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Die Musik dröhnte in ihren Ohren, das Partyzelt war in furchtbar grelle Farben getaucht. Ihr weißes Kleid war untern am Saum schon beinahe schwarz von der Erde, ihr Mann saß an einem Tisch mit seinen Freunden. Ihr war schwindelig, vielleicht hätte sie nicht so viel Wein trinken sollen. Sie war vor einem Monat 19 Jahre alt geworden und nun heute zusammen mit ihrem Mann vor dem Pfarrer gestanden. Sie hatte als erstes geheiratet, ihre große Schwester stand erst mit 22 Jahren vor dem Traualtar, ihr 17jähriger Bruder war noch unverheiratet. Ihr Mann würde im August 26 Jahre alt werden, doch war es erst März, also noch eine Weile hin. Tagsüber war es heute warm gewesen, doch nun wurde es immer kühler, je weiter der Abend voranschritt. Ihr Kleid war extra von ihrer Mutter geschneidert worden, da zum einen es sehr schwierig war, überhaupt ein schönes Hochzeitskleid zu bekommen, zum anderen schier unmöglich, ein schönes Kleid für eine im Siebten Monat schwangere Frau zu finden.
Sie setzte sich an den Tisch zu ihrem Mann, hörte inzwischen die Stimmen der Anderen nur noch leise, undeutlich. Sie war erschöpft, unter ihren Augen waren tiefe Augenringe und ihre Haare hatten sich nach und nach aus der komplizierten Hochsteckfrisur gelöst. Ihr war furchtbar heiß, alles um sie herum wurde immer verschwommener, immer greller. Ihr Atem ging schneller, sie musste die Augen schließen, hielt sich den Kopf.

"Oh mein Gott! Oh mein Gott!"
Eine hysterische Frauenstimme. Es wurden immer mehr Stimmen, sie flüsterten, zu leise, sie zu verstehen. Aber man konnte die Angst, den Schock auch ohne klarere Worte verstehen. Eine verzweifelte Stimme. Sie gehört dem Bräutigam.
"Wir brauchen einen Arzt! Oder eine Hebamme! Verdammt, warum holt niemand Hilfe?"
Kurze Zeit später erscheint eine Hebamme, das Gemurmel verstummt.

Sie überlebt. Ihre Kinder nicht. Es waren Zwillinge: Emmi und Esther. Sie starben im Morgengrauen des 28. März 1933, einen Tag nach der Hochzeit ihrer Eltern.


1956


Sie war verzweifelt. Mutlos. Am Boden. Sie saß zusammengebrochen zwischen Scherben, verschüttetem Alkohohl, Trümmern. Alleine. Ihre Eltern waren über das Wochenende zusammen in die Berge gefahren und sie hatte die Gelegenheit natürlich beim Schopfe gepackt, um eine Party zu geben. Ihre gesamte Klasse kam und noch viele Andere, die sie nicht einmal richtig kannte. Viele hatten ihr versprochen, nachher auch mit ihr aufzuräumen, ihr zu helfen, damit das Chaos nicht zu groß würde. Und nun saß sie allein in dem kaum noch wiederzuerkennenden Haus. Ein Stuhl war durch den Raum geschmissen wurde, lag nun in Einzelteilen vor dem demoliertem Schrank, der vorher weiße Teppich war nun vom Wein rot verfärbt. Die Party war ausgeartet, war ein Albtraum geworden. Jeder war gekommen, hatte Schmutz und Zerstörung gebracht und war dann wieder abgehauen. Sie konnte das nicht alleine schaffen! Was würden ihre Eltern bloß sagen? Sie würden so furchtbar enttäuscht sein. Sie schluchzte verzweifelt, Tränen hatte sie schon so viele geweint, dass inzwischen keine mehr kommen wollte. Ihre Schminke war zerlaufen, mischte sich schon längst mit dem Rot auf dem Teppich. Auch die Gartenbank war zu einem Haufen von Trümmern verarbeitet worden, die Küche vollkommen verdreckt. Womit hatte sie so etwas verdient? Sie schrie zu Gott, warum ihr niemand helfe. Aber es kam keine Antwort. Die Welt, die Menschen die in ihr lebten, waren hart, hatten kein Mitleid. Sie konnte nichts mehr tun, sie konnte ihren Eltern nicht mehr gegenüber treten. Die Enttäuschung, den Schmerz in ihren Augen sehen zu müssen.

Das Mädchen war am Montag nicht im Unterricht. Niemand wußte, ob sie krank war oder warum sie nicht in der Schule erschien. Niemand hatte mehr mit ihr gesprochen seit jenem Samstag.
Die Lehrerin klärte sie schließlich mit vor Trauer gebrochener Stimme auf.
Sie habe sich erhängt, im Schlafzimmer ihrer Eltern. Auf dem Schreibtisch lag ein Brief an ihre Eltern. Sie entschuldigte sich, dafür, dass sie nie die perfekte Tochter gewesen sei, dass sie so einen Schaden angerichtet hatte und schließlich dafür, dass sie das Vertrauen, dass sie in sie gesetzt hatten, so mit Füßen getreten hatte. Ihren geplanten Tod hatte sie nicht erwähnt.
Ihre Klassenkameraden, die, die ihr nicht geholfen hatten, als sie es ihr versprochen hatten, waren auf ihrer Beerdigung im Jahre 1956. Mit vor Trauer gezeichneten Gesichtern versicherten sie noch, sie hätten alles für das Mädchen getan, wenn sie die drohende Gefahr, ihre Selbstmordgedanken, gekannt hätten.
Sie trösteten sich gegenseitig alle mit einer verdammten Lüge. Denn sie hatten nicht einen Finger gerührt. Oder?


Erstarrt

Ihre Mutter weckte sie mit einem kleinen Rütteln, einem Lächeln, dann ging sie.
Das Mädchen regte sich im Bett, wollte nicht aufstehen. Heute war ein Montag, ein neuer Tag, an dem sie die Hölle durchleben musste, zur Schule gehen musste.
Nicht etwa, dass sie den Unterricht haßte oder so, sondern konnte sie einfach nicht aushalten wie ihre Klassenkameraden mit ihr umgingen. Sie mobbten sie nicht, nein, dass hatten sie nur früher getan. Damals war sie noch jünger gewesen, es hatte ihr wehgetan, wenn sie als Mißgeburt, Schlampe, etc. bezeichnet wurde. Aber dann hatte sie das kalt gelassen. Aber damit war es nicht genug gewesen. Sie hatten sich einen neuen Weg einfallen lassen, sie zu verletzen. Sie ignorierten sie, seit bestimmt ein paar Wochen hatten sie nicht mal mehr ihren Namen gesagt. Andere hätten vielleicht gesagt, es wäre dem Mobben vorzuziehen, aber das waren die Menschen, die nicht wußten wovon sie sprachen.
Man stand allein zwischen so vielen Menschen und konnte nichts dagegen tun. Man konnte nicht aufschreien, sich nicht wehren. Man konnte sich ja nicht gegen Nichtstun wehren, oder?
Sie stand lustlos aus ihrem Bett auf. Zog sich an, schminkte sich. Ihre Augen waren gerötet, ihre Haare stumpf geworden. Wofür sollte man schön sein? Wenn man für die anderen ja gar nicht existierte? Ihre Eltern wußten nichts davon. Sie wollte es ihnen nicht erzählen, hatte noch nie andere Menschen mit ihren Sorgen belastet. Dafür war sie zu stolz.
Sie ging nach unten und wartete. Wartete darauf, dass es Zeit sein würde, loszugehen. Sie saß da und fragte sich wie fast jeden Tag warum sie nicht endlich zusammenbrechen konnte oder irgend etwas anderes machen konnte, nur, damit sich endlich etwas änderte.
Sie hatte Freunde, das war nicht das Problem. Zwar gingen sie auf andere Schulen, aber sie kannten sich schon alle ziemlich lange und hielten zueinander. Aber auch ihnen hatte das Mädchen nichts erzählt. Ihre Freunde waren beliebt. Sie wollte nicht schlechter sein als sie, wollte sich keine Blöße geben.
Vielleicht war das verrückt, aber so war sie eben.
Sie hatte auch Hobbys. Tanzte leidenschaftlich gerne und spielte Handball.
War ein völlig durchschnittliches Mädchen. Bis auf die Sache, dass sie für ihre Klasse nicht existierte. Es war so verletzend. Sie hatte auch einmal über einen Schulwechsel nachgedacht, aber – so bescheuert es auch klang – wollte sie trotzdem bei ihrer Klasse bleiben. Sie hoffte und hoffte immer weiter, dass alles gut werden würde. Dass ein Tag kommen würde, an dem ein Wunder geschehen würde und sie zu ihrer Klasse dazugehören würde.
Aber dieser Tag würde nie kommen. Sie war wie erstarrt. Sie konnte nichts tun, war gefesselt an diesen Albtraum, der einfach nicht enden wollte. Noch zwei Jahre Schule. Zwei verdammte Jahre, bis sie endlich ihren Abschluss machen konnte.
Inzwischen hatte sie die Tageszahl ausgerechnet, die bis zur letzten Zeugnisausgabe noch zu überstehen waren. Sie strich jeden Tag einen Tag geistig weg. 512 Tage. Nur noch, dachte sie bitter.

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Tag der Veröffentlichung: 03.06.2010

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