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Missec


Dunkelheit. Alles einnehmende Schwärze. Kein Geräusch. Keine Bewegung. Kein Geruch. Nur diese schweigsame, desinteressierte Dunkelheit.
Wo war sie hier nur gelandet? Und warum war sie hier? War sie tot? Der krönende Abschluss eines Horrortages.
Aber, wenn sie tot war, dann müsste hier doch nun irgendwer auf sie warten, oder? Aurelia war zwar kein Fan der Kirche, hatte aber immer an Himmel und Hölle geglaubt und war nun sehr enttäuscht von dieser Leere.
Doch plötzlich war ein Licht zu sehen. Weit entfernt. Das grüne, intensive Licht kam näher und nun konnte Aurelia auch erkennen, was es war. Es war ein Augenpaar. In den Augen lag so viel Schuld und Reue, das Aurelia den Besitzer am liebsten in den Arm genommen hätte.
Aber da war niemand. Nur die Augen, die ihr jetzt, da sie genau vor ihren eigenen Augen herum schwebten, merkwürdig bekannt vorkamen.
Doch bevor sie weiter darüber nachgrübeln konnte, lief eine Träne langsam am rechten, grünen Auge herab. Aurelia streckte ihren Arm aus und fing die Träne auf. Schlagartig wurde ihr Körper von einem heißen Kribbeln erfasst. Sie sah an ihrem Körper hinunter. Sie konnte förmlich spüren wie ihr Blut in den Venen floss. Aurelia hob den Kopf. „Was geht hier vor?“ Doch da war niemand. Sie war wieder allein. „Was soll das alles?“, schrie sie in die Dunkelheit. Im nächsten Moment wurde ihr der Boden unter den Füßen weggezogen. Sie fiel durch die Dunkelheit, die ihr nahezu unendlich vorkam. Plötzlich wurde sie mit einem Ruck durch einen kleinen Spalt gequetscht. Unvorbereitet traf sie das helle Licht, das ihre Augen schmerzen ließ.
Aurelia blickte jetzt, wo sich ihre Augen an die Helligkeit gewöhnt hatten, abwechselnd nach links und rechts, um sich irgendwie orientieren zu können. Waren das Wolken? War sie jetzt tatsächlich im Himmel? Aber warum fiel sie dann immer noch? Aurelia drehte sich um und erkannte, dass sie mit sehr hoher Geschwindigkeit auf die Erde zuraste. Die Gebäude unter ihr wurden immer größer, kleine menschliche Umrisse ließen sich bereits erkennen. Und dann musste sie schlucken. Sie sah sich selbst, mitten auf der Straße, hinter einem Wagen, liegen. Sie war übel zugerichtet. Ihre Stirn war eingedrückt, ein Bein war unnatürlich abgespreizt. Und dann das Blut. Überall klebte es. In ihren vom Niesel benetzten Haaren. Auf ihrer neuen Leder-Jacke. An ihrem Blink-182-Shirt. Auf dem nassen Asphalt.
Ein Mann lag neben ihr im Regen und schrie in sein Handy. „Beeilen sie sich. BITTE!“
Aurelia raste mit voller Wucht auf ihren eigenen Körper zu und rüstete sich innerlich schon mal gegen die enormen Schmerzen, die ihr der Aufprall bereiten würde. Doch die Schmerzen waren harmlos – im Gegensatz zu denen, die sie kurz darauf spürte. Sie hätte am liebsten losgeschrien, aber da war überall Blut in ihrem Mund.
Und dann wurde es ganz unerwartet still. Das Blut verließ ihren Mund, sodass sie nach Luft keuchen konnte. Sie sah auf ihr T-Shirt, wo sie beobachten konnte, wie das Blut wieder zurück in ihren Körper floss und verschwand.
Abrupt wurde Aurelia an den Füßen nach oben gezogen, sodass es für einen Moment so aussah, als würde sie einen Kopfstand versuchen. Die Bewegung auf ihrer Stirn ließ vermuten, dass die Delle verschwunden war. Kurz darauf wurde sie nach hinten gezogen. Sie flog direkt auf den Wagen zu, deren Fahrer nun wieder am Steuer saß und die Augen zusammenkniff. Sie stieß mit dem rechten Bein gegen das Auto, woraufhin es sich wieder einrenkte.
Schließlich stand sie wieder völlig gesund und unverletzt auf der Straße. Der Autofahrer fuhr langsam nach hinten und auch sie ging rückwärts die Straße entlang. An der Ampel angekommen lief sie in die Arme eines blonden, verschmutzten Mädchens. Aurelia schlug sich mit der flachen Hand auf die verheilte Stirn. „Ach stimmt ja. Die blöde Kuh hat mich weggestoßen, weil ich sie heute Morgen nass gemacht hatte.“ Aurelia wollte gerade an den Morgen zurückdenken, aber da wurde sie auch schon wieder rücklings weggezogen. „Was ging hier nur vor sich?“, dachte sie, ohne sich einen Reim darauf machen zu können.
Aurelia verrenkte ihren Hals soweit es ging, damit sie wenigstens sehen konnte wohin ihr Weg sie führte. Obwohl der Tag erst einige Stunden alt war, konnte sie sich nicht erinnern, was sie vor dem Unfall getrieben hatte.
Als sie gerade den Stadtpark erreicht hatte, spürte sie, wie ihr linker Fuß feucht wurde. Sie blickte kurz nach vorne, fand aber keine mögliche Ursache für das feuchte Gefühl. Erst einige Sekunden später wurde ihr wieder bewusst, dass die Lösung in Vergangenheit liegen würde und nicht in der Zukunft, sodass sie den Kopf wieder nach hinten richtete. Während sie die frische Luft der Grünanlage in sich aufsog, wurden Schuh, Socke und Fuß immer nasser. Aurelia hätte den Schuh am liebsten ausgezogen, konnte aber, trotz aller Anstrengungen, einfach nicht von ihren ursprünglichen Bewegungen abweichen.
Im Stadtzentrum angekommen, nahm sie Kurs auf ein Café und setzte sich hinein. Sie zückte ihr Handy und las die Nachricht darin:

Hey Süße. Ich komme hier doch nicht weg. =( Es gab einen Autounfall mit vielen Schwerverletzten. Ich hoffe, dass die Unterhaltung bis heute Abend warten kann. Ich hab dich lieb. Mutti.

„Stimmt“, dachte Aurelia. Sie wollte sich mit ihrer Mutter, einer Krankenschwester, in diesem Café treffen. „Warum sollte ich mich mit meiner Mutter morgens um halb 10 hier treffen?“ Sie erschrak, als ihr Handy in ihrer Hand vibrierte. Sie wollte gerade nachschauen, ob sie noch eine Nachricht erhalten hatte, registrierte aber sofort, dass es sich dabei um die Nachricht ihrer Mutter handelte, die sie gerade gelesen hatte. Sie steckte das Handy wieder in ihre Tasche, spuckte den bestellten Espresso wieder in ihre Tasse und verließ nach einigen Minuten das Café. Obwohl sie rückwärts lief, spürte Aurelia wie zornig sie war. Tränen der Wut stiegen ihr in die Augen. „Was hat mich bloß so wütend gemacht?“, dachte sie, als sie einen steilen Abhang hinunter lief. Im vorbeigehen rempelte sie ein blondes Mädchen um, das daraufhin in einer Pfütze landete.
Aurelia erreichte eine Einbahnstraße, die links und rechts von vor Regen schützenden, gestutzten Eichen flankiert wurde. Im Schutz der Bäume folgte sie der Straße und sah, immer noch nach hinten blickend, endlich den Grund für ihren nassen Fuß. Bevor sie in die Straße einbog, in der sie wohnte, schüttelte sie ihren rechten Fuß und trat in die knöcheltiefe Pfütze. Paradoxerweise war ihr Fuß danach wieder trocken.
Mit schnellen Schritten und schmerzendem Nacken näherte sie sich ihrer Wohnung. Sie öffnete die Haus-Tür, ohne einen Schlüssel zu benötigen, und sprang dann die Stufen hoch, bis sie an der richtigen Tür angekommen war. Sie rannte rückwärts in die Küche, wo ihr nackter Vater auf sie wartete. „Wieso ist er denn nackt?“, dachte sie.
Aurelia versuchte sich so gut es ging auf die Augen ihres Vaters zu konzentrieren. Diese grünen Augen, die Schuld und Reue zum Ausdruck brachten. Waren das die Augen, die sie in der Dunkelheit gesehen hatte. War ihre Reise in die Vergangenheit nun beendet?
Aurelia schrie ihren Vater mehrere Minuten an. „Aber warum war mein Vater denn morgens zu Hause, das ...?“ Doch da fiel es ihr ein. Noch bevor ihr Vater ins Schlafzimmer lief, dicht gefolgt von seiner Tochter, die beobachtete, wie ihr er auf eine fremde Frau sprang. Aurelia verharrte kurz vor dem Bett, ging dann in ihr Zimmer und zog sich um. Sie zog sich bis auf die Unterwäsche aus, blickte dann kritisch in den Spiegel und zog sich danach eine weiße Bluse, eine schwarze Weste und eine schwarze Stoffhose an. Anschließend verließ sie die Wohnung mit leisen Schritten und niedergeschlagenem Ausdruck.
Als sie auf die Straße hinaustrat, fühlte sie zuerst das wärmende Licht der Sonne auf ihrem Rücken. Ihr fiel ein, das sie beim Blick gen Himmel hoffte, dass es doch noch ein schöner Tag werden würde. Naja.
Aurelia überquerte gerade den alten Sportplatz, deren akkurat gepflegter Kunstrasen nicht so recht zu den verrosteten Fußballtoren und den kaputtgeschlagenen Holzbänken passen wollte, als sie auf ihre Armbanduhr sah. 8:45 Uhr. Oh Nein. Jetzt müsste sie gerade von ihrer mündlichen Lehrlingsprüfung gekommen sein, die sie vergeigt hatte.
So sah sich also dabei zu, wie sie mit Händen und Beinen gestikulierte und dabei in verwirrte Gesichter blickte. Nach einer gefühlten Ewigkeit, die ihr beim ersten Mal schon unerträglich erschien, gab sie den drei Personen die Hand und ging rückwärts hinaus. „Hoffentlich war’s das bald“, dachte Aurelia, als sie die Stufen des Gebäudes rückwärts hinunterging. Auf dem Schulhof angekommen, ging sie an ein paar anderen Lehrlingen und Schülern vorbei, wich einem schwarzen Kätzchen aus und sprang dann über ein herrenloses Skateboard.
Sie wartete nun auf ihren Vater, der ihr viel Glück wünschen würde. Er sagte dann auch noch, dass er sie nachher aus geschäftlichen Gründen nicht abholen könne. „Ja, klar“, dachte Aurelia nun. Sie solle danach, aber sofort zu Oma gehen, weil er dort zu ihr stoßen würde. „Nun weiß ich ja wem du zugestoßen hast!“ Und dann geschah etwas Merkwürdiges. Zumindest in Bezug auf diesen Tag. Die Zeit blieb wieder stehen und eine Sekunde später lief das Leben wieder vorwärts.
„Hier muss also dieser Augenblick kommen, den ich rückgängig machen soll“, grübelte Aurelia laut. Sie ging also wieder Richtung Schulgebäude, sprang über das Skateboard und wollte gerade an der schwarzen Katze vorbei gehen, als sie inne hielt. Da waren sie wieder. Diese leuchtenden grünen Augen, die sie in der Dunkelheit gesehen hatte. Bei näherer Betrachtung erkannte Aurelia, dass das kleine Kätzchen von vorhin auf einmal alt und abgemagert aussah. „War es möglich, dass die Katze eines (oder mehrere) ihrer Leben für mich geopfert hatte?“ Aurelia war weder gläubig noch abergläubisch und hatte den „Schwarze Katzen bringen Unglück“- Sprüchen ihrer Freunde nie Glauben geschenkt, aber der heutige Tag schien sie eines Besseren zu belehren. Und diese Katze hatte es offenbar leid, immer für die Ungeschicke eines Menschen verantwortlich zu sein. „Hatte sie mir deshalb vielleicht eine zweite Chance geschenkt?“, dachte sie, als die Katze zu einem kleinen Stein rüber flitzte. Wenn du einer schwarzen Katze begegnest, musst du auf einen Stein spucken, hatte ihre beste Freundin einmal erzählt. „Verrückte Idee. Aber was war an diesem Tag schon normal gewesen?“ Aurelia spuckte also auf den Stein, sah wie sich das Gesicht der kleinen Katze entspannte und hoffte, dass dieser unglaubliche Tag eine angenehmere Wendung nehmen würde.

Impressum

Texte: Robert Keller
Tag der Veröffentlichung: 05.07.2012

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Für alle, die gerne die Zeit zurück drehen würden.

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