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Freundschaft

Das Wetter war ideal. Langsam zog er seine Kreise im warmen Aufwind und schraubte sich so immer höher und höher.
Er wusste, dass er eine bestimmte Höhe nicht überschreiten durfte. Sein Blick ging nach unten und er sah den Platz, von dem aus er los geflogen war. Und er sah den Wächter. Das Signal zur Umkehr war noch nicht gegeben. Also zog er weiter seine Kreise.
Ein Gefühl von Freiheit kam in ihm auf. Höher und höher flog er. Er kannte das Signal zur Umkehr genau, und als der Wächter es gab, flog er trotzdem weiter. Höher und höher.
Ab einer bestimmten Höhe wurde es für ihn lebensgefährlich. Auch das wusste er. Sein Blick ging wieder nach unten und er sah den Wächter ungeduldig das Umkehrsignal geben. Einen kurzen Moment wurde er schwach und wollte aus dem Aufwind herausfliegen. Doch dann siegte sein Drang nach Freiheit und er zog weiter seine Kreise. Höher und höher.
Nach einer Weile blickte er wieder hinunter. Den Platz und den Wächter konnte er nicht mehr erkennen. Alles war nur noch verschwommen. Etwas wie Freude machte sich in ihm breit und er genoss diese Freiheit. Höher und höher.
Dann trübte sich sein Blick. Als er bemerkte, dass er schon zu hoch war, war es auch schon zu spät. Es wurde dunkel um ihn. Mit weit ausgebreiteten Flügeln flog er ohne Besinnung aus dem Aufwind und segelte langsam und gerade nach unten.
*
Thorsten war schlechter Laune. Langsam ging er den Weg am Rande der Wiesen entlang. Eigentlich gab es keinen Grund, schlecht gelaunt zu sein. Er war mit seinen sechunddreisig Jahren bereits weit gekommen. Als Abteilungleiter einer großen Marketingfirma stand ihm die Welt offen. Eine große Eigentumswohnung am Rande der Stadt nannte er sein Eigen.
Und dennoch war er unzufrieden. Sein Traum, in seiner Jugend, war Töpfer zu sein. So hatte er mehrere Töpferkurse während seiner Gymnasiumzeit und auch während seines Betriebswirtschaftsstudiums besucht und hatte es so zu einer passablen Fertigkeit gebracht. Die Kunstwerke, die er damals herstellte erfreuden sich großer Beliebtheit.
Die Karriere, die dann sein Leben bestimmte, erforderte jedoch seine gesamte Aufmerksamkeit. Damit war sein Leben als Kunsthandwerker zuende. Doch sein Herz hing noch immer an diesem Hobby, das er nicht mehr ausüben konnte. Stress und lange Arbeitszeiten waren jetzt sein Tagwerk.
In Gedanken versunken ging er den Weg entlang, als seine Aufmerksamkeit auf ein Bündel auf einer Wiese gelenkt wurde. Ein größerer Vogel lag dort reglos im Gras. Langsam verlies er den Weg und ging auf den Vogel zu. Mit ausgebreiteten Flügel lag der dort auf dem Bauch. Es war ein Falke.
Thorsten bückte sich und untersuchte ihn. Der Körper war warm, er lebte also noch. Vorsichtig untersuchte er die Flügel. Sie schienen nicht gebrochen zu sein. Was war mit dem Falken geschehen und was sollte er nun tun?
Kurzentschlossen schob er vorsichtig die Flügel des Vogels zusammen, zog seinen Pulli aus und wickelte den Falken darin ein. `Erst mal mit nach Hause nehmen und dann sehen, was weiter wird`, dachte Thorsten und begab sich auf den Rückweg.
*
Aus seinem Keller hatte Thorsten einen alten Käfig geholt, den er früher einmal für einen Nymphensittich gekauft hatte. Dorthinein hatte er den Falken gelegt und überlegte nun, was er mit dem Vogel anfangen sollte. Etwa eine Stunde später begann der Falke sich zu regen. Ein kurzer Flügelschlag und er stand auf seinen Beinen.
„Na mein Freund. Wie geht es dir?” sprach Thorsten den Vogel an. Dieser legte den Kopf etwas schief, sah ihn an und krächzte.
„Geht es dir gut? Was war denn mit dir los?” sprach Thorsten weiter zu dem Falken, als wenn ihn dieser verstehen könnte. Unverwand sahen die beiden sich an.
„Ich glaube, ich lasse dich wieder fliegen”. Dabei nahm Thorsten den großen Käfig und trug ihn zum Fenster. Nachdem er das Fenster geöffnet hatte, öffnete er auch den Käfig. Der Falke sah ihn an und rührte sich nicht.
„Du kannst gehen, wenn du möchtest. Ich werde dich nicht aufhalten”, sagte Thorsten und ging vom Fenster weg zur Couch. Dort setzte er sich hin und schaltete den Fernseher ein, ohne sich weiter um den Vogel zu kümmern.
Kurze Zeit später bemerkte Thorsten eine Bewegung neben sich auf der Couchlehne. Der Schreck war heftig, als er sich umsah und direkt in die Augen des Falken blickte. Da dieser ihn jedoch ganz ruhig ansah, beruhigte sich Thorsten wieder. Ein Schlag mit dem Schnabel wäre für ihn bestimmt nicht angenehm.
Der Falke senkte den Kopf und kam dem Gesicht von Thorsten immer näher. Dem wurde es dann doch etwas mulmig. Was wollte der Vogel von ihm? Fast zärtlich schmeichelte der Falke mit seinem Kopf an seine Wange. Die Angst wich. Geduldig nahm er die Liebkosung des Vogels an.
„Dir fehlt wohl Liebe und Zuneigung? Da passen wir zwei ja gut zusammen. Wir könnten richtige Freunde werden”. sprach Thorsten den Falken wieder an. Dieser wich etwas zurück, legte den Kopf schief und beobachtete ihn.
„Du kannst gerne hier bei mir bleiben. Ich werde dich weder einsperren, noch hinausschmeißen. Du kannst kommen und gehen wann immer du willst”.
Der Falke machte ein paar pumpende Bewegungen und hüpfte dann zurück zum offenen Fenster. Er sah noch einmal zurück zu Thorsten und flog dann hinaus.
Thorsten stand auf und sah dem Falken traurig nach. „Das war´s wohl mit unserer Freundschaft. Aber das bringt mich auf einen Gedanken. Frei sein, dass muss wunderbar sein. Ich werde meinen Job an den Nagel hängen, die Wohnung verkaufen, mir irgendwo ein kleines Häuschen suchen und wieder töpfern. Das ist eigentlich das Leben, das ich will. Danke mein Freund für diese Eingebung. Morgen schon soll sich mein Leben ändern”.
Der Falke flog mit kräftigen Flügelschlägen höher und höher. Dieser Wächter könnte sein Freund sein. Keine Züchtigung, kein Entzug des Futters vielleicht. Keine Bestrafung, wenn nicht alles so war, wie der Wächter es wollte.
Zaghaft zunächst, dann mit immer stärkerem Schlag flog er zurück zum Fenster, aus dem er gekommen war. Thorsten stand noch immer dort. Sanft landete der Falke auf dem Sims. Freudestrahlend über das Glück, das der Vogel zu ihm zurückgekommen ist, strich Thorsten sanft über die Federn des Vogels.
„Ich werde dich Glück nennen”, sagte Thorsten und machte den Weg für den Falken frei. Dieser hüpfte ins Zimmer und in den Käfig. Dort setzte er sich auf eine
Stange und schloss die Augen. „Freundschaft”. Dann war er eingeschlafen.

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Tag der Veröffentlichung: 16.01.2009

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