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Letzter Bahnhof Ost!


Fast geräuschlos glitt der letzte Nachtzug aus der Halle. Der Bahnsteig war leer, bis auf einen einzelnen Mann. Er hatte sich einen Zigarette angezündet und starrte dem Zug nach, dessen rote Schlusslichter rasch kleiner wurden.
Er rückte seinen Hut tief ins Gesicht, drehte sich um und ging. Nach einigen Schritten blieb er abrupt stehen und beugte sich zu seinen rechten Schuh hinunter. Schnürsenkel zubinden! Eine einstudierte Farce.
Da erblickte er seinen „Westrussen.“ So nannte er hier seine Mitwisser. Er stand auf, strich sich über die Bartstobeln seiner rechten Wange und lies dabei einen Sechser aus seiner Linken fallen.
Das war das vereinbarte Zeichen. Wieder einmal war ein enges Kalkül aufgegangen.
Ostberlin, Januar ´72, Bahnhof Friedrichstraße 23.46 Uhr.


Hier stank es immer. Es schielte rüber zu Bahnsteig B und schaute die Stahlwand an. Dabei dachte er an den „Ho-Chi-Minh-Pfad.“ Die Agentenschleuse!
Die Anspannung der letzten Wochen war endlich verflogen. Er steuerte auf die Bahnhofspinte zu. Sie war jetzt genau das richtig, denn sie war genau so doppelbödig wie er selber. Pennergegröle ertönte irgendwo und verhallt wieder im dreckgelben Licht der Bahnhofshalle. Tauben flatterten auf
Er bestellte sich einen Broiler mit Schrippe und „ne Weiße, aber ohne Schuss.“ Er verabscheute nämlich dieses süßliche Getue.
Während er auf das vergilbte Werbeplakat der „Spreewaldgurgen“ starrte und im Hintergrund die Puhdys mit ihren „Wenn ein Mensch lebt“ rumjammerten, resümierte er mal wieder sein Leben.
Es war nicht das erste Mal gewesen das er einen guten Agenten aus dem Netzt des sowjetischen Komitee für Sicherheit und der Hauptverwaltung Aufklärung der DDR gefischt hatte.
Aber war es dass Wert? Sein Leben für diese abluxerei kaputtzumachen?
Nun, sein gespaltenes Vaterland war ihm eigentlich egal. Denn ihm war von Anfang an klar gewesen, das der Graue eiserne Vorhang nur eine simple Linie einer in Machtzentren aufgeteilt Welt darstellte.
Doch, wenn er diesen Wichser, diesen Stasiwichser dort im Eck sah, der ihn beschattete, kam ein Stück Leben zu ihm zurück.
In den Brennpunkt des kalten Krieges wurde er nicht hineingeworfen. Nein, er hatte es sich selber ausgesucht. Schon wieder klimmte eine Zigarette auf, und der blaue Dunst bahnte sich in seine Lungen.
Anfangs war er nur eine Schachfigur im Agentenspiel gewesen. Man hatte ihn in die sozialistische Vernetzung eingemischt, damit er aus dem Radar gewisser Leute kam. Durch diese Einschleusung wurde er unauffälliger. Von nun an, hatte er ein drittes Leben im Palast der Republik. Doch sein wahres Leben rückte immer mehr in die Vergessenheit.
Der vertrocknete Flattermann auf seinem Teller schmeckte zum Kotzen. Doch die Zonenlulle überdeckte den Geschmack. Er nippte an seinem Weißen. Eigentlich war es „ne Molle.“
„Drüben“ nannte man ihn einfach Jonny. Hier im Osten war er „der Dolch.“ Denn hier zerschnitt er für Menschen den eisernen Vorhang.
All die Menschen in den Jahren trugen nie ihren wahren Namen. Es waren keine beseelten Individuen. Es waren immer nur leere Schränke. Verstaubt, und von dem Wurm zerfressen, die von heute auf morgen alles verlassen mussten.
So war es auch mit Ihr gewesen. Katinka lautete ihr Name. Vor wenigen Minuten hatte er sie zum großen „Show Down“ abgeliefert. Nun fuhr sie nach „Drüben.“ In ihr neues Leben. Zum westlich Wässerchen Wodka. Beim letzteren Gedanken zuckte ein flüchtiges Lächeln über sein Gesicht.
Sie war zu eng ins Visier der Stasi geraten. Nicht mehr tragbar. Es gab keine sinnvolle Zukunft mehr für „Katinka.“ Also, Entlassung aus dem Staatsdienst! Wieder einmal eine Operation „Westline.“ Sein Job hier!
Er hatte nicht all zuviel über sie heraus bekommen. Es war ihm zu Ohren gekommen, dass sie damals bei den Operationen „Weststurm“ und „grauer Regen“ eine wichtige Nummer gewesen war.
So hatte sie auch ausgesehen, als sie am ersten Tag bei ihm in der Küche gesessen hatte. Hager, blass und strähniges Haare. Sie sah eher wie fünfzig aus, als ende zwanzig. Sie war ausgelaugt, verbraucht….kurz gesagt fertig!
Die paar Sätze die sie aufsagen musste sprach sie perfekt Akzentfrei. Das reichte!
Es war ein verdammtes teuflisches Intrigenspiel. Doch dieses aufzulösen, es zu ignorieren, von seiner Seite her, hieß all den Namenlosen etwas zu nehmen.
Als er seine Kippe ausdrückte und dabei einen Klaren bestellte, zum nachspülen, überlegte er sich ob er eine der Nutten mitnehmen soll die jetzt aus ihren Löchern krochen, oder dem Typ da drüben nachher die Fresse so richtig polieren soll.
Als er sein Wechselgeld bekam sagte er zu dem verschwitzen Budieker „Hier, zahl dem abjebroch`n ne Weise…aber ohne Schuss!“ Blicke tauschten sich aus. „Ach…mach was du willst.“
Mit aufgestellten Kragen verließ er das Bahnhofgebäude. Zweitakt Gestank schwängerte die Nacht. Dies schlug ihm ins Gesicht. Er beschloss einfach nach Hause zu gehen. Presslauer Berg. Nebliger Nieselregen hüllte die Welt ein.
Einige der Huren die unauffällig wirken wollten, sprachen ihn an. Er lehnte ab. Dabei lachte er zynisch: „Also auch hier herrscht die düstere zynische Welt des kalten Krieg.“
Während er den Heini wieder erspähte, nestelte er ein paar Groschen aus seinen zerknitterten Mantel und kaufte sich den „Berliner.“ Die Schlagzeile war interessant. „Pass und Visafreiheit für DDR Bürger im Verkehr mit der Tschechoslowakei!“
„Flitzkacke, wenn das so weiter geht, bin ich bald Arbeitslos.“ Er faltete das Blatt zusammen, und ließ den Tränenpalast hinter sich.
Nach ein paar Häuserblöcken hatte er den Penner abgehängt. Trabis knatterten an ihm vorbei. „Verdammte Pappkisten!“ Sehnsucht zum Westen stieg in ihm auf.
Als er endlich die alten Treppen aus Speckstein hinauf ging, summte er zufrieden die Melodie von Conny Kramer. „Scheiße! Warum brachte sich der Typ nur um? Der war doch im Westen!“
Während er mit einem Ruck die verklemmte Haustür zu seiner Buchte öffnet, musste er wieder an den kleinen Pisser denken. Der war harmlos… der Kurze. Ein jämmerlicher Anfänger.
Die großen Beißer, die Gefährlichen waren derzeit außer Reichweite. Doch wie lange noch?
Auch er konnte sich nicht mehr so lange geschickt verkriechen. Er würde aufhören!
Noch während er das beschloss, öffnete er ein Kuvert. Ein schnell gekrickselte Botschaft von einem sehr vertrauten Informanten:

Operation Ikrit und Birin
Schwarzer September
München


Er befreite sich mühsam von dem Halfter seiner Waffe, und zündete eine Kippe an. Als er das Gewicht seiner Heckel & Koch abwog und der Zigarettenqualm in seinen müden Augen brannte, übermannte ihn wieder ein vertrautes Gefühl. Er konnte nicht aufhören. Krächzend ging das Radio an, mit seinem Lieblingssender aus dem Westen.
Plump lies er sich auf die Couch fallen um sich endlich mal zu aalen. Doch er schlief sofort ein.
Unten, auf der gepflasterten Straße schlich der Heini um die Ecke. Wie eine Assel, im feuchtkalten Zwielicht.
Glenn Millers „In the Mood“ kratzte leise neben Jonny dem Dolch.

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Tag der Veröffentlichung: 09.09.2009

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