Spiegelwanderer
Teil 3: Die Spiegelwelt
Es war soweit. Sora hatte ihn gleich am nächsten Morgen aufgeweckt und ihm gesagt, dass sie ihm die Spiegelwelt zeigen würde. Noah konnte es noch immer nicht fassen. Er war unglaublich nervös und angespannt. Und er konnte es kaum glauben. War er denn nun wirklich in der Lage, durch Spiegel zu gehen? Waren sie in den nächsten fünf Minuten schon in England?
„Alles okay?“, fragte Sora etwas besorgt. Noah nickte nur. Er zitterte und brachte beim besten Willen keinen einzigen Ton heraus.
„Du musst keine Angst haben“, versuchte ihm Sora Mut zu machen. „Ich war bei meinem ersten Mal auch so vervös. Aber keine Sorge, es passiert nichts. Ich pass schon auf, dass wir beide wieder sicher zurückkommen.“
Noah wünschte, er könnte ihr glauben, doch er war viel zu unsicher. Sora lächelte aufmunternd und nahm ihn dann lieb an der Hand. „Bereit?“
Er wusste es nicht. Er wusste in diesem Moment überhaupt nicht, ob er bereit für irgendetwas war. Was würde überhaupt passieren, wenn sie gleich durch den Spiegel traten? Wie es wohl dahinter aussah? Noah fürchtete, dass es nur eine einzige Möglichkeit gab, um das herauszufinden. Es war auch der einzige Weg zu Antworten über seinen Brief. Ja, der Brief...
„Bereit!“
Sora hielt seine Hand etwas fester und trat langsam mit ihm durch den Spiegel. Für sie war es schon seit Jahren nichts Besonderes, aber für Noah war es umwerfend. Während sie durch den Spiegel traten wurde es eiskalt. Gerade so, als würde man durch eine dünne, unglaublich eiskalte, flüssige Eisplatte gehen. Er zitterte, als sie durch waren.
Im nächsten Moment musste er die Augen schließen, denn das Licht hier war so hell, dass es ihn fast schmerzhaft blendete, aber es wurde schnell besser, das Licht nahm ab. Als Noah die Augen wieder öffnete, blickte er in ein unendlich weites, aus Glas bestehendes Tunnelsystem, oder was auch immer es war. Die Wände glitzerten, wie kalt gefrorener Schnee im Winter. Sie waren spiegelglatt und von unbeschreibbarer Reinheit. Und obwohl sie durchsichtig waren, konnte Noah ganz genau erkennen, wo die Wände waren. Er hätte am liebsten etwas gesagt. Irgendetwas, aber er konnte einfach keine Worte für das finden, was sich vor seinen staunenden Augen erstreckte. Er hatte noch so etwas umwerfendes geschehen. Er traute sich gar nicht, sich zu bewegen, weil er fürchtete, dann würde alles um ihn herum zerstört werden. Selbst sein Atem schien für ihn fast eine Gefahr darzustellen. Wenn er etwas sagte, dann zerbrachen die hauchdünnen Wände sicher, weil sie den Schallwellen nicht standhalten konnten. Das dachte Noah zumindest.
„Man spricht hier nicht“, flüsterte ihm Sora leicht ins Ohr. Noah erschrak. Er hatte tatsächlich vergessen, dass sie auch noch da war. Er hatte alles um sich herum vergessen, angesichts dieser neuen Welt. „Was man hier sagt, kann man an jeder Stelle der Spiegelwelt hören. Egal wo man ist.“
Noah nickte. Er traute sich sowieso nicht zu sprechen. Dazu schien ihm diese Welt viel zu zerbrechlich zu sein. Vorsichtig machte er einen Schritt nach vorne, trat aber sofort zurück, als ihn plötzlich starkes Schwindelgefühl überkam. Sora merkte das natürlich, sie hatte ihn schon die ganze Zeit aufmerksam beobachtet. Zum Glück hatte sie die Spiegelwelt noch nicht verändert. Sie hielt Noah noch immer an der Hand. Jetzt zog sie ihn langsam wieder zurück und im nächsten Moment stolperten sie beide wieder aus der Spiegelwelt zurück in Soras Wohnung.
Noah sank sofort zu Boden. Ihm war schwindelig, er hatte plötzlich heftig Kopfweh und ihm war kotzübel.
„Das gehört dazu“, sagte Sora, als wäre das absolut normal. „Aber für dein erstes Mal war das gut. Ich bin schon in der Spiegelwelt zusammengebrochen, als ich sie zum ersten Mal betrat.“
Noah sagte nichts darauf. Er fürchtete, dass er sich übergeben musste, sobald er den Mund aufmachte. Sora nahm ein frisches Tuch aus einem Schrank und wickelte ein paar Eiswürfel darin ein. Das hielt sie Noah in den Nacken.
„Sag, wenn du was brauchst. Und vielleicht solltest du dich lieber hinlegen. Kannst du aufstehen?“, fragte sie etwas besorgt.
Noah überlegte kurz. Er wollte schon nicken, war sich dann aber doch nicht sicher. Da schüttelte er doch noch lieber den Kopf, bevor er vor Sora umkippte. Sora nickte verständnisvoll, drückte ihm das Tuch mit den Eiswürfel in die Hand und stand dann auf, um in das Wohnzimmer zu gehen. Von dort holte sie ein paar weiche Decken, die sie dann vor ihm ausbreitete.
„Du solltest dich wirklich besser hinlegen“, sagte sie in einem Tonfall, von dem Noah ganz genau wusste, dass keine Widerrede geduldet wurde. Er hielt es auch für klüger, sich nicht mit Sora anzulegen. Also gehorchte er brav und legte sich auf die Decken. Sora huschte auch sofort wieder los um ihm einen Polster zu holen.
„Wars ... bei dir auch so schlimm?“, fragte er mühevoll, als sie wieder zurückkam und ihm den Polster reichte.
„Das nennst du schlimm?“, fragte Sora erstaunt und lächelte. „Das ist doch nicht schlimm. Das passiert jedem, der die Spiegelwelt das erste Mal betritt. Und wie gesagt, bei mir war es viel schlimmer. Ich hab mich stundenlang übergeben und konnte für den Rest des Tages nicht einmal was sehen!“
Das hörte sich wirklich schlimmer an, das musste Noah natürlich zugeben. Ihm war im Grunde genommen nur noch ein wenig schwindelig, das war alles. Die Übelkeit hatte schon nachgelassen und auch das Kopfweh ging zurück. Das hatte er wohl dem kalten Eis zu verdanken.
„Aber das vergeht doch?“, fragte er besorgt.
„Natürlich! Das ist nur am Anfang. Man gewöhnt sich nach ein paar Mal daran, dann ist es ganz normal. Aber das dauert eben“, erklärte sie ihm beruhigend. „Du musst etwas Geduld haben.“
Noah nickte. Er hatte ja nicht wirklich eine Wahl. Nur hoffentlich brauchte er nicht allzu lange, um sich an die Spiegelwelt zu gewöhnen. Solang das nämlich nicht passierte, konnte das Wandern noch vergessen. Er hatte doch nur einen einzigen Schritt getan und war halb zusammengebrochen. Diese umwerfend schöne Welt hinterließ wirklich einen unangenehmen Nachgeschmack. Bei dem Gedanken, dass sie da drinnen herumirren mussten um einen Aufseher zu finden, wurde ihm gleich wieder ziemlich schlecht. Die Spiegelwelt war nicht gerade die perfekte Umgebung um sich fortzubewegen. Wohin zu gehen war noch nie so anstrengend gewesen ... dabei war es doch nur ein Schritt gewesen! Das schockierte Noah wirklich.
„Denk nicht zu viel darüber nach“, sagte Sora. „Davon wird dein Kopfweh nur wieder schlimmer. Schon morgen wird es besser gehen, glaub mir.“
„Wir gehen heute nicht mehr rein?“, fragte Noah und war sichtlich enttäuscht. Er wollte für heute nicht schon aufgeben. Aber Sora nickte.
„Das würde dich viel zu sehr mitnehmen. Angeblich kann es sogar tötlich sein, wenn man an seinem ersten Tag gleich zweimal reingeht“, sagte sie und glang dabei beunruhigend ernst. Hätte sie nicht wirklich so ernst geklungen, dann wäre Noah vermutlich ... nein, ziemlich sicher davon ausgegangen, dass sie ihm nur Angst machen wollte. Aber so war er ja fast schon gezwungen, ihr zu glauben.
„Ist schon einmal jemand gesroben? Ich meine, weil er zweimal reingegangen ist?“, fragte er.
„Das weiß ich nicht“, gab Sora zu. „Ich habe nur gehört, dass es angeblich möglich ist. Aber ich halte es für besser, wenn du das nicht ausprobierst. Ich glaube zwar nicht, dass es dich töten würde, aber sicher ist sicher.“
Noah stimmte ihr zu. Er war wirklich nicht so scharf darauf, den Tod herauszufordern. Am Ende ging das wirklich schief und er war die längste Zeit auf dieser Welt herumgewandert.
„Dann war’s das wohl für heute, oder?“
Sora nickte und legte eine weitere Decke über ihn. „Du solltest ein wenig schlafen, dami du morgen wieder fit bist. Ich wird solang ein bisschen was zu essen kaufen, wenn’s dich nicht stört.“
Noah störte es natürlich nicht. Es war ja außerdem Soras Wohnung, sie konnte hier tun, was sie wollte. Sora stellte ihm noch ein Glas mit kaltem Wasser auf den Tisch vor ihm, dann zog sie sich um und ging los. Noah wandte sich dem Spiegel zu und streckte langsam seine Hand aus – und zog sie erschrocken gleich wieder zurück, als seine Fingerspitzen das glatte Glas berührten. Er hatte eigentlich damit gerechnet, dass seine Hand durch das Glas gleiten würde ... genauso wie vorher. Er konnte es wohl nicht alleine. Er brauchte Sora, um die Spiegelwelt betreten zu können. Sora ... war sie jetzt sein Guardian? Oder brachte sie ihm einfach nur bei, in der Spiegelwelt von einem Ort zu einem anderen gehen zu können?
Noah drehte sich wieder um und legte sich hin. Seine Gedanken schweiften wieder zurück zu dem Brief. Zu dem Blut. Und den Worten. Wie lange würde es wohl dauern, bis er wusste, von dem der Brief war? Und seine Eltern machten sicher auch noch einen wahnsinns Aufstand. Noah war sich sicher, dass er sicher nicht vor ihnen zu Hause sein würde. Eigentlich wollte er gar nicht mehr nach Hause. Es gefiel ihm hier in Tokyo. Und hier hatte er jemanden, mit dem er reden konnte. Jemand, der ihm zuhörte. Und zu Hause war er ja doch nur wieder alleine. Wieder schweiften seine Gedanken zurück zu dem Brief.
[Ob der Absender noch lebt? ... nein ... sicher nicht. Und wenn doch?]
Noah schüttelte die Gedanken ab. Es hatte ja doch keinen Sinn, sich darüber jetzt groß Gedanken zu machen. Irgendwann, zwischen seinen Gedanken, die er einmal zuließ und dann wieder verdrängen wollte, schaffte er es schließlich, einzuschlafen.
Als er wieder aufwachte, wurde es gerade dunkel. Oder hell? Noah konnte es nicht sicher sagen. Er bildete sich ein, dass er irgendetwas geträumt hatte, konnte sich aber nicht mehr erinnern, was es war. War der Brief vielleicht in dem Traum vorgekommen? Egal.
Noah stand auf und blickte sich um. Von Sora war nichts zu sehen. Die Tür zu ihrem Zimmer war geschlossen. Noah sah auf die Uhr. Es war Morgen. Noah schüttelte den Kopf. Er hatte doch tatsächlich den ganzen Nachmittag des letzten Tages und die Nacht durchgeschlafen. Ihr kurzer Ausflug gestern musste ihn ja wirklich mehr mitgenommen haben, als es zuerst den Anschein gehabt hatte. Noah ging langsam zu Soras Tür und klopfte vorsichtig.
„Ist offen“, hörte er Sora von drinnen rufen.
Noah öffnete die Tür und betrat das Zimmer. Er war erstaunt. Es war ziemlich groß und mit allen möglichen Möbeln vollgestellt, die aber alle zusammenpassten. Außerdem hatte sie ein echt riesiges Doppelbett. Die Wände waren mit dunkelroter Farbe gestrichen, die Decke war etwas heller, aber auch rot. An den Wänden waren außerdem schwarze Rosen aufgemalt worden. Und überall, wo Platz war, standen Kerzen und Räucherstäbchen. Oder Flaschen mit Alkohol. Auf dem kleinen Tisch neben dem Bett lag auf einem weißen Tuch die Rasierklinge...
Sora lag noch im Bett. Sie war wohl auch erst seit kurzem wach. Ihre Schminke war schon wieder verschmiert, aber sie hatte dieses Mal wenigstens nicht geweint. Und wenn, dann merkte man es zumindest nicht.
„Du solltest dich abschminken, bevor du schlafen gehst“, sagte Noah grinsend und setzte sich zu ihr aufs Bett. „Wenn man das nicht macht, ist das angeblich ganz schlecht für die Haut.“
„Weiß ich doch“, gähnte Sora. „Aber ich bin zu faul um das am Abend zu machen...“
„Soll ich das vielleicht wieder für dich übernehmen?“
Sora nickte und Noah holte draufhin gleich alles Nötige aus dem Bad und begann wieder, sie sanft von ihrem Cajal und was sich sonst noch so an Make-up auf ihrem Gesicht befand, zu befreien.
„Wenn ich das noch ein paar Mal mache, dann bin ich bald so gut, dass ich das beruflich machen kann“, scherzte er, als er fertig wurde und den Kram wieder zurück ins Badezimmer stellte.
„Ja kannst du“, stimmte Sora grinsend zu. „Jetzt aber raus, ich will mich umziehen!“ Und schon wurde Noah wieder aus dem Zimmer gescheucht. Es störte ihn nicht besonders, er fühlte sich in Soras Zimmer ohnehin nicht besonders wohl. Es war ihm ganz einfach zu düster dort drinnen.
Er ging in die Küche und machte wieder Kaffee, dann untersuchte er den Kühlschrank auf Essen. Sora hatte gestern wohl eine ganze Menge Sushi gekauft. Schon kam auch Sora aus dem Zimmer. Sie trug ähnliches Gewand wie das, das sie angehabt hatte, als sie sich kennengelernt hatten.
„Hast du schon was gegessen?“, fragte sie. Noah schütelte den Kopf.
„Wann denn? Ich bin gerde vorhin erst aufgewacht.“ Er reichte ihr eine Tasse Kaffee.
„Und wie fühlst du dich?“
Noah zuckte mit den Schultern. Er fühlte sich eigentlich ziemlich normal. Kein Kopfweh, kein Schwindelgefühl und ihm war auch nicht mehr schlecht. Nur ein bisschen müde war er noch, trotz des vielen Schlafs. Naja, das würde der starke Kaffee schon hinkriegen.
Noah trank drei Tassen Kaffe, zu Mittag aßen sie wieder Sushi und gleich danach gingen sie wieder in die Spiegelwelt, weil Noah so sehr darauf bestand. Er staunte genauso wie beim ersten Mal als sie die Welt wieder betraten, aber nicht ganz so lange. Dieses Mal achtete er mehr darauf, sich zusammenzureißen. Vorsichtig ging er wieder einen Schritt nach vorne und rechnete schon wieder damit, dass ihm gleich wieder schlecht und schwindelig werden würde, weder das eine, noch das andere trat ein. Und auch nach dem zweiten und dritten schritt fühlte er sich noch wohl. Das Licht war auch nicht mehr so blendend gewesen, als sie die Welt betraten. Alles wurde einfach besser.
Sora behielt ihn die ganze Zeit über aufmerksam im Auge und blieb dicht hinter ihm. Sie blickte auch immer wieder prüfend auf die Umgebung. Immerhin konnte sich die Welt jederzeit verändern, und wenn sie dann zu weit von ihrem Spiegel entfernt waren, kamen sie so einfach nicht mehr zurück. Und das konnte für Noah dann tödlich enden, wenn es ganz hart kam. Er war noch lange nicht bereit, länger als zehn Minuten in dieser Welt durchzuhalten. Das wurde Sora gleich umso klarer, als Noah nach ungefähr zehn zurückgelegten Metern plötzlich zusammenbrach. Sora war sofort bei ihm und zog ihn wieder nach draußen. Dieses Mal hatte sie die Eiswürfel schon in dem Tuch bereitgeleg und hielt es Noah wieder in den Nacken. Es schien ihm jetzt deutlich schlechter zu gehen als nach ihrem ersten Ausflug. Zehn Meter waren auch unglaublich viel für das zweite Mal. Selbst die talentiertesten Spiegelwanderer schafften an ihrem zweiten Tag nur fünf Meter, maximal sechs, bevor sie zusammenbrachen.
Noah hatte die Augen geschlossen und atmete schwer. Aber wenigstens war er noch bei Bewusstsein, allein das grenzte schon an ein Wunder. Trotzdem befand er sich in relativ schlechter Verfassung. Morgen würde sie den Ausflug in die Spiegelwelt ausfallen lassen, zu Noahs eigener Sicherheit. Er hatte einen freien Tag jetzt wirklich bitter nötig, um sicher erholen zu können.
Noahs Körper war ziemlich kalt. Sora wickelte sofort ein paar Decken um ihn, damit seine Körpertemperatur nicht zu stark absinken konnte. Es kam bei Spiegelwanderern immer wieder vor, dass sie ihre ersten Ausflüge so stark mitnahmen, dass ihre Körper unmittelbar danach nicht genügend Energie hatten, um die normale Körpertemperatur aufrecht zu erhalten.
„Das ist echt hefitg“, sagte Noah leise mit verlegter Stimme.
Sora streichelte ihm sanft den Rücken. „Ja wenn du auch gleich so losrennst.“
„Du hast nicht gesagt, dass ich das nicht darf!“, verteidigte er sich.
Sora seufzte. Noah hatte ja Recht. Sie hätte wirklich etwas sagen sollen. Sie verstand ja selbst nicht, wieso sie nichts gemacht hatte. Vielleicht war sie einfach davon ausgegangen, dass Noah selbst vernünftig genug wäre, um das einzuschätzen. Sie hatte sich geirrt. Natürlich, Noah war vernünftig, aber einfach noch viel zu unerfahren. Er hatte absolut keine Erfahrung in der Spiegelwelt. Wie hatte sie nur denken können, dass er schon alleine auf sich aufpassen konnte? Das hätte wirklich schlimm enden können. Viel schlimmer als es jetzt war. Das würde ihr ganz sicher nicht noch einmal passieren. Ganz sicher nicht, das schwor sie sich. Ab jetzt würde sie viel besser auf Noah aufpassen!
„Es ist noch Sushi da“, bot sie an, aber Noah schüttelte sofort den Kopf. Klar, ihm war vermutlich auch wieder schlecht.
„Aber Wasser wäre gut...“
Sora stand sofort au und holte ihm ein Glas mit kaltem Wasser, das Noah sofort austrank. Obwohl seine Körpertemperatur viel zu niedrig war, funkelten ein paar kleine Schweißperlen auf seiner Stirn und er war leichenblass. In Kombination mit seinen schwarzen Haaren wirkte das noch beunruhigender. Sora holte noch eine weitere Decke und lege sie über ihn.
„Geht’s?“, fragte sie besorgt.
Noah nickte. Sein leicht angeschlagender Stolz ließ auch gar nichts anderes zu. Sora wusste das auch. Aber sie war trotzdem froh, dass er nickte. Und sei es nur deswegen, dass sie sich so absolut sicher sein konnte, dass er sie noch hörte und bei Bewusstsein war.
„Morgen machen wir Pause, okay?“
Wieder nickte Noah. Soweit vernünftig war er, um das einzusehen.
Noah brauchte nicht nur den nächsten, sondern auch noch den Tag danach, um sich zu erholen. Am esten Tag verließ er sein kleines Lager nur, wenn er ins Bad musste, sonst lag er die meiste Zeit nur auf den Decken. Seine Körpertemperatur hatte sich zum Glück bald wieder normalisiert, aber die Übelkeit und auch das Schwindelgefühl hielten an. Am Abend hatte beides aber soweit nachgelassen, dass Noah duschen konnte. Ohne Hilfe natürlich. Allerdings weigerte er sich, zu essen. Sora zwang ihn auch nicht dazu. Sie kannte das von sich selbst. Auch sie hatte in den ersten Tagen, als sie mit dem Wandern begonnen hatte, keinen Hunger gehabt. Und ihr Vater hatte sie auch nicht zum Essen gezwungen, wofür sie ihm überaus dankbar gewesen war.
Noah war erst am dritten Tag wieder bereit, etwas zu essen und andere Getränke als nur Wasser zu sich zu nehmen. Damit sie nicht andauernd nur Sushi aßen, hatte Sora Frühlingsrollen, Maki, Wan-Tan, Reis und eine süß-saure Sauce besorgt.
Sora und Noah hatten seit ihrem letzten Ausflug nicht mehr über die Spiegelwelt gesprochen. Vermutlich hatte Noah erst mal genug davon. So wunderschön diese Welt auch war, es war genauso schwer, sich dort aufzuhalten. Sora würde Noah auf gar keinen Fall dazu zwingen, die Welt zu betreten. Es hätte auch anders gar keinen Sinn. Wenn er sich sträubte, konnte er die Welt ohnehin nicht betreten, da konnte Sora auch gar nichts daran ändern.
Also, anstatt einen weiteren Nachmitteag in der Spiegelwelt zu verbringen, gingen sie in die Stadt und Sora zeigte Noah ein paar ihrer Lieblingsläden. Noah machte viele Fotos und war von alles Läden vollauf begeistert, doch am allermeisten faszinierte ihn der Laden, ihn dem Sora ihre einzigartig individuelle Kleidung kaufte. Ihm gefielen die Kollectionen dort so gut, dass er sich selbst gleich eine ganze Reihe neuer Outfits zulegte. Sora fand es richtig amüsant, wie er fast das ganze Sortiment schön der Reihe nach durchprobierte. Danach schleppte sie ihn in einen Laden, der haufenweise irgendwelchen Kosmetikkram verkaufte. Das war der einzige Laden, von dem Noah nicht begeistert war, oder besser gesagt, mit dem er nichts anzufangen wusste. Sora kannte den Laden aber in- und auswendig und so hatte sie alles, was sie brauchte, blitzschnell gefunden und auch bezahlt. Noah war darüber echt erleichtert. Zwischen all den Lippenstiften, Mascaras, Cajals und diversem anderen Sachen fühlte er sich so gar nicht wohl. Er war echt froh, als sie den Laden endlich verließen.
Als es dunkel wurde, lieferten sie ihre eingekauften Sachen in Soras Wohnung ab, danach fuhren sie mit dem Zug zu einem der höheren Wolkenkratzer.
„Ich hoffe du hast keine Höhenangst“, sagte Sora schmunzelnd, während sie mit dem Aufzug bis ganz nach oben fuhren. Es dauerte ganz schön lange, bis sie oben ankamen.
„Komm hier her“, flüsterte ihm Sora zu und führte ihn schnell zu einer versteckten Treppe, die noch weiter nach oben führte. Dass sie abgesperrt war interessierte sie nicht. Leise, damit man sie ja nicht hören konnte, stiegen sie bis ganz nach oben. Sora öffnete die verschlossene Tür mit einer Haarnadel, wovon sich Noah echt begeistern ließ.
Aber im Angesicht dessen, was er nun gleich sah, als er vor Sora hinaus auf die Pattform trat, vergaß er alles, was vorher geschehen war. Er hatte noch nie so viele schöne Lichter gesehen. Sie bildeten wunderschöne, verschiedneste Muster, die hell gegen den Himmel leuchteten. Es sah so aus, als würden sich Tokyos Lichter mit den Sternen darum streiten, wer heller leuchten durfte. Ein unendlicher Wettstreit, der jede Nacht aufs Neue stattfand.
Noah war sich sicher, dass er bestimmt länger als eine Stunde einfach nur regungslos dagestanden und die Lichter bewundert hatte. Aufgrund der hellen Lcichter merkte man gar nicht, dass es noch dunkler geworden war. Nein, hier war es, als wäre immer Tag, aber der Teil des Tages den die Nacht ausmachte, war viel schöner, bunter, eindrucksvoller. Schockierend eindrucksvoll.
Erst als ein kühler Wind aufkam und Noah langsam kalt wurde, ließ er sich von den Lichtern ablenken. Am liebsten wäre er bis in alle Ewigkeit hier heroben gestanden. Und wieder, schon wieder, dachte er an den Brief. Endlich verstand er, was der Absender meinte. Endlich konnte er ihn etwas mehr verstehen. Als er den Brief verfasst hatte, war er wohl auch auf so einem Wolkenkratzer gestanden und hatte die Lichter betrachtet.
„Lass uns wieder gehen, hm?“, sagte Sora schließlich.
Noah nickte und warf einen letzten Blick auf die Lichter. Ein letzter Blick. Aber nur für heute, denn er würde ganz bestimmt wieder hierher kommen. Sobald er konnte.
Fast eine Stunde später waren sie wieder in Soras Wohnung. Noah war aber noch von den nächtlichen Eindrücken zu sehr mitgenommen, um jetzt über irgendetwas mit Sora zu sprechen. Er ließ sich auf die Couch fallen und sah sich alle Bilder unzählige Male durch, die er gemacht hatte. Er merkte gar nicht, wie Sora ihm eine gute Nacht wünschte, bevor sie sich schlafen legte. In seinen Gedanken war Noah noch immer oben auf den Wolkenkratzer. Und in seinen Träumen war er es auch.
Am nächsten Morgen wollte er gar nicht aufwachen, denn das würde bedeuten, dass seine Träume endeten. Als ihm das klar wurde, war es leider schon zu spät. Warum mussten Träume immer enden, wenn man anfing, zu denken?? Noah drehte sich von den Fenstern weg und zog die Decke ganz über seinen Kopf. Er wollte wieder einschlafen. Träumen war ja so viel leichter als ... als ... als leben? Ja, das war es. Mit dem Leben klar zu kommen, war manchmal eine einzige harte Aufgabe.
Um ihn herum war es still. Nein ... nein, der Lärm von Tokyo drang durch die geschlossenen Fenster zu ihm herein. Aber das war okay so. Noah mochte diesen Lärm. Irgendwie ... klang er vertraut, so als würde er ihn schon Jahre lang kennen. Noah wusste auch, warum das so war. Er war Straßenlärm immerhin gewohnt.
Noah verfluchte den nächsten Augenblick. Sein Handy begann laut zu läuten und beschloss so ruckartig das Ende seines nun nur noch Halbschlafs. Genervt hob Noah das iPhone vom Boden auf – es musste ihm aus den Händen gerutscht und zu Boden gefallen sein, als er geschlafen hatte. Als er sah, wer ihn anrief, ließ er es auch gleich wieder auf den Boden zurückfallen. Nur einer seiner “Freunde“, der ihn jetzt wohl gerade betrunken aus irgendeinem Saufparadies in Hawaii oder sonst irgendeinem anderen Urlaubs—nein, Saufgebiet anrief. Auf sein betrunkenes Gefasel konnte Noah gut verzichten. Wenn es wichtig war, dann würde er schon später wieder anrufen. Nur, es war sicher nicht wichtig. Noah redete nie mit denen über wichtige Dinge. Wie gesagt, das ear alles eher eine Scheinfreundschaft, eine, die gar nichts bedeutete. Außer, dass man sich und anderen vormachen konnte, man wäre nicht so alleine, wie man es eigentlich war. Aber das war ja jetzt nicht mehr nötig. Noah hatte inzwischen jemanden gefunden, der ihm wirklich zuhörte. Jemanden, bei dem er auch das Gefühl hatte, frei reden zu können. Jemand, der ihm glaubte. Diese Freudschaft zu Sora würde er um nichts in der Welt mehr aufgeben.
„Na, auch schon wach?“, sagte sie freundlich, gerade als er an sie gedacht hatte. Noah nickte gähnend und setzte sich auf. Ein Blick auf die Uhr verriet ihm, dass es fast Mittag war. Ob Sora auch verschlafen hatte? Oder war sie einfach nur so nett gewesen, ihn nicht zu wecken?
Ein kurzer Blick auf sie verriet ihm die richtige Antwort. Sie hatte ebenfalls verschlafen, denn sie trug nur bequeme Kleidung – natürlich ganz in schwarz – und – das war noch viel eindeutiger! – sie war noch ungeschminkt. Sie schienen wohl gestern viel länger unterwegs gewesen zu sein, als er angenommen hatte. Aber das war auch nicht sonderlich verwunderlich. Tokyos Lichter leuchteten so strahlend hell, dass man kaum einschätzen konnte, wie dunkel es wirklich schon geworden war.
Dafür war Noah echt fit und ausgeschlafen. Und dann ging es auch schon wieder los. Nach einem kleinen Frühstück waren sie auch schon wieder in der Spiegelwelt, aber nicht für lange. Noah konnte inzwischen gut darauf verzichten, dass es ihm nach ihren Ausflügen hinter Soras Spiegel immer so mies ging. Er bewegte sich langsamer und bedachter als bei den ersten beiden Malen, die er hier gewesen war, und er ging auch nicht wirklich viel herum. Es wurde trotzdem besser. Seine Augen hatten kaum noch Probleme mit dem grellen Licht am Anfang. Sora hielt sich wie immer nahe beim Ausgang auf und achtete auf etwaige Veränderungen, die allerdings ausblieben.
„Es nutzen wohl nicht mehr viele Spiegelwanderer diese Wege?“, fragte Noah, als sie die Spiegelwelt wieder verließen. Sora nickte.
„Das ist aber nicht verwunderlich. Es gibt immer weniger Wanderspiegel und es wird auch immer schwerer, welche zu finden, die groß genug sind. Und leistbar. Außerdem gehen immer mehr Spiegel kaputt“, berichtete sie traurig und Noah bereute schon wieder, dass er gefragt hatte. Ein Themawechsel war nötig. Er mochte es nicht, wenn Sora traurig war. Leider passierte das nur zu leicht. Eine falsche Frage reichte da schon.
„Schon Ideen, wie wir so einen Aufseher finden wollen?“
Sora sah ihn verwundert an. „Schon Ideen, wie du länger als eine halbe Stunde da drinnen überleben willst?“, versetzte sie etwas bissig. Ein einfaches Nein hätte es auch getan, aber okay. Noah gehörte nicht zu der Art Menschen, die immer gleich wegen jeder Kleinigkeit eingeschnappt waren. Oder etwa doch? War er es nur eine Ausnahme, weil Sora es sagte?
„Üben?“, schlug er vor. Etwas Besseres fiel ihm auch nicht ein. Außerdem gab es vermutlich nicht einmal eine andere Option, außer einfach üben und sich immer mehr an die Spiegelwelt zu gewöhnen. Sora antwortete zwar nichts darauf, aber sie schien zu wissen, dass es wirklich nur diese eine Möglichkeit für ihn gab. Aber ganz ehrlich, im Moment dachte sie gar nicht wirklich an Noah und die Spiegelwelt. Doch ... an ihn dachte sie schon.
„Heute hat ein Freund von mir Geburtstag“, verriet sie, nachdem sie geheimnistuerisch ein paar Textnachrichten von ihrem Handy aus verschickt hatte. „Magst du mit auf seine Party?“
Noah war sich nicht sicher, was er antworten sollte. Er kannte hier außer Sora doch niemanden. Und vermutlich war der Typ, der Geburtstag hatte auch noch Japaner. Noah würde sich also nicht einmal richtig mit Soras Freunden unterhalten können, immerhin sprach er kein einziges Wort japanisch, außer vielleicht “Hallo“, aber das konnte echt jeder Vollidiot. Zum Beispiel konnte es echt jeder, der einmal “Eagle Eye“ gesehen hatte.
„Sag, wenn du nicht willst.“
Leider war eben gerade das das Problem. Noah war sich einfach nicht sicher, ob er wollte oder nicht. Wenn er mitkam, dann konnte er die Leute natürlich kennenlernen. Was vermutlich besser war, sonst stand er das nächste Mal, wenn ihn Sora sowas fragte, wieder vor dem gleichen Problem. Und es war ja nicht so, dass er vor den Japanern Angst hatte. Es war nur so, dass er sie nicht verstehen konnte. Aber vielleicht war Sora ja so nett, zu übersetzen ... auf einer Party. Da glaubte Noah auch nicht wirklich daran.
Er ging dann wirklich mit. Sora hatte aus den Kleidungsstücken, die er am Vortag gekauft hatte, ein echt nettes Outfit für ihn zusammengestellt. Nett natürlich unter Anführungszeichen, denn als nett bezeichnete man normal etwas anderes. Noah erkannte sich selbst kaum wieder, als er sich in dem Spiegel betrachtete. Sora hatte seinen Haaren mit Haarspray etwas mehr Volumen verpasst, genau wie bei ihr. Außerdem trug er eine enge schwarze Hose mit gleich zwei verschiedenen Nietengürteln und ein Shirt, das ihm fast ein wenig zu feminin war. Als er es an sich begutachtete, konnte er überhaupt nicht mehr nachvollziehen, warum er das überhaupt gekauft hatte. Sicher hatte er da nie im Ernst vorgehabt, das Teil wirklich einmal anzuziehen. Seine Schuhe waren das Einzige, was noch einigermaßen normal und Sora hatte sich auch nach langem Reden zu überreden lassen, diverses Make-up weit von seinem Gesicht fern zu halten. Trotzdem hatte es ihn sehr gefreut zu sehen, wie sehr Sora in ihrer Tätigkeit als Styleistin aufblühte. Aber übertreiben musste man es trotzdem nicht.
Soras Freund wohnte ein ganz schönen Stück weit weg. Sie mussten erst einmal einige Male in andere Verkehrsmittel umsteigen, weil es keine direkte Busverbindung dorthin gab. Und dann mussten sie auch noch ein ganz schönes Stück zu Fuß gehen. Sie brauchten mehr als eine Stunde für die Anreise, aber dann hielt Sora endlich vor einem großen Wohngebäude an und klingelte. Es dauerte ein paar Minuten, bis die Tür geöffnet wurde.
„Wir nehmen den Lift, er wohnt ziemlich weit oben“, verriet ihm Sora, als sie den Lift betraten, auf den zu nicht warten mussten. Noah sagte nichts dazu. Er hoffte nur, dass er den Abend halbwegs gut überstehen und nicht versehentlich jemanden beleidigen würde. Er glaubte nämlich sich zu erinnern, dass ihm einmal jemand gesagt hatte, dass die Japaner das mit der Höflichkeit überaus ernst nahmen.
Zum Glück hielt der Lift oben an bevor er sich noch mehr Sorgen machen und sich am Ende vielleicht doch noch dazu entscheiden konnte zu gehen. Sie verließen den Lift und Noah folgte Sora zum hinteren Ende des Ganges, wo sie wieder an einer der Türen klingelte. Noah konnte bereits vom Aufzug aus die laute Musik hören, die von dem Zimmer nach draußen dröhnte. Zu seiner allergrößten Verwunderung war das eindeutig keine japanische Musik.
Das Zimmer wurde geöffnet und die Musik wurde kurz unerträglich laut. Unerträglich für jemanden, der es nicht gewohnt war. Noah hatte kein allzu großes Problem damit.
Sora nahm ihn am Handgelenk und schubste ihn dann eilig vor sich in die Wohnung, damit er nicht weglaufen konnte. Nicht, dass sie das von ihm erwartet hatte, aber so hatte er gar keine Wahl mehr.
Als die Tür wieder hinter ihnen geschlossen war, begann sie, mit dem Typ zu reden, der ihnen aufgemacht hatte. Natürlich auf Japanisch. Noah verstand kein Wort mehr. Als Sora kurz zu ihm blickte, ging er davon aus, dass sie nun auch über ihn redete. Er schien Recht gehabt zu haben, denn er streckte ihm freundlich die Hand entgegen. Noah lächelte ein wenig verlegen, schüttelte ihm aber die Hand. Im nächsten Moment spürte auch schon Soras Hände auf seinem Rücken, die ihn durch eine gar nicht so kleine Menschenmenge weiter in die Wohnung schoben.
„Was hast du ihm gesagt?“, rief er laut gegen die Musik an, während er versuchte, den Leuten auszuweichen.
„Nichts. Nur dass du ein Freund von mir bist und keine Ahnung von Japan hast, dich aber jetzt, wo du hier bist, dafür interessiert. Und natürlich dass es dir hier sehr gut gefällt.“
Das entsprach sogar der Wahrheit. Nachdem Sora ihn sicher mehrere Male in der Wohnung im Kreis herumgeschoben hatte – weil sie ganz offensichtlich jemand bestimmten suchte – schien sie ihn schließlich endlich gefunden zu haben. Noah wusste auch so, dass es sich um den Typ hatte, dessen Geburtstag hier gerade gefeiert wurde. Er hatte denselben Stil wie Sora, wenn auch weit nicht so auffällig und übertrieben. Er war ungefähr so groß wie Noah und wirkte schon auf den ersten Blick sehr sympathisch. Seine Haare waren etwas länger als schulterlang und waren nach hinten hin kürzer geschnitten. Eine rechte Strähne seiner langen Stirnfranse hatte er knallig rot gefärbt, was ihm total gut passte. Das Einzige, was irgendwie in krassem Gegensatz zu seiner sonst eindeutig japanischen Erscheinung stand, waren seine Augen. Die waren nämlich tiefblau. Das passte auf den ersten Blick gar nicht. Aber wer war schon Noah, dass er darüber urteilen durfte?
Sora und er fingen sofort ein langes Gespräch an. Auf Japanisch, versteht sich. Noah stand daneben und kam sich schon richtig dumm vor. Vielleicht sollte er die beiden einfach alleine lassen und erst mal den Alkohol, der sich ganz sicher auch hier irgendwo aufhielt, zu suchen.
Doch als er gerade wirklich losgehen wollte, wandten sich Sora und ihr Geburtstagsfreund ihm zu.
„Das ist Kagami“, stellte sie ihm ihren Freund vor. Noah nickte nur und lächelte. Sagen konnte er ja swoieso nichts. „Seine Mutter kommt aus Wien.“
Gut, damit hatte Noah nun wirklich nicht gerechnet. Er musste echt erstaunt dreinblicken, denn Kagami fing an zu lachen.
„Ja“, sagte er. „Ich spreche Deutsch.“
[Mit einem lustigen Akzent!], dachte sich Noah in Gedanken dazu, sagte aber nichts und lachte auch nicht, auch wenn es sich irgendwie schon sehr lustig anhörte.
„Okay dann ... Happy Birthday“, sagte Noah stattdessen. „Ich hab nur leider kein Geschenk.“
Kagami zuckte nur lächelnd mit den Schultern. „Vergiss es, das ist nicht so schlimm. Trotzdem danke! Ich freue mich, dass ihr kommen konntet! Wollt ihr was trinken?“
Natürlich wollten sie. War ja klar, was wäre denn eine Party ohne Alkohol, vielen Lichtern, ner ganzen Menge lustiger Leute und auf Anschlag hochgedrehte Musik. Kagami hatte alles davon in bester Qualität, wenn man das so sagen konnte. Nach einigen Gläsern Alkohol traute sich Noah auch alleine, die anderen Leute anzusprechen. Klar, sie verstanden kein Wort von dem, was er sagte, genauso wenig wie er etwas verstand, aber irgendwie schafften sie es doch problemlos, sich zu unterhalten. Na gut, unterhalten war vielleicht ein etwas zu großes Wort, sie konnten sich soweit verständigen um gemeinsam zu tanzen, Alkohol zu trinken und sich nicht zu beleidigen. Noah war später der Meinung, dass das eine ganze Menge für jemanden war, der – außer eben “Konnichi wa“ – kein Wort Japanisch sprach.
Während Noah sich – schon bald mehr betrunken als nüchtern – mit allen möglichen Leuten anfreundete, die nicht einam Sora richtig kannte, verbrachte sie die meiste Zeit bei Kagami. Sie sahen sich nicht gerade oft, denn Kagami hatte meistens unglaublich viel zu tun. Zurzeit hatte er ungefähr drei Fortbildungskurse für zwei verschiedene Berufe belegt und daneben hatte er zwei Jobs. Aber wer hatte schon jemals behauptet, dass das Leben hier in Japan einfach war?
Aus diesen und noch einigen anderen Gründen, sah Sora ihn vielleicht acht Mal im Jahr. Nicht gerade oft, dafür, dass er einer ihrer besten Freunde war. Sie hatte in vor vielen Jahren kennengelernt, als ihre Eltern gestorben waren und sie die Wohnung verloren hatte, die sie natürlich alleine nicht bezahlen konnte. Kagami hatte sie damals in einer Bar gefunden und ihr geholfen. Er hatte ihr eine Wohnung besorgt und hatte sogar einige Zeit lang bei ihr gelebt. Sie waren auch kurz zusammen gewesen, aber das hatte ihrer Freundschaft mehr geschadet als sonst was. Kagami war ziemlich eifersüchtig. Als er dann seinen Job in der nähe verloren hatte, musste er hier herziehen. Seitdem wohnte Sora alleine. Wenn alleinesein doch bloß nicht so einsam wäre, dann würde sie damit auch sicher besser klar kommen...
Für Noah verging die Partynacht viel zu schnell. Je länger sie dauerte, umso besser verstand er sich mit den Leuten und umso wohler fühlte er sich. Dass er vollauf betrunken war, spielte dabei keine wirklich große Rolle. Der Spaß stand doch im Vordergrund. Warum sonst sollte man denn eine Geburtstagsparty machen?
Aber auch für Sora verging die Nacht viel zu schnell. Sie war kaum zum Trinken gekommen, weil sie sich die ganze Nacht mit Kagami über ihn und über sein Leben unterhalten hatte. Kagamis Vater lebte mit seiner Mutter in Wien, aber Kagami wollte nich weg von Japan. Seine Eltern waren zum Glück so weit gewesen, um das zu verstehen und hatten ihn bleiben lassen. Sie schickten ihm auch Geld, aber das sparte Kagami alles. Er sagte immer, er wolle nur von dem Leben, was er sich wirklich selbst verdient hatte. Sora fand schon immer, dass er ein wenig zu stolz war. Sie hätte das Geld genommen und sich darüber gefreut und es ausgegeben. Nicht alles, aber zumindest einen Teil.
Außerdem überlegte Kagami, ob er sich nicht wieder eine andere Wohnung suchen sollte. Eine, die etwas größer und geräumiger war als die hier, und die nicht so weit weg von Sora war, damit sie sich öfter sehen konnten. Sora fand das süß von ihm.
Sie selbst redete kaum, sie hörte viel lieber zu, was Kagami alles zu erzählen hatte. Sein Leben war auch viel aufregender als ihres. Sie machte ja zur Zeit gar nichts. Keine Kurse, keine Arbeit. Zurzeit lebte sie von dem, was sie gespart hatte und von dem, was ihr als Guardian ausgezahlt wurde Und noch reichte das.
Sie erzählte nur ein wenig von Noah, aber die Sache mit dem Spiegelwandern ließ sie weg. Kagami wusste zwar, dass sie das konnte, aber sie wollte nicht auf einer Party darüber reden. Für so laute Orte war das einfach kein Thema.
Als es hell wurde, verabschiedeten sich die ersten Gäste. Zumindest die, die noch aufrecht stehen konnten und zum Gehen in der Lage waren. Viele hatten sich aber in der Wohnung ein halbwegs bequemes Plätzchen gesucht und sich schlafen gelegt. Noah war da keine Ausnahme. Er hatte es sogar ziemlich gut, er hatte eine Couch ergattert.
Sora und Kagami ließen sie schlafen und begannen einstweilen, die Wohnung etwas aufzuräumen, soweit das ging ohne dabei alle Schlafenden zu wecken. Als Sora die Fenster öffnete, damit frische Luft in die stickige Wohnung kommen konnte, wachten ein paar auf. Haupsächlich die, denen es ohne Decke nun zu kalt wurde. Nach einer kurzen, meist noch ziemlich betrunken Verabschiedung verschwanden sie, um zu Hause in ihren warmen Betten weiterzuschlafen. So ging das weiter, bis am Nachmittag schließlich nur noch Noah übrig war, der sich einfach durch nichts wecken hatte lassen.
Kagami vestaute die Geschenke in seinem Schlafzimmer. Er hatte nicht alle geöffnet, aber das war halb so wild. Das konnte er auch später noch tun, immerhin hatte er ja den ganzen Tag frei, und den danach ausnahmsweise auch.
„Und? Kann er es auch?“, fragte er Sora neugierig, während er den Boden in der ganzen Wohnung aufwischte und verstreut liegende Glasscherben beseitigte. Sora nickte und nahm ihm eine Handvoll Scherben ab, die sofort zu den anderen in einen Karton wanderten.
„Ja. Wir üben gerade. Er kann es noch nicht lang“, anwortete sie knapp und schloss die Fenster wieder. Sie wollte nicht wirklich darüber sprechen, dass Noah diese Fähigkeit genauso besaß wie sie. Sie wusste, dass Kagami das nicht gefiel. Das heißt, es gefiel ihm nicht, dass er diese Fähigkeit nicht hatte. Sora wusste nur zu gut, wie sehr sich Kagami wünschte, ein Spiegelwanderer zu sein. Nur leider lag es nicht in ihrer Hand, das zu entscheiden. Hätte Sora es gekonnt, sie hätte ihn sofort zu einem Spiegelwanderer gemacht. Das wäre das Mindeste gewesen, das sie hätte tun können als Dank für alles, was Kagami für sie getan hatte. Nur konnte sie es leider nicht.
Kagami schien es überraschend gelassen zu nehmen, aber Sora war sich sicher, dass er nur so tat. Ein kurzer neidischer Blick, den er zu Noah warf, verriet ihn. Sora sagte nichts mehr. Sie hätte auch nichts sagen können. Außer dass es ihr leid tat. Aber das wusste Kagami ja.
Kagami wischte zu Ende, gründlicher als nötig gewesen wäre. Zum Schluss wanderten die noch halb vollen Alkoholflaschen zurück in ein Regal. Volle Flaschen gab es freilich nicht mehr.
„Er hat dein Video auf youtube gesehen“, verriet Sora schließlich beim Frühstück, das hauptsächlich aus Torte und übrig gebliebenen Snacks bestand. Noah schlief immer noch seinen Rausch aus und bekam noch immer überhaupt nichts mit. Er war wohl um einiges betrunkener gewesen, als Sora angenommen hatte.
„Echt?“ Kagami musste grinsen. Er hatte das Video vor einigen Jahren aufgenommen. Es war purer Zufall gewesen. Damals hatte er sich gerade einen neuen Camcorder gekauft und er wollte ihn einfach nur ausprobieren. Dabei hatte er zufällig filmen können, wie der Spiegel in seinem Wohnzimmer urplötzlich zersprang und die Scherben in abertausenden kleinen Stückchen zu Boden prasselten. Er selbst hatte sich das Video sicher huntertmal oder öfter angesehen.
Nach diesem Ereignis hatte ihm Sora vieles über die Spiegelwelt und die Spiegelwanderer erklärt und unzählige von Kagamis Fragen beantwortet. So hatte er von den Spiegelwanderern erfahren und auch, dass Sora eine Spiegelwanderin war. Er hatte sie sofort darum beneidet.
„Dann war er es, der mich angeschrieben hat. Er hat mir eine Mail geschickt, weil er nicht glauben konnte, dass das Video echt ist. Ich hab ihm versichert, dass es das ist. Dann wollte er noch ein paar andere Dinge wissen, aber das konnte ich ihm ja wohl kaum alles sagen. Versteht sich, oder?“
Sora nickte. „Ich find das echt cool, dass du ihm überhaupt geantwortet hast. Ich weiß, dass du die Spiegelwanderer nicht so magst.“
„Das stimmt nicht, und das weißt du. Ich finde es nur unfair. Dass sie einfach durch die Spiegel auf der ganzen Welt herumreisen können, wie es ihnen gefällt, während andere ... auf öffentliche Verkehrsmittel angewiesen sind. Die muss man ja sogar noch bezahlen!“, fügte er laut hinzu. „Ihr erspart euch da echt eine ganze Menge Geld...“
„ ... das schon, aber gefährlicher ist es auch“, erinnerte ihn Sora. Sie hatte ihm das sicher schon ein paar tausend Mal erklärt, es half nichts. Das sah er einfach nicht ein. Irgendwo war das aber auch verständlich. Immerhin, fliegen war auch gefählrich, oder auf einer Autobahn zu fahren.
Sora war glücklich darüber, eine Spiegelwandererin zu sein. Sie würde es vielleicht auch nicht verstehen, wenn sie diese Fähigkeit nicht hätte und jemanden kannte, der sie hatte. „Schade eben, dass Guardians nicht dazu in der Lage sind, Menschen mitzunehmen...“
Sora hätte Kagami gerne einmal mitgenommen und ihm die Spiegelwelt gezeigt, aber das ging leider nicht. Und es würde auch nie gehen. So waren nun einmal die Regeln der Spiegelwelt. Nur Spiegelwanderer durften sie betreten. Und nur Spiegelwanderer konnten in ihr Überleben. Das war ihre Welt.
Tag der Veröffentlichung: 03.02.2010
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
bitte bitte bitte killt mich nicht, wenn es nicht das ist, was ihr erwartet habt!