Madere Hal
Vor langer Zeit lebte in einem kleinen persischen Dorf die hübsche Mirmon. Sie hatte wundervoll glänzendes langes schwarzes Haar, das ihr offen über die Schulter fiel, und das ihr Gesicht mit den strahlenden dunklen Augen, den fein geschwungenen Brauen sowie der hohen Stirn wie ein kunstvolles Gemälde einrahmte. Da war es kein Wunder, dass viele Jünglinge sie zur Frau begehrten.
Wie üblich, wurde sie nach wochenlangen Verhandlungen einem der jungen Männer, den ihre Familie für würdig befunden hatte, zur Frau gegeben. Nun musste sie das Elternhaus verlassen und versuchen, ihren Platz in der Familie ihres Mannes zu finden. Das war nicht leicht, denn ihre Schwiegermutter und ihre drei Schwägerinnen waren ihr nicht wohlgesonnen. Sie bürdeten ihr alle schweren Arbeiten auf, waren mit allem was sie tat, unzufrieden, schalten sie eitel und verzogen und gönnten ihr nicht das Schwarze unter den Fingernägeln.
Ihr frisch angetrauter Ehemann war, wie sie bald feststellte, ein ausgesprochenes Muttersöhnchen, der ihr in ihrer Not nicht beistand. Im Gegenteil, nach kurzer Zeit begann er ebenfalls, sie zu schikanieren wo er nur konnte. Er beschuldigte sie der Unfruchtbarkeit, weil sie ihm nach bereits dreijähriger Ehe keine Söhne geschenkt hatte. Mirmon war verzweifelt, denn sie konnte sich weder scheiden lassen, noch zu ihren geliebten Eltern zurückkehren, die eine solche Schande nicht überlebt hätten.
In dieser schweren Zeit war ihr einziger Halt eine alte weise Frau, die am Rande des Dorfes in einer ärmlichen heruntergekommenen Hütte lebte und von den restlichen Dorfbewohnern mit scheelen Blicken betrachtet wurde. Bei der Alten konnte Mirmon ihren Kummer los werden, denn die hatte ein gutes Herz und tröstete die junge Frau so gut es eben ging.
Die Schikanen nahmen zu und wurden so schlimm, dass Mirmon es nicht mehr aushielt. Eines Nachts fasste sie den Entschluss, in den Wald zu laufen um zu versuchen, allein dort zu überleben. Nur ihrer alten Freundin gab sie Bescheid, denn die hatte ihr von einer Höhle in den Bergen erzählt, die niemand sonst kannte. Dort war sie vor Verfolgung und einer Bestrafung durch Steinigung sicher.
Die Zeit verging. Mirmon lebte von den Früchten des Waldes und trank das gesammelte Wasser, das von der Decke der Höhle heruntertropfte. Hin und wieder brachte ihr die alte Frau um Mitternacht Fleisch – das Herz, die Lunge und die Leber eines Rindes – das Mirmon sogleich heißhungrig roh verschlang.
In den vielen Jahren der Einsamkeit hatte Mirmon sich sichtbar verändert. Ihre äußere Erscheinung war völlig verwahrlost. Die einst glänzenden schwarzen Haare hingen ihr verfilzt bis in die Kniekehlen. Ihre Fingernägel waren zu richtigen Krallen geworden und der Blick ihrer ehemals strahlenden dunklen Augen war erschreckend bösartig. Durch den Verzehr des vielen rohen Fleisches war sie körperlich so erstarkt, dass sie mit nur geringem Kraftaufwand starke Zweige von den Bäumen reißen konnte oder – wenn sie besonders wütend war – dicke Felsbrocken wie Federbälle durch den Wald schleuderte.
In manchen Nächten, wenn der Vollmond hoch am Himmel leuchtete und sie nicht schlafen konnte, schlich sie sich in die Nähe der Menschen. Niemand erkannte sie, wenn sie – gleich einem Schatten – durch das Dorf schlich. Wurde sie entdeckt, schrieen die Dorfbewohner nur noch: „Madere Hal, Madere Hal!“ (was übersetzt so viel heißt wie: „Mutter Hexe“ und ein Schimpfwort ist). Sie rannten angsterfüllt davon, so schnell die Beine sie tragen konnten, denn alle wussten, dass Madere Hal mit den Dschinnen im Bunde stand und über außergewöhnliche Kräfte verfügte.
Eines Nachts hörte Madere Hal laute Männerstimmen. Sie ging den Stimmen nach und gelangte bald zu einer Gruppe Bauern, die sich um ein Feuer versammelt hatten, um die Aufteilung des Wassers für die nächsten vier Wochen festzulegen, denn jedem standen nur bestimmte Stunden des Tages zur Verfügung, an denen er Wasser schöpfen und seine Felder begießen durfte.
Als alles geregelt war, kam das Gespräch auf Madere Hal. Einige der Männer schauten sich ängstlich um, während andere lauthals über sie lachten und schmutzige Sachen über sie sagten. Besonders der Bauer Wali tat sich wichtigtuerisch hervor. Lauthals verkündete er: „Ich bin groß und stark. Seht hier meine Muskeln. Soll die alte Hexe doch versuchen, sich mit mir anzulegen! Mich zwingt sie nicht in die Knie!“ Tatsächlich war Wali überdurchschnittlich groß und kräftig gebaut, mit gewaltigen Muskeln an seinen Armen. Die Warnung einiger seiner Freunde, nicht so laut zu schreien, schlug er einfach in den Wind.
Nun begab es sich, dass Wali erst um Mitternacht für seine Felder Wasser holen durfte. Auf dem Weg zum Brunnen musste er eine Brücke überqueren, die über einen Bergeinschnitt gespannt war. Als er fröhlich vor sich hinpfeifend fast auf der anderen Seite der Brücke angelangt war, sprang ihm eine unheimliche Gestalt entgegen – Madere Hal – und ehe er sichs versah, schlug sie schon auf ihn ein. Mit ihren langen Fingernägeln zerfetzte sie sein Hemd, zerkratzte sein Gesicht, bis das Blut in Strömen floss. Wali wehrte sich, so gut er konnte, riss an ihren langen Haaren und schlug heftig zurück. Der Kampf wogte hin und her, bis die Morgendämmerung anbrach. Erst als Wali die anderen Bauern mit ihren Eseln sah, die zur Arbeit nach ihren Feldern unterwegs waren und laut um Hilfe schrie, war der Spuk vorbei. Madere Hal war wie vom Erdboden verschluckt, nur einzelne schmutzige meterlange Haare lagen im Umkreis des Kampfplatzes. Wali jedoch brach geschwächt vom vielen Blutverlust und der gewaltigen Anstrengung bewusstlos zusammen.
Die Bauern brachten ihn nach Haus. Wali lag ohnmächtig in seinem Bett. Manchmal schrie er laut, warf sich am ganzen Körper zuckend auf den Kissen hin und her und redete wirres Zeug, das niemand verstehen konnte.
„Was soll ich nur tun?“, rief seine Frau weinend. Man beriet sich und kam zu dem Schluss, dass es das Beste sei, den heiligen Mann Baba Sahib aus dem Nachbarort zu holen und dessen Hilfe zu erbitten, denn nur Baba Sahib – mit seinem langen schlohweissen Bart, den buschigen Augenbrauen über den klaren braunen Augen – konnte Wali noch retten.
Als Baba Sahib eintraf, begann er sofort, den Koran zu lesen, um damit das Böse aus dem Körper des Bauern zu vertreiben, das wohl durch die tiefen Wunden, die Madere Hal ihm geschlagen hatte, in seinen Körper gedrungen war. Doch nichts half. Der heilige Mann erkannte, dass jede Hilfe zu spät kam und sprach: „In der kommenden Morgendämmerung, zur gleichen Zeit, als der Kampf beendet war, wird Wali sterben. Bittet Allah, dass er sich seiner Seele erbarmen möge!“
Vom Walde her ertönte lautes höhnisches Gelächter.
Tag der Veröffentlichung: 02.07.2009
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