Es hätte Vollmond sein sollen.
Strahlender Vollmond in sternklarer Sommernacht.
Das würde es jetzt echt bringen. Es wäre passender als so eine doofe Wolkendecke. Kein einziger Stern war zu sehen, und wo der Vollmond war, konnte man nicht mal ahnen. Ob überhaupt Vollmond war oder eher Neumond. Oder bloß so ein doofer Irgendwie-dazwischen-Mond.
Sie lehnte sich an das Brückengeländer und starrte auf den Fluss.
Ohne Vollmond sah der auch ziemlich trübe aus, dabei hätte er doch glitzern sollen. Nicht so träge fließen und nach Schlamm riechen. Tanzen sollte das Wasser, tanzen!
Nur ihr Herz tanzte, als ihre Hand nach dem Zettel tastete.
Vorsichtig faltete sie das Stück Papier auf und las den Text wohl zum hundertsten Mal.
„Ich liebe dich, weil ich finde dich voll süß.
Wilst du mit mir gehn?
Würde mich echt freun.“
Ihr Herz machte noch einen kurzen Satz, dann faltete sie das Papier wieder so, wie sie es bekommen hatte.
Ein Papierflieger traf einen nicht grade jeden Tag im Genick.
Wer ihn geworfen hatte, wusste sie nicht. Ein Blick über die Schulter hatte auch nicht weiter geholfen. Eine Gruppe von Jungen stand hinter ihr, keiner von denen sah in ihre Richtung.
Natürlich nicht. Keiner wollte es gewesen sein.
Sie hob eine Ecke des Papierfliegers an.
„ … ist voll sü…
…mit mir g…
…echt fr…“ stand da.
Fünf oder sechs Typen, die sie nur vom Sehen kannte, alle aus höheren Klassen.
Welcher von denen hatte wohl den Flieger geworfen?
Sie schloss die Augen und atmete tief ein.
Nein, es roch nur nach Wasser.
Blütenduft wäre schöner gewesen.
Rosen.
Nach Rosen hätte es riechen sollen, nicht nach Wasser und feuchter Erde.
Nach Sommer und dunkelblauer Luft, nach tanzenden Herzen und leichtfüßiger Freude sollte es riechen!
Von jetzt an war alles anders. Er liebte sie! Er hatte seine Liebe durch die Luft zu ihr geschickt, ihre Nacht schlaflos gemacht, ihr Herz zum Tanzen gebracht.
Der große Dunkelhaarige musste es sein.
Sie stand auf groß und auf dunkle Haare.
Er roch gut, besser jedenfalls als feuchte Erde. Das war ihr aufgefallen, als sie vor ein paar Tagen mit ihm zusammengestoßen war.
Das war doch Absicht, oder?
Sicher war das Absicht! Er wollte ihr nahe sein, einen Grund haben, sie anzusprechen.
Wie süß von ihm – auch wenn er nur ein knappes ‚‘schuldigung‘ herausgebracht hatte.
Süß – und schüchtern. Das gefiel ihr so an ihm. Er war kein Aufreißer. Das sah man schon daran, dass er einen Papierflieger an seiner Stelle sprechen ließ.
Schüchtern und romantisch, genau wie sie.
Irgendwo da draußen stand er jetzt, hatte sich genau wie sie heimlich aus dem Haus geschlichen, stand am Fluss und suchte vergeblich nach dem Vollmond.
Und wenn es ein Irgendwie-dazwischen-Mond sein sollte, war ihr das auch egal.
Mond oder Wolken, Rosen oder feuchte Erde, ihre Füße wollten tanzen und ihr Herz stand beinahe still.
Der große Dunkelhaarige also. Kein anderer konnte den Papierflieger geworfen haben, schließlich war er genau ihr Typ.
Wie gerne hätte sie jetzt einfach auf der Brücke getanzt. Und gesungen, ganz laut ihre Freude heraus gesungen, aber das durfte sie nicht. Wenn ihre Eltern gemerkt hätten, dass sie nicht im Bett lag – nicht auszudenken!
Warum sie um diese Uhrzeit heimlich aus dem Haus geschlichen war, hätte sie ihnen niemals erklären können. Eltern hatten für die große Liebe kein Verständnis.
Ach, was wussten die denn schon!
Freude und Glück ließen ihr Herz fast zerspringen und wenn sie schon nicht laut singen durfte, so konnte sie wenigstens den Flieger auf die Reise schicken.
Hoch in die Luft. Nicht bis zu ihm, das nicht. Wer weiß, wo er gerade war. Auf einer Brücke, an einem Fluss, an ihrem Fluss vielleicht. Er schaute in den Himmel und suchte den Mond und er dachte an sie. Wo er auch war, er dachte sicher gerade jetzt an sie, wie sie an ihn dachte.
Der Papierflieger stieg ein kurzes Stück auf, neigte sich dann zur Seite und glitt über das Geländer in die Tiefe. Ihr Herz schlug schneller. Wollte er ihr etwas zeigen? Stand der Dunkelhaarige unter der Brücke? War er ihr etwa viel näher, als sie gedacht hatte?
Mit leichten Füßen, die immer noch lieber getanzt hätten, rannte sie ans Ende der Brücke, fand mühelos auch in mondlosem Dunkel den Weg zum Flussufer.
Einen Moment lang riss die Wolkendecke auf und ein nicht ganz halber Mond beleuchtete ein kleines Stück Strand mit einem flachen Stein, auf dem man sitzen konnte. Gerade groß genug für Zwei, wenn sie dicht beisammen saßen. Die letzte Wärme des Sommertages ging noch von ihm aus. Sie wollte nur diese Wärme fühlen und nicht enttäuscht sein, dass es doch nur ein Irgendwie-dazwischen-Mond war.
Irgendwann war auch wieder Vollmond, dann wollte sie hierher zurückkehren, aber diesmal nicht alleine. Der Stein war für Zwei gemacht.
Hier würde es ihm gefallen. Wie er wohl hieß? Sicher nicht „Der große Dunkelhaarige“. Sie musste lachen und erschrak über das Lachen. Es passte nicht hierher. Der Fluss war so ruhig, die Luft hielt den Atem an, alles schien auf etwas zu warten. Auf ein richtig großes Etwas.
Hier irgendwo musste der Flieger gelandet sein. Sie sah sich um und entdeckte ihn am Flussufer. Neben dem Flieger, halb noch um Wasser und halb schon an Land, lag ein Fisch, so lang wie ihr Unterarm. Es machte sie traurig. An so einem schönen Tag sollte niemand sterben, nicht mal ein Fisch, doch als sie ihn in die Hand nahm, bewegte er sich, wand sich und zappelte, wenn auch schwach.
Sie streifte die Schuhe ab und ging ein paar Schritte ins Wasser, bis es tief genug war, um den Fisch loszulassen. Schwimmen sollte er, im Mondlicht durch kühles Wasser gleiten. Leben sollte er.
Ein schrilles Geräusch störte die Stille, ihr Handy klingelte. Ausgerechnet jetzt, wo sie nasse Hände hatte. Konnte er das sein? Warum auch nicht, es war nicht weiter schwer, ihre Nummer herauszufinden. Die Mühe hatte er sich bestimmt gemacht. Dass er gleich anrief und nicht nur eine SMS schickte, gefiel ihr. Es passte zu ihm.
Hastig versuchte sie, die Hände an den Jeans trocken zu wischen und das Handy aus der Hosentasche zu angeln. Zum ersten Mal störte es sie, dass die Jeans so eng waren. Ihre Mutter sagte immer: „Wenn du es eilig hast, mach langsam“. Sie atmete tief durch, ignorierte das wilde Klopfen ihres Herzens und machte langsam. Das Handy hörte auf zu klingeln, als sie es endlich raus gefischt hatte, nur ihr Herz hörte noch nicht auf, wild zu klopfen.
Sie setzte sich wieder auf den Stein und hielt das Handy wie ein Kleinod zwischen beiden Händen. Den Moment, wenn sie seine Nummer auf dem Display las, wollte sie auskosten. Nur kurz war sie enttäuscht, als da keine unbekannte Nummer, sondern das Kürzel BF stand.
Mit wem konnte man besser telefonieren, wenn man sich gerade zum ersten Mal unsterblich verliebt hatte, als mit der Besten Freundin.
Sie drückte auf die grüne Taste und wartete ungeduldig, bis sie endlich die Stimme der Besten Freundin hörte. Nicht gleich herausplatzen mit den Neuigkeiten, erst fragen, wie es so geht und was sie so macht.
Mit jedem Wort, das sie hören musste, wurden die Füße schwerer, hörte das Herz auf zu tanzen. Grade eben noch war das Leben so leicht gewesen, jetzt fühlte sie sich wie erstarrt, während die Freundin, jubelnd vor Freude, von dem echt süßen Jungen erzählte, der ihr einen Papierflieger geschickt hatte mit all seiner Liebe darin und der, als der Flieger die Falsche traf, seinen Mut zusammen genommen und sie direkt angesprochen hatte. Und während die ehemals Beste Freundin davon sprach, wie glücklich sie war, fühlte sie selber sich immer unglücklicher. Dreizehn Jahre alt und ziemlich dumm, denn er liebte sie gar nicht.
Missmutig griff sie nach dem Papierflieger und warf ihn weg. Er hätte einfach runterfallen sollen wie ein Stein, statt dessen segelte er anmutig, beschrieb eine sachte Kurve und landete wieder am Wasser.
Sie seufzte tief und stand von dem Stein auf. Was hatte sie sich nur dabei gedacht! Niemals würde dieser schmale Stein Platz für Zwei bieten, der hatte ja kaum für sie alleine gereicht.
Sie ging hinüber zum Fluss und beugte sich über den Flieger. Daneben lag wieder der Fisch, vom Wasser angeschwemmt, und war tot. Sie fühlte sich ungeliebt und nutzlos. Nicht mal einen kleinen Fisch konnte sie retten.
Langsam faltete sie den Flieger auf, strich das Papier glatt. Die Schrift wurde feucht und verschwamm, als sie den toten Fisch hineinwickelte. Was machte das schon, es war ja doch nicht für sie gedacht. Geschah ihm ganz recht, dass seine Liebe jetzt nach Fisch roch.
Sie begrub den Fisch, den Flieger und die Liebe ein kleines Stück vom Wasser entfernt und bedeckte alles mit dem Stein.
Dem Himmel und den Wolken schenkte sie keinen Blick mehr, als sie nach Hause ging und sich zurück auf ihr Zimmer schlich.
Und überhaupt waren Vollmond und Rosenduft ihr echt voll egal.
Tag der Veröffentlichung: 03.01.2011
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