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„Du kannst mich mal!“, schreie ich und knalle die Haustür hinter mir zu. Ich stapfe die Treppe hoch in mein Zimmer und lasse mich aufs Bett fallen.
„Ich kann dich also mal, ja?“, sagt seine belustigte Stimme. Ruckartig hebe ich den Kopf. Er sitzt auf meinem Fensterbrett und grinst belustigt.
„Verpiss dich, du Assi!“, schreie ich ihn wieder an. Ich nehme wahllos irgendwas, das ich gerade in die Finger bekomme und schmeisse es nach ihm. Er fängt es geschickt auf. Es ist ein Teddybär. Ich habe ihn mal zum Geburtstag von meinem Vater bekommen, als ich noch klein war.
„Für mich? Wie lieb von dir. Wär aber nicht nötig gewesen. Ich weiss auch so, dass du mich magst!“, sagt er amüsiert. Ich werde rot. Ich hasse es, wenn er mich so fertig macht.
„Verschwinde endlich! Ich hasse dich!“, schreie ich weiter, stehe auf und knalle das Fenster zu. Er kann gerade noch rückwärts in sein Zimmer springen. Wir sind schon seit Urzeiten Nachbarn. Er wohnt in der Luxusvilla neben unserem alten Müllhaufen. Zugegeben, das Haus ist ganz hübsch, aber verglichen mit seinem kann es einpacken. Mein Vater hat es beim Tod seiner Mutter geerbt und weil er sich sowieso nichts leisten kann, wohnen wir jetzt seit meinem zweiten Lebensjahr hier. Schon von Anfang an hasste ich den Jungen, der neben uns wohnt, Hiroshi. Ich komme - was, wegen gerade eben, recht offensichtlich ist - nicht gut mit ihm klar. Er ist gleich alt wie ich, geht in dieselbe klasse und seine Lieblingsbeschäftigung ist es, mich so oft wie nur irgend möglich zu ärgern.
Seufzend stehe ich auf und gehe wieder runter in die Küche. Ich habe keine Zeit, rum zu trödeln. Ich mache mir schnell was zu essen und ziehe mich dann um für die Arbeit. Eigentlich kann man sagen, dass ich, obwohl ich erst sechzehn bin, schon allein wohne. Meine Mutter habe ich nie kennengelernt, weil sie direkt nach meiner Geburt abgehauen ist. Ich vermisse sie nicht. Das habe ich nie. Mein älterer Bruder seit Jahren im Krankenhaus wegen einer psychischen Krankheit und mein Vater ist ein versoffener Vollidiot, der das wenige Geld, das er bei der Baustelle verdient, immer verspielt. Ich arbeite so oft ich kann, um die Kosten für den Krankenhausaufenthalt meines Bruders zu finanzieren. Eigentlich bräuchte er eine Therapie. Aber es ist zu teuer. Wir (bzw. ich) können uns das nicht leisten. Morgens trage ich die Zeitungen aus und abends arbeite ich in einem Supermarkt ein bisschen ausserhalb der Stadt.
„Sachiko!“, ruft mein Chef, Naoki, meinen Namen als ich den kleinen Laden betrete, „Gut, dass du gerade da bist. Ich weiss, deine Schicht fängt erst in einer halben Stunde an, aber kannst du kurz die Kasse übernehmen? Takai hat wieder was verbockt.“
„Klar, kein Problem, mach ich.“, sage ich sofort. Ich kenne Takai. Er ist einer von den Leuten, die alles auf einmal tun wollen und es eigentlich verdammt gut meinen, aber dann einen riesen Schaden anrichten.
„Hi!“, sagt jemand, nach dem die Glocke an der Tür einen Käufer angekündigt hat.
„Wie kann ich ihnen…“, fing ich an. Aber dann sah ich, wer es war.
„Hiroshi! Kannst du mich noch nicht mal ausserhalb der Stadt in Ruhe lassen?“, fahre ich ihn an.
„Hey, Sachi, beruhige dich! Kann ich nicht einfach in einen Laden etwas kaufen gehen?“, antwortet er und muss sich ein Grinsen verkneifen. Ich hasse es, wenn er mich so nennt. Sachi klingt so kindisch. Betont langsam geht er die Regale entlang, unterzieht wirklich jedes kleinste Ding einer genauen Inspektion. Ich sehe ihm die ganze Zeit zu, weil ich nichts anderes zu tun habe, und irgendwann reisst mir der Geduldsfaden: „Sag mal, hast du’s??? Hast du nichts Besseres zu tun als stundenlang hier drin rumzuschnüffeln nur um mich auf die Palme zu bringen?“
Diesmal kann er es nicht zurück halten. Er lacht aus vollem Hals und kann kaum noch sprechen: „Du … siehst, haha … so … süss aus … hahaha … wenn du … sauer bist!“
„Verzieh dich!“, schreie ich mit vor Wut (?) rotem Gesicht. Ohne ein weiteres Wort läuft er lachend hinaus. Ich stütze den Kopf auf die Arme und atme langsam aus um mich zu beruhigen. Jedes Mal, wirklich jedes Mal wenn wir uns treffen schreien wir uns an. Das ist irgendwie nicht normal.
Am nächsten Tag nach der Schule klingelt das Telefon. Ich nehme ab und am anderen Ende ist Naoki: „Hi, Sachiko! Tut mir leid, dass ich dich an deinem freien Tag störe. Aber es ist wichtig. Ich mach’s ganz kurz, weil ich gleich los muss. Also, die haben an dem Haus, in dem der Laden ist, Schimmel festgestellt und machen jetzt so ’n riesen Umbau. Die haben gesagt, ich muss den Laden für mindestens ein halbes Jahr geschlossen lassen. Tut mir echt leid, Sachiko. Wirklich. Mach’s gut, okay? Viel Glück.“, und er legt auf. Ich lasse den Hörer fallen. Mir wird erst jetzt wirklich klar, was das heisst. Ich werde die Kosten für’s Krankenhaus nicht mehr zahlen können. Bis ich einen neuen Job gefunden habe, der gut genug bezahlt ist, habe ich schon Berge von Schulden beim Krankenhaus. Und bis jetzt hab’ ich es auch nur bezahlen können, weil Naoki so grosszügig war. Die einzige Möglichkeit wäre, so schnell wie nur möglich einen Therapeuten zu finden, der einen guten Ruf hat und nicht zu teuer ist. Wenn ich mein Gespartes (und das ist nicht wirklich viel) nehme und von meinem Vater klaue (was ich normalerweise nie mache, weil ich der Meinung bin, dass so verdientes Geld wertlos ist), könnte ich schon die Basis zusammenhaben. Aber dann wird es schwieriger werden. Plötzlich blitzt ein Gedanke in meinem Kopf auf. die Kasse des Ladens! Wenn ich heute noch gehe, ist sie vielleicht noch da. Den Schlüssel hab ich ja noch. Zuvor habe ich so was noch nie in Erwägung gezogen. Aber jetzt habe ich keine andere Wahl. Ich werde nicht mit der Situation klar kommen, wenn Jiro jetzt nach Hause kommen würde. Das könnte ich nicht. Also gehe ich wieder aus dem Haus. Als ich beim Laden ankomme, brennt das Licht noch. Aber nach zehn Minuten kommt Naoki raus. Sobald ich ihn nicht mehr sehe, schleiche ich mich an den Laden. Meine Hände zittern, während ich aufschliesse. Drinnen warte ich nicht mehr lange. Ich muss es tun. Ich gehe zur Theke, öffne einen kleinen Schrank, den man nur sehen kann, wenn man hinter der Theke steht und nehme die Kasse hinaus. Hastig öffne ich sie und packe das Geld von drinnen in die Tasche. Plötzlich höre ich das Kratzen des Schlüssels im Schlüsselloch. Ich versuche noch irgendwie alles zu vertuschen aber Naoki steht schon im Laden. Und seinem enttäuschten Blick nach zu urteilen weiss er, was ich im Begriff bin zu tun. Mir laufen die Tränen über die Wangen. Ich will ihm alles erklären, aber kein Laut kommt über meine Lippen. Es ist falsch. Ich weiss das. Aber ich hatte keine andere Wahl. Aber ich schäme mich. Aber… aber… aber…
„Nimm es.“ sagt er. „Ich kenne dich gut genug und behaupte zu sagen, dass du sicher einen guten Grund für das hast.“ Ich schlucke. Wenn er es mir anbietet. Kann ich dann nein sagen? Nein, kann ich nicht. natürlich nicht. Ich hätte gern. Aber ich mache es nicht. Stattdessen greifen meine Hände noch einmal in die Kasse, stopfen mehr Geld in meine Tasche. Wortlos laufe ich an ihm vorbei. Noch immer laufen mir die Tränen übers Gesicht. Ich hasse mich selber für das, was ich heute tat.
Ich weine die ganze Nacht, kann einfach nicht schlafen. Warum habe ich das getan?
„Was ist denn mit dir los, Sachi?“, fragt eine bestürzte Stimme, „So hab’ ich dich ja noch nie gesehen!“
„Nicht du auch noch!“, flüstere ich. Das brauche ich jetzt echt nicht auch noch?
„Stimmt irgendwas nicht?“, seine Stimme klingt irgendwie … besorgt, einfühlsam… ich weiss auch nicht. Kann das sein? Er? Ich sehe zu ihm hoch.
„Wow. Ganz klar stimmt hier was nicht. Zeig mal!“, sagt er als er mein verheultes Gesicht sieht. Er streicht mir mit den Fingerkuppen die Tränen weg.
„Und jetzt erzähl doch mal.“, fordert er mich auf. Ich schlucke, beginne aber zu erzählen. Von meinem Bruder und von allem anderen. Es ist, als sitze mir ein völlig neuer Mensch gegenüber.
„Also hast du wegen deinem Bruder immer so hart gejobbt.“, stellt er im Nachhinein fest. Ich bestätige mit einem Nicken, „Genau.“
„Das tut mir echt leid!“
„Sch … schon gut. Weißt du, wir haben noch nie so miteinander geredet. Und immerhin kennen wir uns jetzt schon 14 Jahre.“
„Stimmt…“
Plötzlich wird mir die Situation richtig klar. wir zwei allein in meinem Zimmer. Auf dem Bett sitzend…
„K … kannst du … jetzt geh’n?“, frage ich mit gesenktem Kopf. Denn ich bin verdammt rot geworden.
„Klar! Tut mir echt leid, dass ich dir so auf die Pelle gerückt bin. Ciao!“ und er verschwindet aus dem Fenster.

Am nächsten Morgen ist das Erste, was ich tue, im Krankenhaus anzurufen und sie nach dem besten Therapeuten zu fragen, den sie kennen. Die Frau am Telefon gibt mir eine Nummer, die ich natürlich sofort anrufe. Jemand meldet sich mit: „Hallo. Hier bei der Privatpraxis von Kanaye (Anmerkung der Autorin: hier soll noch ein Nachname hin, aber ich weiss noch nicht welcher). Wie kann ich ihnen hel…“
„Hiroshi???“, unterbreche ich ihn.
„Sachi?“
„Was … tust du da? Machst du irgendeinen Aushilfsjob bei dem oder so? Warum hast du mir nicht gesagt, dass du ihn kennst? Du weißt doch, dass ich ihn für Jiro brauche!“
„Sachi? Es … tut mir leid.“
„Das sollte es auch. Aber das ist nicht so wichtig. Wenn du dort ’nen Job hast, kannst du ihn wegen Jiro…“
„Nein, tut mir leid, kann ich nicht, ich…“
„Was? Wa … warum nicht? Hiroshi, bitte!“
„Nein Sachi, es geht nicht weil, weil der Therapeut … mein … Vater ist.“, seine Stimme wird immer leiser, während er das sagt. Ohne ein Wort lege ich auf. Er hat mich angelogen. Wie konnte er nur? Ich hab’ echt gedacht, wir könnten Freunde werden.
Nachdem ich mich wieder beruhigt habe, suche ich andere Therapeuten heraus. Aber alle lehnen mich ab. Sie wollen das Geld sofort, aber ich kann bis jetzt nur einen Teil zahlen. Ich bin so verzweifelt. In einer Woche wird das Krankenhaus das Geld für den letzten Monat wollen. Ich kann das nicht bezahlen. Und weil sie dort sowieso überfüllt sind, wird Jiro wahrscheinlich in zwei Wochen nach Hause geschickt. Es hat keinen Sinn mehr. Ich kann nichts mehr tun. Also entscheide ich mich, wenigstens ein paar Dinge wieder in Ordnung zu bringen. Ich sammle schnell das Geld ein, das ich geklaut habe und mache mich auf den Weg zu Naoki. Er ist sogar zu Hause. Aber als ich ihm das Geld geben will, sagt er nur: „Ist in Ordnung. Der Typ, der so oft im Laden war, kam vorhin hierher, hat mich gefragt, wie viel du … mitgenommen hast und mir dann fast das Doppelte in die Hand gedrückt. Echt…“
Ohne ihm weiter zuzuhören drehe ich mich um und gehe. Hat Hiroshi wirklich…?
Als ich zu Hause ankomme, bin ich zu dem Entschluss gekommen, dass ich ihn einfach fragen werde. Er wird schon nicht lügen. Aber denkt er wirklich, dass das wieder gut macht, dass er…
Das Klingeln des Telefons unterbricht meinen Gedankengang.
„Hallo. Spreche ich hier mit Sachiko? Ich bin Dr. Kanaye. Mein Sohn hat mich gebeten, ihren Bruder zu behandeln. Ich rufe an, um mich über die genauen Umstände seiner Krankheit zu erkundigen.“
„Hi … Hiroshi hat…? Aber was ist mit dem Geld? Ich kann die Therapie nicht bezahlen.“
„Ich mache eine Ausnahme. Mein Sohn hat mich noch nie um etwas gebeten, weil er der Meinung ist – und da stimme ich ihm zu - dass ich meine Vaterpflichten vernachlässigt habe. Wir sind nicht sehr gut auf einander zu sprechen. Daher wird es mir eine Freude sein, ihnen und ihrem Bruder zu helfen.“
Es ist, als geschehe in diesem Moment ein Wunder. Jiro wird behandelt. Endlich. Ich kann es kaum glauben.
Ich erkläre so gut ich kann, was ich über Jiros Krankheit weiss und er sagt, dass er sicher ist, dass er ihm helfen könne.
Nach dem Telefonat gehe ich sofort aus dem Haus. Ich renne zur Schule. Hiroshi ist oft dort um noch einige Dinge zu erledigen (er ist Schülersprecher).
„Hiroshi!“, rufe ich, als ich ins Zimmer komme, wo er gerade arbeitet.
„Sachi!“, sagt er verwundert, „Ich…“
Aber ich lasse ihn nicht aussprechen, gehe nur hin und küsse ihn. Ich habe dieses Gefühl noch nie bemerkt, das sich jetzt in meinem Bauch breit macht. Vielleicht ist es…
„Ich liebe dich auch, Sachi.“, sagt Hiroshi, als ich ihn loslasse. Aber er küsst mich gleich noch mal. Und auf einmal ist der Spitzname Sachi gar nicht mehr so schlimm…


The End


Zusatz


Namen

:


Hiroshi: Grosszügig
Jiro: Zweiter Sohn / Mann
Kanaye: Eifrig
Naoki: Ehrlich
Sachi: Freude
Sachiko: Kind des Glücks
Takai: unbekannt


Zusatzkapitel


Dinner with my enemy (bevor die Hauptgeschichte beginnt

)
Vor zwei Tagen sah mich Hiroshis Vater per Zufall wie ich mir Dosenfutter warm machte, weil ich nicht genug Zeit zum Kochen hatte (was sehr häufig der Fall ist). Er fragte mich, ob ich immer so esse und als ich wahrheitsgemäss antwortete (=meistens), bestand er darauf, dass ich zu ihnen nach Hause zum Essen gehen soll. Und so komme ich dazu, mit Hiroshi und seinem Vater an einem Tisch zu sitzen und Pasta zu essen.
„Und, kommst du zurecht? Ich habe gehört, dass dein Vater oft weg ist, wegen seinem Beruf.“, fragt mich Hiroshis Vater.
„Ähm … ja, genau. Ich denk, für 16 mache ich meine Sache nicht schlecht.“, sage ich mit einem Lächeln. Ich bin mir das gewöhnt. Viele fragen mich danach. Mein Vater sagt immer, dass er wegen seinem Beruf oft weg ist. Und von Jiro spricht er nicht einmal. Er will überhaupt nichts von ihm wissen. Jiro ist für meinen Vater nur ein Klotz am Bein, der auch noch Geld kostet.
„Wisst ihr was ihr Lieben, ich muss wieder an die Arbeit, viel Spass noch!“, verkündet Hiroshis Vater steht auf und verlässt den Raum. Dabei fallen mir gleich zwei Dinge ein. Erstens: ich weiss gar nicht, was er von Beruf ist und zweitens: ich bin allein mit meinem schlimmsten Erzfeind in einem Zimmer, der zu allem Überfluss auch noch blöd grinst.
„Und? Gefällt’s dir hier bei uns?“, fragt er schelmisch.
„Ist echt schön, wirklich!“, antworte ich, so süss lächelnd wie nur irgend möglich, „Aber irgendwas stört mich. Hm … was könnte es nur sein? Lass mich nachdenken… Ah! Jetzt weiss ich! Du bist es!“
„Naja, du hast ja auch keinen Sinn für Schönheit. Wie konnte ich nur eine Frage stellen, die für dich so schwer zu beantworten ist? Wie blöd von mir!“, säuselt er süffisant. Ich werde rot und wie ein kleines, beleidigtes Mädchen kicke ich ihn unter dem Tisch ins Schienbein.
„Au!“, er verzieht das Gesicht als hätte ihm das wehgetan, „Das tat aber weh! Warum hast du das den getan? Hab’ ich dich irgendwie mit meinen Worten verletzt? Das würde mir aber schrecklich leid tun, ehrlich!“, er zwinkert und lächelt unschuldig. Dieser Bastard!
Wütend stampfe ich einmal mit dem Fuss auf den Boden, stehe dann auf und gehe, den noch fast vollen Pastateller stehenlassend, nach Hause.
Was habe ich auch anderes erwartet von ihm?! Tsss…

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 06.04.2010

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