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Im Königreich Adanak lebte vor vielen Jahren ein junger Zimmermann, der nach einer Lehrzeit seiner Zunft gemäß das Bündel geschnürt und sich auf Wanderschaft gemacht hatte. Er war ein gutherziger, genügsamer junger Mann, hübsch anzusehen, mit langen blonden Haaren und blauen lebendigen Augen, die unternehmungslustig in die Welt hinaus strahlten. Stets ein fröhliches Liedchen pfeifend oder singend war er von Ort zu Ort und von Stadt zu Stadt gewandert. Immer hatte er Arbeit gefunden und sich redlich ernährt. Doch je weiter er ins südliche Königreich kam, schien sich die Welt zu verändern. Arbeit gab es kaum, die Menschen sahen müde und abgemagert aus und gruben nach Essbarem auf trockenen, versandeten Feldern. Es wurde umso schlimmer, je näher er sich der Hauptstadt Ilopan näherte. Er wollte schon umkehren, aber seine Neugier, in Erfahrung zu bringen, was hier geschehen war, war so groß, dass er sich entschloss, weiter zu marschieren.

In der sengenden Sonne, die hoch vom Himmel hernieder brannte, wurde er unmäßig durstig. Da er aber vorsorglich seine Trinkflasche an der letzten noch sprudelnden Wasserquelle aufgefüllt und wohlbedacht in sein Bündel geschnürt hatte, war ihm vor der kommenden Zeit nicht bange.

Durstig wie er war, wollte er sich gerade am Straßenrand niederlassen um zu trinken, als er ein feines Stimmchen vernahm, das leise und kraftlos rief: „Hilf mir, bitte, hilf mir!“. Erschrocken blieb er stehen, schaute sich suchend um und entdeckte einen kleinen halb vertrockneten Rosenstrauch, der ihn mit traurigen Augen ansah und ihm mit letzter Kraft erzählte, dass der König alles Wasser für seine Wasserspiele, die immer größer und schöner sein sollten, verbrauchte und dadurch die ganze Gegend in unfruchtbares Land verwandelt hatte. Menschen, Tiere und Pflanzen mussten sterben, wenn das so weiter ging. Der Zimmermann begoss den Strauch mit dem kostbaren Nass aus seiner Flasche. Der Rosenstrauch sagte: „Zum Dank für deine Güte, werden ich und die Meinen dir in jeder Notlage zu Hilfe kommen.“

Erfrischt machte der Zimmermann sich wieder auf den Weg, der Stadt Ilopan entgegen, als ihm ein Pferd begegnete, das kraftlos, dem Verenden nahe, vor sich hintrottete. Der Zimmermann, der jetzt um die Not der Lebewesen wusste, holte ohne Zögern seine Wasserflasche hervor, um das Pferd zu tränken. Das sah in mit seinen großen Augen an und sprach: „Ich danke dir, denn du hast mich vor dem Verdursten gerettet. Rufe nach mir, wenn du meiner jemals bedarfst. Mein Name ist Nadus.“

Bald darauf erblickte der Zimmermann die ersten Türme und Dächer der Stadt Ilopan, die sich an einen Berg schmiegten, auf dem eine stolze Burg stand. Als er durch das Stadttor kam, sah er auch hier nur durstige und hungrige Menschen. Es war gar nicht daran zu denken, dass er in der Stadt Arbeit finden würde und darum ging er bergauf der Burg zu, denn er dachte bei sich: „Ich bin jung, gesund und geschickt und verstehe mich auf mancherlei Arbeit. Sicherlich kann man mich dort oben brauchen. Ein Lager aus Stroh, Brot und Wasser wären mir Lohn genug!“

Als er in den Burghof trat, wollte er kaum seinen Augen trauen, denn hier grünte und blühte es an allen Ecken und Enden. Der Schlossgarten quoll fast über vor Fruchtbarkeit. Die unterschiedlichsten Fontänen schossen in die Höhe und kleine Bäche, überspannt von herrlich geschnitzten Holzbrücken, plätscherten munter durch das Gelände. Brunnen mit Edelstein verzierten, vergoldeten Figuren spieen literweise Wasser in die Becken. Ringsumher herrschte eine angenehme Kühle.

Ein alter, fülliger, mit Orden geschmückter Mann kam auf den Zimmermann zu und fragte nach seinem Begehr.

„Ich suche Arbeit“ sprach der Zimmermann, „wenn mich nicht alles täuscht, seid Ihr der Burgvogt und berechtigt, Leute anzustellen.“
„Du hast recht, der bin ich! Was kannst Du?“ fragte ihn der Vogt.
„Alles, was Ihr wünscht!“ antwortete der Zimmermann.
„So sei es drum, zeig mir Deine Geschicklichkeit. Siehst Du dort drüben die Leiter? Ihr fehlen mehrere Sprossen. Richte sie wieder her! Aber Vorsicht! Sie ist keine gewöhnliche Leiter, denn sie versteht es, sich zu wehren, wenn man ihr weh tut.“

Der Zimmermann ging zu der Leiter, betrachtete sie lange, streckte vorsichtig die Hände aus und streichelte ihr wunderschön dunkel glänzendes Holz. „Ich möchte Dich heilen, wenn Du erlaubst, und Dir Deine fehlenden Sprossen ersetzen. Sag mir, wie ich das anfangen kann, ohne Dir Schaden zuzufügen.“

So hatte noch niemand mit der Leiter gesprochen. Dankbar zeigte sie ihm, wie er es anfangen musste, ihr keine Schmerzen zu bereiten und wenig später erstrahlte sie repariert in neuem Glanz. „Ich stehe in Deiner Schuld“ sprach die Leiter zum Zimmermann „ich werde immer zur Stelle sein, wenn Du mich brauchst.“

So konnte der Zimmermann auf dem Schloss bleiben. Er erledigte alle anfallenden Arbeiten, die ihm zugewiesen wurden mit Sorgfalt und Geschick.

Die Wochen vergingen. Der Zimmermann aber wurde immer trauriger, denn er konnte nicht vergessen, welche Not er außerhalb der Burg gesehen und erlebt hatte. Er allein konnte ja nicht helfen, denn der König war nicht bereit, das Wasser mit seinem Volk zu teilen.

„Ich muss einen Ausweg finden,“ dachte er.

Als er sich eines nachmittags unter einem großen Baum ein wenig ausruhen wollte, schlief er ein. Da erschien ihm im Traum eine feenhafte Gestalt, die sprach: „Geh viele Tagesmärsche weiter nach Süden, dort wirst Du den Stein der Weisen finden. Der wird Dir helfen.“

Er vertraute seinem Schicksal und machte sich sogleich auf den Weg, der ihn bis an den Rand einer Wüste brachte, die geheimnisvoll, mit hohen Sanddünen vor ihm lag. Aber er kannte keine Furcht und ging mutig auf die Dünen zu, die er eine nach der anderen bezwang.

Aber nach und nach fühlte er sich so erschöpft, dass er nicht mehr in dem rutschigen Sand weiterklettern konnte. Da sah er an der nächsten Düne die Leiter stehen und mit ihrer Hilfe erklomm er den Gipfel.

Eine unendlich weite baum- und strauchlose sandige Ebene lag nun vor ihm. Da kam ein heftiger Sandsturm auf, der den Himmel verdunkelte und ihm unbarmherzig sandkornprasselnd ins Gesicht wehte, so dass er nichts mehr sehen konnte. Wie durch ein Wunder, stieß er plötzlich gegen eine Hecke, hinter der er sich Schutz suchend verkroch. Als der sich der Sturm gelegt hatte, sah er eine vollerblühte Rosenhecke, deren Blätter und zartduftende Blüten ihn geschützt hatten.

„Noch immer kein Ende in Sicht!“ dachte er bei sich. „Meine Füße sind so schwer und wundgelaufen, dass ich heute keinen Schritt mehr weitergehen kann.“ Da fiel ihm das Versprechen des Pferdes ein und er rief: „Nadus, Nadus, hilf nun Du mir!“ Alsbald kam ein wunderschöner Rappe angetrabt. Der Zimmermann saß auf und schnell wie der Wind sausten sie durch die Wüste.

Nach stundenlangem Ritt sah er plötzlich einen großen würfelartigen glänzenden Stein vor sich liegen. „Nadus, schau, das muss der Stein der Weisen sein,“ rief er erleichtert aus. Er sprang vom Rücken des Pferdes und eilte ehrfürchtig auf den Stein zu.

Der Stein murmelte mit dumpfer Stimme: „Ich weiß, euer König ist krank. Er ist besessen von dem Wunsch nach immer schöneren Wasserspielen. Er kann nicht mehr an die ihm anvertrauten Geschöpfe denken. Nur ich kann ihn heilen. Du, Zimmermann, hast mich gefunden und sollst der Retter deines Volkes werden, darum will ich Dir ein Stückchen von mir geben. Lege es unter das Kopfkissen des Königs und er wird aus seinen sinnlosen Träumen erwachen.“
Im gleichen Moment flog ein kleiner Kieselstein in die Hand des Zimmermanns, der nun keine Zeit mehr verlor, sich auf den Rücken des Rappen schwang und wie durch Zauberhand in Sekundenschnelle in Ilopan war

Dort tat er, wie der Stein ihn geheißen hatte. Der König erwachte aus seinem bösen Traum. Menschen und Tiere bekamen wieder Wasser, die Felder wurden gesprengt und trugen sogleich reiche Ernte.

Der dankbare König erhob den braven Zimmermann in den Adelsstand. Außerdem erhielt er den Rappen Nadus sowie ein hübsches Haus als Geschenk, wurde zum Nachfolger des alten Burgvogtes bestimmt und heiratete dessen Tochter. Zur Erinnerung an seine Wanderjahre pflanzte er eine Rosenhecke um sein Haus, in dem er glücklich bis an sein Ende mit Frau und Kindern lebte.


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Tag der Veröffentlichung: 09.07.2009

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