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Im Schatten seines Lächelns



Lina knibbelte abwesend am Rand einer Illustrierten und versuchte das soeben widerfahrene zu begreifen. Augen reibend lehnte sie sich tief in ihren Sessel zurück. Sie blinzelte langsam in den Raum, als versuche sie etwas zu erkennen. Wie immer, war sie nach einer schweren Operation von der Müdigkeit gezeichnet. Würde die Vergangenheit sie jetzt endlich einholen? Seufzend senkte sie ihren Blick.
Sie fuhr aus dem Schlaf wie ein Auto gegen eine Wand. Mit verklebten Haaren und den Geschmack von erbrochenen im Mund, flatterte sie mit den Augenliedern. Langsam erhob sie sich, spähte ins dunkel ihres Büros und machte sich schließlich verspätet auf den Heimweg.
Mittags, zum Schichtwechsel war sie mit einem fast athletischen Tempo erschienen. Jetzt fühlte sie sich wie eine alte Frau und lief wie auf Eiern aus dem Krankenhaus.
Auf der neonbeleuchteten Straße griff die Nacht klamm und kalt nach ihr. Ihr fröstelte, als der stiller Regen, schräg auf sie fiel. Erschöpft lies sie all dies gewähren.
Den ordinären Großstadtatem, vernahm Lina an diesem Abend anders wahr. Linas Gedanken und ihre unmittelbare Umgebung verschmolzen miteinander.
Grauleise flüsterte der Regen „Ach lass gut sein. Schau nicht in den Rückspiegel. Schmeiß ihn weg oder ersetze ihn durch einen kleineren.“
Grell und hektisch plärrten die Reklamen in Linas Tristheit „Bleib wach und schau zurück! Deine Vergangenheit ist eine Teil von dir.“
Linas Gedanken wehten an den Ort zurück, wo alles begann. An jenen stillen Bahndamm wo die Herbstzeitlosen damals gerade verblühten.
Staubigtrocken war der Tag gewesen, im Frühjahr `43. Sie trug ein Kleid aus blassblauem Leinen, das zu groß für sie wirkte. Abgeschattet, wuchs die junge Lina mit den Gräueln des zweiten Weltkrieges heran, bis sie den engen ihres Herzens entfloh. Sie wollte raus aus dem langweiligen Dorf. Nun stand sie da. Eine junge Landgöre an einem Hauptbahnhof, und wusste nicht wohin.
Sie erinnerte sich daran, die Deutschen nur vom selbstbewussten einheitlichen Marschieren oder ihren lauten miteinander reden zu kennen. Mit vorsichtiger Neugier äugte sie den jungen Männern in ihren strammen Uniformen nach. Stolz und übermut ging von ihnen aus. Und sie meinten ihr Verhalten würde sie unverwundbar machte.
Trotz ihrer Vorsicht, waren diese Männer für Lina keine beseelten Individuen. Nur leere Schränke. Jung, und schon in ihrem Gedankengut verstaubt. Vom Wurm zerfressen. Dies traute sich Lina zu denken. Doch sie versteckte diese persönliche Einstellung ganz tief in sich.
Die schweren Lederstiefelgeräusche klangen ab und der Bahnsteig beruhigte sich wieder.
Ein einzelner Mann, der im Qualm seiner Zigarette stand, starrte irgendwo hin. Die Geräusche die monoton wirkten, setzten die Bahnhofsszene in friedliche Ruhe zurück.
Man hätte nicht meinen können das in der Welt ein entsetzlicher lauter Krieg tobte. Das hinter grauen eisernen Vorhängen, unantastbar geglaubte Werte verändert wurden. Und in kalten Machtzentren maßlose Ungerechtigkeit ausgeheckt wurde.
Wie sie so dastand, strahlte Lina diese sichtbare Unschuld eines Ankömmlings aus, der keine Regeln der Großstadt kennt, trotz ihres rebellischen Gedankengutes. Mit einem schnellen Blick hatte er sie von weiten erfasst.
„Warten sie.“
Sie hatte sich verhätterte an einer Bank, als sie eilends auf dem Absatz kehrt machen wollte. Richtung Bahnhofausgang.
Erstaunt schaute sie in ein scharmant lächelndes Gesicht, das eigentlich gewohnt war nur Befehle zu erteilte. Lina fiel dieser Gegensatz sofort auf. Solche Gesichter gab es in ihrem Dorf nicht. Die Weich-heit vom Land die die Menschen dort prägte gab es hier nicht.
Ein Mann, in Uniform, die nicht noch besser passen konnte, half ihr das einfache Dorfkleid wieder zu befreien. Eine Nuance von herbem Parfum schnappte sie auf. Der Drang, sofort nach diesen neuen und aufregenden Duft noch einmal zu kaschen, überkam sie. Doch auf einmal kam sie sich wie eine dumme Göre vor, die sich von einem Fremden den ersten Eindruck der großen Welt verschafften lies.
Er stellte sich mit den Worten „Amon Neulitz. Zu ihren Diensten“ vor.
Schneidig sah er aus. Klare Augen, markantes Gesicht und lang gewachsen.
Er huschte in ihr Leben wie ein überraschendes Sommergewitter, das man am fernen Horizont entdeckt. Man meint in Sicherheit zu sein, doch schon wird man überrascht vom klatschenden Schauer und Donner. Meist fühlt man sich dabei sorglos wie ein Kind.
Amon war so ein Sommergewitter, aber mit heimtückischen Gewitterwolken, denn Lina erkannte gleich, dass er an diese grauschwarze Uniform glaubte.
In zeitlosen Momenten lachten sie sich manchmal zusammen schlapp. Bei einem Glas Wein und ein schönen Hornkonzert von Mozart. Am nächsten Morgen vollzog er gewissenhaft seine Arbeit. Todes-urteile unterschreiben. Was sie nicht wissen wollte.
Oft glaubt der Mensch an etwas, weil er daran glauben will. Auch Lina erging es so. Als sie sein Lächeln am Bahnhof das erste Mal sah, regte sich ein leichter Argwohn in ihr. Und diesen unliebsamen Verdacht wollte sie nicht immer wahr haben.
„Mann müsse das eigene Handeln überdenken, auch gegenüber seiner Mitmenschen“ schlug sie sachte vor, als sie wieder einmal über gewisse Rechte von Menschen diskutierten.
„Nein! Undenkbar denken“ konterte er ihr „Nur so kann man altes Überholen.“ Dabei schenkte er ihr den Wein nach und lächelte etwas zynisch. Ihre heimliche Skepsis bestätigte sich wieder einmal.
Sie erinnerte sich, dass in diesem Moment etwas geschah.
Gut und Böse sind meist einander Feind doch in diesem Atemzug lagen sie sehr nahe beieinander.
Sie glitt im nächsten Augenblick in etwas hinein was sie eigentlich nicht wollte. Und seine Reaktion die daraus folgte war kein Klischee von ihm.
„Gönne Dir mehr Zeit.“
„Wenn es um die Prinzipien der deutschen Politik und der Macht geht, bin ich niemals außer Dienst.“
Kräftig setzte er die Flasche auf den Tisch, und ein prüfendes Augenpaar nahm Lina in den Fokus.
Das er mit diesen Blick und den Worten auch sein eigenes Gewissen preisgab, wurde ihr jetzt klar.
Sie bekam es mit der Angst zutun.
Doch sie nahm all ihren Mut zusammen „Du kannst doch nicht einfach dein Gewissen bedenkenlos auf Null zurück fahren. So einfach ist das nicht!“ Mehr an den Kopf geworfen, als human gesagt, sprudelten ihr diese Worte heraus und verharrten für Sekunden zwischen den beiden in der Luft.
„Du hast doch benimm und stammst aus einer guten Kultur. Denk doch an all die Schöngeister…die auch du liebst.“ Doch er lies sie nicht ausreden.
Es knallte durch den Raum….die Tür war zu!
Die Ohrfeige hatte auch gesessen. Ihr Gesicht brannte höllisch.
Ihr Gesichtsausdruck hatte alles Ländliche verloren. Leer von allem Menschlichen.
Allein gelassen stand sie da. Jetzt hatte sie endgültig die SS-Manier in tiefere Weise kennen gelernt und eine neue Ebene der Vertrautheit mit ihm erreicht.
Als wäre nicht passiert, flirrten tausende von Staubflumseln im Schein der Nachmittagssonne und hüllten sie ein. Ihr fielen folgende Worte ein.
„Und sind wir doch liebende in einer gespaltenen Welt…ich lass dich nicht los. Damit du keine Ängste mehr kennst.“
Monate vergingen. Seelisch gebadet in Kummer und Liebe wandelte sie durch die turbulente Zeit mit Amon. Nie hatte er sich für diese Ohrfeige entschuldigt.
In den Trümmern des deutschen Reichs kam sie sich immer verlorener vor. Und Amon, der immer, wie aus dem Ei gepellt in seiner Schreckensuniform neben ihr lief wurde ihr immer fremder. Sie wollte zurück in ihr Dorf!
Große Macht hatte er damals. Aber das war lange her. Nun besaß Sie die Macht. Auch wenn es nur in ihrem sterilen Op-Raum war. Auch er kam ihr damals manchmal steril vor, wenn andere Soldaten ihm grüssten. Doch wenn sie ihn dann schnell von der Seite beobachtet, erkannte sie einen Schalk in seinem Genick, was grotesk für sie war.
Doch wohin sollte dies alles führen? Hinter diesen ganzen Elend?
Nein, das alles war nicht vereinbar mit ihren Gewissen. Geprägt von sittlichen Werten war sie, und das sollte so bleiben. Und doch war alles Seltsam verwickelt. So, das der Nebel sich nicht klären konnte. Bis es schließlich unerträglich wurde, für Lina.
Sie konnte die Augen vor der Offenkundigkeit nicht mehr verschließen. Obwohl sie ihn liebte wollte sie ihn zurückweisen. Morgen! Doch dazu kam es nie.
Amon war verschwunden.
Er hatte nie gehofft oder gar geliebt. Amon hatte sich ihre Liebe nur geborgt.
Lina hatte sich bei ihm angelehnt und Amon geliebt. Doch zum Schluss wollte sie nur seinen Blick und vielleicht ein liebes Wort.
Später erfuhr sie, dass er über die berüchtigte Rattenlinie unter falschen Namen geflüchtet war. Ohne ihr ein Wort zu sagen, war er verschwunden.
Er musste so handeln, denn jetzt war er eine noch wichtigere Fußnote in der zertrümmerten Welt die er und seinesgleichen zurückgelassen hatten. In seinem angemessenen Ton hatte er Lebewohl gesagt und für Unterschiede war kein Freiraum mehr vorhanden gewesen.
Sie sah und hörte nie wieder was von ihm, bis zu den heutigen Tag im Op. Zwanzig Jahre später.
Blind vor Wut tappte sie durch die Überfüllten Strassen nach Hause.
Nach dem Krieg war das Leben für sie sehr schwer gewesen. Die Tage ließen Sie ein Leben lang nicht mehr los. Sie verfolgten und beherrschten sie wie eine unerfüllte Leidenschaft. Aber auch in einem kleinen Glück badend, das sie diesen Krieg überlebt hatte.
Das milde Wetter des längst vergangenen Frühlings war nur noch eine ferne Erinnerung, nachdem sie triefend vor Nässe ihre Haustür erreicht hatte. Verwirrt überzeugte sie sich, ob sie wirkliche an ihrer Tür stand. Dann lag sie schon erschöpft in ihrem Bett und schlief tief bis zum nächsten Morgen.
Die Zähne noch nicht geputzt und die Unterwäsche vom Vortag tragend, saß sie in ihrer Küche. Der Kaffee war stark, der Toast etwas verbrannt.
Mit Tränen in den Augen, haderte sie schon eine Weile lang über ihrer eigenen Überzeugung nach. Die sie jedoch nie ausleben konnte:
Einander zu kennen und gekannt zu werden, ist wohl einer der tiefsten Grundbedürfnisse aller Menschen. Es ist die Gleichartigkeit zweier…


Abrupt unterbrach sie ihre Gedanken. Ging zum Telefon und wählte eine Nummer. Ihr Gesicht war starr vor Entschlossenheit. Rausbrüllen wollte sie, was für eine Person sich gerade in einem der städtischen Krankenhäuser aufhielt.
Ein tiefes Schluchzen erklang. Im Gedanken sah sie die reglosen Hände von Amon auf dem Optisch. Aber diesmal musste sie unwillkürlich an ihre Zärtlichkeiten denken. Damals sagte sie zu ihm dass er Klavierhände hätte.
Jetzt waren sie blass und dürr. Es waren Hände die viele Gräuel zu verantworten hatten.
Sie bricht in ihren Gedanken ab, wahrscheinlich um sich selber daran zu hindern zu weit zu öffnen. Sie hätte längst mit jemanden darüber reden sollen. Damals wie heute.
„Auf Sand gebaut Lina“, sagte sie sich.
Sie hätte eine feste Beziehung eingehen sollen. War es nun zu spät dazu? Sie lebte viel zu einsam.
Der Telefonhörer glitt aus ihrer Hand. Sie machte sich bereit zur Arbeit.
Als sie die Stadion betrat sagte man ihr gleich dass es große Probleme mit dem Patienten gab.
Der Raum war leer. Gelbweiß im kalten Neonlicht. Die Vorhänge waren verschlossen und doch fröstelte es ihr weil alles anonym dalag. Nur die Geräusche der Maschinen waren zu hören.
Herzlichkeit war in dieser Räumlichkeit fremd. So wollte sie eigentlich nicht mit ihm allein sein.
Entschlossen ging sie an sein Bett.
Er sah so alt aus. Seine Falten im Gesicht waren für sie gleichbedeutend mit Erfahrung. Mitleid schlich sich bei ihr ein. Doch konnten Sie ihre Augen vor der Offenkundigen nicht verschließen, vor dem was er damals war.
Während sie den alten Amon anstarrte, stüpte sie das Bettlacken etwas zu Recht. Sie musste immer irgendetwas zurechtstüpen. Eine flüchtige Bekanntschaft sagte irgendwann „Das ist deine Ruhelosigkeit.“
Die Hände die einst so schönen Melodien spielten und sie beide von diesen Krieg Hinwegtrug, diese Hände wollte sie berühren. Nur Flüchtig. Doch zuckten ihre Finger zurück.
Oft hatte sie seine schönen Hände gelobt und damals gab sie mit diesen Worten seiner Eitelkeit noch Nahrung. Und das wollte sie nun nicht. Wieder war die zwei Feinde, Hass und Liebe zu nah.
Zwei Stunde später starb Amon-Horst. Ein multiples Organversagen. Amon hatte nie erfahren das der Mensch der ihn immer geliebt hatte noch einmal so nahe bei ihm war.
Wie er stumm vor ihr lag sah sie ihn versonnen an, und fragte sich, wo nun seine Macht wohl stecke!
Der Schatten in seinem Lächeln war verschwunden, doch der Bahndamm mit den Herbstzeitlosen war immer noch gegenwärtig in ihren Herzen. Seine mysteriöse Aura war verschwunden.
All ihr Kummer und ihre Seufzer entflohen. Ihre letzen Worte an ihm waren

„Teile mit mir den Frieden. Egal wo du bist, du bist bei mir.“




Einander zu kennen und gekannt zu werden, ist wohl einer der tiefsten Grundbedürfnisse aller Menschen. Es ist die Gleichartigkeit zweier, die ähnliche Art des Denkens und zu Fühlen die eine Chance auf tiefes Verstehen bietet. Aber gepflegt werden muss sie, um zu wachsen.
Doch solche eine Freundschaft macht verletzlich. Aber wenn man bewusst in eine tiefe Beziehung investiert, kann man die ganze Schönheit dieser feiern. Aber ohne diese Bereitschaft, sich zu öffnen und auf den anderen einzulassen, geht nichts.
Für viele erfüllt sich eine Sehnsucht nach einer Partnerschaft. Aber diese Sehnsucht wurde durch
Amon kaputt gemacht.





Impressum

Tag der Veröffentlichung: 09.08.2009

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
für meine Mutter Thea Pletsch

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