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Es wäre so einfach, eine ganz andere Geschichte zu erzählen.
Eine Geschichte von einem großen Haus voller Kinder- lachen, das weit draußen vor der Stadt auf einer Wiese steht.
Ein Kinderheim vielleicht, mit grauem Zwerg Heimweh in der Nacht, mit klapperndem Besteck und plappernden Mündern in der Frühe - aber diese Geschichte hat schon ein anderer erzählt.

Das Haus könnte dasselbe sein wie damals. Die Stadt ist näher gerückt und hat das Haus mit der Zeit umschlossen. Die Wiese ist kleiner geworden, musste neuen Gebäuden Platz machen, die sie jetzt von allen Seiten umgeben. Nur der Baum in der Mitte der Wiese ist seither gewachsen und immer großartiger geworden.

Er erinnerte sich immer an das Lachen der Kinder, die in seinen Ästen turnten und um seinen Stamm tobten. An die Kinder erinnerte er sich nicht, sie waren zu klein und unbedeutend. Sie kamen, sie wuchsen heran, sie gingen wieder. Sie spielten in seinem Schatten, sammelten im Herbst die Kastanien auf und die schönsten seiner bunten Blätter. Wenn sie größer wurden, hatten sie heimliche Stelldicheins unter seiner dichten Krone, ritzten wohl auch einmal Herzen in seinen Stamm.

Das alles gefiel ihm. Es hob nur seine Bedeutung hervor, seine Unzerstörbarkeit: die Kinder, die jungen Leute, sie alle kamen und gingen, die Herzen und Initialen in seiner Rinde blieben bestehen. Er blieb bestehen. Er war jung, als die Kinder unter ihm, auf ihm spielten. Die Kinder wurden alt, er selber war immer noch jung. Mochten auch seine Blätter im Herbst welken und abfallen, das berührte ihn nicht. Im nächsten Jahr gab es wieder neue Blätter.
Der Baum alterte nicht, er wurde nur immer größer und stärker, während die Kinder, kaum zu voller Größe herangewachsen, welk wurden, schwach und gebeugt. Sie lebten wieder in dem Haus, zusammen mit dem grauen Zwerg Einsamkeit; oder vielleicht waren es auch andere als damals, das interessierte ihn nicht. Es waren doch nur Menschen, und die waren vergänglich. Sie kamen, sie wuchsen heran, sie gingen wieder.

Die, die derzeit zu ihm kommen, werden bald für immer gehen.
Sie besuchen ihn zu nur ganz bestimmten Zeiten. Nachmittags. Nie am Vormittag, da gehen sie nicht raus. Jetzt gehen sie nicht raus, jetzt müssen sie hinter dem großen Fenster sitzen und auf ihr Essen warten. Es schmeckt nicht immer und nicht allen, aber sie essen es auf. Der Abwechslung halber und weil es eben gerade die Zeit dafür ist. Es gehört zum Rhythmus, jetzt zu essen.

Tick – aufstehen - tack – frühstücken - tick – warten - tack – Mittagessen - tick – schlafen - tack – Kaffee trinken - tick – unter dem Baum auf der Bank sitzen - tack – Abendbrot - tick – schlafen.

Sie kommen, sie bleiben eine Weile, sie gehen wieder. Oft besuchen sie ihn, um seine Pracht zu bewundern, aber sie lachen nur noch selten. So einladend der Baum auch mit seinen Blättern rauscht, sie wollen nicht mehr auf seinen Ästen turnen. Diese Menschen sitzen lieber in seinem Schatten und denken an die Pläne und Hoffnungen, die sie früher einmal hatten. Viele Pläne hatten sie und große Hoffnungen, aber beide sind immer weiter geschrumpft, während der Baum wuchs und seine Schönheit zunahm.

Morgens sieht er die Menschen durch das große Fenster. Er beobachtet sie dabei, wie sie ihn betrachten. Er sieht sie dort hinter dem Fenster sitzen, alt und gebeugt. Sie sitzen regelmäßig dort, man könnte die Uhr nach ihnen stellen. Oder stellen sie sich nach der Uhr?

Die Uhr hängt an der Wand gegenüber dem Fenster, sie ist aus dem Holz des Baumes gemacht, aus dem Holz eines seiner Äste. Menschen hatten den Ast abgesägt, doch das stört ihn nicht. Was schert ein einziger Ast einen starken Baum? Jedes Jahr verliert er Blätter, und jedes Jahr wachsen sie erneut. Auch die Äste wachsen nach.

Die Uhr ist aus seinem Holz und die Menschen leben nach ihr, achten auf ihr Tick und Tack. Jetzt wird geschlafen, jetzt gibt es Frühstück. Nein, du kannst nicht spazieren gehen, es ist Zeit für die Morgengymnastik, danach gibt es Mittagessen.

Die Uhr mahnt nicht, die Uhr fordert nicht; sie befiehlt und die Menschen gehorchen. Sie ist streng, unerbittlich. Nur zu jeder vollen Stunde hält sie eine Moment lang inne, gönnt dem Sekundenzeiger eine kurze Pause, bevor er weiter kreisen muss, Runde um Runde.

Die Uhr aus Kastanienholz sagt, dass Frühstückszeit ist und die Menschen setzen sich folgsam an den Tisch, jeder auf seinen Platz. Immer auf denselben Platz, nie auf einen anderen. Direkt am Fenster sitzen sie am liebsten, von dort aus hat man den besten Blick auf den Baum. Viele Blicke treffen ihn. Bewundernde Blicke, müde Blicke, blicklose Blicke. Augen werden schwächer, aber auch mit der Erinnerung kann man gut sehen.

Menschen kommen und gehen. Sie nehmen sich wichtig, sie wollen am Fenster sitzen, denn dieser Platz ist begehrt, und wer dort sitzt, ist wichtig. Erst wenn ein Mensch für immer geht, nimmt ein anderer den Platz ein, von dem aus er den Baum besser sehen kann.

Die alte Frau, die am großen Fenster sitzt, findet alles neu und aufregend; es ist ihr erster Tag hier. Sie ist seit zwei Jahren in diesem Haus, ihre Füße kennen den Weg zu ihrem Stuhl am Fenster, ihre Hände wissen, wo die Kaffeekanne steht, nur für die alte Frau ist es der erste Tag im Heim.

Der alte Mann ihr gegenüber war eine Weile fort gewesen. Kein anderer hat sich in dieser Zeit auf seinen Stuhl gesetzt, denn es immer noch seiner, solange er nicht für immer fort geht, und heute ist er wieder da. Dem Baum ist das gleich. Menschen kommen, Menschen gehen. Sie wurden geschaffen, um seine Stärke zu bewundern und seine Beständigkeit. Erst klettern sie auf seine Äste, dann ritzen sie Herzen und Buchstaben in seine Rinde. Später sitzen sie in seinem Schatten, und wenn sie endgültig verschwinden, macht er sich nicht mehr die Mühe, sich an sie zu erinnern.

Dieser alte Mann ist zurückgekehrt und der Baum erinnert sich an ihn. Gebeugt, zusammengesunken sitzt er da; kaum hebt er den Kopf, und er isst nicht wie die anderen: er bekommt seine Nahrung direkt in einen seiner Äste. Menschen haben nur zwei Äste und zwei Wurzeln - kein Wunder, dass sie nicht lange leben.

Als die ersten Blätter fielen, war der Mann noch nicht gebeugt. Aufrecht saß er da, lachte und redete viel und bewunderte den Baum mit wachen, lebhaften Augen.
Jetzt sind die letzten Knospen aufgesprungen, die Blätter saftig und grün, und das Laub raschelt nicht trocken wie im Herbst, es rauscht schöner als Meereswellen und erzählt vom kommenden Sommer.
Der alte Mann hört nicht zu. Er träumt vom Meer, denn nur sein Körper hat begriffen, wovon sein Geist noch nichts weiß: dass er alt ist.

Der alte Mann und die alte Frau sitzen einander gegen- über. Sie reden wenig, sie sehen zum Fenster hinaus und bewundern den Baum. Der lässt seine Blätter rauschen, damit sie ihn bewundern. Sie reden kaum. Sie essen. Die Frau isst - der Mann sieht zu. Er muss nicht essen; er hat jetzt viel Zeit, den Baum anzusehen.

„Diesen Baum kenne ich seit meiner Kindheit“, sagt er und der Baum hört zu, denn es geht um ihn. „Damals war die Wiese noch größer und der Baum jünger. Wir schnitten unsere Initialen in die Rinde, und Herzen, damit sie die Zeit überdauern und die Liebe ewig lebt.“
Der Baum hört ihm zu. Die alte Frau hört ihm zu, aber sie begreift nicht. Sie denkt an ihre eigenen Träume und Hoffnungen, die kleiner und bescheidener geworden sind mit den Jahren.
„Vielleicht kommt er mich heute besuchen“, sagt sie. „Er war lange nicht mehr da und er ist doch mein Einziger. Als er klein war, sind wir oft auf die Dorfwiese gegangen. Wir haben Picknick gemacht und er ist in dem Baum da rumgeklettert. Ob das Ei heute wohl mal weich ist? Harte Eier mag ich nicht.“.
„Ich bin dann weggezogen“, sagt er. „Die Zeiten waren so: wer Arbeit haben wollte, musste eben wegziehen. Sie wollte später hinterherkommen, aber dann wurde doch nichts draus.“
Er sieht durch das Fenster, aber er sieht nicht hinaus und nicht auf den Baum, er betrachtet sein Spiegelbild. Sein Haar ist grau geworden, der Rücken gebeugt, kaum erkennt er sich selber wieder. Der Baum raschelt, er möchte, dass sie weiter über ihn reden. Er ist so viel mehr als sie. Sie haben keine Träume mehr und keine Pläne, er schon. Er wird weiter wachsen, wenn sie längst weg sind und andere Menschen auf ihren Stühlen sitzen.
„Seit ich denken kann, steht dieser Baum da“, sagt er. „Wir können morgen schon fort sein, aber der Baum bleibt ewig.“
„Ich werde nicht fort sein“, sagt sie. „Ich habe noch so viel vor. Morgen will ich mir die Haare legen und dann einen Spaziergang machen. Bis zum Baum und wieder zurück und dann Kaffee trinken, so wie jetzt.
„Jetzt ist nicht Kaffeetrinken“, sagt er, „jetzt ist Frühstück. Es gibt keinen Kuchen, nur Brot. Eier auch, also ist jetzt Frühstück.“
„Nach dem Frühstück will ich die Haare legen und dann einen Spaziergang machen bis zum Baum und auf der Bank darunter sitzen. Früher sind wir raufgeklettert auf den Baum, da waren wir noch klein, nur der Baum war schon groß. Eine Kastanie, wissen Sie? Im Herbst haben wir die Kastanien aufgesammelt und Männchen daraus gebaut, aber nur die Jungs sind hinaufgeklettert, Mädchen durften das nicht.“
„Ich habe unsere Initialen hineingeschnitten“, sagt er. „K-L und M. Karl-Ludwig und Margarete. Und ein Herz habe ich drum herum geschnitzt. Aber es ist doch nichts daraus geworden.“
„Meine Enkelinnen dürften hinaufklettern“, sagt sie. „Die Zeiten haben sich geändert. Heute dürfen auch Mädchen klettern, und wenn sie ihrem Liebsten in die Stadt folgen wollen, dann dürfen sie auch das. Es kann ihnen keiner verbieten.“
„Nehmen Sie noch ein Brötchen“, sagt er. „Es ist doch genug da. Sie haben es gut, Sie dürfen essen. Ich bekomme mein Essen durch eine Kanüle. Lieber hätte ich eine Frau im Arm als eine Kanüle.“
Er lacht über diesen Witz. Er hat ihn schon dreimal der Pflegerin erzählt, jetzt endlich kann er ihn im Speisesaal vor allen loswerden, aber niemand hat ihm zugehört.

Der Baum wedelt mit Blätterbüscheln, lässt das Laub rauschen, die Menschen sollen lieber ihm lauschen. Vergängliche Menschen, kurze Leben. Nur eine Sekunde lang sind sie da. Die Uhr zählt die Sekunden. Sie fordert nicht, sie mahnt nicht, sie gebietet. Sie ist aus dem Holz des Baumes, aber Sekunden und Minuten zählt sie nicht für ihn, nur für die Menschen. Für Bäume haben Minuten keine Bedeutung. Die Menschen habe keine Bedeutung.

Die alte Frau betrachtet ihr Spiegelbild im Fenster. Sie streicht die Haare aus der Stirn, zieht die Bluse zurecht. Alles muss seine Ordnung haben. Mädchen klettern nicht auf Bäume, sonst geraten die Haare in Unordnung und die Bluse zerreißt.
„Er kommt jeden Sonntag zum Kaffee“, sagt sie. „Wo bleibt er denn nur? Er ist doch mein Einziger.“
„Jetzt ist nicht Sonntag“, sagt er. „Jetzt ist Frühstück. Im Sommer könnten wir mal unter dem Baum frühstücken, so wie früher. Damals habe ich ein Herz eingeritzt, in genau diesen Baum. Sie ist dann aber doch nicht zu mir in die Stadt gekommen. Wer weiß, ob ich diesen Sommer noch erlebe.“
Die alte Frau hört zu, aber was sie hört, bleibt nicht lange genug haften, um darauf zu antworten.
Frühstück, hat er gesagt. Sommer, hat er gesagt.
Oh ja, sie kann sich daran erinnern.
Damals wollte sie schon nicht mehr auf Bäume klettern. Das schickte sich nicht für eine junge Frau.

„Er ist dann fortgegangen“, sagt sie. „Sicher ist er längst tot. Ich werde auch bald tot sein. Wollen Sie mal ein Bild von meinen Enkelinnen sehen? Das habe ich immer bei mir. Mein Sohn hat es letztens gemacht, gerade unter diesem Baum dort. Jetzt fällt es mir wieder ein: Karl-Ludwig hieß er. K-L und M. Nein, der lebt sicher längst nicht mehr.“
„Ja, so ist das“, sagt er. „Sie werden immer weniger. Bald ist niemand mehr da.“

Die Uhr tickt. Gespräche langweilen sie. Reine Zeit- verschwendung. Auf die Sekunden kommt es an, auf die Minuten und Stunden. Wenn der Zeiger oben ist, wird die Uhr das Frühstück beenden. Sie mahnt nicht, sie fordert nicht: sie befiehlt.

„Ich habe eine Freundin“, sagt die alte Frau. „Die ist immer für mich da. Wenn Sie möchten, stelle ich sie Ihnen vor. Sie wohnt im Spiegel. Manchmal auch im Fenster, wenn das Licht an ist. Sie redet nicht viel, aber sie ist immer für mich da.“

Der alte Mann sieht sie scharf an. Die Art, wie sie zum Fenster schaut und dabei ihr Haar glattstreicht, weckt Erinnerungen. Diese Geste hat er schon mal gesehen, früher.
Vielleicht auch nicht. Irgendwann hat man alles schon mal gesehen.
„Ich habe immer von Ferien an der Riviera geträumt“, sagt er. „Faul auf einem Segelboot liegen und die Sonne lässt das Meer glitzern.“
Die alte Frau hebt die Hand und zeigt nach draußen.
“Hören Sie das? Ein Motorflieger. Im Sommer klingt das Brummen ganz anders. So viel friedlicher.“
„Vielleicht mache ich es noch“, antwortet er. „Diesen Sommer hätte ich Zeit.“
„Nein“, sagt sie. „Das ist kein Flieger. Das Brummen ist zu laut.“

Die Männer vor dem Haus sind zufrieden: die Motorsäge funktioniert einwandfrei.
„Dann wollen wir mal“, sagt der eine. „Miniermotte. Böse Sache. Kannste nix machen.“


Die Uhr tickt.
Das interessiert sie alles nicht.
Sie zählt Minuten, das ist wichtiger.

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Tag der Veröffentlichung: 04.06.2010

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