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Die Sonne schob sich langsam über den Horizont und das Schilf wiegte sich sanft im Wind.

Sie streckte ihre großen Flügel und erhob sich ruhig gen Himmel. Ein Blick über den See, an welchem sie lebte, zeigte, dass zusammen mit ihr auch tausende andere erwacht waren.
Durch die Menge hindurch erblickte sie dann Ihn.

(Er ist wunderschön.)



Er war etwas kleiner als die anderen, aber das störte sie nicht. Sie hatte nur diesen einen Tag, diese eine Chance. Schnell schwang sie ihre Flügel und sauste durch das Getümmel in seine Richtung. Als sie ihm näher kam, schien auch er sie endlich zu erblicken –

(Er nimmt mich wahr!)



– und beide hielten für einen Moment inne.
Im nächsten Augenblick flog sie wieder auf ihn zu und auch er kam ihr entgegen. Sie trafen aufeinander und ein lieblicher Tanz begann. Sie schenkte ihm verliebte Blicke und sein herzerwärmendes Lächeln ließ sie wissen, dass er genauso über sie dachte, wie es umgedreht der Fall war.

(Ich bin das glücklichste Mädchen der Welt!)



Stundenlang tanzten sie miteinander, tauschten flüchtige Gesten der Liebe – Berührungen, Umarmungen, Küsse – ehe sie endlich miteinander verschmolzen. Sie gab sich ihm ganz hin und ihre Sinne verbanden alle Empfindungen zu einer großen, welche ihren Körper durchzuckte.
Dann war alles vorbei.
Sie trennten sich voneinander.
Behutsam ließ sie sich an das Seeufer sinken und schaute ihm noch eine Weile nach, bis er in der Menge verschwand.

(Ich werde dich nie vergessen.)



Die Zeit verging und sie hatte Nachwuchs geboren.
Erschöpft flog sie noch einmal über den See.
Ihre Kinder – seine Kinder – würden ohne Eltern aufwachsen müssen, so wie auch sie ohne Eltern aufgewachsen war.
Die Menge über dem See war stark dezimiert und sie wusste, dass auch sie bald gehen musste. Ihre geschwächten Schwingen trugen sie in die Mitte des Sees.
Und da war er.

(Ich liebe dich!)



Auch er erkannte sie wieder. Mit letzter Kraft glitt sie zu ihm und sie vollführten noch einmal ihren Tanz. Tauschten noch einmal Berührungen und Küsse aus. Gemeinsam sanken sie nieder auf das Wasser und ihr Atem verlangsamte sich.

(Du warst die Liebe meines Lebens...)



Wellen umspülten sanft ihre kalten Leiber und die Oberfläche des Sees verwandelte sich in ein Meer aus weißen Körpern, welche alle das gleiche Schicksal teilten.

Die Sonne verschwand lautlos am Horizont.

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Bildmaterialien: Bredehorn / pixelio.de
Tag der Veröffentlichung: 18.05.2012

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