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Rubinrot



Vor langer, langer Zeit gab es ein Königreich, das von König Albrecht und seiner Frau Margret regiert wurde. Sie waren gutmütige Herrscher, bei ihrem Volk über alle Maße beliebt. An einem verschneiten Wintertag kam der Sohn namens Angelus zur Welt, der seine Eltern sofort in den Bann zog. Auch die Untertanen waren ganz entzückt und niemand zweifelte daran, dass er später ebenso ein gnädiger König sein würde, wie seine Eltern.
Als Angelus fast erwachsen war und ihre Tage als Herrscher dem Ende entgegengingen, beschlossen seine Eltern ihn auf seine kommende königliche Nachfolge vorzubereiten. Ihr Sohn sollte Tugenden lernen, die wichtig für eine barmherzige Herrschaft waren. Am wichtigsten war für den König und die Königin die Gerechtigkeit und das Wohlbefinden des Volkes.
Leider musste das Königspaar feststellen, dass Angelus nicht besonders hilfsbereit war und sein Handeln oftmals nur sich selbst diente, nicht seinen Mitmenschen.
Eines Morgens beriefen sie alle unverheirateten Königstöchter der angrenzenden Reichtümer zu ihrem Schloss und ordneten ihrem Sohn an, sich eine von ihnen zur Braut auszuwählen. Angelus schritt ohne langes Zaudern auf seine Auserwählte zu, die sogleich bei Betreten des Saales sein Herz erweichte. Helena war ihr Name und ihr braunes, lockiges Haar umschmeichelte ihr schönes Gesicht mit ihren saphirblauen Augen.
Angelus war überglücklich und wollte Helena sogleich zum Reiten in die taufrischen Wiesen ausführen, als sein Vater Albrecht plötzlich mit ernster Stimme sprach: „Mein Sohn, du hast deine Pflicht noch nicht getan! Zu einfach wäre es, dir dieses wundersame Wesen ohne Aufgabe zu überlassen." Der Prinz traute seinen Ohren nicht. „Ich bin doch der Thronfolger, warum muss ich mir noch etwas erarbeiten?“, fragte er den König erstaunt. Doch dieser schüttelte nur resigniert den Kopf. Königin Margret schritt auf ihren Sohnemann zu und erwiderte: „Wir sind uns einig, dass du erst eine Prüfung bestehen musst. Es ist uns ein Anliegen, dass du unsere königlichen Tugenden verinnerlichst."
Sie ließ eine weiße Taube bringen und gab dieser eine rubinrote Kirsche. Das Tier schnappte sich die Frucht und flog hinaus in die Ferne. Angelus Aufgabe war es nun, diese Kirsche wiederzufinden.
„Es wird mir ein Leichtes sein, diese Prüfung zu meistern! Du wirst sehen, Helena, ich bin deiner würdig. Und ich bin ebenso ein guter Nachfolger für den königlichen Thron!“, Angelus war entzürnt, denn er konnte immer noch nicht glauben, was seine Eltern von ihm verlangten.
König Albrecht ließ den Schmiedesohn Jost herbeirufen und stellte ihn als Wegbegleiter für die Reise des Prinzen vor, der jedoch lauthals protestierte: „Gibst du so wenig Vertrauen in mich, mein Vater? Sag mir, was wird mir dieser bürgerliche Bursche schon nützen?“. Doch König Albrecht schwieg und schritt von dannen.

Widerwillig befahl Angelus zwei Pferde herrichten zu lassen und schritt verärgert in den königlichen Garten. Stundenlang lief er durch den Schlossgarten und machte sich Gedanken über Sinn und Zweck dieser Aufgabe. Aber er kam nicht hinter des Rätsels Lösung. Er, der zukünftige Herrscher, sollte tagelang auf die Suche gehen und als ob das nicht schon genug wäre, auch noch in Begleitung eines nicht adligen Handwerkers! Er fühlte sich so gedemütigt.
Am Morgen darauf begann die Suche nach der verschollenen Kirsche. Prinz Angelus und Jost ritten gen Osten, zu dem Großen Forst der Bezaubernden. „Die Taube suchte sich bestimmt ein wohliges Nest in einem Baumwipfel, meinen Sie nicht, verehrter Prinz?“, fragte Jost. Angelus ritt weiter und entgegnete erst nach einiger Zeit: „Wer hat dir erlaubt mich zu belehren? Ich weiß, wie ich die Taube finden werde, dazu benötige ich keine Hilfe von einem einfachen Schmiedesohn wie dir." Sie galoppierten weiter Richtung Osten, stundenlang sprachen sie kein Wort miteinander bis erneut Jost das Schweigen brach: „Ist es mir gestattet zu fragen, weshalb wir so langsam reiten? Haben Sie keine Eile, verehrter Prinz? Helena erwartet Sie sicher“.
Er berichtete Jost von seinem Plan, im Wald die sagenumhüllten Elfen der Weisheit zu finden. Sie sollten ihm den Weg zu der Taube und der Kirsche zeigen.

Gegen Sonnenuntergang erreichten sie das Dorf der Elfen der Weisheit. Der Duft von Rosen umhüllte die Reiter und zauberte ihnen zum ersten Mal an diesem Tag ein Lächeln auf die Lippen. Prinz Angelus ritt zielstrebig auf ein mit Blütenblättern verziertes Haus zu, in dem das Oberhaupt der Elfen lebte. Sein Name war Nepos und man sagte ihm hellseherische Fähigkeiten nach.
Ohne die anderen sich verbeugenden und freundlich lächelnden Elfen zu beachten, schritt Prinz Angelus voran und klopfte an Nepos Haustüre. Ein großer, blasshäutiger Mann in Engelsgestalt und langen, blonden Haaren öffnete ihm. „Seid willkommen, Eure Hoheit. Ich habe ihre Anreise selbstverständlich schon erwartet“, verkündete er lächelnd. „tretet ein, meine Gefährten. „Ich hoffe sehr, dass Sie meinem Wunsch nachkommen können, ich brauche Eure Hilfe“, entgegnete Angelus. Der Prinz und Jost betraten Nepos Haus und sogleich sagte Angelus mit ungeduldiger Stimme: „Mein geschätzter Nepos, ich habe nicht viel Zeit mitgebracht. Sag mir, kannst du mir helfen oder nicht?“. „Nur mit der Ruhe, gnädiger Prinz. Verlange nichts, ohne selbst Hilfe spenden zu wollen. Wenn ich dir helfen soll, musst du eine gute Tat begehen. Meine Bewohner bauen gerade ein Floß, um den Fluss überqueren zu können. Helfe Ihnen bei dem Bau und ich werde es dir mit einem Hinweis danken, wo sich die Taube befindet“.
Angelus wusste nicht wie ihm geschieht. Er musste schon wieder eine Aufgabe erfüllen? Wieso musste er sich alles so hart erarbeiten, er verstand es nicht... Dankend lehnte er Nepos Angebot ab. „Ich bin ein Adliger“, dachte er, „ich habe Wichtigeres zu erledigen“.

Jost schüttelte traurig den Kopf: „Verehrter Prinz, warum haben Sie nicht geholfen?“.
Ohne ein Wort galoppierte der Prinz weiter, er überlegte sich einen anderen Plan. Da fiel ihm ein, dass es ein Königreich im Norden gab, das ein Orakel besaß. Wiederum ritten sie weiter in den Norden, bis sie nach einigen Tagen, ohne Rast und Ruh gehalten zu haben, auf das besagte Orakel trafen. Davor saß eine alte Dame und weinte bitterlich. Das Orakel sprach: „Angelus, du bist hier, weil du Hilfe suchst. Wer diese annehmen will, kann selbst auch Hilfe leisten. Begleite die alte Frau, sie hat sich verirrt und möchte zurück nach Hause!“.
Doch Angelus schwang sich wieder auf den Schimmel und befahl Jost die Abreise, obwohl dieser gerade dabei war, der Dame beim Aufstehen behilflich zu sein. „Es geht weiter, Jost. Ich habe keine Zeit für solche Nichtigkeiten“. Jost murmelte: „Wohl eher fehlt Ihnen das Herz, Prinz...“, und sprach zur alten Dame, „es tut mir leid Sie hier lassen zu müssen, mein Gebieter befiehlt abzureisen“.

In der Abenddämmerung suchten sich Jost und Angelus einen Unterschlupf für die Nacht. „Wie gerne würde ich jetzt in meinem königlichen Gemach liegen, und nicht auf diesem ungemütlichen, harten Boden“, schimpfte der Prinz. Da erschien ihm plötzlich eine kleine Fee. Sie sprach: „Guter Prinz, ich könnte Ihnen helfen. Doch welch gute Tat verrichten Sie? Sind Sie bereit ihrem Begleiter ein wenig von Ihrem Wasser abzugeben? Über ein Stück Brot würde er sich sicher auch sehr freuen“. Angelus schrie jedoch vor Wut: „Nichts werde ich tun! Dieser Bengel soll sich selbst versorgen, ich habe auch Hunger und bin erschöpft von der langen Reise!“. Die Fee flog davon und Jost machte sich mit gesenktem Haupt auf den Weg zum Fluss, um dort einen Fisch zu fangen, damit er seinen Hunger stillen konnte.

Tief in der Nacht ereilte den Prinzen ein böser Traum. Er sah sich gefangen in einem Kerker und ein böse dreinblickender Wächter rief ihm zu: „Morgen wirst du verurteilt! Deine Undankbarkeit und dein kaltes Herz werden dich dein Leben kosten“.
Prinz Angelus erwachte schweißgebadet. Welch fürchterlicher Traum! Er schaute sich um, und bemerkte, dass Jost immer noch nicht zurückgekehrt war. Da hörte er ein leises Knirschen hinter sich und erschrak. Mit zitternder Stimme rief er: „Jost, du Taugenichts! Komm herbei!“. Da stürzte sich mit lautem Gebrüll tobender Bär, mit ausgefahrenen Krallen auf ihn. Angelus versuchte den gewaltigen Bären mit bloßen Händen zu bezwingen, aber er hatte keine Chance.
Plötzlich kam Jost aus den Tiefen des Waldes und verjagte den Bären mit einem aus Holz geschnitzten Messer. „Mein Prinz, wie geht es Ihnen? Sind Sie wohlauf?“. Auch jetzt zeigte Angelus keine Spur von Dankbarkeit, sondern befahl sogleich die Weiterreise. „Aber ich habe noch nicht geruht, mein Herr...“, wandte Jost ein. Dies war dem Prinzen gleichgültig, er wollte nur noch weg von diesem schrecklichen Ort.

Die Sonne ging gerade auf, als Jost erschöpft von seinem Ross fiel. Er hatte seit Tagen nichts gespeist und nicht geschlafen. In der vorherigen Nacht, war er gerade dabei einen Fisch zu verspeisen, als er die ängstlichen Schreie des Prinzen hörte und ihm sogleich zu Hilfe eilte. Prinz Angelus rannte wütend zu dem gestürzten Jost und ermahnte ihn, dass dieser sofort aufstehen sollte. Er habe keine Zeit für solche Späße, doch Jost flüsterte nur noch kraftlos: „Ich verhungere, mein Herr...“.
Und in diesem Moment erschien dem Prinzen erneut der Wächter aus dem Verlies und er erinnerte sich an dessen Worte:„Morgen wirst du verurteilt! Deine Undankbarkeit und dein kaltes Herz werden dich dein Leben kosten“. Prinz Angelus kam endlich zur Besinnung und erkannte, dass er Jost sein Leben zu verdanken hatte und nun war es seine Aufgabe etwas Gutes für Jost zu tun. Er reichte seinem schwachen Begleiter sein letztes Stück Brot und eine Karaffe mit kühlem Wasser. Jost gelang wieder zu Kräften und bedankte sich überschwänglich bei dem Prinzen:„Mein Gebieter, wie kann ich Ihnen nur danken?“, und Angelus antwortete: „Indem du zukünftig mein treuer Freund und Beschützer bist!“. Auf einmal hörten sie ein leises Gurren und eine weiße Taube kam zu ihnen geflogen. Sie hatte im Schnabel eine Kirsche, rubinrot wie vor der Reise. Angelus entnahm der Taube die Kirsche und in seinen Händen verwandelte sich diese in ein wundervolles Amulett mit einem funkelndem Rubinstein.
Prinz Angelus und Jost kehrten wohlbehalten zurück in das geliebte Königreich und alle waren froh, die beiden wiederzusehen. Helena umschlang den Prinzen und die königlichen Elternr freuten sich, dass ihr Sohn endlich zur Vernunft gekommen war und vor allem die oberste Tugend der Könige gelernt hatte. Er wusste endlich, dass er barmherzig sein musste, um seinem Volk ein guter König zu sein.
Helena und Angelus feierten ein rauschendes Hochzeitsfest und Jost ward auf immer und ewig der treueste Wegbegleiter des Thronfolgers, der bis ans Ende seines Lebens der barmherzigste Herrscher seiner Zunft war. Das Amulett baumelte fortan um Königin Helenas Hals und erinnerte König Angelus stets daran, dass Dankbarkeit und Edelmut wichtiger sind als der eigene Stolz und das eigene Wohlergehen.

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Tag der Veröffentlichung: 13.07.2009

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