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Spiegelwanderer



Teil 2: Sora



Noah hatte die Nacht auf der Couch geschlafen. Das Gespräch mit Sora hatte er gestern nicht wieder aufgenommen, da sie sich schließlich wortlos in ihr Zimmer verzogen und abgesperrt hatte. Etwas anderes blieb Noah also auch nicht wirklich übrig.
Soras Wohnung war nicht beheizt, ob absichtlich oder nicht wusste er nicht. Jedenfalls war es ziemlich kalt. Gestern war er so aufgeregt gewesen, dass ihm das anscheinend gar nicht aufgefallen war. Zum Glück lagen auf der Couch grnügend Decken und sie war auch groß genug, um bequem darauf schlafen zu können.
Das Bad zu finden, war nicht gerade schwer, denn bis auf die Tür zu Soras Zimmer und der Tür zur Wohnung gab es nur noch zwei andere, das Wohnzimmer war direkt mit der Küche verbunden. Nachdem Noah erst mal seine morgendlichen Pflichten erledigt hatte, sah er sich um. Die Wohnung war wirklich schön. Sie war sauber und aufgeräumt, an den Wänden hingen viele Bilder, auf denen unterschiedlichste Schmetterlinge zu sehen waren. Ihre Flügel waren alle aus Glas. Die Möbel waren alle aus weißen Ahorn und in typisch japanischem Stil. In einer Ecke stand ein riesig großer Glücksbambus. In der Küche an der Wand hing ein riesig großer Spiegel, der fast von ganz oben bis zum Boden reichte. Noah war sich absolut sicher, dass das einer von diesen Wanderer-Spiegeln war. Im Wohnzimmer stand ein großes Bücherregal mit einem ganzen Haufen unterschiedlichster Literatur. Noah überflog ein paar Titel, aber es war nicht wirklich etwas Interessantes dabei. Das Meiste waren einfach irgendwelche schnulzigen Liebesromane, wenn man auf Titel und Cover achtete. Noah musste trotzdem lächeln. Das passte irgendwie sehr gut zu Sora und ihrem traurigen Auftritt.


Er hätte ja noch weiter die Bücher durchgesehen, aber irgendwie hatte er Hunger. Zum Glück fand er Milch und eine Kaffeemaschine. Es dauerte also nicht lange, bis es in der ganzen Wohnung wunderbar nach geriebenden Bohnen duftete.
„Morgen“, murmelte Sora leise, als sie aus ihrem Zimmer kam. Noah erschrak im ersten Moment kurz. Sie trug nur ein langes schwarzes Nachthemd und hatte sich allem anschein nach gestern nicht abgeschminkt. Geweint hatte sie aber sicher noch eine ganze Weile lang, denn ihre über ihr ganzes Gesicht verwischte Schminke war total zerronnen und auf ihrer Lippe war verkrustetes Blut, ebenso wie auf ihrem linken Handgelenk.
„Alles okay?“, fragte Noah und klang dabei echt besorgt, obwohl er das nicht mal beabsichtigte. Eigentlich fragte er nur der Höflichkeit wegen.
Sora antwortete nicht, sondern setzte sich nur zum Tisch. Setzen war schon fast ein viel zu großes Wort, sie ließ sich eher auf den Stuhl fallen. Es war eindeutig nicht alles okay.
Noah setzte sich zu ihr. Nun merkte er, dass auch ihre ungekämmten Haare stark nach Alkohol stanken. Das war Antwort genug. Noah griff nach ihrem Handgelenk und betachtete es. Das Blut stammte von einem unglaublich tiefen Schnitt neben der Pulsader. Er sah gefährlich aus. Sora schien gar nicht richtig zu registieren, was er tat, sie wirkte, als wäre sie in einer Trance. Noah stand auf, suchte ein Tuch und befeuchtete es ein bisschen. Dann wischte er vorsichtig das Blut von ihrer samtweichen Haut.
„Hast du dich sonst noch wo verletzt?“, fragte er, dieses Mal wirklich besorgt. Das ging ihm nun wirklich nahe. Sora schüttelte den Kopf. Wieder tropften Tränen zu Boden.


„Okay komm“, sagte Noah sanft, hob sie behutsam hoch und trug sie ins Bad, wo er sie ganz vorsichtig auf einen Teppich setzte. Dann schnappte er sich Wattepads und ihre Abschminkmilch und begann ganz vorsichtig, ihr Gesicht von dem vielen Schwarzen Cajal zu reinigen. Sora schloss die Augen und ließ ihn protestlos machen. Noah hatte ja keinerlei Übung im Abschminken und darum dauerte es einige Zeit, bis er ihr Gesicht wirklich rein bekommen hatte.
„Ich würde ja auch deine Haare waschen, aber ... naja ich weiß nicht, ob du das willst“, sagte er, als er die gebrauchten Pads in den Müll wandern ließ.
„Stört mich nicht“, sagte sie. Ihre Stimme klang immer noch brüchig, aber sie hatte aufgehört zu weinen.
Noah lächelte, während Sora sich etwas näher zur Dusche setzte und sich nach hinten lehne. Noah drehte das Wasser warm auf und begann dann lieb, ihre Haare zu waschen. Da ihre Haare ziemlich lang waren, dauerte auch das einige Zeit, aber schließlich war auch das gemeistert und er wickelte behutsam ein Handtuch um ihre Haare, damit sie nicht nass wurde.
„Geht’s besser?“, fragte er dann vorsichtig.
Sora nickte und stand wankend auf. Noah griff ihr sofort helfend unter die Arme und führte sie zurück in die Küche, wo er für sie beide Kaffee richtete. Sora nickte langsam.
„Du bist wohl ziemlich empfindlich“, bemerkte Noah und klang dabei etwas kühl, aber das wollte er eigentlich nicht. Die Früchte dafür ernete leider sofort. Sora warf ihm einen kalten, vernichtenden Blick zu und schob den Kaffee weg.
„Tut mir Leid“, sagte Noah sofort und hoffte, dass ihm Sora nicht allzu böse war. „Ich wollte dich echt nicht beleidigen, das ... sollte nur eine Feststellung sein. Das ist doch nichts Schlimmes!“
Sora schwieg. Vermutlich glaubte sie ihm nicht, was er sagte. Das konnte Noah sogar irgendwo verstehen. Er hatte nur leider keine Ahnung, wie er das ändern konnte. Sein Blick fiel wieder auf den Spiegel an der Wand.
„Der ist zum ... äh ... durchgehen, oder?“, fragte er, um das Thema zu wechseln. Sora drehte sich um und sah den Spiegel ebenfalls kurz an, dann nickte sie.
„Ja. Er gehörte meinen Eltern. Es ist einer der größten Wandererspiegeln, die noch existieren. Ach ja, wir sagen nicht durchgehen, sondern wandern“, belehrte sie ihn. Noah lächelte.
„Wie entstehen solche Spiegel eigentlich?“, fragte er weiter. Sora schien in eine bessere Stimmung zu kommen, wenn sie darüber reden konnte.
„Wie sie entstehen? Ganz einfach, alle Spiegel sind Wanderspiegel!“, sagte sie. Noah verstand das nicht und demnach sah er sie auch an. Sora lachte ein bisschen.
„Was?“
Sie lachte weiter. „Es sieht lustig aus, wenn du so irritiert schaust“, sagte sie dann.
„Ach ja?“, sagte Noah und setzte nun absichtlich einen beleidigten Blick auf. Sora nickte und lachte weiter.
„Du bist gemein“, meinte er daraufhin und sie lachten beide, bis Noahs Gedanken wieder den Weg zurück zu ihrem eigentlichen Thema fanden. „Also, du wolltest mir etwas über diese Spiegel erzählen“, erinnerte er sie beide.
„Stimmt. Was wolltest du noch einmal wissen?“
„Du hast vorhin gesagt, dass alle Spiegel Wanderspiegel sind. Das versteh ich nicht. Ich meine, da könnte man doch durch jeden Spiegel gehen, oder etwa nicht? Wenn er groß genug ist, natürlich“, fügte er schnell hinzu.
Sora nickte. „Ja, grundsätzlich stimmt das auch. Das Problem ist nur, dass viele Spiegel immer wieder zerstört werden oder einfach brechen. Und sobald von einem Paar ein Spiegel zerbrochen ist, dann gibt es zwei Möglichkeiten, was dann mit dem anderen passiert. Meist wird der Wanderspiegel dann einfach zu einem ganz normalen Spiegel, ohne Wanderfunktion. Aber in manchen seltenen Fällen zerbricht der zweite Spiegel in ganz viele kleine Teile. Wie Sandkörner“, erklärte sie.
Noah blickte auf. „Wie Sandkörner?“, wiederholte er, um sicherzugehen, dass er sich auch ganz bestimmt nicht verhört hatte. Sora nickte wieder.
„Hast du das schon einmal gesehen?“, fragte sie interessiert.
„Es gibt ein Video auf youtube“, sagte er. „Aber ... das ist bei mir zu Hause passiert ... an dem Tag bevor ich nach Tokyo losgeflogen bin. Warte, heißt das, mein Spiegel daheim war ... ein Wanderspiegel?!“
„Demnach was du gerade erzählt hast, denke ich schon. Ziemlich sicher sogar. Es gibt sonst keinen Grund warum Spiegel in so kleine Teilchen zersplittern. Irgendwo war zu deinem Spiegel also ein Gegenstück.“
„Und wo ist das Gegenstück zu deinem Spiegel?“, fragte Noah.
„London“, sagte Sora breit grinsend. Noah sah sie echt neidisch an.
„Soll das heißen, du kannst jeder Zeit einfach so nach London und wieder hierher zurück?!“
Sie nickte lächelnd. „Aber hey, ganz so einfach ist es leider doch nicht. Der andere Spiegel ist bei einer super reichen Familie, die wohnen in einer riesigen Villa und sind furchtbar paranoid und haben überall Überwachungskameras. Und die immer zu umgehen, das ist ganz schön anstrengend, also lass ich das meistens und hoffe, dass sie bald sterben.“
„Das klingt aber nicht gerade nett...“
Sora zuckte nur mit den Schultern. „Sie sind alt, paranoid und nerven. Sie hätten es fast einmal geschafft, dass ich verhaftet werde. Ich hab den Raum mit dem Spiegel aber zum Glück rechtzeitig wieder gefunden.“
Diesmal musste Noah lachen. Vor allem, da Sora so eine lustige Art hatte, etwas zu erzählen. Es konnte aber auch sein, dass das nur daran lag, dass sie gerade nicht geschminkt war und so viel netter aussah.


„Gibt es eigentlich viele Spiegelwanderer?“, fragte er weiter.
„Nicht wirklich. Ja, es gibt schon einige, aber nicht wirklich viele“, berichtete Sora. „Es verirren sich immer wieder viele in der Spiegelwelt. Besonders junge Spiegelwanderer, die der Meinung sind, dass sie keinen Guardian brauchen. Aber niemand, der ohne Guardian die Spiegelwelt betritt, kommt wieder raus. Das liegt auch daran, dass sich die Spiegelwelt ständig verändert, je nachdem, ob neue Wanderspiegel erschaffen oder andere zerstört werden. Und es hängt auch davon ab, wie viele Spiegelwanderer gerade in der Spiegelwelt sind“, fügte sie an.
„Das hört sich ja ganz schön übel an. Wie haben es eigentlich die Guardians gelernt? Und wie wird man ein Guardian?“, fragte Noah weiter. Er war echt neugierig geworden und je mehr Sora erzählte, umso mehr interessierte ihn das Ganze. Außerdem würde er gerne die Spiegelwelt einmal sehen. Aber erst wollte er mehr darüber wissen.
„Dazu muss man eine Prüfung ablegen. Man bekommt einen ganzen Haufen von Orten angegeben und muss jemanden, der schon Guardian ist, dort überall hinführen. Dafür hat man nur begrenzt Zeit. Wenn man es schafft, kriegt man einen Guardian-Ausweis“, erklärte ihm Sora.
„Es gibt Guardian-Ausweise?!“
Sora nickte. „Klar. Was dachtest du denn? Sonst könnte doch jeder sagen, er wäre ein Guardian. Dann würden sich noch weit mehr Spiegelwanderer in der Spiegelwelt verirren!“
Wieder setzte Noah einen irritierten Blick auf. „Das ist doch unlogisch. Warum sollte ein Spiegelwanderer andere Spiegelwanderer so in Gefahr bringen?“, fragte er. Das konnte er echt nicht verstehen.
Sora seufte traurig.
„Spiegelwanderer sind oft arm. Sie kommen aus schlechten Verhältnissen oder haben keine Eltern. Und als Guardian wird man bezahlt.“
„Bezahlt? Von wem?“
„Von denen, die auf die Spiegelwelt aufpassen. Wir müssen sie natürlich vor den normalen Menschen versteckt halten. Die Menschen haben Angst vor so etwas. Sie haben Angst vor allem, was anders ist, vor allem, was sie nicht verstehen können.“
Das verstand Noah nur zu gut. Er kannte das zur Genüge von seinen Eltern. Einmal in seinem Leben hatte er versucht, mit ihnen eine ernsthafte Diskussion über Homosexualität zu führen, aber er scheiterte kläglich, als seine engstirnigen Eltern erklärt hatten, dass Homosexualität einfach nur „krank“ war und sie damit die Diskussion beendeten. Seitedem hatte Noah nie wieder versucht, mit ihnen ein vernünftiges Gespräch zu führen. Er hatte überhaupt aufgehört, mit ihnen zu reden, weil er eingesehen hatte, dass es doch wenig Sinn hatte – oder gar keinen Sinn. Er ging ihnen sogar aus dem Weg, wo er konnte.
„Woran denkst du denn?“, fragte Sora neugierig, denn ihr war natürlich sein nachdenklicher Blick nicht entgangen.
„An meine Eltern“, antwortete Noah leise. „Ich kann echt gut verstehen, was du mit engstirnig meinst. Das ist echt schlimm.“
Sora nickte. „Ja leider. Es wäre echt vieles einfacher, wenn die Menschen nicht so egoistisch und engstirnig wären. Jetzt aber etwas anderes: Willst du denn gar nicht wissen, woran ich erkannt habe, dass du ein Spiegelwanderer bist?“
Noah lächelte. „Kannst du denn das überhaupt beweisen? Ich bin in meinem ganzen Leben noch nie durch einen Spiegel gegangen!“, warf er ein.
„Und das ist auch echt gut so!“, sagte Sora sofort. „Wenn du alleine durch einen Spiegel gegangen wärst, dann wärst du jetzt ziemlich sicher tot!“
Das brachte Noah nun zum Schweigen. Dass sie ihm das so unverblümt ins Gesicht warf, war irgendwie schon hart.
„Also, woran ich das erkannt habe“, nahm Sora das Thema wieder auf. „Das war nicht so schwer. Als Erstes ist mir gleich aufgefallen, dass du keinen Orientierungssinn hast“, scherzte sie schmunzelnd.
Noah guckte etwas eingeschnappt. Er wusste, dass sein Orientierungssinn zu Wünschen übrig ließ, aber bis jetzt hatte er noch überall hin gefunden, also so schlecht konnte er auch wieder nicht sein!
„Schon gut, das war doch nicht böse gemeint!“, entschuldigte sich Sora sofort. „Kein Grund so eingeschnappt zu schauen. Das ist echt nichts Ungewöhnliches unter Spiegelwanderern. Das kommt häufig vor. Die meisten Spiegelwanderer haben keinen guten Orientierungssinn, darum brauchen wir ja auch die Guardians“, erklärte ihm Sora. „Und dann sind da natürlich deine Augen. Sie sind viel tiefer und heller als die Augen normaler Menschen. Wenn man nicht genau schaut, fällt es nicht besonders auf, aber als Spiegelwanderer schaut man automatisch etwas genauer hin. Das wirst du auch noch tun, glaub mir“, versichte sie lächelnd und trank ihren Kaffee, der inzwischen kalt geworden war.
Plötzlich fiel Noah etwas auf. Sora hatte schon davon gesprochen, dass sie durch die Spiegel gewandert war.
„Bist du ... ein Guardian?“, fragte er neugierig.


„Seit kurzem“, erzählte Sora begeistert und stand auf. Sie verschwand eilig in ihrem Zimmer, kam aber kurz darauf wieder mit einer Geldbörse heraus und setzte sich wieder an den Tisch. Dann begann sie nach etwas zu suchen. Zwischen diversen Vorteilskarten entdeckte Noah noch einen Führerschein und ein paar andere Karten, aber auf denen waren nur japanische Zeichen zu sehen.
„Hier!“, rief Sora schließlich und fischte eine hellblaue Karte hervor, die halb durchsichtig war und leicht glänzte, wenn Licht darauf fiel. Noah konnte nur vermuten, dass das dieser Guardian Ausweis war, von dem sie vorher gesprochen hatte, denn auch auf dieser Karte war außer japanischen Zeichen nichts zu sehen.
Noah war ziemlich erstaunt. Die Karte sah genauso aus wie eine einfache Kontokarte. Sie hatte genau dieselbe Größe und auch die Form war gleich. Damit hatte er nun irgendwie wirklich nicht gerechnet. War es etwa so normal, ein Spiegelwanderer zu sein?
Sora versteckte den Ausweis wieder in ihrer Geldbörse, die sie auch gleich wieder in ihr Zimmer zurück legte, und sich bei der Gelegenheit auch gleich umzug.
„Sag, wohnst du hier eigentlich ganz alleine?“, fragte Noah, der seinen Blick durch die Wohnung hatte scheiwfen lassen, als Sora wieder aus ihrem Zimmer kam. Sie trug jetzt eine schwarze Röhrenjeans und ein pink-schwarzes Shirt. Sie wirkte jetzt eher mehr wie ein Emo als ein Goth, aber es stand ihr beides sehr gut.
„Ja. Ich meine, ich habe nicht immer alleine gelebt, aber ...“
„Schon gut“, sagte Noah schnell, denn Soras Blick wurde schon wieder traurig und ihre Augen feucht. Er wollte nicht, dass sie schon wieder weinen musste. Mit wem auch immer sie zusammengelebt hatte, sie hatten ihn wohl verloren. „Wollen wir nicht vielleicht wohin essen gehen? Du könntest mir doch etwas die Stadt zeigen“, schlug er stattdessen vor.
Sora willigte ein, allerdings musste sie sich dafür noch einmal umziehen und Noah konnte sie auch nicht dazu überreden, ungeschminkt zu bleiben. So dauerte es noch eine ganze Stunde, bis sie endlich aus Soras Wohnung kamen.


Noah hatte diesen Teil von Tokyo zwar gestern schon gesehen, aber das hinderte ihn nicht daran, wieder alles zu bestaunen. Wenn er nicht Angst gehabt hätte, sich in der Vielfalt der Stadt zu verlaufen, hätte er am liebsten jede noch so kleine Gasse und jedes Geschäft ausgekundschaftet. Aber es erschien ihm dann doch um einiges sicherer, einfach hinter Sora zu bleiben. Sie ging zum Glück langsam und ließ ihm genug Zeit, sich alles anzusehen, zumindest aus der Ferne.
Sie gingen nicht sehr weit. Sora führte ihn zu einem kleinen Sushi-Laden, der ziemlich in der Nähe war. Noah war echt gespannt. Er hatte noch nie in seinem Leben etwas Japanisches gegessen.
Im hintersten Eck des Ladens war noch ein kleiner Tisch frei, an den sich Noah setzte, während Sora etwas zu essen kaufte. Es dauerte nicht lange, bis sie mit 3 Boxen verschiedenster Sushi zu ihm kam und alles vor ihm abstellte. An Noahs Blick erkannte sie sofort, dass er sowas zum ersten Mal sah.
„Keine Sorge, das ist nicht giftig“, versichte sie ihm und aß gleich demonstrierend eines der Sushi. „Ich hoffe echt, es schmeckt dir, denn an sowas wirst du dich gewöhnen müssen, wenn du hier bleibst.“
Noah zögerte. So ganz vertraute er diesem Sushi nicht. Aber er hatte echt Hunger und etwas anderes gab es im Moment leider nicht, also nahm er zögernd eines der Sushi und biss einmal ganz vorsichtig ab. Zu seinem Erstaunen schmeckte es echt gut. In diesem Moment verstand er echt nicht, warum er sowas nicht schon früher gegessen hatte. Normal mochte er Fisch ja echt nicht, aber das hier war echt gut.
„Also...“, setzte er an um Sora eine neue Frage über die Spiegelwanderer zu stellen, doch sie schien ungefähr zu ahnen, was er fragen wollte, denn sie legte sofort ihren Zeigefinger an die Lippen und gebot ihm somit, still zu sein.
„Nicht hier“, sagte sie leise.
Noah verstand zwar nicht ganz, warum sie hier nicht mit ihr über die Spiegelwanderer reden sollte, aber er gehorchte ihr lieber. Sie war ja hier diejenige mit der Erfahrung und er ... er hatte keine Ahnung von gar nichts!
Also aßen sie schweigend ihr Sushi. Noah war echt hungrig und aß zwei Boxen ganz alleine auf, während Sora schon nach der ersten satt war. Noah hatte ja auch seit dem Flug nichts Vernünftiges mehr gegessen, bis auf ein paar billige Snacks am Flughafen.


„Also, wo gehen wir jetzt hin?“, fragte Noah neugierig. Er war so begeistert von dem Sushi und wollte nicht schon wieder zurück in Soras Wohnung. Vielleicht zeigte sie ihm ja, wo sie ihr cooles Gewand kaufte. Am anfang war er skeptisch, aber inzwischen begann ihm ihr Stil echt zu gefallen.
„Keine Ahnung, kommt drauf an, was du willst“, meinte Sora.
„Du könntest mir ja deinen Lieblingsshop zeigen“, schlug Noah grinsend vor.
„Also echt, Smalltalk kannst du auch mit wem anderen hier machen“, versetzte Sora kalt. Noah grinste nur weiter.
„Schon, aber die anderen hier verstehen mich ja alle nicht. Es sei denn, du sagst mir, wie man Smalltalk auf japanisch macht“, antwortete er geschickt, aber Sora wich aus.
„Nein danke“, sagte sie. „Sag du mir lieber, wieso du nach Tokyo bist!“
Und schon wurden Noahs Gedanken zurück zu dem Brief geschmettert. Dieser seltsame, blutende Brief, wegen dem er hier war. Der Brief, von dem jedes einzelne Wort noch immer in seinem Gedächtnis ruhte und ihm nun wieder keine Ruhe ließ...
„Ich würde“, sagte er leise. „Aber du hast gesagt, nicht hier.“
Sora nickte. „Wir gehen zurück“, beschloss sie sofort und ging los, ehe Noah noch etwas sagen konnte. Er wollte zwar nicht zurück, aber alleine war er hoffnungslos verloren, also folgte er Sora wieder zu ihrer Wohnung.
Nachdem sie wieder abgesperrt hatte, setzte sie sich auf die Couch. „Also, warum?“, fragte sie erneut. „Du sagtest gestern etwas von einem Brief.“
„Ja.“
Er wusste nicht recht, ob er wirklich alles erzählen sollte. Von dem Blut und allem. Aber wenn es ihm jemand glaubte, dann war das sicher Sora. Sie war eine Spiegelwanderin, sie glaubte an nicht normale Dinge ... oder war Spiegelwandern etwa normal, nur wusste er eben nocht nichts davon? Es gab auch andere Dinge auf der Welt, von denen er nichts wusste. Waren sie deswegen unnormal? Wohl kaum. Aber wenn ihm jemand glaubte, dass war das ganz sicher Sora. Sie glaubte ihm jedenfalls eher als sonst irgendjemand.
„Der Brief“, begann Noah leise und seine Stimme klang schwer und bsorgt. „Er lag im Bad auf dem Boden, zwischen all den feinen Splittern des Spiegels ... er blutete ...“
Sora unterbrach ihn nicht, sonder hörte nur aufmerksam zu.
„Ich habe ihn schließlich aufgehoben und geöffnet ... und dort, wo ich ihn berührt hab, hat er wieder zu Bluten begonnen. Es stand kein Name auf dem Umschlag, auch nicht auf dem Brief selbst. Nicht mal ein Absender oder sonst was ... In dem Brief schreibt jemand über ... ich weiß nicht wie ich das genau sagen soll ... über seine Trauer. Und dann schreibt er, dass er mir – oder für wen auch immer der Brief bestimmt war – keine Schuld gibt. Und dass ich einmal nach Tokyo kommen soll ...“
Noah war wirklich froh, dass Sora nichts sagte, dass sie ihn einfach nur erzählen ließ. Noch nie in seinem ganzen Leben hatte ihm jemand so aufmerksam zugehört, wie es Sora jetzt tat. Sie lachte nicht, lächelte nicht, sie tat einfach gar nichts. Sie hörte nur zu. Und als er fertig war, sah sie ihn ernst an. Genauso sah man Menschen an, denen man alles glaubte, denen man ... sogar ... vertraute. Noah wusste, Sie glaubte ihm. Sie hielt ihn nicht für verrückt.
„Ich finde das echt mutig, dass du nach Tokyo gekommen bist“, sagte sie schließlich. „Die meisten Menschen hätten einfach nur alles beseitigt und das Geschehene ignoriert.“
„Ich weiß“, sagte Noah. „Ich habe genauso gedacht. Kannst du ... mir dazu vielleicht etwas sagen? Hast ... ich meine ... ist dir das auch schon einmal passiert?“
Sora schüttelte den Kopf.
„Nein ist es nicht. Aber ich habe von sowas gehört, aber ich weiß leider auch nichts Genaues darüber. Aber was ich mir vorstellen könnte ... dass vielleicht ein anderer Spiegelwanderer den Brief übder einen Spiegel zu dir geschickt hat. Wenn man Gegenstände durch die Spiegelwelt schickt, dann können Spiegel ebenfalls zerbrechen, deswegen ist das auch eigentlich verboten“, überlegte Sora. Noah half das nicht wirklich weiter. Ihn interessierte viel mehr, warum der Brief geblutet hatte!
„Wieso hat er geblutet?“
„Du stellst Fragen, als gehst du automatisch davon aus, dass ich dir auf alles eine Antwort geben kann! Ich bin vielleicht ein Spiegelwanderer, aber keine Expertin für ... blutende Briefe“, verteidigte sich Sora sofort, obwohl Noah eigentlich nichts getan hatte, außer eine Frage gestellt.
„Okay, und kennst du vielleicht jemanden, der mir dabei helfen kann, das zu verstehen? Ich meine, ich bin wegen diesem Brief extra bis nach Tokyo geflogen, ich fliege jetzt sicher nicht einfach zurück und vergesse alles, was passiert ist!“
Sora antwortete darauf erst einmal nichts. Und als Noah gerade noch etwas sagen wollte, läutete plötzlich sein iPhone. Das alleine wäre nicht so schlimm gewesen, wären es nicht seine Eltern, die anriefen. Oder besser gesagt, seine Mutter.
„Sorry“, sagte er schnell und verschwand im Bad, um in ruhigen und gespielt gelangweilten Worten seiner Mutter zu versichern, dass er zu Hause war und gerade das Geschirr abgewaschen hatte. Und dass ihm nebenbei langweilig war, das Internet ausgefallen war und noch andere diverse spontane Lügen. Und das so lange, bis seine Mutter endlich Ruhe gab, ihm noch schnell sagte, dass sie und Noahs Vater noch eine Woche länger weg bleiben würde. Noah musste sich echt zusammenreißen, um nicht gleich vor Freude einen Luftsprung zu veranstalten. Er tat also nur gelangweilt und faselte dann noch schnell irgendwas von einkaufen fahren, bevor er seine Mutter dann endgültig abwimmelte und wieder ins Wohnzimmer so Sora ging. „Wo waren wir?“
„Du hast gefragt, ob ich dir helfe, jemanden zu finden, der dir mehr über diesen Brief sagen kann“, erinnerte ihn Sora. „Wer war das.“
„Ach niemand. Nur meine nervende, ignorante Mutter, die mir nur kurz sagen wollte, dass sie noch etwas länger in Urlaub bleibt“, antwortete Noah bissig und gab sich besonders Mühe, seiner Stimme einen richtig feinseligen Ton zu geben, der deutlich machte, dass das Verhältnis, das er zu seinen Eltern hatte, nicht gerade das beste war. „Und, hast du’s dir überlegt? Hilfst du mir.“
Noah rechnete eigentlich schon damit, dass Sora ablehnte, doch zu seiner Überraschung nickte sie.
„Ja, ich helfte dir. Wenn ich das kann. Hast du schon Pläne?“
Noah zuckte überrascht mit den Schultern. Das kam jetzt doch etwas zu schnell. Darüber hatte er noch gar nicht nachgedacht. Bis jetzt hatte er sich eigentlich nur dazu entschlossen, mehr über diesen Brief erfahren zu wollen, aber das war auch schon alles gewesen. Überlegt hatte er sich noch gar nichts. Und jetzt, da ihn Sora drauf aufmerksam machte, hatte er auch gar keine Ahnung, wo er anfangen wollte. Wo fing man den an, Informationen zu sammeln, wenn man etwas über blutende, deprimierende Briefe wissen wollte?
„Also nein“, erriet Sora richtig.
„Google?“, schlug Noah vor ohne nachzudenken. Das war auch nicht wichtig, er wollte nur irgendwas sagen.
Sora schüttelte denk Kopf. „Nein, ich glaube nicht, dass du da fündig wirst. Die meisten Spiegelwanderer meiden das Internet. Ich weiß, das ist dumm und ich kann es auch nicht verstehen. Ich meine, ich könnte ohne Internet gar nicht mehr leben!“
„Geht mir genauso. Also, was schlägst du vor?“
„Wir suchen einen ... Aufseher“, sagte Sora und klang dabei alles andere als begeistert. Noah verstand nur leider schon wieder überhaupt nichts. Er konnte nur vermuten, dass auch diese Aufseher, von denen Sora jetzt anfing, wieder etwas mit der Spiegelwelt zu tun hatten.
„Aufseher passen auch auf die Spiegelwelt auf und wissen mehr darüber, als alle anderen. Ich glaube, dass sie uns am ehesten weiterhelfen könnten. Du hast doch gesagt, dein Spiegel war zerbrochen. Ich glaube, dass der Brief durch den Spiegel geschickt wurde. Vielleicht kann uns ein Aufseher helfen, herauszufinden, woher dieser Brief kam ... oder warum er geblutet hat.“ Soras Stimme klang immer unbegeisterter, je länger sie sprach. Es war also klar. Irgendwo gab es ein gröberes Problem bei der ganzen Sache.
„Und wo ist jetzt der Haken?“, fragte Noah. Es wäre ja auch zu einfach gewesen, wenn einfach alles problemlos verlaufen könnte.
„Der Haken? Es wär schön, wenn es nur einer wäre“, meinte Sora leicht genervt.
„Okay, okay. Was sind also die Haken?“, korrigierte sich Noah.
„Nun gut, erst einmal kannst du noch nicht wandern. Das kriegen wir aber noch eher hin, das müssen wir nur üben. Und weiters sind diese Aufseher echt schwer zu finden. Sie führen ein regelrechtes Einsiedlerleben. Ich kenne niemanden, der schon einmal einen getroffen oder gesehen hat“, sagte Sora.
Noah lächelte nur.
„Weißt du was? In Filmen oder Geschichten heißt es auch immer “es gab noch nie“ und das in allen möglichen Variationen. Und weißt du nochwas?“
„Klar!“, sagte Sora lächelnd. „Sie Charaktere schaffen dann immer genau das, was vorher noch nie jemand geschafft hat?“
Beide mussten lachen. Es war doch wirklich klar. Wenn es diese nicht mal realen Charaktere in Filmen schaffen konnten, dann konnten sie das allemal!

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Tag der Veröffentlichung: 01.02.2010

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