Wie konnte das nur passieren?
Der kalte Wind wirbelte um seinen Körper und versuchte ihn in jede mögliche Richtung zu ziehen und zwang ihn beinahe seinen Halt auf dem dünnen Drahtseil aufzugeben.
Wie war er eigentlich hier rauf gekommen?
Er schwankte, konnte nur knapp sein Gleichgewicht halten. Würde er nicht diese – erstaunlicherweise sogar recht schwere – Stange in seinen Händen halten, wäre es wohl bereits um ihn geschehen.
Bloß nicht nach unten schauen!
Vor ihm, gute 20 Meter entfernt, war sein dünner Lebensfaden an der Fassade eines Hauses befestigt. Würde er es heil bis dort hin schaffen, dann könnte er auf dem Sims eines Fenster halt finden und dieses eventuell einschlagen, einfach um dieser Höhe – oder eher Hölle - entfliehen zu können.
Plötzlich kam der Wind mit einem mächtigen Schub von hinten und sein rechtes Bein verlor den Halt. Verzweifelt schwang er die Stange in seinen Händen unwillkürlich hin und her.
War es das jetzt?
Er war doch erst 23 Jahre jung. Hatte noch nicht viel vom Leben erfahren. Er hatte weder Frau noch Kinder, nicht einmal eine Freundin. Lebte in einer kleinen, staubigen Bruchbude, die Reparaturen schon seit Jahren nötig gehabt hätte, und in den letzten Jahren war er auch kaum mit Freunden aus gewesen.
Das konnte man nicht gerade ein erfülltes Leben nennen.
Und jetzt sollte es vorbei sein? Seine ganze Existenz ausgelöscht durch einen Fall aus 10 Meter Höhe auf den harten Asphalt?
Er kippte zur Seite.
Schloss die Augen.
Wartete auf sein Schicksal.
Doch es kam nicht.
Eine kräftige Windböe packte seinen schmalen Körper und riss ihn in die Höhe, bis er wieder auf dem Drahtseil stand, das rechte Bein immer noch ohne Halt, aber diesmal nach hinten ausgestreckt, als würde er versuchen im Sportunterricht eine besonders gute Waage vollführen zu wollen, und die Arme nach vorne, den Stab zitternd in den Händen.
Und er behielt das Gleichgewicht.
Ohne einen Muskel zu rühren hatte er die Augen wieder geöffnet. Sein Herz hämmerte laut und schnell in seiner Brust und der Atem fehlte ihm gänzlich.
Er lebte noch.
Vor ihm hatte sich ein Rabe auf dem Seil nieder gelassen und starrte ihm direkt in die Augen. Für einen Moment vergaß er seine Lage komplett und verlor sich in der Schwärze der Seelenspiegel des Vogels. Sein Herzschlag beruhigte sich und auf einmal packte ihn neue Hoffnung und Mut, als hätte das Tier mit ihm gesprochen und ihm gesagt, dass er es auf jeden Fall schaffen würde sich aus seiner Situation zu befreien, wenn er nur dafür kämpfte.
Mit einem kräftigen Flügelschlag erhob sich die Gestalt vor ihm und der Draht wackelte unter der plötzlichen Gewichtsverlagerung. Doch noch ehe er sein Gleichgewicht wieder verlieren konnte, bewegte er sein rechtes Bein vor seinen Körper und setzte es auf das Seil. Anschließend wiederholte er das Gleiche mit dem Linken.
Und wieder Rechts.
Links.
Rechts.
Links.
Den Stab immer fest in den Händen, um die ständige Gewichtsverlagerung auszugleichen, erreichte er schließlich sein Ziel.
Der Fenstersims!
Die Euphorie packte ihn und ein hoffnungsvolles Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus. Nur noch ein kleiner Schritt, dann war er in Sicherheit.
Sein Fuß berührte den harten Stein und er verlagerte seine gesamte Körpermasse auf diesen. Er spürte, wie sich die Erleichterung wie eine Droge in seinem System ausbreitete und ihn regelrecht in Ekstase versetzte.
Dann rutschte er ab.
Seine Augen weiteten sich in blankem Horror, als er den sicheren Halt unter sich verlor. Sein Herz setzte einen Schlag aus und er wusste, dass ihn diesmal nichts davor retten würde, in den Abgrund zu stürzen.
Wie in Zeitlupe spürte er die Erdanziehungskraft auf sich wirken und in Richtung Boden reißen.
Über ihm schwebte der Rabe und schien ihn mit einem verachtenden Blick anzuschauen, als wolle er ihm mitteilen, wie töricht er doch gewesen sei, sich schon viel zu früh in Sicherheit zu wiegen.
Ein heißer Sonnenstrahl bedeckte sein Gesicht, als sich just im Moment seines Falles eine Lücke in der dunklen Wolkendecke am Himmel auftat.
Seine Leben raste vor seinen Augen vorbei.
Freunde.
Familie.
Und dann prallte er auf.
Er hatte Stille nach dem Tot erwartet. Einsamkeit. Aber ganz sicher nicht das Geräusch von einer Meute Menschen und den Schmerz in seinem linken Arm. Der Boden fühlte sich auch nicht wie der Asphalt an, den er dachte unter sich zu haben. Er war weicher, aber rau. Ein wenig wie eine dieser Hochsprungmatten.
Er öffnete die Augen und sah einen Feuerwehrmann über sich stehen. Dieser sprach ihn an, fragte ihn nach seinem Wohlbefinden. Seine Verwirrung hielt nur einen kurzen Moment an, als ihm plötzlich bewusst war, dass seine Situation auf dem Hochseil gar nicht so tödlich gewesen war. Sein Blick schwenkte umher und erst jetzt, wo er nicht mehr vor Angst regelrecht gelähmt war, bemerkte er die Menschenmenge, welche schon die ganze Zeit seinem Akt zugesehen haben musste.
Jemand musste in all dem Trubel die Feuerwehr alarmiert haben, welche mit einem dieser Rettungstücher angerückt war, welche hauptsächlich benutzt wurden, um Opfer aus brennenden Häusern zu retten.
Er wusste immer noch nicht, wie er eigentlich auf dieses verdammte Drahtseil gekommen war, aber das war ihm jetzt auch egal. Er war nur froh, endlich wieder auf sicherem Boden zu sein.
Mit diesem Gedanken schloss er die Augen und schaltete sein Bewusstsein ab.
Die Sanitäter würden sich schon um ihn kümmern.
Tag der Veröffentlichung: 20.05.2012
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