabrikant?“, fragte Iris nach.
„Nein, Keksdosen

fabrikant, sag ich doch!“ Er schabte Lack von Holz und riss als Zugabe noch ein Stück Tapete von der Wand.
„Überstreichen können Sie vergessen, das muss alles runter! Jedenfalls dem seine Tochter …“
„Dessen Tochter“, sagte Iris automatisch und übersah den bösen Blick, den er ihr zuwarf.
Zur Strafe rammte er das Taschenmesser besonders tief in die Vertäfelung und ruckelte damit ein wenig hin und her.
Dem seine

Tochter verschwand also einfach so, über Nacht. Die Polizei suchte in der ganzen Region, aber die suchten nach einem, der Geld erpressen wollte, verstehen Sie? Die haben die menschliche Komponente nicht beachtet.“
Diese Formulierung gefiel ihm ganz außerordentlich.
„Ja, die menschliche Komponente. Davon haben die keine Ahnung, aber im Ort wussten alle genau, was Sache ist. Und nicht mal zwei Jahre danach verschwand seine Frau!“
„Wessen Frau jetzt?“, wollte Iris wissen.
Der Tapetenmann tat nicht mal mehr so, als wolle er den Zustand der Vertäfelung untersuchen.
„Die von dem Alten natürlich. Damals war er noch ein Junger, klar. Und sie war einfach weg, mitsamt ihren Sachen. Er hat behauptet, wir hätten sie vertrieben mit unserem Klatsch, aber wenn Sie mich fragen …“.
Er ließ den Satz in der Luft hängen, als müsse jedem klar sein, was er dachte.
„Ist doch kein Zufall, dass die Leute hier immer wieder ein Gespenst sehen.“
„Ein Gespenst??“
Er betrachtete den Krächzlaut, den Iris von sich gab, offensichtlich nicht als Frage.
„Manchmal nur, und es zeigt sich nicht jedem; keine Ahnung, wen es warum auswählt, aber Tatsache bleibt Tatsache, und mir kann keiner erzählen, dass sich der Mond im Fenster spiegelt, denn der Mond kann einem nicht zuwinken. Haben Sie etwa noch nichts gemerkt?“
Er nahm ihr Zittern für ein Kopfschütteln und fuhr fort: „Glück gehabt. Sie könnten ja sonst nicht in Frieden wohnen hier, und ich will auch nichts gesagt haben. Wo wir gerade dabei sind: die Dachbodentür hat sich mit der Zeit total verzogen. Wenn Sie wollen, bringe ich bei der nächsten Lieferung einen Hobel mit und richte Ihnen das im Nullkommanix.“
Iris zitterte immer noch.
„Na gut, wie Sie wollen. Aber das hier“, er fing wieder an zu zerren und zu reißen, „das muss runter. Damit haben Sie keine Freude. Ist alles ganz schlampig gemacht hier.“
Eines der Bretter löste sich mit einem Ruck von der Wand und gab den Blick frei auf mehrere Schichten Papier.
„Wärmedämmung mit Zeitungspapier!“ Der Tapetenmann war empört. „Unprofessionelle Arbeit! Das muss alles runter – so kann man doch nicht wohnen!“
Was würde Allegra jetzt tun? Iris beschloss, mit dem Zittern aufzuhören und den Mann so schnell wie möglich loszuwerden, bevor er ihr noch erzählte … da, zu spät!
„An Ihrer Stelle würde ich hier keine Mauern einreißen und im Garten nicht allzu tief graben. Man kann nie wissen.“
Sie versprach ihm, dass sie nicht auf eigene Faust vergrabene oder eingemauerte Skelette finden würde. Sie versprach ihm auch, ihn im Zweifel um Hilfe zu bitten, ‚denn manchmal ist so ein Mann im Haus doch ganz nützlich, nicht?‘ - Hauptsache, er ging endlich weg und nahm seinen Wortschwall mit. Die Bestellung einer Außenbeleuchtung und ein Termin für die nächste Lieferung waren der richtige Köder.
Iris beschloss, zu den belegten Broten noch eine Flasche Rotwein zu packen. Kerzenlicht war nicht notwendig, aber zwei bis drei Gläser Rotwein waren jetzt ein Muss. Sie war aufs Land gezogen, ganz weit weg von allem, um Allegra, ihre Abenteuer und Amouren aus ihrem Kopf zu vertreiben. Sie war in dieses lächelnde Haus gezogen, um sich bei der Renovierung auszutoben und dabei den Müll in ihrem Kopf durch ein paar gehaltvollere Gedanken zu ersetzen, doch jetzt spukte nur noch ein Geist darin herum.
Energisch setzte sie das Tablett auf dem Wohnzimmertisch ab, energisch zog sie den Korken aus der Flasche, und ebenso energisch biss sie in ein Käsebrot. Damit war ihre gesamte Energie verbraucht, und sie gab dem nach, was ihr Kopf wollte. Vorsichtig zog sie die Zeitungsauschnitte hinter der Holzvertäfelung hervor und pflanzte sich damit aufs Sofa.
Es stand nichts Neues in den Artikeln; die Dorfbewohner hatten sich alle Mühe gegeben, sie möglichst umfassend zu informieren, doch jetzt sah sie zum ersten Mal die Bilder dazu. Sie zeigten eine große Villa mit Meeresblick, eine Familie beim Frühstück, beim Tennis und beim Ausritt. Lachende Gesichter in glücklichen Zeiten. Die Bilder zeigten auch weinende Eltern in einer unglücklichen Zeit. Vor allem aber ein Bild war immer wieder abgedruckt: das eines kleinen Mädchens mit ordentlich frisierten Haaren, das ein Stoffkaninchen an sich drückte. Darunter stand: Elisabeth, 6 Jahre.
Iris stürzte das zweite Glas Rotwein in einem Zug hinunter und vergrub den Kopf unter einem Kissen. Sie hatte keinen Hunger mehr – oder keinen Appetit? – nur noch eiskalte Füße. Eiskalte Hände auch, und ihre Nackenhaare spielten schon wieder verrückt. Sie rollte sich zu einem möglichst kleinen Knäuel zusammen und packte sich noch ein zweites Kissen auf den Kopf. ‚Ihre Gedanken rasten‘ – noch so ein dämlicher Satz, der zu Allegra passte, aber genau so war es: ihre Gedanken rasten im Zickzack, machten nirgendwo Halt. Im einen Moment waren sie bei: ‚Ein Spukhaus also? Ich sollte ganz schnell ausziehen. Zurück in die Stadt, nur noch an Abenteuer und kitschige Sonnenuntergänge denken!‘, sausten an: ‚Nein, ich lasse mich nicht vertreiben!‘ vorbei, streiften: ‚Mir ist kalt und ich bin blau‘, wurden langsamer bei: ‚Sie hat mir nichts getan. Nur zugewinkt.‘ und bremsten endlich bei: ‚Elisabeth. Sie hat einen Namen: Elisabeth.‘
Nach dem vierten Glas Rotwein waren ihre Gedanken so zähflüssig geworden, dass das Mantra: ‚Sie winkt mir nur zu. Elisabeth.‘ sie in den Schlaf schaukelte.
Erst als die Morgensonne sich ins Zimmer kämpfte, erwachte Iris mit einer pelzigen Zunge und einem neuen Gedanken: ‚Ich muss endlich mal die Fenster putzen!‘
Sie setzte sich auf und fand, dass das eine Fehlentscheidung war. Nicht nur, dass ihr Kopf protestierte, jetzt rückte auch der Tisch in ihr Blickfeld, auf dem außer verwelkten Käsebroten noch vergilbte Zeitungsauschnitte lagen. Iris fand außerdem, dass eine Portion kaltes Wasser jetzt genau das Richtige wäre. Auf dem Weg ins Bad stieß sie sich das Schienbein an einem offenen Karton mit Farbrollern und Werkzeugen.
„In Ordnung, Allegra, du hast gewonnen!“
Iris griff sich einen Hammer und eine Axt und rannte so schnell die Treppen hinauf, dass sie vor der Dachbodentür stand, bevor sie es sich wieder anders überlegen konnte. Sie hielt sich gar nicht erst mit dem Versuch auf, die Tür auf normalem Weg zu öffnen. Sie schlug gleich mit der Axt zu. Die Füllung gab schnell nach, und nach wenigen Axthieben war der Weg frei. Nichts von dem, was sie jetzt sah, hatte Iris erwartet.
Der Dachboden war bis auf wenige Gegenstände leer. Staubig, aber leer. Keine Fledermäuse, kein Taubendreck. Nur eine Matratze an der hinteren Wand, davor ein verstaubter Schaukelstuhl.
Iris quetschte sich durch die zersplitterte Tür in den Raum.
„Keine Geister. Keine Gespenster“, brummte sie. „Ich hab’s gewusst! Es gibt keine Gespenster!“
Ihre Erleichterung war stärker als die Enttäuschung. Nur Klatsch und Gerüchte, weiter nichts. Trotzdem ging sie nur vorsichtig weiter in den Raum. Ihre Schuhe hinterließen Abdrücke auf einem Fußboden, der seit einem halben Jahrhundert nicht mehr gekehrt worden war. Vor dem Fenster blieb sie stehen und sah hinaus. Leichter Morgennebel versperrte ihr die Sicht auf das Meer. Von hier oben war von ihren Bemühungen, den Garten zu roden, wenig zu sehen. Das Stück dunkler Erde inmitten von hellbraunem Dickicht war klein genug, dass eine Sechsjährige es mit einem Schritt überqueren konnte.
‚Eine eiskalte Hand umklammerte ihr Herz‘ – würde sie denn nie aufhören, in diesen schnulzigen Sätzen zu denken?
Iris ignorierte die eiskalte Hand, die weichen Knie und zitternden Hände. Sie sah nur zu, wie das Kind durch den Garten lief und hoffte, dass der Nebel in ihrem Kopf sich wieder lichten würde. An der Eiche blieb die Kleine stehen und drehte sich um. Sie hielt wie immer das Stoffkaninchen an sich gedrückt und hob die Hand zu einem Winken. Auch wie immer. Alles normal. Automatisch winkte Iris zurück.
Sekunden später musste sie feststellen, dass Allegra wohl das Kommando übernommen hatte, denn sie rannte die Treppen hinunter, obwohl Knie und Kopf heftig protestierten. Allegras Entschlossenheit trug Iris zwei Stockwerke hinab und durch den Garten bis hin zur Eiche, an der Elisabeth stand und mit zurückgelegtem Kopf wartete.
Iris folgte ihrem Blick und sah oben in den kahlen Ästen ein Stück Seil im Wind schwingen.
„Da oben?“, hörte sie sich durch mehrere Lagen Watte hindurch fragen.
„Ja, da oben“, kam die leise Antwort. „Ich wollte so gerne mal da raufklettern, aber es ging ja nicht. Das war trotzdem mein Lieblingsplatz. Von unten kann man ihn nicht sehen, aber von oben kann man alles sehen, sogar das Meer.“
Elisabeth sah Iris aus großen Augen an.
‚Also bitte‘, dachte Iris, ‚warum nicht gleich „Aus großen, tränenerfüllten Augen“?‘
Laut sagte sie: „Aber jetzt kannst du.“
„Ja, jetzt kann ich. Komm.“
Mit müheloser Leichtigkeit kletterte Elisabeth den Baum hinauf. Iris hätte jetzt lieber den Kopf in die Regentonne gesteckt, aber Allegra trieb sie unerbittlich hinterher. Elisabeth saß an einer Stelle, an der die dicken Äste so auseinanderstrebten, dass eine Mulde entstanden war, in der man bequem sitzen konnte. Hätte sitzen können, verbesserte Iris sich, denn in der Mulde lag ein schmales Paket, in braune Plane gewickelt und mit einem Seil am Ast befestigt, dessen Ende sich gelöst hatte und herunterhing. Eine kleine Hand schaute aus dem Paket hervor. Dünne, fleischlose Knochen, über die sich dunkle Haut spannte. Eine Hand, die ein halb verrottetes Stoffkaninchen festhielt.
„Sie waren gut zu mir, wirklich. Sie wollten nur jemanden zum Liebhaben. Ich mochte sie ganz gerne.“, sagte Elisabeth, und in ihrer Stimme schwang eine leise Zärtlichkeit.
„Sie haben sich solche Mühe gegeben, aber sie konnten mir auch nicht helfen, als ich krank wurde. Jeden Tag saßen sie an meinem Bett und lasen mir vor. Meine Gouvernante mochte keine Märchen, aber diese beiden lasen mir alle Märchen vor. Ich war die Prinzessin in ihrem Schloss. Prinzessinnen müssen stark und tapfer sein, sagten sie, und ich war tapfer, aber die Krankheit war stärker. Da brachten sie mich zu meinem Lieblingsplatz, damit ich das Meer sehen kann.“
„Und dann?“, fragte Iris, obwohl ihre Kehle wie zugeschnürt war.
„Dann …“. Elisabeth lächelte zum Haus hinüber. „Dann blieb ich bei ihnen, weil sie mich lieb hatten. Aber sie kamen nicht mehr zu mir auf den Dachboden. Nur einmal noch kam die Frau und brachte ein Seil mit. Er hat sie dann in einem Boot aufs Meer hinaus gefahren. Sie liebte das Meer und den Mann und ihre Prinzessin.“
Elisabeth kratzte sich am Bein.
‚Ein Geist mit einem Mückenstich?‘, dachte Iris und gleich darauf: ‚Was für ein Unsinn. Es gibt keine Mücken im März.‘
Elisabeth ließ ihren Blick schweifen vom Haus zum Meer, das man am Horizont nur ahnen konnte, und sah schließlich Iris an.
„Sie sind beide weg und du weißt jetzt, wo ich bin, da brauche ich auch nicht mehr zu bleiben. Nicht auf dem Dachboden und auch nicht auf dem Baum. Sag daheim Bescheid, sie sollen mich abholen.“
Iris wusste nicht, wie sie von dem Baum wieder herunter gekommen war. Sie schaute hoch und sah Elisabeths Gesicht, umrahmt von wirren Haaren. Das Kind hob ein letztes Mal die Hand und winkte, bevor es verblasste. Dann waren die Äste leer. Nur das schaukelnde Seilende erinnerte daran, was sich in ihnen verbarg. Iris unterdrückte den Impuls, einfach loszurennen.
‚Vielen Dank, Allegra, ich übernehme jetzt wieder selber‘, dachte sie und ging langsam zum Haus und zum Telefon.
Das Haus lächelte ihr entgegen.


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Tag der Veröffentlichung: 06.02.2011

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