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Esperanza bedeutet Hoffnung


Das Ding ist eng. Das Ding ist verflixt eng. Es ist sogar verdammt scheißeng.
Manchmal geht es nicht anders, da muss man fluchen. Ich habe Angst. Sieht denn keiner, dass es viel zu eng ist? Niemals passe ich da hinein! In dieser Röhre werde ich hilflos sein. Unfähig, mich zu bewegen, zu drehen. Und wenn ich stecken bleibe, werden die Hände mich niemals erreichen, die darauf warten, mich ins Freie zu ziehen, ans Licht.
Eingesperrt. Noch mehr eingesperrt als vorher. In der Höhle konnte man sich drehen, das geht hier drin nicht mehr. Es ist nur noch Platz für einen. Nur ich, sonst niemand mehr. Allein mit mir selbst. Ich würde so gerne die Arme ausstrecken und nach dem Himmel greifen. Oder nach einer Hand. Nur eine einzige Hand, die nach meiner Hand greift. Noch nie war ich mir meiner Umgebung so bewusst wie jetzt. Noch nie hatte ich weniger Umgebung als jetzt. Alles ist so nah. Alles ist dunkel.

Ganz am Anfang war es dunkel. Lange Zeit war es dunkel und das ist fast alles, was man darüber sagen kann. Es war auch heiß und feucht, aber hauptsächlich war es dunkel. Ich will nicht darüber sprechen. Ich will auch nicht daran denken. Die Dunkelheit legt sich auf meine Seele, auf mein Gemüt; der Staub vernebelt meine Gedanken; die Feuchtigkeit wässert meine Augen.
Victor hat alles aufgeschrieben, damit er sich erinnern kann. Ich will mich nicht erinnern. Zu dunkel war es. In solch einer Finsternis kann man nicht denken.
Irgendwann kam das Licht. Wir waren schon alle tot. Wir lebten zwar, dennoch waren wir tot. Wir gingen umher, wir sprachen, wir weinten, und manchmal aßen wir. Wir lebten noch, während wir auf den Tod warteten. Hoffnung hält am Leben. Glaube hält am Leben, aber oft glaubten wir nicht mal an die Hoffnung.
Es ist nicht kalt hier, nein. Es ist heiß, aber auch Hitze kann kalt sein. Innendrin ist es kalt. Die Wärme der Gemeinschaft tut gut, aber sie ist trügerisch. Zerbrechlich. Alles ist so zerbrechlich, nur Wände und Decke sind massiv. Tonnen von Stein links und rechts von uns. Unter und über uns. Darüber, ganz hoch droben, ist blauer Himmel, aber ich habe ihn vergessen. Das war in einem anderen Leben.
Hier unten ist eine neue Welt. Das absolute Ende der Welt. Vorher lebte ich doch schon am Rand der Welt. Auf jeder Landkarte kann man es sehen: dahinter ist nichts mehr. Ein schmaler Streifen Land, eine Kante, die den Kontinent zusammenhält wie die Kruste das Brot. Vor langer Zeit, als die Erde noch eine Scheibe war, kam nach uns nur das Nichts.
Als Kind stellte ich mir das tatsächlich so vor: dass die Erde früher eine Scheibe war, bis Galilei eine Kugel daraus machte. Davor musste man aufpassen, dass man nicht runterfiel, aber seither, so dachte ich, kann man immer rundherum fahren und doch nie an einem Ende ankommen.
Ich fahre dem Ende entgegen. Diesmal ist der Weg nicht das Ziel. Dieses eine Mal kann ich auch nicht umdrehen und zurückkehren. Ich habe keinen Willen mehr und keine Wahl. Wenn ich die Wahl hätte, würde ich umkehren. Zurück in die Höhle, zu meinen Brüdern. Dort war ich in Sicherheit. Es war eine kleine Welt und sie hatte keinen Himmel, aber ich war nicht alleine. Es war kein großartiges Leben, aber es gab alles, was man zum Überleben braucht. Nahrung, Wasser, die Liebe anderer Menschen. Wir liebten einander. Wir stritten miteinander, gingen uns aus dem Weg, gingen uns auf die Nerven, und trotzdem war eine Liebe in uns allen, wie wir sie früher nie gefühlt hatten. Wir teilten Hoffnung und Verzweiflung und einen Hunger nach Leben, so stark, dass man ihn alleine nicht ertragen konnte. Jeder einzelne Mann wurde mir so wertvoll, dass ich weinen wollte, als einer nach dem anderen in dieser grauenvollen Röhre verschwand.
Als erster fuhr Florencio nach oben. Er lachte, als er in den Lift stieg. Ihm folgte Mario. Sie fehlten mir beide schon im selben Moment. Mir fehlte jeder, hinter dem sich die Tür schloss.
Gehören wir denn nicht zusammen? Sind wir nicht jeder dem anderen die ganze Welt? Familie und Freunde, das hatte ich früher einmal. Längst vorbei. Das war ein anderes Leben in einer anderen Welt. Dort habe ich auch gelebt und geliebt. Dort gab es so viel zu sehen, zu hören, zu fühlen, dass ich es kaum beachtete. Ich liebte meine Eltern, ich liebte meine Frau. So war das eben, und ich dachte nicht weiter darüber nach. Wer werde ich sein, wenn ich jetzt zurückkehre? Wie werde ich lieben, wenn meine Frau mich umarmt und wer wird die Frau sein, um die ich dann meine Arme lege? Ich erinnere mich kaum, wer wir früher waren.
Doch, ich kann mich erinnern.
Meine Ohren erinnern sich, wie das Lachen meiner Frau klingt.
Meine Augen sehen auch in der Dunkelheit den blauen Himmel.
Meine Haut weiß noch, wie Wind sich anfühlt.
Nur ich weiß nicht mehr. Ich will auch nicht wissen, weil ich nur hoffen kann, das alles noch einmal zu fühlen. Es war ein anderes Leben. Dahin würde ich gerne zurückkehren. Florencio ist schon dort. Claudio und Osman sind dort. Beinahe alle sind schon oben, aber sind sie wirklich angekommen?
Ich bin jetzt auf dem Weg nach oben, und ich fühle jedes Ruckeln der Kapsel. Ich höre jedes Sandkorn, das fällt. Ich höre das Scharren der Räder an den Wänden dieser verfluchten Röhre. Ich höre eine Stimme aus dem Kopfhörer. Ich atme frische Luft aus einer Flasche.
Meine Mutter hat mir beigebracht, dass man Sätze nicht mit ‚Ich‘ beginnt. Hier drin bin aber nur ich, sonst niemand. Ich bin allein auf der Welt. Meine Welt besteht nur aus mir. Eine Kapsel, eine Flasche, eine Stimme. Wenn die Kapsel stehen bleibt, die Flasche leer ist, die Stimme verstummt, bleibe nur noch ich.
Ich habe Angst. Ich habe auch Hoffnung, aber vor allem habe ich Angst. Ich will hinaus ins Freie. Meine Arme ausstrecken, mich im Kreis drehen, frische Luft atmen. Die Arme um meine Frau legen, ihr Gesicht in meine Hände nehmen. Ich kann meine Arme nicht bewegen. Dieses eine Mal kann ich nicht die Tür öffnen, um ins Freie zu gelangen.
„Freu dich“, sagten sie zu mir, als sie die Tür schlossen. „Freu dich, du kehrst in dein altes Leben zurück!“
Aber ich weiß nicht. In meinem alten Leben war ich kein Held. Ich bin immer noch kein Held, und trotzdem werde ich einer sein in meinem neuen Leben.
In meinem letzten neuen Leben war ich Ariel, ein Luftgeist in der Hölle.
Es war heiß und dampfig, eine Grotte voll übler Gerüche. Genau so habe ich mir die Hölle immer vorgestellt. Miese Beleuchtung und, wie Jimmy scherzhaft meinte, nur Männer und keine einzige Frau.
Wenn ich an die Hölle glauben würde, was ich nicht tue. Ich bin zwar katholisch, aber nicht sonderlich gläubig. Trotzdem betete ich mit, wenn alle beteten, und sie haben oft gebetet. Es gab ihnen Kraft. Hoffnung. Es gab ihnen auch eine gewisse Gelassenheit, den Willen, das zu ertragen, was ihnen bestimmt ist.
Wenn ich an die Hölle glauben würde … ich brauche nicht daran zu glauben. Ich war in der Hölle.
Wenn ich an den Himmel glauben könnte … doch ich glaube ja an den Himmel. Er ist hoch und weit und klar. Man kann ihn sehen. Man kann ihn sogar fühlen. Man kann die Arme ausstrecken und atmen: tief einatmen, die Lungen füllen mit Luft, die so frisch und köstlich ist wie der Himmel. Man sagt, der Himmel sei nirgendwo so hoch wie über dem Meer. Ich habe das Meer noch nie gesehen. Meine Erinnerung endet in einer Höhle unter dem Berg. Wenn ich oben bin, werde ich ans Meer fahren. Ich werde meine Frau und meine Tochter mitnehmen, und zusammen werden wir ganz neue Luft atmen und einen neuen Himmel sehen.
Wenn ich wieder oben bin, werde ich ein neues Gesicht in meine Hände nehmen und ein neues Leben küssen und ich werde es lieben, wie ich noch nie zuvor geliebt habe.
Wenn die Kapsel still steht, werde ich die Tür öffnen.


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Tag der Veröffentlichung: 18.10.2010

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