Kapitel I
Ich schaute aus dem Fenster des kleinen Autos und ließ die Kilometer an mir vorbeirauschen. Wir, dass heißt meine Mutter und ich, waren auf dem Weg zu einem kleinem Ort in der Nähe der Ostsee, um dort unser neues Zuhause zu besuchen.
Vor einem Jahr hatten sich meine Eltern getrennt.
Mein Vater lebte inzwischen mit irgendeiner Blondine in den USA, die vom Alter her meine Schwester hätte sein können.
Meine Mum tat sich mit der ganzen Sache schwerer:
Zwar ließ sie sich äußerlich nichts anmerken, doch wenn ich manchmal früher von der Schule kam, sah ich sie oft Dramafilme angucken und leise vor sich hin weinen.
Sie war völlig verstört darüber, dass Dad sie wegen einer Anderen verlassen hatte.
Deshalb war ich auch ziemlich überrascht, als sie mir vor ein paar Tagen freudestrahlend erzählt hatte, dass sie ein wunderschönes Haus in "ländlicher Umgebung", wie sie es nannte, entdeckt und sofort gekauft habe.
Weiterhin sagte Mum mir, dass sie mich schon an einer neuen Schule angemeldet habe und wir sobald wir könnten, einziehen würden.
Deshalb saß ich also schon 3 Stunden im Auto und hörte irgendwelche Musik, die Mum, die gern rührselig wurde, als die einzig wahre Musik bezeichnete.
"Tainted Love" oder so hieß der Song.
Meine Mum sang laut den Refrain mit und ich verdrehte genervt die Augen.
Manche Lieder, fand ich, wären ja eigentlich ganz schön, wenn gewisse Mütter einfach mal leise sein und nur zuhören würden.
Mum war aber gerade das totale Gegenteil dieses Wunschtraums.
Außerdem war ich gerade an dem Punkt angekommen, an dem mein Mp3-Player den Geist aufgab.
Und meine Bücher waren im Umzugs-Pkw. Aber da ich mich, wenn ich im Auto lese, immer übergeben muss, hätten diese mir sowieso nichts genützt.
Ich fragte meine Mutter: "Wie weit ist es noch?"
Sie antwortete: "Es kann nicht mehr lange dauern, Schätzchen. Wenn dir langweilig ist, kannst du mit mir reden."
Na toll. Mit 13 Jahren will man ja auch unbedingt "Schätzchen" genannt werden.
Und dann noch mit meiner Mutter quatschen? Nein, danke!
Ich mag Mum eigentlich, aber dies ist einer der Vorschläge, die nur Eltern machen können und die Kinder zu Tode nerven.
Lieber vergrub ich mich nun tief in meinem Sitz und starrte aus dem Fenster.
Die Umgebung wurde immer einsamer, nicht ein Hochhaus mehr, geschweige denn ein Shoppingcenter war zu sehen.
Wenn wir noch lange weiterfuhren, würde ich am Ende auf einem Bauernhof ohne Strom leben und zum Wasserholen müßte man einen Kilometer laufen.
Da schreckte Mum mich aus meinen Gedanken auf, indem sie mir aufgekratzt ins Ohr flüsterte: "Siehst du! Wir sind da. Ist das nicht ruhig und idyllisch?"
Erst jetzt bemerkte ich, dass das Auto seit 5 Minuten schon still stand.
Ich schaute mich entsetzt um.
Ein kleiner Ort voller grüner Wiesen und alberner kleiner Kinder.
Das größte Highlight des Jahres hier war bestimmt irgendein Lagerfeuerabend an dem man Lieder wie "Lebt denn der alte Holzmichel noch?" sang. Das konnte ja heiter werden...
Besonders für ein Stadtkind wie mich aus Berlin.
"Ach Charlotte, guck doch nicht so! Es wird bestimmt ganz toll.Ich habe auch schon mit unserer neuen Nachbarin gesprochen. Sie hat ein Jungen in deinem Alter, mit dem du auch in eine Klasse gehen wirst.
Sie haben uns heute zum Abendessen eingeladen. Sozusagen als Begrüßung!", sagte meine Mutter aufmunternd.
Ich sah sie verwirrt an und fragte: "Ähh, Mum. Woher kennst du unsere neuen Nachbarn?"
Meine Mum schien den wütenden Unterton in meiner Stimme nicht wahrzunehmen.
Woher kannte Mum diese Frau, bei der wir sogar eingeladen waren?
Und was sollte dass mit dem Jungen, der in meiner neuen Klasse sein sollte?
Nichts gegen irgend jemanden, aber ich hatte echt kein Interesse an irgendeinem ekelhaft hilfsbereiten Muttersöhnchen.
Schon der Gedanke allein schien grausam. Der arme Junge.
Na ja, in dem Versuch, den Tag für mich persönlich noch zu retten, stieg ich aus dem Auto, um mir erst einmal unser Haus anzuschauen.
Ich war sprachlos. Schnell kniff ich die Augen fest zusammen, vielleicht war das ja ein Trugbild, was ich da sah.
Aber auch als ich die Augen öffnete, war diese weiß lackierte Villa immer noch da.
Sie sah wunderschön aus.
Auf einmal spürte ich die Hand meiner Mutter auf der Schulter, die begeistert sagte:
"Hab ich dir zu viel versprochen? Sieh dir doch dieses Paradies an...
Einen so großen Garten, hinten ist sogar ein Ofen zum Brotbacken und im Haus wirst du dir
2 Zimmer aussuchen dürfen, so viel Platz ist hier! Übrigens ist in der Nähe ein kleiner Fluß, in dem man baden kann."
Am liebsten hätte ich laut aufgejubelt, doch setzte ich eine betont coole Miene auf und antwortete lässig: "Ja, ganz okay. Aber deshalb will ich noch lange nicht hier bleiben."
Doch Mum hatte mich durchschaut und sagte, während sie sich ein Lachen verkniff:
"Gib doch zu, dass du dieses Haus einfach liebst! Und alles Andere wird für dich bald einfach zum Alltag gehören!"
"Alles Andere?", fragte ich ahnungslos.
"Oh, hab ich dir das etwa noch gar nicht erzählt? Weil ich hier einen 12-Stundenjob angenommen habe, wirst du die meiste Zeit bei Laura verbringen."
Ich klappte den Mund auf, wollte etwas sagen, aber kein Ton kam heraus. Ich war zu fassungslos.
"Die meiste Zeit bei dieser Nachbarin?", fragte ich Mum schließlich leise, als ich meine Stimme wiederbekommen hatte. Meine Mutter sah mich verunsichert an.
"Na ja, ich dachte, du könntest dich mit ihrem Sohn anfreunden. Und ich fange schon ziemlich früh an, um nicht zu spät wieder da zu sein."
Sie sah mich flehend mit feuchten Augen an. Ich gab mich geschlagen. Schließlich war ich froh, dass meine Mum endlich wieder einigermaßen glücklich war und ich wollte sie nicht traurig machen.
Außerdem war meine Mutter ziemlich zart besaitet und sehr nachtragend.
Ich erkundete erst einmal die Villa.
Nach kurzer Zeit hatte ich einen kleinen Eckraum gefunden, der so ausgerichtet war, dass man den Sonnenuntergang durch eine der Glaswände mit beobachten konnte.
Außerdem hatte man einen wunderbaren Blick auf eine weitläufige Wiese und den folgenden Wald unter der langsam zur Neige gehenden Sonne.
Ein wunderbar breites Bett und ein Holzschrank waren schon vorhanden.
Da wir bald zum Abendessen unserer Nachbarn mussten, packte ich kurzerhand meinen Koffer auf dem Boden aus und zog mir meinen karierten Minirock und ein enges, schwarzes T-Shirt an.
Dann betrachtete ich mich zufrieden im Spiegel.
Mit meinen kinnlangen blonden Haaren, die immer verwuschelt in alle Richtungen abstanden und den großen grünen Augen fand ich mich ziemlich hübsch.
"Charlotte! Komm endlich!"
Mum. Konnte sie nicht mal 2 Sekunden warten?!
"Ich komme gleich!", schrie ich nach unten, wo sie schon im Flur stand, völlig angezogen und ungeduldig wartete.
Also trug ich nur noch einmal neuen Mascara auf und stürmte – naja, die letzten Stufen stürzte ich eher – hinunter.
"Und? Hast du alles? Jacke und Schuhe anziehen, Charlotte! Wir haben nicht ewig Zeit! In 5 Minuten müssen wir da sein!"
Dabei schaute sie hektisch auf ihre Uhr. Ich verdrehte genervt die Augen. Bis zum NACHBARSHAUS brauchte man ja auch so lange.
Auf jeden Fall standen Mum und ich schließlich genau pünktlich vor dem Zaun unserer Nachbarn. So sehr, wie mir unser Haus gefallen hatte, mißfiel mir nun dieses hier.
Es wirkte typisch – typisch langweilig.
Ein kleiner gepflegter Garten, ein weiß getünchtes, nichtssagendes Haus auf dem Briefkasten ein "Bitte-keine-Werbung"-Aufkleber und ich dachte eher, hier würde ein altes Ehepaar oder so leben.
Mum drückte auf die Klingel, fuhr sich noch einmal durch die Haare und zischte mir zu:
"Stell dich richtig hin! Was sollen sie denn von dir denken, wenn sie dich so dastehen sehen!"
War mir doch egal, was sie denken. Was gehen mich denn ihre Gedanken an? Trotzdem richtete ich mich seufzend gerade auf und wartete, dass endlich jemand die Tür öffnen würde.
Familie Jäger. Woher ich das wußte? Tja, stand auf der Klingel.
Ich starrte versunken auf den Rasen, in Gedanken ganz woanders. Da stieß Mum mich mit ihrem Ellbogen diskret und schmerzhaft in die Seite.
Ich schaute hoch und stand einer Frau gegenüber. Sie war relativ klein, mollig, vielleicht Anfang 40 und hatte einen geblümten Rock und ein weißes Hemd an. Sie umarmte Mum, die beiden flüsterten irgend etwas und dann streckte sie mir ihre Hand entgegen.
"Und du musst Charlotte sein! Schön, dich kennenzulernen!"
Dazu gab's noch ein herzliches Lächeln, auf dass ich hätte verzichten können. Ich schüttelte schnell ihre Hand und hätte mich am liebsten weit weg gewünscht. Was machte ich hier?
Das war nicht meine Welt. Mum und ich gehörten nicht in so eine kleinbürgerliche Stadt!
Mum und Frau Jäger – "Du kannst mich ruhig Laura nennen, Charlotte." – schienen aber nicht zu bemerken, dass ich mich hier nicht wohl fühlte. Wir wurden ins Wohnzimmer bugsiert, wo Hr. Jäger – "Harald." – uns begrüßte.
Mum und ich setzten uns, während diese Frau in der Küche verschwand. Mum hatte mal wieder Spaß und laberte erst mal die ganze Zeit.
Naja, ich zumindest war extremst gelangweilt.
Was sollte das hier? Dachten die etwa, wir würden alle Freunde werden, ich würde mich gut mit diesem Sohn gut verstehen und einmal in der Woche würden wir uns zum Bingo-Abend treffen?
Denn mir fiel nichts Besseres ein, was man in diesem Kaff hätte tun können.
Aber wo blieb eigentlich dieser Typ? Den Sohn der beiden, meine ich? Genau in dem Moment kam er durch die Tür gestolpert – Er war kein Streber, aber totlangweilig, wie ich schon gedacht hatte. Kurze braune Haare, braune Augen, vielleicht 5 cm größer als ich, was aber bei meiner stattlichen Größe von 1,62m kein besonderes Kunstwerk war.
Seine Klamotten sahen so aus, als hätte alles sein tolle Mami gekauft, was wahrscheinlich auch stimmte.
Als er sich dann zu uns setzte, war er die ganze Zeit nett, höflich, zuvorkommend – langweilig.
Ich gab mir nicht besonders viel Mühe, zu verbergen, wie sehr mich das alles anödete.
Ich war sowieso noch nie einer dieser Menschen gewesen, die sich groß um die Meinung anderer scheren oder die ganze Zeit höflich sind, nur um ja niemanden zu verletzen.
Die einzige Ausnahme war meine Mum. Aber die schien mich zur Zeit völlig vergessen zu haben und das war dann auch den ganzen weiteren Abend so. Als wir endlich gehen wollten, – ich war glückselig und hoffte, dass wir uns nicht mehr so oft sehen würden - kam dieser Sohn noch mit zur Haustür und fragte ekelhaft freundlich:
" Wollen wir uns vielleicht morgen oder übermorgen treffen? Dann kann ich dir die ganze Stadt zeigen und..."
Ich unterbrach ihn schroff und kalt:
"Nein, ganz bestimmt nicht. Du machst das doch auch nur, weil deine Mami es dir gesagt hat. Und du hörst ja auf Mami, oder?"
Mum schnappte empört nach Luft, Herr und Frau Jäger guckten schockiert und ihrem Sohn schien es die Sprache verschlagen zu haben. Ich drehte mich um und rannte zum Haus meiner Mum. Ich sah noch, wie sie sich vielmals entschuldigte bei den Dreien. Dann ging sie mir langsam nach. Schon aus 20m Entfernung kann ich spüren, dass sie richtig sauer ist. Ich weiß auch nicht recht, warum ich das gesagt habe. Vielleicht musste der ganze Frust einfach mal raus.
Es war nicht meine Idee, hierher zu ziehen. Ich wurde einfach mitgerissen. Weg von meinen Freunden, meinem ganzen bisherigen Leben.
Mir war total nach Heulen zumute, aber Mum war nur noch wenige Schritte von mir entfernt, also setzte ich eine gleichgültige Miene auf, drehte mich langsam und provozierend um und schaute sie herausfordernd an.
Aber sie sagte nichts, drückte mir nur einen der beiden Hausschlüssel in die Hand und ging ins Haus, zog die Tür hinter sich zu, ließ mich allein auf der Straße stehen.
Ich ging weg. Weg von "Zuhause". Was war das schon? Wurde es nicht immer als der Ort beschrieben, wohin das Herz gehörte? Aber momentan wußte ich nicht einmal, ob mein Herz überhaupt noch lebte. Oder jemanden oder einen Ort so liebte, dass er das "Zuhause" war. Ich blinzelte die Tränen weg, die mir in den Augen standen.
Nur Weicheier weinen. Ich bin stark. Es ist doch nur ein kleiner Streit. Du hast schon mehr gemacht. Also. Nicht Heulen.
Nachdem ich mich halbwegs gefaßt hatte, überlegte ich, was ich machen sollte. Ich wollte jetzt nicht reumütig ins Haus gehen, mich "geschlagen geben". Also lief ich einfach weiter. Immer weiter. Geradeaus, links, dann rechts, geradeaus. Bis zu einer großen Wiesen mit ein paar alten Bänken.
Ich setzte mich auf eine noch relativ unbeschädigte Bank, fröstelte und versuchte, Wärme in meiner Jacke zu finden.
Was hatte ich eigentlich in den Taschen? Kaugummis, mein Handy, Zettel und Stift, den Schlüssel.
Ich guckte auf das Display meines Handys.
Keine neue Nachricht.
Es war inzwischen fast 11 Uhr nachts.
Ich vermißte meine Freundinnen. Bestimmt waren sie gerade auf irgendeiner Party und hatten mich schon vollkommen vergessen.
Es tat echt weh, zu wissen, dass man selbst nicht mehr bei solchen Sachen dabei sein würde, dass man nicht mehr zu den Anderen gehörte.
Ich packte mein Handy weg, legte mich auf den Rücken und starrte mich brennenden Augen in die Sterne.
Was Mum wohl machte?
Irgendwie hoffte ich, dass sie mich anrufen würde, sich Sorgen machen würde. Aber mein Handy klingelte nicht.
Ich wollte jetzt nicht 'ne Psycho-Show abziehen, aber es war echt verdammt schwer zu lächeln und sich normal zu benehmen, wenn es einem so beschissen ging.
Inzwischen war es echt kalt geworden.
Ich stand auf, steckte mir 'nen Kaugummi in den Mund und lief zurück.
In fast allen Häusern war das Licht schon aus.
Als ich an dem Haus meiner Mutter – ich konnte einfach nicht "unser" Haus sagen – ankam, war es schon kurz nach Mitternacht.
Ich schaute noch mal auf mein Handy.
Keine neue Nachricht, kein unbeantworteter Anruf. Ich war nicht sauer, oder traurig. Einfach nur ein Stückchen mehr enttäuscht.
Mum war cool. Wenn es um normale, nette Dinge ging.
Aber wenn's mir mies ging, hatte ich nie das Gefühl gehabt, ich könnte zu ihr gehen und sie würde mich trösten.
Ich stand bestimmt erst einmal fünf Minuten vor der Haustür rum, bevor ich mich endlich dazu durchgerungen hatte, die Tür leise aufzuschließen und dann schnellstmöglich in mein Zimmer zu schlüpfen und mich auf die auf'm Boden liegende Matratze zu schmeißen.
Ich zog mir nicht einmal meine Jacke aus, sondern schlief sofort ein.
Am nächsten Morgen weckte mich der Schmerz in meinem Rücken auf. Ich blieb noch eine Weile liegen, wollte wieder schlafen, wollte nicht nach unten. Zu Mum.
Schließlich stand ich aber doch auf, zog mir meine Jogginghose und Top an und schlurfte lustlos nach unten.
Mum schaute schnell konzentriert in ihre Zeitung, die sie sich vors Gesicht hielt, als sie mich herunterkommen hörte. Ich setzte mich ihr gegenüber in die schon fertig eingerichtete Küche.
Ein langes Schweigen füllte den Raum aus. Die Sekunden schienen endlos langsam vergehen zu wollen. Aber schließlich brach sie das Schweigen dann doch.
"Laura, Harald und Jan nehmen es dir nicht sehr übel. Ich habe ihnen erklärt, dass du lieber in Berlin geblieben wärst und dich noch nicht richtig einleben konntest."
Da war's schon wieder. Ihre Stimme. Sie klang völlig gleichgültig. Als würden wir übers Wetter reden! Ich wollte sie nicht hören.
Also ging ich in die Offensive.
"Und? Wer ist dieser Jan?"
Für einen Moment hatte ich sie aus ihrem Konzept gerissen.
"Was?"
"Wer ist das?"
"Na... der Junge von den beiden!"
"Mhmm. Achso, ich kann mir eben nicht alles merken!"
Dabei zuckte ich möglichst gelangweilt die Schultern.
Mum starrte mich aufgebracht an.
Dann faßte sie sich aber und antwortete, schon wieder in ihre Zeitung vertieft:
"Auf jeden Fall holt er dich um 15 Uhr ab und zeigt dir dann die Stadt."
Wie kam es eigentlich, dass mein ganzes Leben von meiner Mum geplant wurde? Sie konnte doch nicht einfach entscheiden, mit wem ich mich treffe! Das war echt frustrierend. Es war MEIN Leben.
"Stadt. Paah! Kaff eher."
Ich hate keine Lust, noch länger hier unten zu sitzen.
Ich stand auf, verließ die Küche mit den Worten "Ich pack meine Sachen aus. Komme dann noch mal später runter." und ging hoch in mein Zimmer.
Oben angekommen schmiß ich mich wieder auf meine Matratze, schloß noch meinen Mp3-Player ans Ladekabel an und hörte Musik.
"All night dance Parties in the underground palace" hieß das Lied.
Ich mochte solche Musik. Ich drehte die Musik meistens so auf, bis ich nicht anderes mehr mitbekam, ich sperrte einfach die ganze Welt aus und musste mir über nichts Sorgen machen.
Ich hatte schon immer diese ganzen Chart-Listen-Songs verabscheut. Sido, Frauenarzt, Sportfreunde Stiller – langsam aber sicher hatte ich echt eine Abneigung gegen deutsche Lieder entwickelt.
Ich schaltete meinen Mp3-Player aus. Momentan hatte ich echt auf gar nichts Lust. Also lag ich auf meiner Matratze, schaute aus dem Fenster und wartete, dass etwas passierte.
Jemand klopfte an meiner Tür. Mum, natürlich. Sie steckte ihren Kopf durch die Tür, ging leise zu mir rein, setzte sich im Schneidersitz auf den Boden, neben mich, während ich sie einfach abwartend anschaute.
Sie fing zögernd an zu sprechen:
"Ich weiß ja, dass es für dich nicht leicht ist und all das, aber ... kannst du diesem Ort nicht wenigstens Mal eine Chance geben?"
Ich zuckte die Achseln, wußte nicht recht, was ich sagen sollte.
"Das ist es ja nicht. Nur wir sind so anders als die Leute hier. Die gehen bestimmt jeden Sonntag in die Kirche, der Mann arbeitet, die Frau sitzt zuhause und kocht. Ich meine, die würden uns doch gar nicht richtig akzeptieren. In Berlin waren wir ganz normal und fielen nicht auf.
Und jetzt... boahh, ne. Ich mein, was wollen wir hier?"
Mum fuhr mir durch die Haare, seufzte und wog ihre Worte sorgsam ab.
"Ich ... dachte, wir können ein neues ... Leben beginnen. Früher, in Berlin, war alles so ... hektisch. Ich dachte, wir beide könnten ein ruhigeres Leben vertragen."
"Und deshalb mussten wir also hierher ziehen? Weg von meinen Freunden und überhaupt scheinbar der ganzen Welt?"
Mum blieb stumm. Sie wußte nicht, was sie sagen sollte.
So saßen wir nun zu zweit da, ich in ihren Arm gekuschelt und starrten aus dem Fenster.
Kapitel II
Drei Stunden später stand Jan vor der Haustür. Als ich ihn klingeln hörte, zog ich mir noch hastig eine andere Hose an und schminkte mich schnell.
Mum hatte Jan inzwischen reingelassen und die beiden saßen zusammen in der Küche, als ich herunterkam. Er guckte mich abwartend und ein wenig ängstlich an, wahrscheinlich war er sich nicht sicher, wie er mich gegenüber treten sollte, nachdem ich mich gestern Abend so benommen hatte. Mir persönlich war das jetzt im Nachhinein auch ziemlich peinlich obwohl ich immer noch der Meinung war, dass ich vom Kontext her richtig gelegen hatte. Ich riß mich aber zusammen, setzte ein kleines Lächeln aus und grüßte ihn freundlich.
"Hi Jan. Sorry, dass du warten mußtest."
Jan guckte mich verblüfft an. So, als ob er dachte, ich könnte gar nicht freundlich sein. Dann lächelte er aber erleichtert zurück und sagte:
"Schon gut. Ähmm.. Wollen wir dann gleich losgehen, oder...?"
"Ja, okay."
Also zog ich mir schnell meine Chucks an, gab Mum noch einen flüchtigen Kuß auf die Wange und wir gingen los.
Eigentlich war der Tag ganz schön. Ich war Jan gegenüber netter und nachdem wir uns eine Weile unterhalten hatten, merkte ich –ein wenig
widerwillig-,dass er eigentlich ganz witzig und so was, nur eben ein bisschen schüchtern.
Er war echt nett und ich fühlte mich in seiner Nähe wohl.
Und mit schlechtem Gewissen fragte ich mich, warum er eigentlich immer noch so freundlich war, obwohl ich mich ihm gegenüber doch so daneben benommen hatte.
Jan zeigte mir den "Stadtkern".
Ein kleiner Marktplatz mit einem Supermarkt, einer Eisdiele und einem Reisebüro.
Auf dem Platz standen quadratisch gehauene große Steine, auf denen eine Gruppe von Jungs saßen.
Einer von ihnen war echt ... heiß. Anders konnte ich es echt nicht sagen. Groß, muskulös, leicht gebräunt, markante Gesichtzüge. Seine Haare waren kinnlang und hellbraun. Ich konnte meinen Blick nicht von ihm wenden.
Hinter mir räusperte sich jemand. Ich sah Jan seufzend an.
Er grinste mich erhalten an und konnte ein Lachen nur schwer unterdrücken.
"Diese Steine ... die sind wirklich sehr interessant. Findest du nicht?"
Ich wurde leicht rot. Jan erwartete aber auch gar keine Antwort, er fuhr fort:
"Soll ich dir noch einen anderen Ort zeigen oder willst du lieber hier bleiben?"
Dabei grinste er schon wieder, guckte überdeutlich zu der Gruppe Jungs.
Ich wäre wirklich gerne hier geblieben, dann hätte ich weiter diesen Typen anstarren können. Trotzdem schüttelte ich den Kopf.
"Ne, zeig mir ruhig noch was anderes."
Also gingen wir weg, während ich mich wohl noch mindestens dreimal sehnsüchtig umdrehte.
Jan und ich waren inzwischen an dem anderen Ort angekommen.
Es war die Wiese, Die Wiese mit den Bänken. Mit der Bank, auf der ich letzte Nacht schon gelegen hatte.
Ich guckte mich interessiert um. Gestern Nacht hatte ich nicht besonders auf die Umgebung geachtet.
Bei Sonnenlicht sah es wirklich schön hier aus. Überall waren Gänseblümchen und Pusteblumen und die Bänke sahen gar nicht so kaputt aus, sondern eher nur schön alt – und kaputt, aber das passte hier in die Umgebung.
Ich merkte, dass Jan in die Richtung von einer kleinen Gruppe von Jungs und Mädchen schaute. Ich sah ihn fragend an, als er meinen Blick bemerkte.
"Jan, was ist denn los? Kennst du die oder so?"
"Ja.. das sind meine Freunde."
"Dann... willst du nicht zu ihnen gehen?"
Ich war verwundert. Er anscheinend auch. Überrascht antwortete er:
"Naja, ich dachte, dass würdest du nicht so gut finden."
"Wieso denn? Komm, gehen wir hin!"
Dabei lächelte ich ihn an, zog ihn an der Hand in Richtung seiner Freunde.
Jan's Freunde waren echt ganz okay. War waren sie, wie man sich so "Dorfkinder" vorstellt, aber eben wirklich cool. Eigentlich... aber ich bezweifelte, dass ich auf Dauer mit ihnen abhängen könnte.
Alina war witzig und hatte ihren eigenen Style, aber sie engagierte sich sehr für den Umweltschutz, was ja an sich nicht schlimm war, jedoch war sie mindestens zweimal an diesem Tag noch wütend auf mich, weil ich nicht so begeistert von dem Klimawandel als Hauptgesprächsthema war.
Mit Philipp hatte man Spaß und alles, nun wäre es für mich aber etwas peinlich gewesen, wenn ich mit einem fast 15cm kleinerem Jungen durch die Gegend gelaufen wäre.
Und dann war da noch Helen.
Helen war zwar nett, aber sie sagte fast gar nichts und ich konnte mit solchen Leuten eigentlich nicht besonders viel anfangen.
Um halb Sieben verabschiedeten wir uns.
Jan brachte mich noch bis zu meiner Haustür. Aber anstatt dann tschüß zu sagen oder so, fragte er mich noch:
"Und, findest du mich immer noch absolut schrecklich? Oder geht’s inzwischen?"
Dabei lächelte er ein bisschen. Ich hatte wieder ein schlechtes Gewissen.
Ich dachte kurz nach, dann wußte ich, was ich sagen wollte.
"Du bist echt okay. Ich mag dich."
Das sagte ich ganz sachlich, denn es stimmte. Normalerweise war ich nicht einer dieser Menschen, die so was sagten, aber bei ihm fühlte es sich "richtig" an. Dann fuhr ich fort:
"Aber ich möchte immer noch nach Berlin zurück. Es ist inzwischen wirklich nichts mehr gegen die Leute hier. Es ist der Ort, verstehst du?
Aber es ist auch nicht so, dass ich unglücklich bin. Zwar bin ich auch nicht glücklich, aber ... es geht. Mal gucken, wie's die nächsten Tage wird."
Jan sagte nicht mehr und das tat mir gut.
Ich hatte gerade einfach nicht den Nerv, zu reden.
Wir verabschiedeten uns mit einer kurzen Umarmung und ich rief ihm noch hinterher, als er schon vor seiner Haustür stand:
"Und sag deiner Mutter noch mal, dass es mir leid tut, ja?"
Er nickte lächelnd, schloß die Tür auf und verschwand in sein Haus.
Ich drehte mich weg, schloß ebenfalls auf und ging mit einem kleinen Lächeln hinein.
Erst am Abend, als ich schon im Bett lag, fiel mir dieser Typ wieder ein.
Also rannte ich schnell zu meinem Koffer, kramte eine Weile in ihm herum und hatte schließlich gefunden, was ich suchte: Mein Tagebuch.
Im Großen und Ganzen war er eher ein Verzeichnis von Typen, für die ich mal geschwärmt hate. Ich setzte mich auf meine Bett, kuschelte mich in die Decke ein und schlug eine neue Seite in meinem Tagebuch auf.
"19.8.2009"
Ich überlegte. Vorher vielleicht noch ein Text, was ich heute gemacht hatte und wo ich diesen Typen gesehen hatte? Ich entscheid mich dagegen.
Ich schrieb alles hin, was ich über ihn wußte, was wirklich ziemlich wenig war.
"Haarfarbe: Hellbraun.
Augenfarbe:
Größe: ca. 1,79m??
Hobbys:
Single?:
Schule/Klasse:
Sonstiges: ist (manchmal/immer/heute?) am Marktplatz
hat 'ne schwarze Lederjacke"
Ich schaute deprimiert auf meinen Steckbrief.
Die Lederjacke hatte auf dem Stein gelegen, auf dem er gesessen hatte. Ich wußte also nicht einmal genau, ob sie wirklich ihm gehörte.
Seufzend strich ich diesen Punkt von der nun noch leerer wirkenden Liste.
Müde schaltete ich die Lampen aus, legte Stift und Buch weg und versuchte, ohne Erfolg, einzuschlafen.
Kapitel III
Meine Eltern und ich fahren Ski. Ein steiler Abhang, bedeckt mit Schnee, kommt immer näher. Wir können nicht stoppen. Ich sehe mich um. Meine Eltern sind wie erstarrt, fahren immer weiter dem Abhang entgegen. Nirgendwo ist ein Mensch zu sehen. Es wird keine Hilfe kommen. Der Himmel ist von lauter Wolken verdeckt und alles wirkt so furchtbar düster. Wir fahren den Abhang hinunter, starr vor Schreck, und werden immer schneller. Der Wind bläst uns entgegen, in der Ferne hört man ein unheilvolles Donnergrollen.
Am Ende des Abhangs ist ein Fluss. Er ist breit, erstreckt sich scheinbar bis zum Horizont, das Wasser wirkt schwarz und hat einen so starken Sog, dass es alles mit sich reißen zu scheint.
Mum und ich können stoppen, wir kommen kurz vor dem Fluss zu stehen, doch Dad hat zu viel Schwung drauf. Er stürzt in den Fluss, kann sich nur mit äußerster Mühe über Wasser halten. Mum streckt ihm ihre Hand entgegen, versucht, ihn herauszuziehen, doch wird sie auch in den Fluss gezogen. Sie schauen mich angstvoll, mit vor Schreck geweiteten Augen, an, ich rufe immer und immer wieder verzweifelt ihre Namen. Ich versuche, Mums Hand zu nehmen, sie festzuhalten und damit auch Dad, der sich an Mum festhält.
Doch ich bin zu schwach, meine Kleidung zu schwer. Sie ziehen mich mit sich, in den schwarzen Fluss.
Ich drehe den Kopf in Richtung des Abhangs. Niemand außer uns ist zur Zeit draußen, es wird keine Hilfe kommen. Ich sinke. Um mich herum wird es schwarz.
Schweißgebadet wache ich auf. Wieder dieser Traum. Das erste Mal hatte ich ihn, als ich sechs Jahre alt war. Seither kam er immer wieder, schein mich zu verfolgen. Mindestens einmal pro Woche träumte ich von dem schwarzen Fluss. Immer passierte das Gleiche. Ich hatte einmal gehört, man könne im Schlaf nicht sterben, vorher würde man immer wieder aufwachen. War es das? War ich eigentlich danach immer gestorben? Der Gedanken hatte mir früher immer noch einen Schauer über den Rücken gejagt. Ich wäre am liebsten in das Bett meiner Eltern gekrochen, aber da ich das seit meinem fünften Geburtstag nicht mehr durfte, hatte ich mich statt dessen in meinem Bett zu einer Kugel zusammengerollt und ängstlich darauf gewartet, dass es hell wurde.
Inzwischen ging ich immer runter in die Küche, machte mir einen heißen Kakao und schrieb Tagebuch. So auch heute. Ich schlurfte hinunter, machte ein wenig Licht an und guckte verschlafen auf die Mikrowellenuhr: 4:36 Uhr.
Ich kramte alle Küchenschränke durch. Nirgends stand Kakaopulver herum. Also heute mal ohne etwas zu trinken. Ich setzte mich an den Küchentisch und fing an, zu schreiben.
"20.8.2009, 4:42 Uhr.
Wieder geträumt. Keine Kakao da. Habe Hunger, aber bin zu faul, zum Kühlschrank zu gehen."
Mein Magen knurrte zustimmend.
"Gestern übrigens mit Jan unterwegs. War eigentlich ganz okay. Hab seine Freunde kurz getroffen. Sie sind wirklich nett und so, aber – ohne fies sein zu wollen – so 'ne Menschen, die in meiner alten Schule Looser und Streber gewesen wären. Sie sind einfach nicht so cool. Es hat ja Spaß gemacht, mit ihnen abzuhängen – das will ich nicht bestreiten -, aber gleichzeitig frage ich mich dabei immer, was meine Freunde wohl dazu sagen würden. Mir ist es eben nicht egal, was andere von mir denken. Mach jetzt Schluss. Probier noch, ein bisschen zu pennen."
Die Betonung lag hier auf Probieren. Natürlich war ich inzwischen nun zu wach, um noch einmal einschlafen zu können. Also legte ich mich nur hin, die Augen offen, hörte Musik und dachte an diesen Typen. Ich hatte ihn inzwischen Lucas genannt. Vielleicht war das etwas abnormal, aber besser, als von einem Typen zu träumen, der namenlos war.
Tag der Veröffentlichung: 01.06.2010
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