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Spiegelwanderer
Teil 1: Broken Dreams



Wann meine Träume zerbachen? Das ist schon eine ganze Weile her. Jahre, um genau zu sein. Aber das macht nichts, denn ich habe gelernt, ohne meine Träume zu leben. Erstaunlicher Weise geht das sehr gut. Für mich jedenfalls.
Damals hatte ich mich verliebt, aber es war keine schöne Liebe. Wenn ich jetzt daran zurückdenke, würde ich am liebsten wochenlang weinen, dabei weiß ich doch, dass ich das nicht kann. Ich kenne viele Menschen, die verliebt sind. Sie sagen, es wäre wunderschön, verliebt zu sein. Sie sagen, man ist dann nicht mehr einsam. Ich glaube das nicht. Ich weiß es doch! Ich wurde durch die Liebe nur in ein tiefes schwarzes Loch gestoßen. Ein Loch, aus dem es kein Entkommen gibt. Zumindest nicht für mich.
Ob ich Freunde habe? Nun, nicht wirklich. Ich schätze, jemand wie ich ist einfach nicht dafür geschaffen, Freunde zu haben. Ich bin lieber alleine. Alleine lebt es sich einfach leichter. Man wird nicht verletzt, nicht betrogen, nicht enttäuscht. Ja, alleine ist es wirklich viel besser. Es gibt auch niemanden, der mit mir zusammensein wollen würde. Ich bin einfach zu depressiv. Aber auch das ist ganz gut so. So muss ich wenigstens nichts erklären, mich nicht vor dieser grausamen Welt rechtfertigen. Und ab heute ist sowieso Schluss damit!
Ich habe wirklich lange durchgehalten, denke ich zumindest. All diese Jahre habe ich weitergelebt, mit einer stark blutenden Wunde in meinem Herzen, die einfach nicht mehr heilt. Im Gegenteil. Es erscheint mir, als würde sie nur tiefer werden und mit jedem Tag mehr schmerzen. Und ich weigere mich, das noch länger zu ertragen.
Es ist Nacht, hier in Tokyo. Doch wenn die Uhr das nicht anzeigen würde, dann würde man es wohl kaum merken, denke ich. Dazu leuchten die bunten Lichter dieser wunderschönen Stadt viel zu hell. Ich mag diese Lichter, ihren Glanz, ihre Pracht ... einfach alles an ihnen. Von hier oben kann man sie am besten sehen, von hier aus sind sie einfach überall. An solchen Orten tut es richtig gut, alleine zu sein.
Ich sehe mich um. Es regnet ein wenig und hin und wieder verschwimmen die bunten, leuchtenden Bilder von meinen Augen, aber dadurch wird alles nur schöner. Es ist wahrlich ein schönder Ort. Ein schöner Ort zum Sterben. Denn deswegen bin ich hier.
Ich gebe dir keine Schuld. Du kannst nichts dafür, und das weiß ich auch. Und ich will auch nicht, dass du dir die Schuld an dem gibst, was passiert. Das ist meine Entscheidung, sie hat nichts mit dir zu tun. Aber ich hoffe, dass du meine Entscheidung irgendwann vielleicht verstehen kannst und es akzeptiert.
Vielleicht kommst du ja eines Tages einmal hierher. Nach Tokyo. Und dann siehst dir die Lichter dieser Stadt an. Vielleicht verstehst du mich dann auch. Vielleicht kann dir die Stadt einen Teil meines Schmerzes vermitteln.
Ich hoffe, es geht dir gut. Und dass du noch lebst, denn ich tue es nicht mehr, aber ich liebe dich.
Das ist alles, was du wissen solltest.




Es war ein ganz normaler Tag gewesen. Wie jeder andere auch. Langsam wurde die Eintönigkeit des Lebens richtig beunruhigend. Dabei sollten Ferien doch eigentlich etwas Positives sein. Das hatte Noah zumindest immer gedacht. Nun gut, irgendwann wurde jeder einmal eines Besseren belehrt.
Lustlos sperrte er die Tür zum Haus seiner Eltern auf, stellte die schwere Einkaufstasche ab und ging ins Wohnzimmer, um zu sehen, welche dieser sinnlosen Serien jetzt gerade lief. Er machte sich nicht die Mühe, die Kiste auszuschalten wenn er einkaufen war. Eigentlich schaltete er sie gar nicht mehr aus, außer über Nacht, wenn sie ihn beim Schlafen störte.
Da gerade nichts auch nur annähernd Interessantes lief, ging er wieder ins Vorzimmer und schleppte die Einkaufstasche in die Küche. Er seufzte. Es sah hier wirklich schrecklich aus. Der Geschirrspüler und die Abwasch waren mit schmutzigem Geschirr überfüllt, der Tisch sah nicht besser aus. Egal, dafür war morgen auch noch Zeit. Das dachte er inzwischen schon seit einer Woche. Schnell räumte er die Sachen in den Kühlschrank, der immer leerer wurde. Dann holte er sich eine Packung Eis aus der Gefriertruhe und setzte sich damit in das Wohnzimmer. Auch wenn die Serien blöd waren und ihn eigentlich gar nicht interessierten, war das noch immer besser, als einfach gar nichts zu tun.
Seine Freunde waren alle irgendwo auf der Welt verstreut. Urlaub machen. Noah nannte das Dauersaufen. Etwas anderes würden sie wohl kaum tun. Und er hätte auch gerne mitgemacht, aber seine spießigen Eltern hatten es ihm ja verboten. Und um zu verhindern, dass er irgendwo hin konnte, waren sie selbst in Urlaub geflogen. Noah war lieber zu Hause geblieben, als Urlaub mit seinen Eltern zu machen. Da war wirklich alles besser!
Werbung. Das Einzige, das er noch mehr hasste als dämliche Serien, war Werbung. Vor allem, wenn er mitansehen musste, wie sich „Aktivia“ und „yakult“ gegenseitig bekämpften, genau wie „Mediamarkt“ und „Saturn“. Noah stand auf und ging nach draußen, um die Post zu holen. Als er die Box öffnete, wurde er fast von Briefen begraben. Genervt ließ er alle Werbeanzeigen und sonstiges Unnötiges gleich in die Mülltonne wandern. Als er mit dieser Aussortierung fertig war, blieben nur noch ein paar Briefe übrig, die alle für seine Eltern waren. Er trug sie hinein und legte sie zu den anderen Briefen.
Gerade, als er sich wieder ins Wohnzimmer verziehen wollte, hörte er plötzlich ein lautes Klirren, so als ob gerade etwas zerbrochen wäre. Etwas aus Glas. Aber es war sonst niemand im Haus, außer er selbst. Und Einbrecher mitten am Tag? Leise ging Noah zurück in die Küche und nahm vorsichtig ein noch unbenutztes, großes Küchenmesser aus der Lade mit den Messern. Übertrieben vorsichtig schlich er nach oben. Die Tür zum Badezimmer stand offen, dabei war Noah sich absolut sicher, dass er sie geschlossen hatte. Oder etwa doch nicht?


Er hielt das Messer ein Stück um die Ecke und versuchte etwas zu erkennen. Leider spiegelte das Messer nicht gerade gut. Es half also nichts. Er riss sich zusammen und blickte um die Ecke.
Das Zimmer war leer. Das Fenster war auch geschlossen und alles war aufgeräumt. Nichts war anders, bis auf den Spiegel. Er war zerbrochen. Nun, das stimmte so auch nicht ganz. Er war nicht zerbrochen, er war viel mehr in lauter winzigste Teilchen zerbröselt. Wie kleine Sandkörnchen waren die Scherben über den ganzen Boden verteilt. Und zwischen diesen feinen Scherben lag ein Brief. Noah starrte ihn fassungslos an. Blutrinnsel flossen aus dem alt wirkenden Papier und bildeten zwischen den Scherben einen kleinen Fluss. Noah stand Minutenlang nur fassungslos da, ahnungslos, geschockt. Er wusste nicht, was er tun sollte.
Es dauerte lange, bis er sich enlidch soweit wieder zusammengerissen hatte, dass er sich traute, einen Schritt in das Zimmer zu setzen. Die feinen Scherben knirschten unter seinem Gewicht, als er langsam und zitternd einen Fuß vor den anderen setzte. Schließlich hatte er es geschafft. Er stand vor dem Brief. Das Blut hatte inzwischen einen Großteil des Bodens bedeckt und noch immer quoll Blut daraus hervor.
Mit stark zitternden Fingern strechte Noah seine Hand nach dem Brief aus. Er traute sich kaum, ihn zu berühren. Als seine Finger endlich gegen den dünnen Umschlag stießen, zuckte er sofort zurück. Zu seinem Entsetzen begann der Brief dort, wo er ihn berührt hatte, ebenfalls zu Bluten. Noah riss sich zusammen und hob den Brief auf und nahm das Innere aus dem Umschlag. Den Umschlag ließ er zurück auf den Boden fallen, wo er sich in einen weiteren Fluss aus Blut verwandelte. Noah merkte das jedoch nicht mehr. Er war nur noch auf den Brief fixiert und auf die Worte, die er beinhaltete.
Es stand kein Name auf dem Umschlag, auch nicht auf dem Brief selbst stand nichts. Auch keine Adresse, nicht mal Noahs oder die seiner Eltern.
Noah hatte die Scherben und das Blut entfernt. Dafür hatte er ganz schön lange gebraucht. Der Umschlag hatte sich in einen riesigen Fluss aus Blut verwandelt. Noah hatte verhindern wollen, dass das auch mit dem Brief passierte und hatte ihn daher verbrennen wollen, doch noch bevor er die Treppe erreichen konnte, war es bereits geschehen. Der halbe Gang war in tiefrotem Blut geschwommen, das langsam auch begonnen hatte, die Stiegen hinunter zu rinnen.


Erschöpft stieg Noah aus der Dusche. Nachdem er fertig geworden war, war er selbst von oben bis unten voller Blut gewesen. Seufzend trocknete er sich die Haare und zog sich frisches Gewand an, dann lies er sich müde in sein Bett fallen. Von unten konnte er immer noch den Fernsehr hören. Dumpf klang eine Serie zu ihm herauf. Es nervte, aber er war zu erschöpft, um noch einmal aufzustehen und die Tür zu schließen. Er konnte im Moment an nichts Anderes mehr denken, als an den Brief. Er hatte sich zwar in Blut aufgelöst, als Noah ihn gerade einmal gelesen hatte, aber er wusste trotzdem noch ganz genau, was darin stand. Wort für Wort hatten sich aus irgend einem Grund tief in sein Gedächtnis gebrannt. Warum wusste er nicht. Vielleicht, weil er so niederschmetternd war? Ja, das war wohl der Grund.
[Ich gebe dir keine Schuld....] Was meinte denn der Absender damit? Keine Schuld woran eigentlich? Und warum stand da nicht mal irgendwo ein Name? Woher sollte Noah denn wissen, ob der Brief wirklich für ihn bestimmt war? Er konnte den Brief ja nicht einmal jemand anderen zeigen oder jemanden danach fragen, denn der Brief hatte sich ja in einen Fluss von Blut aufgelöst!! Warum hatten der Umschlag und der Brief auch eigentlich an den Stellen, an denen Noah das Papier berührt hatte, zu bluten begonnen? Das war doch irgendwo nicht normal! Allein schon deswegen, weil Papier nicht blutet ... das hatte Noah zumindest bis jetzt immer gedacht. Aber ... vielleicht lag er ja falsch ...
»Was für ein Blödsinn!«, sagte er laut zu sich selbst, um von all diesen dummen Gedanken loszukommen. »Papier blutet nicht!«
[Aber wie erklärst du das dann?]
»Gar nicht! Ich vergesse das einfach!«
[Toll, jetzt rede ich schon mir mir selbst. Wie tief muss ich denn noch sinken? ... ... Ich gebe dir keine Schuld ...]
Schon wieder diese Worte aus dem Brief. Was meinte der Absender?! Was?? Noah stand auf. Im Bett liegen machte alles ja doch nur schlimmer. Warum musste er nur zu Hause sein? Und noch dazu alleine? Wenn man alleine war, hatte man viel zu viel Zeit zum Nachdenken. Das war ganz und gar nicht gut. Nachdenken war nie gut. Davon wurde man ja nur depressiv.
Er ging nach unten und fütterte erst einmal die Fische in dem großen Aquarium, das seine Eltern vor ein paar Monaten nach Hause gebracht hatten. Sie Fische waren mehr als nur hungrig, denn Noah hatte es in den letzten Tagen oft versäumt, die kleinen Tierchen zu füttern. Jetzt stürzten sie sich gerade zu gierig auf das Futter. Noah sah ihnen gedankenversunken zu. Die mussten sich natürlich nicht mit blutenden Briefen herumschlagen. Am liebsten würde er es ja irgend jemandem erzählen, aber die hielten ihn dann sicher alle für übergeschnapt.
[Mist!]
Jetzt fiel ihm ein, dass er ja Fotos hätte machen können! Er hätte ja nur sein iPhone aus der Tasche nehmen müssen und einfach das Bad fotografieren! Warum hatte er da nicht gleich daran gedacht?! Dann hätte er Beweise gehabt... Aber so. So hatte er gar nichts mehr. Nichts außer seinen Erinnerungen an das, was geschehen war. Und das war nun wirklich nicht gerade viel.
»...nach Tokyo....«, murmelte er leise.
Wie solle er denn bitte dorthin kommen? Seine Eltern ließen ihn ja nicht einmal nach Spanien! Aber nach Tokyo?! Das lag doch am anderen Ende der Welt. Und er konnte die Sprache doch gar nicht. Er kannte auch niemanden dort. Er interessierte sich nicht einmal für Japan!


Er wollte einfach nicht länger daran denken. Es reichte ihm. Und der Fernseher nervte genauso, also schaltete er das Ding ab. Das hätte er schon vor ein paar Tagen tun sollen! Irgendwie musste er sich ablenken. Die einzige und einfachste Möglichkeit, die ihm gerade einfiel, war, die Küche aufzuräumen. Das war sowieso genauso nötig wie das Ausschalten des Fernsehers.
Als Noah die Küche jedoch betrat, verwarf er die Idee sofort wieder, denn ihm wurde klar, dass er eigenltich überhaupt keine Lust hatte, Geschirr abzuwaschen. Er ging wieder nach oben in sein Zimmer, in dem es nebenbei erwähnt auch nicht gerade bequem aussah, und startete seinen Mac und verzog sich in die unendlichen Weiten des wohltuenden Internets. Zuerst sah er mal kurz auf facebook vorbei. Da standen aber nur neue Fotos von den Urlauben seiner Freunde drinnen und er wollte sich echt nicht ansehen müssen, wie gut es sich andere gerade gehen ließen. Als nächstes guckte er kurz auf sein Profil auf einer Seite, auf der man seine Gedichte und Stories veröffentlichen konnte. Auch hier gab es nichts Neues, also blieb ihm nur noch youtube. Die folgende halbe Stunde lang klickte er sich durch irgendwelche Videos, die ihn ja doch nicht interessierten.
Er wollte das Internet gerade wieder schließen, als ihm ein Link auf ein Video auffiel, der sich interessant anhörte. „Broken Mirrors“ lautete er. Ob das wohl... Noah klickte den Link einfach an. Das Internet lud natürlich wieder einmal viel zu langsam! Aber dann war das Video endlich da.
Noah konnte nicht fassen, was er sah. Der Spiegel in dem Video war einfach explodiert, zumindest hatte es so ausgesehen, obwohl keine Explosion zu hören gewesen war. Zu hören war nur das laute und schmerzhafte Zersplittern des Glases. Es war genau wie bei Noah! Die Scherben zersplitterten in ganz winzige feine Körnchen.
Mehr war nicht zu sehen, das Viedo war gerade einma ein paar Sekunden lang gewesen. Noah sah es sich sicher ein dutzend Mal an und versuchte, irgendetwas zu erkennen, das darauf hindeutete, dass das ganze Video ein Fake war. Er fand nur nichts. Aber gut, er war ja auch kein Fake-Experte.
In dem Video war sogar die e-mail Adresse des Uploaders angegeben. Noah überlegte nicht lange. Wenn das Video tatsächlich echt war, dann konnte die Person, die das aufgenommen hatte, ihm vielleicht weiter helfen. Noah wollte nicht einfach nichts tun und sich einreden, dass er sich alles nur eingebildet hatte. Es gab genug Menschen, die das auch so taten, ohne das ihnen so etwas seltsames passierte. Er wollte auf keinen Fall zu der Art von Menschen gehören, die einfach alles um sich herum ignorierten. Also schrieb er seine Mail und schickte sie ab. Nun blieb ihm leider nicht viel übrig, außer zu warten und zu hoffen, dass er Empfänger seiner Mail ihm antwortete. Und was, wenn der empfänger gar nicht seine Sprache sprach? Noah überlegte kurz, dann verschickte er kurzerhand eifach noch zwei Mails mit dem gleichen Inhalt. Eines in englischer und eine in französischer Sprache, denn das waren die einzigen Spachen, die er neben Deutsch noch konnte.


Erstaunlicher Weise antwortete der Empfänger sofort. Noah las eilig die Mail, nebenbei freute er sich natürlich, dass sie auf deutsch verfasst war. Laut des Absenders war das Viedo echt, jede Sekunde davon. Noah sah keinen Grund mehr, daran zu zweifeln. Er hatte es ja selbst erlebt. Für ihn sprach nichts dagegen, dass das nicht auch jemand anderen passiert war.
Er schickte eine neue Mail los, fragte, ob der Besitzer des Videos vielleicht eine Ahnung hatte, was die Ursache für dieses Ereignis war und wann es passiert war. Dieses Mal musste er etwas länger auf die Antwort warten, denn sie fiel ganz schön lange aus. Der Absender sprach von lauter Dingen, von denen Noah noch nie gehört hatte, Dingen, die er auch nicht verstand. Irgendwie hörte sich alles gleich an, was er da zu lesen bekam. Nur ein Wort schien sich von den anderen zu unterscheiden.
[Was sind Spiegelwanderer?]
Diese Frage stellte er auch dem Besitzer des Videos. Die Antwort kam schnell, doch sie war enttäuschend.
Das kann ich dir leider nicht sagen.
Genervt klappte Noah seinen Mac zu, ewas zu energisch, wie er gleich danach bemerkte. Aber diese Geräte waren zum Glück wiederstandsfähiger als die anderen Notebooks, die er sonst gehabt hatte.
Nun gut, wenn man es ihm nicht sagen wollte, dann... Ja, was eigentlich? Er konnte es wohl kaum alleine heruasfinden. Er hatte doch keine Ahnung von dem, was passiert war. Er dachte wieder an den Brief. Vielleicht sollte er doch nach Tokyo. Das war der einzige Anhaltspunkt, den er im Moment hatte. Im Grunde sprach ja nichts dagegen, er brauchte nur ein Ticket. Autofahren konnte er ja, wer brauchte schon einen Führerschein? Und in Tokyo würde sich schon irgendwas finden.
Er öffnete seinen Mac wieder und scrollte sich durch die Flüge. Kaum zu glauben, es ging tatsächlich am nächsten Tag eine Maschine nach Tokyo. Und es waren sogar noch Plätze frei. Noah glaubte weder an Glück, noch an Schicksal, aber irgendwie kam das beidem gefährlich nahe. Fünf Minuten später hatte er sein Ticket, er musste es nur noch abholen.
»Packen also«, sagte er zu sich selbst und kramte seine Reisetasche aus dem Kasten. Der Flug ging gleich in der Früh, er hatte also nur noch ein paar Stunden. Und davon würde er die meisten dazu verwenden, sich auszuschlafen. Aber erst musste er fertig packen. Das Wichtigste war natürlich sein Mac, der wurde gleich als erstes sicher eingepackt, danach diverse andere, für ihn unerlässliche Geräte, dann Toilettartikel. Erst zum Schluss folgte das Gewand. Seine Eltern würden ihn sicher killen, wenn sie nach Hause kamen und eine Notiz auf dem mit schimmeligen Geschirr vollgestellten Tisch fanden, auf der nichts weiter stand, als „Bin in Japan, LG Noah“. Aber Noah wüsste auch nicht, was er sonst viel schreiben wollte. Er konnte ihnen ja kaum von dem Brief und dem Spiegel oder dem Blut erzählen. Wenn er ihnen as sagte, dann waren sie siche rnicht nur sauer, sondern würden ihn auch ganz bestimmt gleich zum nächstbesten Psychiater schleppen. Ja, so waren seine Eltern. Aber sie waren Ärzte, und sie glaubten nur an eines: an die Wirkung von Medikamenten. Wenn Medikamente eine Krankheit nicht heilen konnten, existierte die Krankheit nicht und der Patient simulierte natürlich. Und psyhchische Probleme gab es sowieso in ihrer Welt nicht.
Noah zog sich um und legte sich ins Bett. Dummerweise war es Sommer und noch hell draußen... Noah schaffte es trotzdem.


Am nächsten Tag hatte Noah natürlich verschlafen. Er war wohl zu aufgeregt gewesen, um den Weck zu stellen. Gezwungener maßen war er in zehn Minuten fertig und abresiebreit, nur die Schlüssel für den Wagen seiner Mutter fehlten ihm. Er sah schon kommen, wie er seinen Flug verpasste, während er das ganze Haus auf den Kopf stellte. Er fand die Schlüssel schließlich und keine fünf Minuten später saß er im Wagen und fuhr etwas zu schnell aus der Stadt.
Als er im Flugzeug saß, hielt er das Ganze wieder für eine reichlich dumme Idee. Was hatte er sich nur dabei gedacht, einfach so einen Flug nach Tokyo zu buchen? Er hatte nicht einmal ein Hotel dort, oder sonst eine Unterkunft! Er hatte gar nichts, außer einer Kontokarte und einem Koffer voller Sachen. Leider konnte er es jetzt nicht mehr ändern.
Für noch blöder hielt er seine Idee als er viele Stunden später in Tokyo auf dem Flughafen war und nicht wusste, wohin. Er konnte kaum etwas lesen und die wenigsten Schilder waren auch in Englisch beschriftet. Verzweifelt und frustiert lies er sich auf einen leeren Sitz fallen. Was blieb ihm auch übrig? Er fand hier sowieso nicht raus, er hatte es stundenlang versucht, aber jedoch ohne Erfolg. Jetzt wusste er überhaupt nicht mehr, wo er war.
Er verbrachte sicher den halben Tag auf dem Flughafen. Essen kaufte er in den teuren Läden, nachdem er ein paar Yen abgehoben hatte. Mit Euro kam er hier ja nicht weit.
Er beobachtete die anderen Menschen, die sich hier tummelten. Sie schienen alle genau zu wissen, wohin sie wollten. Er konnte sie natürlich fragen, wo hier der Ausgang war, aber ... irgendwie war es vielleicht sogar besser, wenn er einfach hier blieb. Hier war es trocken und einigermaßen beheizt. Da draußen hatte er gar nichts. Und auf den Straßen fand er sich sicher noch viel weniger zurecht als hier. Die Straßen waren bestimmt auch gefährlicher.


„Hey“, sagte pöltzlich jemand neben ihm. Noah blickte erstaunt auf. Neben ihm stand ein Mädchen. Sie sah nicht japanisch aus und schien ungefähr in seinem Alter zu sein. Noah fiel sofort ihre Kleidung auf. Sie trug einen ziemlich kurzen rot-schwarzen Minirock im Gothic-Style, ebenso einen spitzen Nietengürtel, dicke schwere Plateaustiefel und ein ebenfalls mit Nieten geschmücktes Korsett in schwarz. Ihre Haare hingen in ungepflegten Strähnen bis zu ihren Hüften, um ihren Hals trug sie eine schwere Kette mit einer Fee deren Flügel aus violetten Kristallen bestanden und ihr Gesicht wies eine Vielzahl von Piercings auf, an ihrem linken Arm war das Tattoo eines Drachen. Noah musste zugeben, dass ihn die Erscheinung des Mädchens ziemlich einschüchterte.
Sie lächelte beruhigend, als er sie schockiert anstarrte. Ihr Lächeln war total süß, trotz der vielen Piercings, das musste Noah schon zugeben.
„Mein Name ist Sora“, sagte sie. Auch ihre Stimme klang wundervoll. Fast als wie wenn sie nicht von dieser Welt wäre.
„Noah“, sagte Noah leise. Seine Stimme klang brüchig und dünn und in diesem Moment verfluchte er sie deswegen. Und seine immer wieder auftretende Schüchternheit verfluchte er gleich mit.
„Freut mich“, sagte Sora und lächelte immer noch, als sie ihm freundlich die Hand entgegenstreckte. Fast an jedem ihrer Finger trug sie einen silbernen Ring und ihre Nägel waren abwechselnd schwarz und grell pink lackiert. Zögern nahm Noah ihre Hand und schüttelte sie kurz, dann lies er sie sofort wieder los. Er war sich echt nicht sicher, ob er ihr trauen konnte. Wenn er nur auf ihr liebes Lächeln achtete, dann schon, nur ihre Kleidung... Er war einfach unsicher.
„Du bist ein Spiegelwanderer, nicht wahr?“, fragte sie leise. Noah starrte sie überrascht an. Seine Gedanken blendeten alles um ihn und Sora herum aus. Das war plötzlich alles nicht mehr wichtig. Wichtig war nur, woher sie das wusste? Woher wusste sie von den Spiegelwanderern? Und ... warum nannte sie ihn einen?!
„Nein“, sagte Noah sofort. „Nein bin ich nicht. Ich ... weiß auch nicht, wovon du sprichst!“
Er stand auf und wollte verschwinden. Das Mädchen – Sora – wurde ihm langsam ein bisschen unheimlich.
„Hey warte mal!“
Sie nahm ihn sofort an der Hand und hielt ihn zurück. Noah wollte sich erst losreißen, lies es aber dann doch lieber bleiben. Vielleicht konnte sie ihm ja helfen, etwas herauszufinden.
„Du weißt es noch nicht, oder?“, fragte sie etwas leiser.
Noah wusste zwar nicht, wovon sie sprach oder was sie meinte, aber er schüttelte den Kopf. Es war ja egal. Was auch immer sie meinte, er hatte ganz bestimmt keine Ahnung davon.
„Okay. Komm mit mir, ich erkläre dir alles“, bot sie ihm freundlich an.
Noah überlegte. Nun gut, er hatte wohl kaum groß eine Wahl. Er konnte entweder hier bleiben und die nächste Zeit auf dem Flughafen verbringen oder mit Sora kommen. Mit Sora mitzugehen erschien ihm dann doch die bessere Lösung zu sein.
„Ich komme mit“, sagte er und nahm sein Gepäck.
Sora freute sich sichtlich, denn ihr Lächeln wurde noch etwas fröhlicher.
„Okay komm!“
Sie nahm ihn an der Hand und führte ihn binnen wenigen Minuten aus dem Flughafen.
„Wie machst du das?“, fragte Noah begeistert. „Ich hab eine Stunde lang versucht, hier rauszufinden!“
Sora lachte lieb. „Übung. Ich wohne nicht weit weg. Komm.“
„Ich komm ja!“


Sora ging ziemlisch schnell und Noah hatte echt Mühe, mit seinem Gepäck Schritt zu halten. Vor allem, da sein Blick die ganze Zeit auf die vielen Gebäude und Lichter um ihn herum abschweifte. Nirgendwo sonst hatte er schon mal so viele Leuchtreklamen gesehen. Es musste toll sein, die ganze Stadt von oben zu sehen. Von ganz hoch oben, von wo man alles überblicken konnte.
„Komm schon!“
Noah war stehen geblieben umd seine Umgebung besser bewundern zu können. Von überall her tönten neue und vertraute Geräusche und Musik und alles vermischte sich zu einem umwerfenden Eindruck. Überall um ihn herum wurde geredet, ohne dass er ein einziges Wort verstand. Am liebsten wäre er hier einfach stehengeblieben und hätte einfach nur alles bewundert. Das hätte er bestimmt auch, hätte Sora ihn nicht an der Hand genommen und fast zu energisch weitergezogen. Noah merkte das kaum. Seine Beine folgten ihr zwar, doch sein Blick wanderte weiter von einem Gebäude zum nächsten und wieder zurück.
Schließlich hielt Sora vor einer Tür an, schloss auf und zog ihn eine enge Treppe hoch nach oben, dann schloss sie die Tür zu ihrer Wohnung auf. Noah bekam das alles kaum mit. Es war einfach toll hier in Japan. Auch wenn er noch nicht viel gesehen hatte, fühlte er sich hier total wohl. Sora schubste ihn in die Wohnung und schloss hinter ihnen ab.
„Es scheint dir wohl hier zu gefallen?“
Noah nickte sofort. Er stand schon am Fenster und blickte wieder nach draußen.
„Es ist einfach wunderbar hier!“ Es war echt eine Tollge Idee gewesen, hierher zu fliegen. Und ab jetzt würde er sicher auch nie wieder sagen, dass er sich nicht für Japan interessierte. Das mit den Spielgelwanderern und dem Brief hatte er inzwischen vergessen. In seinen Gedanken war nur noch Platz für Tokio.
„Freut mich, dass es dir hier gefällt.“
Sora stellte sich neben ihn und blickte ebenfalls nach draußen.
„Also, wieso bist du hier?“
Noah wünschte, sie hätte diese Frage nicht gestellt, denn so riss sie ihn brutal aus seinen schönen Gedanken über die Stadt und rief ihm all das über seinen zerbrochenen Spiegel und den blutigen Brief wieder in Erinnerung. Er seufzte und setzte sich auf die Couch, de zwischen den beiden Fenstern an der Wand stand.
„Ich habe einen Brief bekommen“, sagte er nach einer längeren Pause. „Darin stand, ich soll nach Tokyo kommen. Also bin ich hier. Das war gestern.“
Sora starrte ihn überrascht an.
„Gestern? Und da bist du einfach so ins Flugzeug gestiegen und losgeflogen?“, fragte sie erstaunt. Noah nickte. War das denn wirklich so seltsam? Das hätte sicher jeder andere auch getan, wenn er einen blutenden Brief erhalten hatte.
„Also, was hat es mit diesen Spiegelwanderern auf sich?“, fragte er, um das Thema zu wechseln. Er wollte jetzt nicht über den Brief sprechen. Und das mit diesen Spiegelwanderern interessierte ihn sowieso im Moment viel mehr als alles andere.
Sora setzte sich zu ihm und lehnte sich zurück.
„Spiegelwanderer, so nennen wir Menschen, die in der Lage sind, durch Spiegel woanders hingehen zu können.“
Eine lange Pause folgte. Noah glaubte im ersten Moment, er hätte sich verhört, aber das hatte er nicht. Es hörte sich nur so unglaubwürdig an. Aber gut, das mit dem Brief würde sich ganz sicher auch unglaubwürdig anhören. Und das sprach dafür, Sora zu glauben. Leider nur verstand er noch viel weniger als vorher.
„Wie meinst du das? Woanders hingehen?“
„Ganz einfach“, sagte Sora. „Man kann einfach durch einen Spiegel gehen. Das Problem dabei ist nur, dass man ganz genau wissen muss, wo der passende Spiegel ist.“
Noah verstand noch immer nichts. Sein Blick sagte anscheinend alles, denn er musste nicht nachfragen. Sora erklärte schon weiter.
„Es gibt Spiegel, die sind aus einem speziellen Glas gemacht. Und manche Menschen sind in der Lage, durch diese Spiegel gehen zu können. Aber das ist auch nicht so einfach, der Spiegel muss nämlich ein paar Vorraussetzungen erfüllen.“
Das hätte Noah für’s Erste schon gereicht. Mehr wollte er im Moment auch gar nicht wissen. Aber Sora sprach weiter.
„Zum Beispiel müssen beide zusammengehörenden Spiegel genauso groß oder größer sein wie der Spiegelwanderer, der durch den Spiegel gehen will, sonst passiert es, dass du aus der Spiegelwelt nicht mehr herauskommst.“
Und es passierte genau das, was Noah schon kommen gesehen hatte. Nämlich dass er schon wieder gar nichts verstand.
„Was bitte ist die Spiegelwelt?“
„Das ist eine Art Tunnelsystem, die zwischen den Spiegeln liegt. Es ist nämlich so, dass du nicht automatisch beim zugehörigen Spiegel rauskommst, wenn du durch einen Spiegel trittst. Du musst dir den Weg erst suchen, das ist oft gar nicht so leicht. Meist braucht man als Anfänger einen Guardian, der einen durch dieses Labyrinth führen kann, bis man sich selbst alleine zurechtfinden kann.“
„Na toll!“, maulte Noah. „Und wo bekomme ich einen Guardian her?!“
Sora lachte. Noah war wirklich süß, auf seine ganz eigene Art.
„Du hast also schon akzeptiert, dass du ein Spiegelwanderer bist? Das erstaunt mich. Ich kannte einige, die sich erst einmal eine ganze Weile dagegen gesträubt haben“, sagte sie schmunzelnd.
Noah seufzte. So war das nicht. Er hatte es nicht akzeptiert, was er gesagt hatte war ihm einfach so rausgerutscht. Er hatte es nicht so gemeint und am liebsten würde er alles, was er gesagt hatte, auf der Stelle zurücknehmen, aber das konnte er nicht.
„Woran erkennt man eigentlich einen Spiegelwanderer?“, fragte er stattdessen.
Jetzt war es Sora, die seufzte.
„Das ist meistens gar nicht so einfach“, sagte sie leise. „In den meisten Fällen erkennt man einen Spiegelwanderer erst dann, wenn er stirbt.“
Schon wieder etwas, dass Noah gar nicht verstand.
„Wie meinst du das? Warum erkennt man ihn erst dann?“
Sora ließ sich dieses Mal Zeit mit der Antwort. Und auch als sie schließlich antwortete, sprach sie nur leise und sehr langsam, als müsste sie sich stark zusammenreißen, um überhaupt einen Ton von den Lippen zu bekommen.
„Wenn ein Spiegelwanderer stirbt, dann wird sein Körper zu Glas und...“
Sie brach ab und stand auf. Dann ging sie zum Fenster und blickte nach draußen. Noah wollte schon fragen, was dann geschah, aber gerade als er den Mund aufmachte um seine Frage zu stellen, merkte er, dass Sora zitterte. Ob sie wohl weinte? Noah schluckte die Frage und stand auf. Langsam ging er zu ihr und legte ihr lieb eine Hand auf die Schulter.
„Meine Eltern waren Spiegelwanderer“, sagte sie mit brüchiger Stimme und unter Tränen.
Dieses Mal musste Noah nicht weiterfragen. Es war klar, was passierte. Nun gut, es war ihm nicht ganz klar, aber es war sicher nichts Schönes. Noah konnte ein wenig nachvollziehen, wie Sora sich fühlen musste.
[Nein kann ich nicht.]
Stimmt. Es war gelogen. Er kannte seine richtigen Eltern nicht einmal und zu seinen Stiefeltern hatte er nur ein sehr schlechtes Verhältnis. Er verstand also gar nicht, wie Sora sich fühlen musste. Er hatte keine Ahnung, wie es war, jemandem wirklich nahe zu stehen, denn er hatte sich eigentlich immer von Nähe fern gehalten. Klar, er hatte Freunde, aber das waren alles oberflächliche Freundschaften. Genau genommen wollte er mit seinen Gefühlen lieber alleine sein. Andere verstanden ihn sowieso nicht. Wenn man sich anderen anvertraute, dann wurde man am Ende ja doch nur belogen und enttäuscht, davon er er überzeugt.
Aber bei Sora...
Bei Sora war es anders. Irgendwie fühlte er sich zu ihr hingezogen. Ob sie wohl auch eine Spiegelwanderin war? Wenn ihre Eltern es waren, dann war es doch nahe liegend, dass sie diese Fähigkeit besaß, oder?
„Sora“, sagte er leise. Er wollte sie eigentlich fragen, ob sie darüber reden wollte, aber er ließ es dann doch bleiben. Sie kannten sich nicht einmal richtig. Da wollte sie ganz bestimmt nicht mit ihm über ihre verstorbenen Eltern reden. Und er war sich auch nicht sicher, ob er es hören wollte. Er konnte mit sowas ja sowieso nicht umgehen, also war es besser, das gleich sein zu lassen.
Aber es gab etwas anderes, das er sie gerne fragen würde, nur wusste er nicht, ob es jetzt schon der richtige Zeitpunkt war. Er wusste nicht, ob er schon bereit dafür war.
Irgendwie hatte er Kopfschmerzen. Der ganze Tag hatte ihm ziemlich zugesetzt. Und Tokyo war so groß... Und dieser ganze Kram mit den Spiegelwanderern. Das war einfach zu viel auf einmal. Außerdem! Außerdem konnte es ja sein, dass Sora sich irrte. Noah war immerhin noch nie durch irgendeinen Spiegel gegangen oder so. Genau. Sora musste sich täuschen. Und vielleicht war die ganze Sache mit den Spiegelwanderern ja auch nur ein super blöder Scherz. Vielleicht auch ein Traum? Nein, ein Traum war es ganz sicher nicht, er wusste ganz genau, dass er wach und in Tokyo war. Aber ... real? War es das noch? War das alles, was hier passierte, noch normal?

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Tag der Veröffentlichung: 01.02.2010

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