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Der 7. Sinn

Kriminaloberrat Hilkens, Leiter des Morddezernats im hiesigen Polizeipräsidium, saß Pfeife rauchend und tief in Gedanken versunken in seinem Büro. Er hatte seine Sekretärin angewiesen, alle ankommenden Besucher und Telefongespräche von ihm fernzuhalten. Hilkens wollte ohne Störung seinen Gedanken nachgehen, denn er kannte diesen Zustand der innerlichen Unruhe und Zerrissenheit, der stets dann aufkam, wenn seiner Meinung nach etwas an einem Fall nicht stimmte, so wie bei dem jetzigen. Außerdem kam ein tiefes Bedauern und ein Anflug von Trauer um die so plötzlich verschiedene Freifrau von Kettler – eine langjährige Freundin – in ihm hoch. Auch wenn ihn alle hinter seinem Rücken „Sherlock“ nannten, hatte er es gerade diesem feinen Gespür für außerordentliche Vorkommnisse zu verdanken, dass er in der Hierarchie der Kriminalpolizei so weit und so schnell aufgestiegen war.

Seine Gedanken kehrten zu der alten Freundin zurück. Sie war bei ihrem letzten Zusammentreffen seiner Meinung nach ein bisschen zu blass gewesen, hatte sich zwar bewegt wie immer, sich auch lebhaft mit den anderen Gästen unterhalten aber trotzdem einen erschöpften Eindruck gemacht. Sie war eigentlich eine rüstige alte Dame gewesen, Mitte 70, schätzte Hilkens. Er konnte nur schätzen, denn ihr wahres Alter hatte sie nie preisgegeben. Dazu war sie zu eitel, wie Hilkens schmunzelnd feststellte. Jetzt war sie tot. Sie hatte ihm erst vor wenigen Wochen stolz mitgeteilt, dass sie nach Aussagen ihres Hausarztes kerngesund sei und lächelnd hinzugefügt, dass ihr einziger Enkelsohn Alexander schon noch eine Weile auf sein Erbe warten müsse.

Genau dieser Punkt war es, der in Hilkens nach Frau von Kettlers Tod die Alarmglocken zum Läuten gebracht hatte. „Und wieso,“ fragte sich Hilkens „soll die Leiche auf Wunsch des Enkels verbrannt werden und nicht ihre letzte Ruhe mit einer ganz normalen Bestattung in der Familiengruft neben ihrem Ehemann finden, so wie es in der Familie seit jeher üblich war? Da ist etwas faul, oberfaul! Wenn Frau von Kettler erst verbrannt ist, dürfte es ziemlich schwer werden, einen eventuellen Mord nachzuweisen“, dachte Hilkens weiter. Der den Totenschein ausstellende Arzt war von plötzlichem Herzversagen ausgegangen. Noch bestand die Möglichkeit, die Leiche bis ins kleinste Detail untersuchen zu lassen, die im Krematorium aufgebahrt auf den nächsten Verbrennungstermin wartete. Eile war nötig. Hilkens griff zum Telefon und ließ sich von seiner Sekretärin mit dem Oberstaatsanwalt verbinden, dessen Genehmigung für eine Obduzierung er einholen musste. Nach Schilderung seines Verdachts bekam er diese Genehmigung umgehend. Der diensthabende Pathologe konnte eine schleichende Vergiftung durch regelmäßig in äußerst geringen Mengen verabreichten Samen des Blauen Eisenhutes, der giftigsten Pflanze Mitteleuropas, feststellen. Und eben diese wunderschön aussehenden Pflanzen konnte man im Park der Verstorbenen bewundern.

Umgehend begannen die Ermittlungen gegen den 26jährigen Alexander von Kettler, den Hilkens als Hauptverdächtigen ansah. Das gesamte Hauspersonal der Freifrau wurde aufgrund dieser Überlegungen genaustens unter die Lupe genommen und befragt. Jedoch ergaben sich bei ihren Verhören keinerlei Widersprüche oder Anhaltspunkte für eine eventuelle Komplizenschaft mit dem Enkelsohn.

„Die Frage ist nun: Wie hatte er es angestellt, seiner Großmutter das Gift zu verabreichen? Gerade in den letzten Monaten war er viel auf Reisen gewesen. Es musste also einen Mittäter gegeben haben“, überlegte Hilkens, „auch heute war er nicht im Haus gewesen und nach Angaben des Chauffeurs hatte der ihn zum Flughafen gefahren. Reiseziel: unbekannt!“

Wieder zurück in seinem Büro dachte Hilkens: „Sollte mich mein Gespür dieses Mal auf eine falsche Fährte gelockt haben?“, bis ihm plötzlich einfiel, dass die persönliche Assistentin der Freifrau ebenfalls bei den Verhören nicht anwesend gewesen war, da sie nach Aussagen der Köchin mit ihrem Privatwagen in die nahe gelegene Stadt gefahren sei, weil sie sich angeblich um die bevorstehende Trauerfeier kümmern wolle. Er hatte sie für morgen in sein Büro bitten lassen. „Morgen kann es zu spät sein“, überlegte er. „Bis morgen kann sie spurlos verschwinden. Wenn sie mit Alexander unter einer Decke steckt, treffen sie sich wahrscheinlich just in diesem Moment und türmen gemeinsam. Es ist keinesfalls auszuschließen, dass die beiden vielleicht sogar ein Liebespaar sind, das sich mit der Erbschaft ein schönes Leben machen will!“

Hilkens setzte eine erfolgreiche Großfahndung nach den vermutlich Flüchtigen in Gang. Sein Gespür – so konnte er einige Tage darauf befriedigt feststellen – hatte ihn jedenfalls nicht verlassen.

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Tag der Veröffentlichung: 23.08.2009

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