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Der Tag der Großen Ratsversammlung beim König, an der alle Fürsten des Reiches teilnehmen mussten, rückte unaufhaltsam näher. Da sprach Fürst Zorab Khan zu seiner geliebten Frau Delaram: „Geh und besuche einmal wieder deine Eltern während ich auf Reisen bin. Mein treuer Diener Janbas soll dich begleiten und über dich wachen. Lass dir Zeit, denn es dauert wenigstens 10 Sonnenaufgänge, bis ich zurück bin.“ Delaram war glücklich über diesen Vorschlag, denn sie hatte oft Sehnsucht nach ihren Eltern und der altvertrauten Umgebung. So geschah es, dass sich Zorab Khan auf den Weg zum König machte und Delaram gemeinsam mit Janbas wenige Tage später in Richtung ihres Elternhauses aufbrach.

Nach dem ersten Versammlungstag trafen sich die Fürsten am Abend erneut. Es wurde kräftig gegessen, getrunken und gefeiert. Zorab Khan war der Stattlichste unter Seinesgleichen. Er hatte viele Neider, die ihm Böses wollten und ihn zu einer Wette herausforderten: Morgen um die Mitternachtsstunde, sollte er die 40 Stufen zu der in der Nähe des Versammlungsortes liegenden verwünschten Burgruine – auf einem kahlen Felsen stehend – hinaufsteigen und in die 40. Stufe einen großen Nagel einschlagen. Bei Tageslicht wollten die feigen Neider dann kontrollieren, ob er sich tatsächlich bis ganz nach oben gewagt hatte. Dafür versprachen sie ihm ein glanzvolles Fest, einen kostbaren seidenen Mantel, sowie den dazu passenden Turban. Da Zorab Khan nicht nur ein mutiger, sondern auch ein sehr stolzer Mann war, willigte er in die Wette ein, obgleich er wusste, dass die Dorfbewohner glaubten, die Ruine sei von einem bösartigen Dschinn bewohnt, der dort sein Unwesen trieb und sich von Menschenfleisch ernährte. Einige Männer, Frauen und Kinder der königlichen Untertanen waren einstmals verschwunden und tauchten nie wieder auf.

Es war eine sternklare Vollmondnacht als Zorab Khan sich am nächsten Abend innerlich auf die anstehende Wette vorbereitete. Er war zuversichtlich, dass es ihm ohne Schwierigkeiten gelingen würde, die 40 Stufen hinauf zu steigen. So machte er sich eine Stunde vor Mitternacht auf den Weg. Doch je näher er der Burgruine kam, um so unheimlicher wurde ihm zu Mute, denn ein plötzlich einsetzender prasselnder Regen mit starkem Sturm schob immer mehr schwarze Wolkenfetzen vor den Mond, so dass der Weg aussah, als seien gespenstisch huschende Schatten unterwegs, die ebenfalls der Ruine zustrebten. Trotzdem schritt er mutig weiter.

Während dessen war Fürstin Delaram tief beunruhigt, denn sie hatte bemerkt, dass der Diener Janbas einen ihr völlig unbekannten Pfad eingeschlagen hatte. Zudem brach die Dunkelheit herein und sie begann sich zu fürchten. „Ich habe mich tatsächlich verirrt“ gab Janbas zu „ich werde uns hier ein Nachtlager bereiten. Morgen in aller Frühe reiten wir weiter und suchen den richtigen Weg.“

Im letzten Dämmerlicht konnte Delaram einen kahlen Felsen mit einer Burgruine erkennen, zu der eine Treppe hinaufführte. „Wie unheimlich die Ruine wirkt“, dachte sie und ein Schauer lief ihr den Rücken hinunter; jedoch hatte der lange verworrene Ritt sie so ermüdet, dass sie bald darauf einschlief. Sie schreckte hoch, als sich eine harte Hand auf ihre Schulter legte. Es war Janbas, der ihr seine viele Jahre verborgen gehaltene Liebe gestand und nun die extra dafür von ihm herbeigeführte Gelegenheit nutzen wollte, sie zu besitzen. Zu ihrem Glück hatte er noch seinen Krummsäbel locker am Gürtel hängen. Den riß Delaram an sich, setzte ihn an ihre Kehle und schrie: „Lieber will ich mich selbst töten, als dir zu gehören!“ Janbas gab nach und verkroch sich wieder auf seine Liegestatt Doch Delaram misstraute ihm nach diesem Vorfall. Sie dachte: „Wenn ich einschlafe, wird er sich mir bestimmt wieder nähern. Ich muss heimlich verschwinden, wenn er eingeschlafen ist. Ich werde zur Burgruine hinauflaufen und mich dort verstecken. Der Weg dahin ist jetzt vom Licht des Vollmondes gut beleuchtet, so dass ich ihn sicher ohne Schwierigkeiten finde.“ Den Säbel, den sie noch immer fest umklammert hielt, wollte sie auf alle Fälle mitnehmen. So wartete sie, bis sie glaubte, Janbas ruhig atmen zu hören. Dann stand sie leise auf, rannte los und erklomm die 40 Stufen hinauf zur Ruine. Aber Janbas hatte nur so getan, als schliefe er. Er folgte ihr, musste aber wegen des strahlenden Mondes einen größeren Abstand einhalten, um nicht alsbald entdeckt zu werden.

So war Delaram vor Janbas oben. Als sie ihn kommen sah, sprang sie hinter einem großen Felsbrocken hervor, der ihr als Versteck gedient hatte und erstach ihn mit seinem eigenen Säbel. Zitternd vor Angst und Grauen kehrte sie hinter den Felsen zurück, denn zu allem Übel hatte es zu regnen begonnen, und ein starker Sturm verdunkelte mit schwarzen dahin jagenden Wolken den Mond. Nur noch schemenhaft erkennbar und gespenstergleich lag die Ruine vor ihr. „Hier werde ich den Morgen erwarten, aber ich muss mich verteidigen können und besser schützen,“ überlegte Delaram „denn wer weiß, was noch passieren wird!“ Sogleich begann sie, alle Steine in ihrem Umkreis einzusammeln und um sich herum aufzuschichten. Hin und wieder ebbte der Sturm ein wenig ab. Da hörte sie plötzlich Schritte auf den Stufen. Fest umschloss ihre Hand den Säbel. Beherzt griff sie nach den Steinen und schleuderte sie in die Richtung der nahenden Geräusche. Doch es half nichts, die Schritte kamen näher und näher.

„Sterben müssen wir alle. Soll sich mein Schicksal hier erfüllen, so ist es Allahs Wille. Ich gebe mich in seine Hände“, dachte Zorab Khan. Da er glaubte, es mit dem von den Dorfbewohnern gefürchteten Dschinn zu tun zu haben, rief er dreimal laut in die Nacht hinein: „Im Namen Allahs des Allmächtigen: Wer bist du, wer bist du, wer bist du?“

Delaram konnte ihr Glück nicht fassen. Sie hatte die Stimme des geliebten Mannes
erkannt, rannte los und auf der 40. Stufe fielen sich beide in die Arme. Zorab Khan schlug den Nagel ein wie gewettet. Dann fasste er seine schöne Frau Delaram fest um die Taille. Gemeinsam und überglücklich gingen sie die Stufen hinab und gelangten unbehelligt in Zorab Khans Gemächer.

Als der neue Tag anbrach sprach Zorab Khan zu seinen Neidern: „Ich danke euch für die Wette. Durch sie konnte ich meine geliebte Delaram retten. Nun ist es an euch, den Wetteinsatz zu begleichen.“

Beschämt senkten die Fürsten die Köpfe.

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Tag der Veröffentlichung: 27.11.2010

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