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Der Herbst ist die schönste Zeit des Jahres. Wenn die Blätter sich färben in braun, rot, orange und gelb und die Bäume vom Wind geschüttelt werden, sodass sie ihre Blätter verlieren. Wenn sie sich am Boden sammeln in ihrem farbigen Gewand und es manchmal so wirken lassen, als bestünde der Boden aus Gold.
Blattgold.
Sie lief durch den Wald, die Hände in den Jackentaschen. Der Weg lag schon weit abseits. Niemand war ihr gefolgt. Die Sonne schickte ihre letzten Strahlen in Richtung Erde. Sie hüllten den Wald in goldenes Licht. Die Strahlen brachen durch die Bäume und erhellten auch den Boden und die Blätter darauf.
Das Laub unter ihren Füßen gab ihren Schritten nach. Große Wurzeln suchten sich ihren Weg über den Waldboden. Ein Stück lief sie noch, dann blieb sie langsam stehen. Ganz in ihrer Nähe lag ein vermoderter Baumstamm. Sie setzte sich darauf und saß einfach nur da, betrachtete erst ihre Knie, dann sah sie lange Zeit in die Ferne. Ihr Blick verlor sich in den endlos-scheinenden Bäumen, dessen Schatten länger wurden. Die Zeit rann und lief und lief vorbei. Einholen konnte sie niemand. Die Zeit, ein Wesen, es bestimmt über die Welt. Und das Leben darauf.
Und die Sonne wich langsam aber sicher der Nacht und verbarg sich in der Dunkelheit, unsichtbar. Der Mond erhellte unscheinbar den Abend, doch die Wolken versperrten ihm die Sicht. Sie drängten sich dicht an dicht, immer dichter.
Das Mädchen saß dort nach wie vor. Sie starrte stur geradeaus, schien sich nicht zu bewegen. Sie schloss die Augen, für einen Moment. Eine einzelne Träne tropfte auf ein goldenes Blatt zwischen ihren Stiefeln. Die Träne, wie der Morgentau am Abend. Und weitere Tränen folgten. Leise fing das Mädchen an, zu schluchzen. Die Tränen fielen auf das Laub, eine auf die Erste. Sie gingen ineinander über und bahnten sich ihren Weg, von dem Blatt über seinen Rand, irgendwohin. Die Tränen hinterließen Spuren auf ihrem Gesicht. Spuren, die von ihren Erinnerungen sprachen, die sie so verzweifeln ließen. Sie verbarg ihr Gesicht in ihren Händen, fassungslos. Es war alles zu viel. Und immer wieder fragte sie sich: "Warum? Warum nur?" Die Frage nach oben gerichtet, zu IHM, dem sie vertraut hatte, an den sie geglaubt hatte. Die hereinbrechende Nacht bemerkte sie nicht. Schleichend machte diese sich daran, die Bäume einzuhüllen, mit ihrem Schleier der Dunkelheit.
Als ein kalter Windhauch durch den stillen Wald fegte, fröstelte das Mädchen und zog die Beine näher an ihren Körper heran. Ihre Augen hatten sich mittlerweile an die Dunkelheit gewöhnt, doch wirkte die Ferne des Waldes wie ein schwarzes Loch, indem die Hoffnung und das Licht sich zu verlieren schienen.
Langsam begann sie zu zittern, in der Nacht wurde es kalt. Es mussten Stunden vergangen sein, unbemerkt. Schließlich streckte sie die Beine von sich und stand auf. Den Weg konnte sie nicht mehr erkennen, hatte sie bei Licht nicht mehr erkennen können, er war zu weit entfernt. Die Nacht hatte mittlerweile das Licht vollends verdrängt und die Sterne blinkten nur vereinzelt zwischen den Wolken hervor. Das Mädchen überlegte nicht lang, sondern wandte sich in die Richtung, aus der sie gekommen war, oder es zumindest vermutete.
Doch mit jedem Baum mehr, kam die Verzweiflung. Sie hatte sich verlaufen. Sie blieb stehen, zu sich selbst fluchend. Es hatte keinen Zweck, doch es war so kalt und sie spürte ihre Zehen kaum noch. Sie ging weiter. Das Waldstück war lang, überall der gleiche Baumwuchs. Nichts, an dem sie sich hätte orientieren können.
Der Hoffnungslosigkeit nahe, sah sie auf einmal kurz Lichter aufblitzen. Die Bäume verdeckten sie zeitweise, doch wenn sie ihren Standort änderte, blitzten die Lichter wieder auf. Sie kämpfte sich weiter durch den Wald, spürte ihre Haut an den Ästen der Bäume ratschen. Es war stockdunkel und nur mit dem gelegentlichen Blitzen der kleinen Lichter im Blick, lief sie vorwärts. Die Angst saß ihr im Nacken, wenn die Lichter nun verlöschten...
Und plötzlich wurde sich das Mädchen bewusst, wo sie war. Sie blieb stehen, wollte am Liebsten zurück in den Wald rennen. Einfach weg! Doch sie tat es nicht. Etwas stoppte sie. Den Blick auf die Kerzen geheftet, ging sie weiter. Dass die Kerzen überhaupt noch brannten...Sie erhellte das Grab in einem goldenen Ton. Als ob sie einen Eindruck von Frieden vermitteln wollten. Sie starrte auf das Grab, bunte Blumen lagen davor. Die Kerzen flackerten im Wind, im Begriff, zu erlöschen. Doch sie taten es nicht. Etwas stoppte sie. Ein Foto lag auf der Grabplatte. Josephine. Wie sie lächelte. So unschuldig. Es zeriss dem Mädchen das Herz, ihre Schwester hatte immer Angst vor dem Alleinsein gehabt und vor der Dunkelheit. Jetzt war Josie allein. Niemand konnte ihr beistehen. Das Bild vor ihrem Augen verschwamm. Die Tränen nahmen ihr die Sicht. Um sie herum wurde es schwarz, doch es war nicht die Nacht. Es waren ihre Gedanken, die um sie herumwirbelten, undeutlich und verworren. Dann sah sie plötzlich nichts mehr, und sackte zu Boden.
Die Kälte drang durch ihre Kleidung, schien ihr Herz zu erfrieren, doch sie konnte sich der Kälte nicht erwehren, das Mädchen war zu schwach. Zu schwach.
Sie erwachte, als grelle Lichter sie blendeten. Sie spürte, wie sie jemand rüttelte. Stimmengewirr. Ein Polizist beugte sich über sie, hob sie hoch und legte sie auf eine Trage. Ihre Zehen spürte das Mädchen schon lange nicht mehr. Doch plötzlich breitete sich Wärme in ihren schmerzenden, kalten Gliedern aus. Sie wurde in einen Krankenwagen geschoben und Sanitäter machten sich an Geräten um sie herum zu schaffen. Das Mädchen spürte nichts mehr, als wohlige Wärme. Und Erschöpfung.
Der Krankenwagen setzte sich in Bewegung und als er anhielt, wusste sie nicht, wo sie war. Als sie die Stimme ihres Vaters hörte, wurde sie schlagartig wach. Sie setzte sich auf, wollte aufstehen, doch ihr wurde schwindelig. Der Sanitäter kam herbei und stützte sie. „Wie geht es Ihnen?“, fragte er. Sie traute ihrer Stimme nicht, also nickte sie nur. Alles, was sie wollte, war, einfach nach Hause zu kommen. Er half ihr, aufzustehen und hob sie aus dem Krankenwagen. Sie wurde sofort von ihrem Vater umarmt. „Celyne, wo warst du nur? Wir haben uns solche Sorgen gemacht.“ Celyne versank einfach nur in der Umarmung, während der Sanitäter irgendetwas von einer leichten Unterkühlung sagte. Ihr Vater brachte sie ins Haus. Ihre Mutter saß auf dem Sofa, sie hatte geweint, das sah man ihr an. Als sie Celyne sah, stand sie auf und umarmte sie. Ihre Stimme zitterte, als sie flüsterte: „Celyne.“ Ihre Mutter holte einige Decken und Celyne setzte sich auf das Sofa. Nach einer Weile schloss ihr Vater die Haustür. Ihre Eltern sprachen nicht weiter darüber. Sie saßen einfach nur da, und versuchten jeder für sich, nach vorne zu sehen. Sie waren eine Familie. Eine Familie, und sie würden zusammenhalten. Die Wärme umschlang Celyne, machte sie müde und irgendwann schlief sie ein. Sie fand sich wieder, inmitten ihrer Gedanken und der Träume. Bei Josephine.

Impressum

Texte: Cover: Renee König
Tag der Veröffentlichung: 12.10.2011

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