Cover

Abbruch

Zweifel“

 

Er fuhr mit seinem Handy durch die immer noch viel zu heiße Nacht. Mit der rechten Hand lenkte er den Wagen, während die linke sein Handy so fest gegen sein Ohr hielt, dass es nässte. „Komm schon. Geh ran.“ Nach dem dritten Klingeln, nahm die Mailbox ab. Er legte auf und versuchte es wieder. Und Wieder. Und wieder. Nach einer Viertelstunde fuhr er die Einfahrt hoch, schloss seinen Wagen ab und betrat das Haus. In der dunklen Küche starrte er noch einmal auf sein Handy, in der Hoffnung einen Anruf oder zumindest eine Nachricht erhalten zu haben. Fehlanzeige.

„Ach was soll‘s.“ Er tippte die Nummer erneut ein, legte beim Abnehmen der Mailbox aber nicht wieder auf. Er fand es eigentlich stillos wichtige Dinge am Telefon zu besprechen. „Hey, hier ist Vince. Du weißt warum ich anrufe. Bitte ruf mich dringend zurück. Ich muss dich sehen.“

 

 

Die heiße Luft, die die Stadt schon seit mehreren Tagen in Atem hielt, schien heute besonderen Gefallen an der Quälerei der Bewohner zu finden. Charlie litt von allen Einwohnern eigentlich mit am meisten, was an ihrem Übergewicht lag, das sie seit dem Anfang ihrer Teenagerzeit erfolglos bekämpfte. Aber heute gefiel ihr die Hitze. Ohne sie wäre Charlie nicht schon so früh auf den Heimweg. Die Lehrer ihrer Schule hatten um 12:30 Uhr, also vor genau zehn Minuten, ein Einsehen und ließen die Schüler nach Hause gehen.

Charlie war nur noch wenige Meter von ihrem klimatisierten Haus entfernt und sehnte sich bereits nach einem kühlenden Eis. Doch ihre Gedanken an ein köstliches Magnum Gold wurden durch das fremde Auto auf der Auffahrt verstreut. Allein die Gegenwart des Autos von Charlies Vater hätte für Verwirrung gesorgt, da er um diese Uhrzeit auf Arbeit hätte sein müssen, aber der silberne Käfer stellte den schwarzen BMW beinahe in den Schatten.

Erst nach einer knappen Minute bemerkte Charlie, dass sie stehen geblieben war. Sie schloss den weit geöffneten Mund und setzte sich wieder in Bewegung. Hatte ihr Vater etwa eine Affäre? dachte sie, als sie die Eingangstür öffnete und in der Diele stand. Sollte sie sich rein schleichen? Aber wer wollte schon den eigenen Vater beim Sex erwischen? Bei dem Gedanken musste sie sich schütteln. „Papa. Bist du da?“

Sie legte den Schlüssel in die Schale auf der Kommode und durchsuchte die Zimmer im Erdgeschoss. Nachdem sie Küche, Gäste-WC, Wohnzimmer und Gästezimmer durchsucht hatte, ging sie wieder in den Flur und stieg die Treppe zum ersten Stock empor.

Sie hatte gerade die oberste Stufe erreicht, als sie ein Stöhnen aus dem Badezimmer, das direkt an das offenstehende Schlafzimmer ihrer Eltern grenzte, hörte.

Bitte lass es nicht das sein, woran ich denke, dachte Charlie. „Papa. Bist du das?“

Das Stöhnen hielt inne. Komplette Stille im ganzen Haus. Charlie betrat das Schlafzimmer ihrer Eltern und sah einen kleinen Kleidungsstapel, der scheinbar die Arbeitskleidung seines Vaters beherbergte. Wut stieg in ihr auf. Also hatte er wirklich eine Affäre.

Charlie wollte gerade in das Badezimmer stürmen, als ihr Vater im Bademantel aus eben diesem Zimmer kam. Völlig verschwitzt.

„Hey Schätzchen.“ Er hatte schwer mit seiner Atmung zu kämpfen. „Was machst du denn schon hier? Ich hab dich so früh noch gar nicht erwartet.“ Er setzte sein Lieber-Daddy-Lächeln auf.

„Das kann ich mir vorstellen“, platzte es aus Charlie heraus. „Wie kannst du Mutti sowas antun?“

„Es ist nicht so wie es aussieht.“ Er hob die Hände, als wären sie dadurch in Unschuld gewaschen.

„Uhh wie originell.“ Charlie hätte platzen können.

„Du musst mir glauben.“

Ihr Vater wirkte immer noch sehr ruhig, was in Anbetracht der Lage wirklich unfassbar war. Er blickte ihr in die Augen und erst jetzt bemerkte sie wie erweitert seine Pupillen waren. Im Gesicht waren viele Adern hervorgetreten, die sich jetzt langsam wieder zurückbildeten und auch auf die Haare auf seinen Armen standen ab. Charlies Vater legte ihr seine Hände auf die Schultern. „Kannst du mir `ne Minute geben? Dann werde ich dir alles erklären und du siehst, dass alles nicht so schlimm ist.“ Charlie nickte, obwohl sie ihm kein Wort glauben konnte. Er ging wieder ins Bad und Charlie setzte sich auf das Bett ihrer Eltern. Langsam beruhigte sie sich. Vielleicht gab es wirklich eine ganz normale Erklärung. Schließlich war ihr Vater einer von den Guten oder?

Zweifel schlichen sich in ihren Geist. Sind ihre Eltern in letzter Zeit nicht immer ruhiger geworden? Und was war in der letzten Woche, wo sie ihre Mutter im Bad beim Weinen erwischt hat? Da hatte sie keine vernünftige Erklärung bekommen.

Das erneute Stöhnen aus dem Bad schreckte sie auf. Machten die jetzt wirklich weiter?

„Willst du das wirklich noch?“ Das war eine Frauenstimme, die Charlie gedämpft durch die Tür vernahm.

„Ja. Los jetzt. Ich brauch das jetzt.“

Das reichte. Charlie rannte zur Tür und öffnete sie, ohne Angst vor dem verstörenden Kopfkino. Doch was sie sah, übertraf ihre verrücktesten Vorstellungen. Ihr Vater war über die Toilette gebeugt und trug nur seine Unterhose. An seinem ganzen Körper traten blaue Adern hervor und er war total verschwitzt. Neben ihm stand eine attraktive Frau, die allerdings komplett bekleidet und Charlie dazu auch noch irgendwie vertraut war.

„Papa, was geht hier vor?“

Ihr Vater drehte sich um und seufzte. „Alice ich glaube, wir müssen kurz pausieren.“ Er stand auf und warf sich den Bademantel über. „Du kennst Alice doch noch oder Charlie?“

Alice kam auf sie zu. Ihre grünen Augen leuchten im diffusen Licht der Badezimmerlampe. „Hey Charlotte. Ist ein bisschen her seit unserer letzten Begegnung.“ Charlie nickte nur.

Ihr Vater klatschte in die Hände. „Lasst uns kurz in die Küche gehen. Ich halte dies hier nicht für den angebrachten Ort für eine Unterhaltung.“

In der Küche angekommen, goss der Vater den beiden Frauen Orangensaft ein und begnügte sich selbst mit einem Glas Wasser. „Ist besser für das, was ich gleich vorhabe“, fügte er an, als er dem skeptischen Blick seiner Tochter begegnete.

Charlie schaute abwechselnd von ihrem Vater, dessen Pupillen langsam wieder normale Größe erreichten zu Alice. Im Schatten des Kühlschranks schien ihre blasse Haut zu leuchten. Aber dies war immer noch kein Vergleich zu ihren Augen.

Charlie hatte Angst zu fragen, tat es aber dennoch. „Was tut ihr denn krankes da oben?“ Sie wollte zuerst Perverses sagen, entschied sich dann aber anders. Er war schließlich ihr Vater.

„Es ist schon ganz schön krank.“ Er lächelte Alice an, die sein Lächeln erwiderte. „Ich wünschte ich müsste dir, dass nicht erzählen, obwohl ich weiß, dass du es dir eh nicht lange merken wirst.“

„Oh daran werde ich mich ewig erinnern“, unterbrach Charlie. „Mein Vater fast nackt über der Kloschüssel und dazu noch diese Adern, die überall aus seinem Körper kamen. Das werde ich nie vergessen.“

Alice verließ den Schatten und trat ins Licht. „Doch das wirst du.“ Sie sprach mit einer festen Stimme, die man einer so zierlichen, fast perfekten Frau gar nicht zugetraut hätte. „Um nicht noch mehr Zeit zu verlieren, werde ich ihr schnell alles erzählen, wenn das okay ist, Vincent?“

Charlies Vater zuckte mit den Schultern. „Wenn‘s dich glücklich macht. Aber beeil dich. Ich will nicht, dass meine Frau nach Hause kommt und ich ihr dann auch nochmal alles erklären muss.“

Alice stellte sich direkt vor Charlie. „Ich sage es dir gleich: Das was ich dir jetzt erzähle klingt verrückt und ich hoffe, dass du mir trotzdem glaubst.“ Sie holte tief Luft. „Dein Vater hat eine seltene Gabe. Er kann die Zeit zurückdrehen.“

„So wie der Typ in Heroes?“

„Ja und Nein. Er kann immer nur zu dem Zeitpunkt zurück, an dem er eine Sicherung eingebaut hat.“

„Also wie bei einem Computer, bei dem man bei einem Virus einfach wieder die Systemwiederherstellung aktiviert?“

Alice nickte. „Genauso. Und hier komme ich ins Spiel. Ich bin eine Mayai, eine Hexe. Ich kann deinem Vater helfen diese Sicherungen einzurichten.“

Charlotte zog die Augenbraun zusammen. „Und wie machst du das?“

Vincent trat näher an die beiden Frauen heran. „Alice kommt an einem bestimmten Tag zu mir und spricht Beschwörungsformeln, die dafür sorgen, dass ich wieder an diesen Punkt zurück kann. Das letzte Treffen ist allerdings schon ein paar Jahre her.“

„Sechs, um genau zu sein“, warf Alice ein. „Früher haben wir das einmal im Jahr gemacht, bis dein Vater nicht mehr wollte. Deshalb wird das heute auch kein Zuckerschlecken für deinen Dad.“

Charlies Vater schnaubte. „Als ob es das jemals wäre.“ Er nahm einen Schluck Wasser. „Ich muss mich dafür nämlich übergeben.“ Er schnaubte wieder. „Ich spüle meine Zukunft im Klo runter, wenn du so willst.“

Charlie schaute ihren Vater voller Verwirrung an. „Du musst einfach nur kotzen und schon kehrst du zu dem Tag zurück, an dem Alice zuletzt ihre Beschwörungsformeln aufgesagt hat.“

Die hübsche Brünette schüttelte den Kopf. „Leider muss ich auch bei der Zeitreise wieder mit an Bord sein, um deinem Dad ein paar nette Worte zuzuflüstern.“

Charlie brauchte einige Sekunden, um das Gehörte zu verarbeiten. „Habe ich auch diese Fähigkeit?“

Vincent wollte zur Antwort ansetzen, aber Alice übernahm für ihn. „Nein. Diese Gabe ist nur sehr selten. Ich komme aus einer großen Hexenfamilie und wir werden schon in der Pubertät gelehrt, Menschen wie deinen Vater zu finden.“

Charlie hätte gerne einige Dinge rückgängig gemacht. „Schade, dass ich es nicht auch kann.“ Sie blickte zu Boden. Den Hänseleien ihrer Mitschüler zu entkommen, die sich immer aufgrund ihres Übergewichts über sie lustig machten, wäre es schon wert gewesen, sich jeden Tag zu übergeben.

Vincent hob das Kinn seiner Tochter. „Sei froh. Wenn du wüsstest, was ich schon alles gesehen habe. Ich habe die Zeit zwar immer wieder zurückgedreht, aber mein Gedächtnis kann ich nicht löschen.“

„Und warum musst du es heute tun?“, fragte Charlie die Frage, die sie schon zu Anfang ihrer Konversation mehr als alles andere interessierte. Warums stellte sie sie erst jetzt?

„Ich würde es dir gerne verschweigen, wenn du erlaubst.“ Ihr Vater wurde plötzlich ernst. Das Lächeln verschwand. „Es gibt einen Grund, warum ich nicht mir dir darüber reden möchte und bitte dich das zu akzeptieren.“

Charlies Wut kehrte zurück. „Nein du sagst mir jetzt auf der Stelle, warum du das heute tun musst.“ Zornestränen stiegen ihr in die Augen. „Woher soll ich denn wissen, dass ihr mich nicht angelogen habt und da oben nur eine schnelle Nummer schieben wolltet.“

„Es ist „, begann Alice, doch Vincent unterbrach sie.

„Lass, ich mach das schon.“ Er blickte seiner Tochter tief in die feuchten Augen. „Es ist wegen deiner Mutter.“ Na klar, dachte Charlie. Die würde dir die Hölle heiß machen, wenn ich ihr von deiner Affäre erzählen würde. Sie wollte eigentlich etwas erwidern, ließ ihrem Vater dann aber doch Zeit fortzufahren, was ihm sichtlich schwer fiel.

„Sie hat Lungenkrebs. Im Endstadion.“ Nun konnte Charlie sehen, dass die Augen ihres Vaters genauso feucht waren wie ihre. „Sie wird sterben Charlotte. Und nur ich kann es verhindern.“

Charlie bewegte ihre Lippen, ohne einen Ton hervorzubringen. „Ab-ber Aaber Aber wie kannst du das wissen? Ist das wieder so eine Gabe von dir?“

„Nein. Wir haben es vor einigen Monaten vom Arzt erfahren.“ Tränen liefen langsam über das Gesicht ihres Vaters. „Er sagte, die Ursache dafür, ist die jahrelange Arbeit in der Fabrik gewesen, in der sie seit fünf Jahren arbeitet. Und genau deshalb muss ich zurück.“ Er küsste seine Tochter auf die Stirn und drückte sie fest an sich. Nach einer knappen Minute löste er sich und wischte sich die Tränen mit den Handrücken vom Gesicht. „Wir werden die Prozedur jetzt vollziehen, wenn du keine weiteren Fragen hast.“

Charlie nickte. „Okay. Kann ich zu gucken?“

„Ich möchte wirklich nicht, dass du mich so siehst, Schätzchen.“

„Aber ich erinnerte mich doch hinterher sowieso nicht mehr daran oder?“

Vincent tippte sich mit dem Zeigefinger an die Stirn. „Ich umso mehr.“

Alice räusperte sich. „Aber du kannst mit ins Schlafzimmer kommen. Da könnt ihr euch verabschieden.“ Da die anderen beiden zustimmen, gingen sie gemeinsam nach oben. Vor der Badezimmertür angekommen, umarmte Vincent seine Tochter erneut.

„Papa, kann ich dich noch etwas fragen?“

„Alles.“

„Warum hast du damals aufgehört diese Sicherungen einzubauen?“, fragte Charlie, als Alice ins Bad entschwunden war.

„Ach wahrscheinlich, weil ich dachte, dass mir nichts Schlimmes mehr passieren würde. Ich hatte einen guten Job, eine hinreißende Frau und eine großartige Tochter.“ Er berührte die Nase seiner Tochter und folgte Alice ins Badezimmer.

„Kannst du bitte dafür sorgen, dass ich nicht so dick werde?“, rief Charlie ihrem Vater hinterher. Dieser macht auf dem Absatz kehrt. „Du bist doch nicht zu dick.“ Charlie wusste, dass lange Reden keine Sinn hatten. „Kannst du es bitte trotzdem tun?“

„Für dich würde ich doch alles tun.“ Danach ging ihr Vater ins Badezimmer und schloss die Tür hinter sich ab. Charlie hörte wie Alice unverständliche Wörter sprach und vernahm kurz danach das Stöhnen ihres Vaters. Das letzte Geräusch, das sie wahrnahm, war das Würgen...

 

 

 

Sechs Jahre vorher

 

Vincent spürte wie die heiße Suppe zum zwölften Mal seinen Körper verließ. Sein ganzer Körper brannte. „Das war`s doch jetzt oder?“

Alice reichte ihm seinen Bademantel. „Jap. Du hast es geschafft. Zwei Mal pro Jahr.“

„Na Gott sei Dank.“ Er ging zum Waschbecken, wusch sein Gesicht und ging mit Alice in die Küche. Norma saß bereits am Küchentisch. Sie küsste ihren ermüdeten Mann. „Alice bleibst du noch zum essen?“

„Ähm nein danke, aber ich muss auch schon wieder los.“ Sie schüttelte Norma die Hand und verließ die Küche. „Bis später Vince.“

„Die Frau ist mir immer noch unheimlich“, sagte Norma nachdem die Haustür ins Schloss fiel. „Wie kann man denn mit Esoterik so viel Geld verdienen?“ Sie zuckte mit den Schultern und küsste Vincent auf die Stirn. „Naja, wenn du an diesen Hokuspokus glaubst.“ Sie goss ihrem Mann Kaffee in eine Tasse. „Apropo Geld verdienen. Mein Bruder hat mir von einer freien Stelle in der alten Fabrik am Hafen erzählt. Sie wäre zwar erst im nächsten Jahr frei, aber das wäre doch perfekt. Dann könnten wir endlich in ein größeres Haus ziehen.“

Vincent verschluckte sich an seinem Kaffee. Er erinnerte sich, wie begeistert er damals von der Idee war. Was für ein Narr er doch war.

„Ach Schatz das brauchst du nicht. Dann kannst du doch gar nicht mehr mit Charlotte in den Sportkurs gehen, den ihr beide so liebt.“ Er zog seine Frau zu sich heran. Er würde sie nie wieder loslassen, egal wie oft er dafür am Zeiger der Zeit drehen musste.

 

 

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 23.03.2013

Alle Rechte vorbehalten

Nächste Seite
Seite 1 /