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Schwarze Löcher


Es ist wohl kein Geheimnis, dass unser Umfeld unvermeidlichen Einfluss auf unser inneres Empfinden hat. So werden wir(oder zumindest die meisten von uns) selten auf traurige Gedanken kommen, wenn wir ein lachendes Kind in unseren Armen halten.
Allerdings hat unser Innerstes viel mehr Einfluss auf die Wahl unserer Umgebung. Während fröhliche Menschen die Nähe anderer glücklicher Individuen suchen, ziehen sich traurige Personen in die Einsamkeit zurück. Aus Angst andere mit ihrer negativen Stimmung anzustecken.
Jamie gehörte eher zur zweiten Gruppe. Doch im Gegensatz zu den meisten trauernden Menschen suchte er die Nähe von anderen Menschen. Trauernder Menschen. Und so kam es nun, dass er wieder einmal vor einem schwarzen Loch stand. Um ihn herum viele weinende Menschen, die sich durch die schwarze Kleidung zu einer homogenen Masse zusammengeschlossen hatten. Doch trotz des Nieselregens liebte er es hier in dieser Gruppe zu stehen. Mit seinen schwarzgefärbten, nach hinten gegelten Haaren und seinem teuren Anzug.
Als die Trauerfeier vorbei war, sprach Jamie, wie so oft, noch minutenlang mit den anderen Trauergästen über Schmerz und Verlust. Die Gefühle, die ihn in den letzten Wochen wohl am meisten heimsuchten.
Als er das Gespräch mit einer älteren Dame beendet hatte, sah er sich nach einem neuen Gesprächspartner um. Und dann sah er ihn. Diesen ungepflegten, hageren Mann, der ihn seit Wochen zu verfolgen schien. Wut stieg in ihm auf. „Das Spiel kann man auch andersherum spielen“, flüsterte Jamie vor sich hin. Er ließ den Mann nicht mehr aus den Augen und folgte ihm, als er eine halbe Stunde später den Friedhof verließ. Er musste ihm nicht lange folgen, da der vertraute Fremde, dessen Namen er nicht einmal kannte, nach einigen passiert Häuserblocks einen Wohnungsschlüssel aus der Hosentasche seines verknitterten Anzugs holte. „Das ist der passende Augenblick“, dachte Jamie und sah sich noch einmal um. Außer ihm und dem Fremden war Niemand in der Nähe. „Perfekt. Ich muss ihn aber befragen, bevor er in seine Wohnung flüchten kann.“
Doch der Unbekannte kam ihm zuvor. „Was willst du von mir, Junge?“ Jamie war so in seine Gedanken versunken, dass er nicht bemerkte, dass sein Vordermann abrupt stehen geblieben war und nun nur noch zwei Meter von ihm entfernt stand.
„Ich wollte sie nur fragen, warum sie mich verfolgen.“ Das klang unsicherer als erhofft. Der Fremde schnaubte. „Ich verfolge dich? Du bist mir doch vom Friedhof aus bis zu mir nach Hause gefolgt oder?“ Der Mann wendete Jamie nun sein ungewaschenes Gesicht zu, das fast komplett mit Barthaaren überzogen war. Das einzige, was die Barthaare anscheinend nicht verschlucken konnten, waren die tiefen Augenringe.
„Ich habe sie nun schon zum vierten Mal gesehen und das kann doch kein Zufall sein oder?“, versuchte Jamie sich zu verteidigen.
Der Mann nickte, sein Anblick wirkte dabei noch trauriger als vorher schon. „Komm rein, dann erzählen wir weiter.“ Er drehte sich daraufhin wieder um und ging in den nächsten Hauseingang. Jamie war hin und hergerissen. Er wusste mit seinen 17 Jahren zwar schon, dass es äußerst unklug war einem verwahrlosten Mann an einem Sonntagnachmittag in seine Wohnung zu folgen, aber seine Neugier würde ihm das niemals verzeihen. Und so gewann wie in den meisten Fällen der Wissensdurst gegen die Vernunft.
Er betrat also die muffige Wohnung im ersten Obergeschoss und war sich immer noch nicht sich, ob er wirklich das richtige tat. Der Hausherr führte ihn in eine kleine Küche und bot ihm einen Stuhl an. So setzten sich die beiden Männer gegenüber. „Willst du vielleicht, was trinken...?“, setzte der Mann an. „Wie ist eigentlich dein Name?“
„Warum wollen sie das wissen?“, fragte Jamie nervös.
„Darf ich denn nicht den Namen meines Gastes erfahren? Früher gehörte es zum guten Ton sich erst einmal vorzustellen.“ Der Mann drehte sich um, füllte Wasser in den Wasserkocher und schaltete ihn ein.
„Ich heiße Jamie. Und es tut mir leid, wenn ich sie beleidigt habe.“
Der Mann machte eine wegwerfende Handbewegung. „Das braucht dir nicht leid zu tun. Höflichkeit ist eine seltene Eigenschaft in der heutigen Zeit geworden. Wenn du wüsstest, wie viele Leute mich schon beleidigt haben. Nur weil ich so aussehe, wie ich nun einmal aussehe.“ Dann wurde sein Blick glasig. Es schien, als würde er wirklich an all diese Situationen zurückdenken. „Ja, der alte Greg hat schon so einiges über sich ergehen lassen müssen“, sprach er nach einer Weile zu sich selbst.
„Das tut mir leid. Darf ich sie etwas fragen?“, fragte Jamie und holte Greg damit wieder zurück in die kleine, unaufgeräumte Küche. „Aber natürlich.“
„Aber auch nur, wenn das für sie wirklich okay ist.“
„Nun spuck‘s schon aus, Kleiner.“
„Warum laufen sie so ungepflegt rum. Und warum tragen sie immer nur diesen faltigen, alten Anzug, wenn ich sie sehe?“
Greg ließ sich Zeit mit der Antwort. Er schien lange mit seinen Worten zu ringen. Um seine Antwort noch etwas hinauszuzögern, machte er erst einmal zwei Tassen Tee fertig und stellte sie auf den etwas klebrigen Holztisch. Dann setzte er sich Jamie Gegenüber, der nun fast platzte vor Neugierde. „Und?“
„Hast du denn nie auch nur einen Gedanken über den Ort unserer Zusammenstöße gemacht?“
„Wieso sollte ich?“
„Wo haben wir uns denn in den letzten vier Wochen immer sonntags gesehen? Denk kurz drüber nach Junge.“
Jamie musste nicht lange überlegen. „Auf dem Friedhof. Aber warum waren sie in den letzten Wochen immer wieder da? Sie können unmöglich so viele Menschen in einem Monat verloren haben.“ Zumindest hoffte, Jamie das, auch wenn das seine schlampige Erscheinung mehr als erklären würde.
„Du hast Recht. Auf keiner der Trauerfeiern wurde Jemand beerdigt, den ich kannte. Ich besuche die Begräbnisse aus einem anderen Grund.“ Greg pustete kurz und nahm dann einen großen Schluck aus seiner dampfenden Tasse. „Ich bin krank.“
„Und was für eine Krankheit soll das sein?“, fragte Jamie etwas zu schnell. Aber er konnte sich nicht vorstellen, welche Krankheit durch Friedhofsbesuche geheilt werden konnte.
Greg hob den Blick von seinem Tee und sah seinem Gegenüber nun tief in die unerfahrenen, smaragdgrünen Augen, die ihm höchstwahrscheinlich viele Verabredungen einbrachten. Auch, wenn Greg wusste, dass dieser Junge schon lange keine Verabredungen mehr hatte. „Es ist die gleiche Krankheit, an der auch du leidest.“
Jamie brauchte einige Sekunden, um wieder sprechen zu können. „Ich bin nicht krank.“
„Doch. Das bist du. Leider.“
„Und was für eine Krankheit soll das sein?“ Die Wut, die ihn dazu brachte, sich in diese Situation zu begeben war wieder zurück. Aber diesmal anders, gepaart mit Angst. Was, wenn der ungewaschene Typ wirklich recht hatte. Aber wie sollte er wissen, dass Jamie krank ist? War er einer dieser Voodoo-Medizinmänner?
„Lass mich deine Frage mit einer Gegenfrage beantworten. Wo warst du heute?“
„Na auf dem Friedhof. Das wissen sie doch.“
„Und warum?“
„Weil ein Bekannter von mir gestorben ist.“ Jamie verstand nicht, was diese Fragen mit seiner Krankheit zutun haben sollten.
„Und wie hieß dein Bekannter?“ Gregs tiefe Stimme blieb ruhig, auch wenn er wusste, dass dem Jungen gleich eine schreckliche Wahrheit ereilen würde.
„Stefan Reimann.“
„Falsch. Er hieß Steven Reinicke. Müsstest du die Namen deiner Bekannten nicht besser wissen.“
„Was spielt das für eine Rolle? Man kann doch mal einen Namen vergessen.“
„Aber nicht den Namen eines Mannes, den man vor einer Stunde noch betrauert hat.“ Greg nahm noch einen Schluck des Tees, während Jamie seinen noch überhaupt nicht angerührt hatte. „Wie hieß die Frau, auf dessen Beerdigung du letzten Sonntag warst?“
Jamie überlegte diesmal lange, um nicht wieder einen falschen Namen zu nennen. Doch auch nach mehreren Minuten war er sich nicht sicher, ob er den richtigen Namen noch in Erinnerung hatte. „ Die Frau hieß Jenny Elvert.“
„Wieder falsch. Diesmal nicht einmal nah dran. Sie hieß Rebecca Neumann. Wahrscheinlich dachtest du an Jenny Elvers-Elbertzhagen, die vor kurzem in der Zeitung stand.“
Jamie war geschockt, dass er die Namen seiner Bekannten so sehr verwechselte. Doch der nächste Schock ließ nicht lange auf sich warten.
„Jamie, diese Menschen waren weder Verwandte noch Bekannte. Sie waren völlig fremde Menschen für dich.“
„NEIN“, platze es aus Jamie heraus. „Ich meine nein. Das kann nicht sein. Warum sollte ich denn völlig fremde Menschen betrauern?“
Greg legte seine Hand kurz auf Jamies Schulter. Er schien nun freundlicher dreinzublicken. „Weil du leider krank bist.“ Greg stand auf und setzte neues Wasser auf. „Du hast vor kurzem Jemanden verloren, der dir sehr nah stand oder? Wahrscheinlich zum ersten Mal in deinem Leben. Hab ich Recht.“
Jamie schluckte, um die Tränen zurückzuhalten. „Ja, mein...mein bester Freund ist vor genau 40 Tagen durch einen Autounfall ums Leben gekommen.“ Keine Chance mehr. Die Tränen hatten ihren Weg ins Freie gefunden und liefen ihm nun über das nasse Gesicht. „Er war ein... ein guter Mensch und hatte es nicht verdient schon so früh zu gehen.“
Greg ließ ihn noch einige Minuten vor sich hin wimmern. Dann stellte er zwei neue Tassen mit heißem Tee auf den Tisch und setzte sich wieder. „Es ist keine Schande zu trauern. Es zeigt wie viel uns der verstorbene Mensch bedeutete.“ Er schlug leicht auf den alten Tisch. „Mach aber nicht den Fehler dein Leben aufzugeben, nur weil das deines Freundes zu Ende ist. Das ist nicht die Lösung. Das verschlimmert alles noch mehr.“
„Wie kommen sie darauf, dass ich mein Leben wegwerfe?“ Jamie zog die Nase hoch. „Entschuldigung, wenn ich das so sage, aber, ich laufe immerhin nicht so schäbig herum wie sie.“
Greg hob den rechten Zeigefinger. „Noch nicht. Lass mich raten. Du brezelst dich doch nur noch sonntags auf, wenn du zu den Begräbnissen gehst oder?“
„Woher wollen sie, dass schon wieder wissen?“
„Weil es bei mir auch so anfing. Als ich dich vor drei Wochen zum zweiten Mal hintereinander auf einer Beerdigung sah, hoffte ich noch mich zu täuschen, aber dann habe ich dich leider wieder und wieder gesehen. Und das hat mich an mich selbst erinnert.“ Gregs Augen wurden wieder glasig. „Ja, ich habe mich anfangs auch noch so schick gemacht, um den einzigen Menschen, die ich in meine Nähe ließ, zu gefallen.“ Er blickte an sich herab. „Nach der Zeit verliert man allerdings auch noch diese Eitelkeit und alles um einen herum wird unbedeutend.“
Jamie trank nun von der zweiten, noch heißen Tasse. „Warum gehen sie dann noch zu diesen Beerdigungen, wenn sie ihnen nichts mehr bedeuten?“
Greg zuckte mit den Schultern. „Vielleicht weil das die einzigen sozialen Kontakte sind, die ich pflege. Wahrscheinlicher ist aber, dass ich außer Trauer einfach nichts mehr empfinden kann.“
Diese tragische Geschichte brachte Jamie fast wieder zum weinen. „Warum sind sie nicht eher an mich herangetreten, um mich zu warnen?“
Da wurde Greg schon etwas stiller, nachdem er doch bis hier hin so viel von sich preis gegeben hatte. Er seufzte. „Die Konversation mit dir ist die erste, seit fast acht Jahren, die ich außerhalb des Friedhofs führe. Ich bin also etwas außer Übung. Und extrem verschüchtert.“ Greg stand nun auf. „Ich hoffe, dass du, nachdem du meine Geschichte gehört hast, meinen folgenden Rat beherzigst: Leb dein Leben. Pfleg deine lebendigen Kontakte. Es ist okay, wenn man mal trauert, aber wenn man sich nach einer Weile nicht vor ihr verschließt, dann verschlingt sie einen mit Haut und Haar. Und dann hast du keine soziale Kontakte mehr.“
Jamie stand nun ebenfalls auf. „Ich werde mein bestes geben.“
Greg nickte. „Wenn ich dich nächsten Sonntag wieder auf dem Friedhof sehe, dann werde ich nicht mehr so zurückhaltend sein. Glaub mir. Ich lasse nicht zu, dass dich das gleiche Schicksal erwartet wie mich.“ Greg führte Jamie zur Haustür. „Jetzt geh. Und lass dich hier nie wieder blicken.“
Jamie verließ Gregs Wohnung und machte sich auf den Weg nach Hause. Er hätte gerne noch gewusst, wen Greg verloren hatte. Das einzige, was er nach dieser Begegnung wusste, war, dass er nie so enden würde wie er.
Und damit sollte er recht behalten...


Greg ging zu seinem Telefon und hörte die eine Nachricht ab, die auf seinem Anrufbeantworter gespeichert war:

Greg, hier ist dein Bruder. Bitte melde dich bei mir. Du hast damals schon nicht auf mich gehört, als ich dir geraten habe dich noch einmal einer zweiten Therapie zu unterziehen. Bitte höre diesmal auf mich. Ich weiß, dass es dir schwer fallen wird, aber deine Familie würde deine letzten Tage gerne mit dir verbringen. Bitte ruf mich an.

Greg wusste, dass er die nächsten Tage wie die anderen Tage der letzten acht Jahre seines Lebens verbringen würde. Und am Sonntag würde er wieder auf den Friedhof zurückkehren und sein gesundes Ich betrauern.


Impressum

Tag der Veröffentlichung: 20.10.2012

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