Der königliche Zug kam nur langsam voran. Auf den Straßen und Plätzen drängte sich das einfache Volk, jubelnd und festlich gekleidet. Sie liebten ihren König, der weise und gerecht sein kleines Reich regierte, so dass seine Untertanen in Freiheit und bescheidenem Wohlstand ein zufriedenes Leben führten. Wen wundert es da, dass fröhliche Lieder und Hochrufe erklangen, als der König hoch zu Ross winkend und lächelnd gemächlich an ihnen vorüber ritt.
Nur einer hatte sich voller Unruhe zitternd hinter einem Pfeiler verborgen. Was kümmerte ihn der prunkvolle Zug! Sehnsüchtig wartete er darauf, endlich die von prächtig gekleideten Lakaien getragene Sänfte zu erblicken, in der die Königstochter saß. Er hoffte, dass der hin und wieder aufkommende leichte Frühlingswind die seidenen Vorhänge der Sänfte so weit zur Seite wehen würde, dass er wenigstens für einen kurzen Moment wieder einen Blick in die strahlenden Augen und auf die kühne von goldschimmernden Locken umrahmte Stirn der Prinzessin werfen konnte.
Seit er vor wenigen Tagen die hohe Mauer, die den Schlosspark umgab, von den Wächtern ungesehen erklommen und den Liebreiz der Prinzessin gesehen hatte, verzehrte er sich in Liebe zu ihr. Trotz der aufkommenden Dämmerung meinte er ihren erstaunten, fragenden Blick aufgefangen und den Schimmer eines Lächelns in ihren Augen gesehen zu haben. Das ließ ihn nicht mehr los.
Er konnte nicht ahnen, dass die Prinzessin bei seinem Anblick und seinem Mut, trotz Androhung einer strengen Bestrafung die Mauer erklettert zu haben, ebenfalls in Liebe zu ihm entbrannt war. Aber wie sollte sie in Erfahrung bringen, wer der heimliche Verehrer war? Denn entgegen seiner sonstigen Großzügigkeit achtete der König sehr genau darauf, dass niemand seiner Untertanen seine liebreizende Tochter zu Gesicht bekam. Er gestatte nur einigen ausgesuchten Dienerinnen und Kammerfrauen, die Prinzessin bei Beginn der Abenddämmerung in den Garten zu begleiten, damit sie ein wenig frische Luft schnappen konnte. Vorsichtshalber musste sie auch dann noch einen Schleier tragen, der nur ihre Stirn und die Augen frei ließ.
So schritt die Zeit voran und mit ihr das Jahr. Inzwischen hatte die Natur wieder verschwenderisch ihre Gaben ausgeschüttet. Traurig und voller Sehnsucht machte der junge Mann sich auf, um Beeren und Pilze für den kommenden Winter zu sammeln. Tiefer und tiefer drang er suchend in den Wald ein als plötzlich ein leises, jammervolles Piepsen an seine Ohren drang. Unter dornigen Büschen versteckt sah er einen kleinen Vogel, der verzweifelt versuchte, sich von den Ranken zu befreien. Mutig griff er in das Gestrüpp, holte den zitternden kleinen Kerl aus seinem Gefängnis und setzte ihn neben sich in das weiche Moos. Als er sich aufrichtete, umbrauste ihn lautes Flügelschlagen. Ein riesiger Vogel stieß zu ihm hernieder, schnappte das Küken mit seinen Fängen und während er sich mit seinen gewaltigen Schwingen in die Lüfte erhob sprach er:
Tausend Dank sei dir dafür,
brauchst Du mich, so ruf nach mir.
Abraxas so nennt man mich.
Erinnre Dich, erinnre Dich .....!
Schneller als ein Pfeil war er zwischen den hohen Bäumen gen Himmel verschwunden. Der Jüngling stand ein Weilchen wie betäubt da und meinte geträumt zu haben.
Auf dem Heimweg sah er von weitem eine aufgeregte Menschenmenge, die kopflos weinend und schreiend über den Marktplatz und durch die Straßen rannte. Etwas Schreckliches musste geschehen sein. Tatsächlich hatten sich die Könige der Nachbarstaaten aus Neid auf das wohlhabende kleine Reich zusammengeschlossen und drohten mit Krieg. Ihre Truppen lagerten wohl gerüstet vor den Toren, bereit zu Überfall und Plünderung.
Der König hatte dem wenig entgegen zu setzen, denn er war auf eine Auseinandersetzung mit seinen Nachbarn nicht vorbereitet. Es konnte nur ein Wunder helfen, den Feind abzuwehren. So hatte er bekannt machen lassen, dass ein jeder, der schnelle Hilfe herbeischaffen könne, zur Belohnung seine Tochter zur Gemahlin bekommen solle.
Der Jüngling eilte zum König und erzählte ihm von seinem Erlebnis im Wald. Das konnte die Rettung sein! Man beschloss, das Hilfsangebot des Zaubervogels anzunehmen. Von den Zinnen der Burg erschallte alsbald der Ruf: Abraxas, Abraxas ....
Ein unübersehbar großes Heer riesiger Vögel verdunkelte plötzlich den Himmel und stieß mit spitzen Schnäbeln auf die Angreifer hernieder, die schreiend davon rannten und hinter den Hügeln auf Nimmerwiedersehen verschwanden.
Der König hielt sein Versprechen. Die schöne Prinzessin und der Retter aus tiefster Not wurden ein Paar. Ihr größter Reichtum aber war das anhaltende Glück, das sie miteinander verband.
Und wenn sie nicht gestorben sind ...
Tag der Veröffentlichung: 15.01.2012
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